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Wieder stehen zwei Wagen vor der Freitreppe des Herrenhauses von Petrowskoje: eine Kutsche, in welcher Mimi, Katjenka, Ljubotschka und ein Stubenmädchen Platz nehmen, während der Verwalter Jakob in eigener Person auf dem Bock sitzt, und ein offener Wagen, in dem Wolodja und ich und der kürzlich in Dienst genommene Lakai Wassilij fahren.
Papa, der einige Tage nach uns in Moskau eintreffen will, steht ohne Kopfbedeckung auf den Treppenstufen und schlägt ein Kreuz über das Fenster der Kutsche und den Wagen.
»Nun, Gott mit euch! vorwärts!«
Jakob und die Kutscher (wir fahren mit eigenen Pferden) nehmen die Mützen ab und bekreuzigen sich. »Hü! hü! mit Gott!« Kutsche und Wagen holpern über den unebenen Weg, und die Birken der großen Allee gleiten eine nach der andern an mir vorüber. Mir ist gar nicht traurig zumute: mein Sinn ist nicht auf das gerichtet, was ich verlasse, sondern auf das, was mich erwartet. In dem Maße der Entfernung von den Gegenständen, die mit den trüben Erinnerungen verbunden sind, welche bisher meine Einbildungskraft beschäftigten, verlieren diese Erinnerungen an Stärke, und an ihre Stelle tritt schnell das beseligende Bewußtsein eines Lebens voller Kraft, Frische und Hoffnung.
Selten habe ich einige Tage so – ich will nicht sagen lustig, denn ich schämte mich noch gewissermaßen, mich der Lustigkeit hinzugeben, – aber so angenehm, so gut verlebt wie die vier Tage unserer Reise. Vor meinen Augen stand weder die geschlossene Tür zu Mamas Zimmer, an der ich nicht ohne schmerzliches Zusammenzucken vorbeigehen konnte, noch das geschlossene Klavier, welches man nicht nur nicht öffnete, sondern das man sogar mit einer gewissen Scheu ansah, noch die Trauergewänder (wir alle hatten einfache Reisekleider angelegt), noch all jene Dinge, welche mir den unersetzlichen Verlust lebhaft in Erinnerung brachten und mich zwangen, jedes Hervorbrechen der Lebensfreude zu unterdrücken, aus Furcht, ihr Andenken zu beleidigen. Hier aber gibt's immer neue malerische Gegenden und Dinge, die meine Aufmerksamkeit fesseln und ablenken, und die in Frühlingsherrlichkeit prangende Natur flößt der Seele frohe Gefühle der Zufriedenheit mit der Gegenwart und der leuchtenden Hoffnung auf die Zukunft ein.
Ganz, ganz früh morgens zieht der unbarmherzige und wie alle Dienstboten in neuer Stellung übereifrige Wassilij die Bettdecke weg und versichert, es sei Zeit aufzubrechen, und alles sei schon bereit. Wie man sich auch weigert, wie man sich ärgert, wie schlau man's auch anstellt, um den süßen Morgenschlummer wenigstens um ein Viertelstündchen zu verlängern, – man merkt's dem entschlossenen Gesichte Wassilijs an, daß er sich nicht erweichen läßt und bereit ist, die Decke noch zwanzigmal fortzuziehen; da springt man auf und läuft in den Hof, um sich zu waschen.
Im Flur dampft bereits der Ssamowar, in dessen Zugrohr Mitjka, der Vorreiter, mit krebsrotem Gesichte hineinbläst. Im Hof ist's feucht und nebelig, und vom duftenden Dünger steigt's wie Dampf auf; die Sonne erhellt mit frohem, strahlendem Licht die östliche Hälfte des Himmels und die tauglänzenden Strohdächer der geräumigen Schuppen, die den Hof umgeben. Unter ihnen sieht man unsere Pferde, die an die Krippen gebunden sind, und hört ihr gleichmäßiges Kauen. Ein zottiges Hündchen, das vor dem Morgendämmern auf einem trockenen Düngerhaufen geschlafen hat, reckt sich träge und läuft dann schweifwedelnd in kurzem Trab auf die andere Seite des Hofes. Die geschäftige Hausfrau macht das knarrende Tor auf und treibt die nachdenklichen Kühe auf die Straße, wo bereits das Getrampel, das Brüllen und Blöken der Herde hörbar wird, und wechselt ein Wörtchen mit der verschlafenen Nachbarin. Philipp zieht mit aufgestreiften Hemdärmeln den Eimer am Rade aus dem tiefen Brunnen, plätschert in dem klaren Wasser und gießt es in die Krippe aus Eichenholz, neben der die erwachten Enten bereits in der Pfütze baden; ich blicke mit Vergnügen auf Philipps ernstes, von großem Vollbart umrahmtes Gesicht und auf die starken Adern und Muskeln, die auf seinen nackten, sehnigen Armen scharf hervortreten, wenn er eine kräftige Bewegung macht.
Hinter der Zwischenwand, hinter der Mimi und die Mädchen geschlafen haben und durch die wir am Abend ein Gespräch geführt haben, rührt es sich. Mascha läuft mit allerhand Gegenständen, die sie mit ihrem Kleide vor unserer Neugier zu schützen sucht, immer öfter an uns vorüber; endlich wird die Tür geöffnet, und wir werden zum Tee gebeten.
Wassilij kommt in einem Anfall überflüssigen Eifers immer wieder ins Zimmer gelaufen, trägt bald das, bald jenes hinaus, zwinkert uns zu und bittet Maria Iwanowna, sobald als möglich aufzubrechen. Die Pferde sind angespannt und äußern ihre Ungeduld, indem sie von Zeit zu Zeit mit den Schellen klirren; die Koffer und Kisten, die Schachteln und Schächtelchen werden wieder aufgeladen, und wir nehmen unsere Plätze ein. Aber jedesmal finden wir im Wagen statt eines Sitzes einen Berg, so daß wir gar nicht begreifen, wie das alles gestern geordnet gewesen, und wie wir heute sitzen sollen. Ganz besonders erregt eine Teebüchse mit dreieckigem Deckel, die man uns in den Wagen reicht und unter meinen Sitz stellt, meinen größten Unwillen. Aber Wassilij behauptet, der Berg werde sich schon zusammendrücken lassen, und ich muß ihm glauben.
Die Sonne ist eben erst hinter einer dicken, weißen Wolke, die den östlichen Horizont bedeckt, heraufgekommen, und die ganze Gegend erglänzt in ruhig freudigem Lichte. Alles rundumher ist so schön, und mir ist so leicht und ruhig zumute. Die Straße windet sich vor uns wie ein breites, flatterndes Band zwischen vertrockneten Stoppelfeldern und tauglänzendem Grün; hier und da steht am Wegrande eine düstere Weide oder eine junge Birke mit kleinen, klebrigen Blättern, die einen langen, unbeweglichen Schatten auf die trockenen, lehmigen Radspuren und das niedrige, grüne Gras des Weges wirft. Das einförmige Geräusch der Räder und der Schellen vermag das Getriller der Lerchen, die grade über der Straße in die Luft steigen, nicht zu übertönen. Der Geruch von mottenzerfressenem Tuch, von Staub und irgend einer Säure, durch den sich unser Wagen auszeichnet, wird vom Morgenduft verdrängt, und ich fühle im Herzen eine wonnige Unruhe und den Wunsch, irgend etwas zu tun, – das Kennzeichen des echten Genusses.
Ich bin in der Nachtherberge nicht dazu gekommen, zu beten; da ich jedoch schon mehr als einmal bemerkt habe, daß an dem Tage, an dem ich aus irgend welchem Grunde vergesse, das zu tun, mir irgend ein Unglück widerfährt, bemühe ich mich, das Versäumte nachzuholen: ich nehme die Mütze ab, wende mich nach der Ecke des Wagens, sage meine Gebete her und bekreuzige mich unter meiner Jacke so, daß es niemand bemerkt. Aber tausenderlei verschiedene Dinge lenken meine Aufmerksamkeit ab, und ich wiederhole in der Zerstreutheit mehrmals hintereinander dieselben Gebetsworte.
Jetzt werden auf dem Fußpfade, der sich die Fahrstraße entlang schlängelt, langsam schreitende Gestalten sichtbar: es sind Wallfahrerinnen. Ihre Köpfe sind in schmutzige Tücher gehüllt, ihre Füße in schmutzige, zerrissene Fetzen gewickelt und mit schweren Bastschuhen bekleidet; auf dem Rücken tragen sie Ranzen aus Birkenrinde. Gleichmäßig greifen sie mit den Wanderstäben aus und schreiten, kaum einen Blick auf uns werfend, langsamen, schweren Schrittes eine hinter der andern dahin, und mich beschäftigen die Fragen: Wohin und aus welchem Grunde pilgern sie? Werden sie lange unterwegs sein? Und werden die langen Schatten, welche sie auf den Weg werfen, sich bald mit dem Schatten der Weide vereinen, an der sie vorübergehen müssen? – Jetzt kommt uns ein vierspänniger Postwagen schnell entgegengefahren. Zwei Sekunden – und die Gesichter, die auf kaum zwei Ellen Entfernung mit freundlicher Neugier zu uns herübergeschaut, sind schon vorbeigeglitten, und mir erscheint's gradezu sonderbar, daß diese Menschen nichts Gemeinsames mit mir haben und daß ich sie vielleicht nie mehr wiedersehen werde.
Seitwärts vom Wege rennen zwei schweißbedeckte, zottige Pferde im Kummet, den Zugriemen hinter den Rückenriemen geschlungen; hinterdrein reitet – die langen Beine in den großen Stiefeln zu beiden Seiten des Pferdes hängen lassend – ein junger Fuhrknecht; auf dem Nacken des Gaules sitzt ein Krummholz, an dem bisweilen ein Glöckchen erklingt. Der Bursche hat die Lammfellmütze schief auf ein Ohr gedrückt und singt ein Lied von schwermütiger Melodie. Sein Gesicht und seine Haltung drücken eine solch träge, sorglose Zufriedenheit aus, daß es mir als das höchste Glück erscheint, Fuhrknecht zu sein, mit Retourpferden heimzureiten und melancholische Lieder zu singen.
Dort in der Ferne hinter der Schlucht hebt sich vom hellblauen Himmel eine Dorfkirche mit grünem Dache ab; und dort ist auch das Dorf selbst, das rote Dach des Herrenhauses und ein grüner Garten. Wer mag in diesem Hause wohnen? Gibt es darin Kinder, einen Vater, eine Mutter, einen Hauslehrer? Warum sollten wir nicht in diesem Hause einkehren und seine Bewohner kennen lernen? – Jetzt sehen wir vor uns einen langen Zug hochbepackter Lastwagen, vor welche je ein Dreigespann wohlgenährter, starkfüßiger Pferde gespannt ist und die wir seitwärts umfahren müssen. »Was führt ihr?« fragte Wassilij den ersten Fuhrmann, der – mit den riesigen Füßen baumelnd und die Peitsche schwenkend – uns lange mit ausdruckslosem Blicke nachstarrt und erst dann antwortet, als wir ihn nicht mehr hören können. »Mit welcher Ware?« wendet Wassilij sich an den nächsten, der auf dem abgesonderten Vorderteile seiner Fuhre unter einer neuen Bastmatte liegt. Der blonde Kopf mit dem roten Gesicht und dem rötlichen Bärtchen taucht für einen Augenblick unter der Matte hervor, läßt die gleichgültig verächtlichen Augen über unsern Wagen schweifen und verschwindet wieder – und mir kommt der Gedanke, daß diese Fuhrknechte sicherlich gar nicht wissen, wer wir sind und woher und wohin wir reisen.
Anderthalb Stunden etwa vertiefe ich mich in die verschiedenartigsten Betrachtungen und achte nicht auf die schiefen Zahlen auf den Werstpfählen. Nun aber brennt mir die Sonne heiß auf Kopf und Rücken, die Straße wird staubiger, der dreieckige Deckel der Teebüchse macht sich sehr fühlbar, ich ändere einigemal meine Stellung: mir wird heiß, unbehaglich und langweilig. Meine ganze Aufmerksamkeit wendet sich den Werstpfählen und den auf ihnen vermerkten Zahlen zu; ist stelle verschiedene mathematische Berechnungen an über die Zeit, in welcher wir die Poststation erreichen können. »Zwölf Werst sind ein Drittel von sechsunddreißig, und bis zum Dorfe Lipzy sind's einundvierzig, folglich haben wir jetzt zurückgelegt ein Drittel und –?« und so weiter.
»Wassilij,« rufe ich, als ich bemerke, daß er auf dem Bock zu schlummern beginnt, »laß mich auf den Bock, mein Täubchen!«
Er geht darauf ein. Wir tauschen die Plätze; er fängt sofort zu schnarchen an und streckt sich so lang aus, daß niemand mehr im Wagen Platz hat; mir aber bietet sich von der Höhe, die ich nun einnehme, der angenehmste Anblick: unsere vier Pferde, Nerutschinskaja, Djatschok, das Deichselpferd Ljewaja und Apotheker, die ich bis in die geringsten Besonderheiten und feinsten Schattierungen ihrer Eigenart kenne.
»Warum ist Djatschok heute rechtes und nicht linkes Seitenpferd, Philipp?« frage ich etwas schüchtern.
»Djatschok?«
»Und Nerutschinskaja zieht gar nicht,« fahre ich fort.
»Djatschok darf nicht links eingespannt werden,« sagt Philipp, ohne meine letzte Bemerkung zu beachten; »das ist kein Pferd, das man links einspannen könnte. Links muß ein Pferd sein, das – na mit einem Wort ein Pferd; dies aber ist kein solches Pferd!«
Und bei diesen Worten neigt Philipp sich nach rechts und haut, die Zügel aus aller Kraft anziehend, den armen Djatschok immer wieder über den Schweif und über die Beine, so auf eine besondere Art, von unten herauf; ungeachtet dessen, daß Djatschok sich aufs äußerste anstrengt und den ganzen Wagen umzuwerfen droht, stellt Philipp dies Manöver erst ein, als er das Bedürfnis fühlt, sich zu erholen und seine Mütze aus unerfindlichen Gründen auf die Seite zu rücken, obgleich sie bisher sehr gut und fest auf seinem Kopfe saß. Ich benütze den günstigen Augenblick und bitte Philipp, mich ein wenig »kutschieren« zu lassen. Philipp gibt mir erst die eine Leine, dann die zweite; endlich habe ich alle sechs Zügel und die Peitsche in der Hand und fühle mich vollkommen glücklich. Ich bemühe mich, Philipp in jeder Hinsicht nachzuahmen, und frage ihn immer wieder, ob es so recht sei; gewöhnlich aber endet es damit, daß er mit mir nicht zufrieden ist: er behauptet, das eine Pferd ziehe zu viel, das andere gar nicht; schließlich nimmt er mir die Zügel wieder fort. – Die Hitze nimmt zu. Die Lämmerwölkchen blähen sich auf wie Seifenblasen, steigen höher und höher, vereinigen sich und nehmen eine dunkelgraue Färbung an. Aus dem Fenster der Kutsche streckt sich eine Hand mit einer Flasche und einem kleinen Bündel; Wassilij springt mit erstaunlicher Gewandtheit während der Fahrt vom Bock und bringt uns Käsekuchen und Kwaß.
An steilen Abhängen verlassen wir alle unsere Wagen und laufen manchmal um die Wette bis zur Brücke, während Wassilij und Jakob die Bremse anziehen und von beiden Seiten die Kutsche mit den Händen stützen, als wenn sie imstande wären, sie zu halten, wenn sie umfallen würde. Dann steige ich oder Wolodja mit Mimis Erlaubnis in die Kutsche, während Ljubotschka oder Katjenka im offenen Wagen Platz nehmen. Diese Übersiedelungen bereiten den Mädchen großes Vergnügen, denn sie finden mit Recht, daß es in unserm Wagen bedeutend lustiger ist. Zuweilen, wenn es allzu heiß wird, bleiben wir bei der Fahrt durch ein Wäldchen hinter der Kutsche zurück, brechen grüne Zweige von den Bäumen und bauen im Wagen eine Laube. Die fahrende Laube eilt dann in vollem Galopp der Kutsche nach, und Ljubotschka quietscht dabei mit der gellendsten Stimme, was sie nie unterläßt, wenn ihr etwas großes Vergnügen bereitet.
Nun ist das Dorf erreicht, in dem wir Mittag essen und ausruhen sollen. Es riecht auch schon »nach Dorf«: nach Rauch, Teer und Baranken Ringförmige, billige Brezeln, die in ganz Rußland sehr beliebt sind. (Anm. d. Übers.); man hört das Geräusch von Stimmen, Schritten und Rädern; die Schellen klingen nicht mehr so wie auf freiem Felde, und zu beiden Seiten tauchen strohgedeckte Bauernhäuser auf, mit ihren geschnitzten, weißgehobelten Vortreppen und den kleinen, von roten oder grünen Läden umrahmten Fenstern, an denen hier und da das Gesicht einer neugierigen Bäuerin erscheint. Da sind auch die Bauernkinder in bloßen Hemdchen: mit weit aufgerissenen Augen und gespreizten Fingern stehen sie unbeweglich da, oder sie rennen, mit den nackten Füßchen eilig durch den Staub trippelnd, trotz der drohenden Gebärden Philipps hinter den Wagen her und versuchen auf die Koffer zu klettern, die hinten an den Wagen befestigt sind. Nun laufen auch die rotblonden Hausknechte von beiden Seiten herbei und bemühen sich um die Wette, durch einladende Worte und Gebärden die Reisenden anzulocken. Tprrru! Zeichen des Kutschers zum Halten der Pferde. (Anm. d. Übers.) Das Tor knarrt, das Strangholz stößt an die Torflügel, und wir fahren in den Hof. Vier Stunden Rast und Freiheit!
Die Sonne neigte sich zum Untergang und brannte mir mit ihren schrägen, heißen Strahlen unerträglich auf Hals und Wangen; die Ränder des Wagens waren so glühend heiß, daß man sie unmöglich anfassen konnte; dichter Staub erhob sich von der Straße und erfüllte die Luft. Nicht der leiseste Windhauch wehte, um ihn fortzutragen. Vor uns schwankte in immer gleicher Entfernung das hohe, staubige Verdeck der Kutsche, hinter dem von Zeit zu Zeit Jakobs Mütze, der Hut und die Peitsche des Kutschers auftauchten. Ich wußte nicht, was ich anfangen sollte; weder das staubgeschwärzte Gesicht Wolodjas, der neben mir schlummerte, noch die Bewegungen von Philipps Rücken, noch der lange Schatten unseres Wagens, der in spitzem Winkel hinter uns herlief, bot mir Zerstreuung. All meine Aufmerksamkeit war den Werstpfählen zugewandt, die ich in der Ferne bemerkte, und den Wolken, die zuerst am Horizont verstreut waren, dann aber, eine drohende schwarze Färbung annehmend, sich zu einer großen, düsteren Wolke zusammenballten. Von Zeit zu Zeit donnerte es in der Ferne. Das verstärkte mehr als alles andere meine ungeduldige Sehnsucht, so schnell als möglich eine Herberge zu erreichen. Das Gewitter weckte in mir ein unsagbar drückendes Gefühl von Bangigkeit und Schrecken.
Bis zum nächsten Dorf hatten wir noch ungefähr zehn Werst, und eine große, dunkelviolette Gewitterwolke, die weiß Gott woher aufgetaucht war, zog, obgleich nicht der leiseste Wind sie trieb, schnell näher und näher. Die Sonne, die noch nicht von Wolken verdeckt ist, bescheint hell ihre düstere Masse und die grauen Streifen, die sich von ihr zum Horizonte hinabziehen. Von Zeit zu Zeit flammt in der Ferne ein Blitz auf und man hört ein schwaches Rollen, das sich allmählich verstärkt, näher kommt und in abgebrochenes, das ganze Himmelsgewölbe umfassendes Geknatter übergeht. Wassilij erhebt sich vom Bock und stellt das Verdeck unseres Wagens auf, die Kutscher werfen ihre weiten Mäntel über, nehmen bei jedem Donnerschlag die Mütze ab und bekreuzigen sich; die Pferde spitzen die Ohren, blähen die Nüstern, als zögen sie die frische Luft ein, welche die herannahende Gewitterwolke ausströmt, und der Wagen rollt schneller auf der staubigen Straße dahin. Mir wird beklommen zumute und ich fühle, wie das Blut rascher in meinen Adern kreist. Nun beginnen die vorderen Wolken bereits die Sonne zu verdecken; nun hat sie zum letztenmal hervorgeblickt, hat die unheimlich düstere Seite des Himmels bestrahlt und hat sich versteckt. Die ganze Gegend verändert sich plötzlich und nimmt einen düsteren Charakter an. Jetzt erzittert der Espenhain; die Blätter scheinen von schmutzigweißer Farbe, die sich grell vom violetten Hintergründe der Gewitterwolke abhebt, sie rauschen und schwanken; die Wipfel der großen Birken beginnen sich hin und her zu wiegen und Büschel trockenen Grases fliegen über den Weg. Weißbrüstige Schwalben umflattern unsern Wagen, als hätten sie die Absicht, uns aufzuhalten, und fliegen dicht vor der Brust der Pferde vorbei; Dohlen mit zerzausten Flügeln lassen sich förmlich seitwärts vom Winde tragen; die Ränder der Lederdecke, die wir vor die Öffnung des Verdeckes geknöpft haben, flattern auf, lassen feuchte Windstöße zu uns herein, schwingen hin und her und schlagen ans Verdeck. Der Blitz flammt so grell auf, als wäre er im Wagen selbst, blendet unsere Augen und erhellt für einen Moment das graue Tuch, die Borten und Wolodjas in eine Ecke geschmiegte Gestalt. Im selben Augenblick ertönt gerade über uns ein majestätisches Rollen, das – in mächtiger Spirallinie förmlich höher und höher steigend und breiter und breiter werdend, – sich allmählich verstärkt und in ein betäubendes Krachen übergeht, welches unwillkürlich zu erzittern und den Atem anzuhalten zwingt. Gottes Zorn! wieviel Poesie liegt doch in dieser Vorstellung des schlichten Volkes!
Die Räder drehen sich schneller und schneller; an den Rücken Wassilijs und Philipps, der ungeduldig an der Leine zupft, erkenne ich, daß auch sie Angst haben. Der Wagen rollt geschwind bergab und poltert über die Bretterbrücke; ich fürchte mich, eine Bewegung zu machen, und erwarte von Minute zu Minute unser aller Untergang.
Tprrru! Das Strangholz hat sich losgerissen, und ungeachtet des ununterbrochenen, betäubenden Donners sind wir gezwungen, auf der Brücke zu halten.
Den Kopf an den Wagenrand gelehnt, folge ich mit atemversetzender Herzbeklemmung hoffnungslos den Bewegungen der dicken, schmutzigen Finger Philipps, der langsam eine Schlinge knüpft und an den Strangriemen zieht, wobei er das Seitenpferd mit der flachen Hand und mit dem Peitschenstiel zur Seite stößt.
Die beunruhigenden Gefühle der Bangigkeit und Angst waren in mir mit dem Stärkerwerden des Gewitters gewachsen, und als der erhabene Augenblick der Totenstille eintrat, die dem Losbrechen des Unwetters vorauszugehen pflegt, hatten diese Gefühle einen so hohen Grad erreicht, daß ich überzeugt bin, ich wäre vor Aufregung gestorben, wenn dieser Zustand noch eine Viertelstunde gewährt hätte. Gerade zu dieser Zeit taucht unter der Brücke hervor in schmutzigem, zerrissenem Hemde ein menschliches Wesen auf, mit aufgedunsenem, stumpfsinnigem Gesichte, unbedecktem, wackelndem, kurzgeschorenem Kopfe, krummen, muskellosen. Beinen und einem roten, glänzenden Stumpfe statt der Hand, den er uns gerade in den Wagen hineinstreckt.
»He–err! Einem A–ar–men, um Chri–isti willen!« ertönt eine klägliche Stimme, und bei jedem Wort bekreuzigt sich der Bettler und neigt sich bis zur Erde.
Ich kann das Gefühl des kalten Entsetzens, das meine Seele in diesem Augenblick erfaßte, nicht beschreiben. Meine Haare sträubten sich, meine Blicke hingen mit der Sinnlosigkeit der Angst an dem Bettler.
Wassilij, der unterwegs die Almosen zu verteilen hat, gibt Philipp Ratschläge zur Befestigung des Strangholzes, und erst als alles fertig ist und Philipp, die Zügel zusammenfassend, wieder auf den Bock klettert, fängt er an, etwas aus der Seitentasche hervorzusuchen. Aber kaum hat unser Wagen sich in Bewegung gesetzt, als ein blendender Blitz, der für einen Moment die ganze Schlucht mit einem Feuerschein erfüllt, die Pferde zum Stehenbleiben bringt; ohne die geringste Zwischenpause folgt ihm ein so betäubendes Donnerkrachen, daß das ganze Himmelsgewölbe über uns zusammenzustürzen scheint. Der Wind wird stärker: die Mähnen und Schweife der Pferde, Wassilijs Mantel und die Ränder der Lederdecke nehmen alle die gleiche Richtung und flattern verzweifelt, von den gewaltigen Windstößen getrieben. Auf das Lederverdeck des Wagens fällt schwer ein großer Regentropfen, – ein zweiter, ein dritter, ein vierter, und plötzlich ist's als trommele jemand über uns, und die ganze Gegend hallt wider vom eintönigen Geräusch des herabstürzenden Regens. An den Bewegungen der Ellenbogen Wassilijs merke ich, daß er den Geldbeutel aufbindet; der Bettler läuft, sich unaufhörlich bekreuzigend und verneigend, dicht neben den Rädern her, so daß er jeden Augenblick überfahren werden kann. »Gib, um Chri – isti willen!« Endlich fliegt eine Kupfermünze an uns vorüber, und das erbarmungswürdige Geschöpf in dem die mageren Glieder umschließenden, bis auf den letzten Faden nassen, groben Hemde bleibt, vom Sturme hin und her geworfen, wie im Zweifel mitten auf der Straße stehen und entschwindet meinen Blicken.
Der schräg fallende Regen strömte, von starkem Winde getrieben, wie aus Kübeln; von Wassilijs mit langhaarigem Wollmantel bedecktem Rücken rieselten Bäche in die Pfütze trüben Wassers, die sich auf der Lederdecke gebildet hatte. Der zuerst zu Kügelchen zusammengeballte Straßenstaub verwandelte sich in flüssigen Schmutz, den die Räder kneteten; die Stöße wurden schwächer, und in den lehmigen Radspuren flössen trübe Bächlein. Die Blitze wurden breiter und blasser und das Rollen des Donners wurde durch das gleichmäßige Geräusch des Regens gedämpft.
Jetzt wird der Regen schwächer; die Gewitterwolke zerteilt sich allmählich in wellenförmige Wölkchen, wird an der Stelle, wo die Sonne stehen muß, heller und heller, und durch ihre grauweißen Ränder schimmert kaum bemerkbar ein Fleckchen klaren, blauen Himmels. Eine Minute später spiegelt sich bereits ein schüchterner Sonnenstrahl in den Pfützen der Landstraße, in den Streifen des wie durch ein Sieb senkrecht fallenden, feinen Regens und in dem abgewaschenen, glänzenden Grün des Straßengrases. Die schwarze Gewitterwolke bedeckt nun ebenso drohend wie zuvor die entgegengesetzte Seite des Himmelsgewölbes, aber ich fürchte sie nicht mehr. Ich empfinde ein unbeschreiblich wonniges Gefühl der Lebensfreude, welches das drückende Angstgefühl in mir schnell ablöst. Meine Seele lächelt mit der erfrischten, heiteren Natur. Wassilij schlägt den Mantelkragen zurück, nimmt die Mütze ab und schüttelt die Regentropfen herunter; Wolodja schiebt die Lederdecke fort; ich beuge mich aus dem Wagen und atme gierig die erfrischte, wohlriechende Luft ein. Das glänzende, rein gewaschene Verdeck der Kutsche mit dem Koffergestell und dem Reisegepäck schwankt vor uns her, die Rücken der Pferde, das Geschirr, die Leine, die Radreifen – alles ist naß und glänzt in der Sonne wie mit Lack überzogen. Auf der einen Seite der Straße erstreckt sich – hier und da durch kleine Schluchten unterbrochen – ein von Feuchtigkeit und Grün leuchtendes, unübersehbares Feld mit Wintergetreide wie ein dichter Teppich bis an den Horizont; auf der andern Seite steht ein Wäldchen von Zitterpappeln, mit Unterholz von Haselnußsträuchern und Faulbäumen, wie im Überschwang des Glückes regungslos da und läßt langsam die hellen Regentropfen von seinen reingewaschenen Zweigen auf das dürre Laub des Vorjahres fallen. Überall kreisen die schopfköpfigen Lerchen mit fröhlichem Liede und schießen schnell aus der Luft herab; im nassen Gebüsch hört man das geschäftige Treiben der kleinen Vögel, und mitten aus dem Wäldchen heraus klingt heller Kuckucksruf. So berauschend ist der herrliche Waldesduft nach dem Frühlingsgewitter, der Duft der Birken, Veilchen, Morcheln, des welken Laubes, des Faulbaums, daß ich's nicht länger im Wagen aushalte, vom Trittbrett springe, ins Gebüsch eile und – ungeachtet dessen, daß ich mit Regentropfen überschüttet werde – die nassen Zweige des eben erblühten Faulbaumes pflücke, mir damit ins Gesicht schlage und mich an ihrem wundervollen Duft berausche. Ohne darauf zu achten, daß an meinen Stiefeln riesige Klumpen Lehms kleben und daß meine Strümpfe längst durchnäßt sind, laufe ich durch den klatschenden Straßenschmutz ans Fenster der Kutsche.
»Ljubotschka! Katjenka!« rufe ich, einige Faulbaumzweige hineinreichend, »seht nur, wie hübsch!«
Die Mädchen quietschen, kreischen; Mimi schreit, ich solle fortgehen, sonst würde ich unbedingt überfahren.
»So riech' doch, wie das duftet!« rufe ich.
Katjenka saß neben mir in unserem Wagen und verfolgte, das hübsche Köpfchen gesenkt, nachdenklich den unter den Rädern entschwindenden, staubigen Weg. Ich blickte sie schweigend an und wunderte mich über den unkindlichen, traurigen Ausdruck, den ich zum ersten Male auf ihrem rosigen Gesichtchen bemerkte.
»Nun kommen wir bald nach Moskau,« sagte ich, »wie denkst du, sieht es wohl aus?«
»Ich weiß nicht,« antwortete sie unlustig.
»Na aber dennoch, wie denkst du, ist es größer als Serpuchow oder nicht?«
»Was?«
»Ach nichts.«
Aber mit dem instinktiven Gefühl, mit welchem ein Mensch die Gedanken des andern errät und welches als Leitfaden des Gespräches dient, begriff Katjenka, daß ihre Gleichgültigkeit mich kränkte; sie hob den Kopf und wandte sich zu mir.
»Hat Papa euch gesagt, daß wir bei Großmama wohnen werden?«
»Ja, Großmama will ganz mit uns zusammenwohnen.«
»Und wir werden alle zusammenwohnen?«
»Versteht sich; wir werden oben auf der einen Seite wohnen und ihr auf der andern, und Papa im Seitenflügel; speisen werden wir alle zusammen unten bei Großmama.«
»Mama sagt, Großmama sei so ernst und böse?«
»N–nein, das scheint nur so anfangs; sie ist ernst, aber durchaus nicht böse, im Gegenteil, sehr gut und lustig. Wenn du nur gesehen hättest, was für einen Ball wir zu ihrem Namenstag hatten.«
»Dennoch, ich fürchte mich vor ihr. Übrigens weiß Gott, ob wir –«
Katjenka verstummte plötzlich und wurde wieder nachdenklich.
»Was denn?« fragte ich unruhig.
»Nichts; ich meinte nur.«
»Nein, du sagtest doch: ›Gott weiß – ‹«
»Du hast gesagt, daß ein Ball bei Großmama war?«
»Ja, schade, daß ihr nicht dabei waret. Es waren eine Menge Gäste da, gegen tausend Personen, Musik, Generäle, – und ich habe getanzt. – Katjenka,« unterbrach ich plötzlich meine Beschreibung, »du hörst nicht zu.«
»Doch, ich höre, du sagtest, daß du getanzt hast.«
»Warum bist du so verstimmt?«
»Man kann doch nicht immer lustig sein.«
»Nein, du hast dich sehr verändert, seit wir aus Moskau gekommen sind. Sag' mir die Wahrheit,« fügte ich entschlossen hinzu, indem ich mich ihr zukehrte, »warum bist du so sonderbar geworden?«
»Bin ich denn sonderbar?« antwortete Katjenka mit einer Lebhaftigkeit, welche bewies, daß meine Bemerkung sie interessierte, »ich bin doch gar nicht sonderbar.«
»Nein, du bist nicht mehr so wie früher,« fuhr ich fort, »früher sah man, daß du in allem mit uns eins warst, daß du uns wie deine Verwandten betrachtetest und uns so lieb hattest wie wir dich, und jetzt bist du so ernst geworden, hältst dich von uns fern –«
»Aber gar nicht!«
»Nein, laß mich ausreden,« unterbrach ich sie, während ich schon das leise Kitzeln in der Nase spürte, das den Tränen vorausgeht, welche mir immer in die Augen traten, wenn ich einen lang zurückgehaltenen Herzensgedanken aussprach, »du hältst dich von uns fern, du sprichst nur mit Mimi, als ob du uns nicht mehr kennen wolltest.«
»Man kann sich doch nicht immer gleich bleiben, irgendwann muß man sich doch verändern,« antwortete Katjenka, welche die Gewohnheit hatte, alles durch eine Art fatalistischer Notwendigkeit zu erklären, wenn sie nicht wußte, was sie sagen sollte. Ich erinnere mich, daß sie einmal während eines Streites mit Ljubotschka, die sie ein »dummes Mädel« genannt hatte, erwiderte, es können ja nicht alle klug sein, es müsse auch Dumme geben. Aber ihre Antwort, daß man sich irgendwann verändern müsse, befriedigte mich nicht, und ich fuhr fort zu fragen:
»Warum muß man das?«
»Wir werden doch nicht immer zusammen bleiben,« antwortete Katjenka leicht errötend und aufmerksam Philipps Rücken betrachtend, »Mamachen konnte bei eurer seligen maman leben, weil sie befreundet waren, aber weiß Gott, ob sie mit der Gräfin, die, wie man sagt, so böse ist, übereinstimmen wird? Und auch sonst, irgendwann müssen wir uns ja doch trennen: ihr seid reich, ihr besitzt Petrowskoje, und wir sind arm, Mamachen besitzt gar nichts.«
»Ihr seid reich, wir sind arm,« diese Worte und die Begriffe, die mit ihnen verbunden waren, erschienen mir außerordentlich sonderbar; nach meinen damaligen Begriffen konnten nur Bettler und Bauern arm sein, und diese Vorstellung von der Armut konnte ich durchaus nicht mit der graziösen, hübschen Katjenka in Verbindung bringen. Es schien mir, daß Mimi und Katjenka, wenn sie schon immer bei uns gelebt hatten, auch immer mit uns leben und alles mit uns teilen würden, anders konnte es gar nicht sein. Jetzt aber schwirrten mir tausend neue, unklare Gedanken über ihre Gleichstellung mit uns durch den Kopf, und ich schämte mich so sehr, daß wir reich und sie arm seien, daß ich errötete und mich nicht getraute, Katjenka anzusehen.
»Was ist denn dabei, daß wir reich und sie arm sind,« dachte ich, »und warum ergibt sich daraus die Notwendigkeit einer Trennung, warum sollten wir nicht gleichmäßig teilen, was wir besitzen?« Aber ich begriff, daß man mit Katjenka darüber nicht sprechen konnte, und ein gewisser, praktischer Instinkt sagte mir schon im Gegensatz zu dieser logischen Betrachtung, daß sie recht habe und daß es nicht am Platze wäre, ihr meine Gedanken zu entwickeln.
»Wirst du wirklich von uns fortgehen?« fragte ich, »wie sollen wir denn ohne einander leben?«
»Was ist dabei zu machen? Es tut mir selbst weh, aber wenn es geschehen sollte, so weiß ich, was ich tu.«
»Du willst Schauspielerin werden, so eine Dummheit!« unterbrach ich sie, weil ich wußte, daß es immer ihr Lieblingstraum gewesen war, zur Bühne zu gehen.
»Nein, das habe ich gesagt, als ich noch klein war.«
»Also was wirst du tun?«
»Ich werde ins Kloster gehen, werde dort wohnen und in einem schwarzen Kleidchen und Sammethäubchen umhergehen.«
Und Katjenka begann zu weinen.
Ist es dir, lieber Leser, in einem bestimmten Lebensabschnitt begegnet, daß du plötzlich gewahr wirst, deine Anschauungen von den Dingen verändern sich völlig, so als ob alle Gegenstände, die du bisher gesehen hast, dir plötzlich eine andere, noch unbekannte Seite zukehren? Eine solche moralische Umwälzung vollzog sich in mir zum erstenmal während jener Reise, von der ich auch den Anfang meines Knabenalters datiere.
Zum erstenmal kam mir die Erkenntnis, daß wir, das heißt unsere Familie, nicht allein auf der Welt seien, daß alle Interessen sich nicht uns allein zuwenden, und daß auch noch andere Leute existieren, die mit uns nichts gemeinsam haben, sich nicht um uns kümmern und sogar von unserer Existenz nichts ahnen. Ich hatte das alles ohne Zweifel auch früher gewußt, aber ich hatte es nicht so gewußt, wie ich es jetzt erkannte; es war mir nicht zum Bewußtsein gekommen, ich hatte es nicht empfunden.
Ein Gedanke wird zur Überzeugung nur auf einem bestimmten Wege, der oft ganz unerwartet ist und sich von den Wegen unterscheidet, welche ein anderer Geist durchläuft, um dieselbe Überzeugung zu erlangen. Mein Gespräch mit Katjenka, das mich sehr rührte und mich zwang, über ihre zukünftige Lage nachzudenken, war für mich dieser Weg. Wenn ich die Dörfer und Städte betrachtete, durch welche wir fuhren, in denen jedes Haus wenigstens von einer solchen Familie, wie die unsere, bewohnt war, wenn ich die Frauen und Kinder ansah, die mit momentaner Neugier unserem Wagen nachblickten und für immer unseren Augen entschwanden, die Krämer, die Bauern, die uns nicht nur nicht grüßten, wie ich das in Petrowskoje gewöhnt war, sondern uns nicht einmal eines Blickes würdigten, dann ging mir zum erstenmal die Frage durch den Kopf: Was beschäftigt sie wohl, wenn sie sich gar nicht um uns kümmern? Und aus dieser einen Frage bildeten sich andere: Wie und wovon leben sie? wie erziehen sie ihre Kinder? lehren sie sie? erlauben sie ihnen zu spielen? wie bestrafen sie sie? und so weiter.
Mit der Ankunft in Moskau wurde die Veränderung meiner Anschauungen über Dinge und Personen und meiner Beziehungen zu ihnen noch merkbarer.
Bei meiner ersten Wiederbegegnung mit Großmama, als ich ihr mageres, runzeliges Gesicht und die glanzlosen Augen sah, verwandelte sich das Gefühl der ehrerbietigen Achtung und Scheu, das ich für sie empfunden hatte, in Mitleid; und als sie, ihr Gesicht an Ljubotschkas Kopf gelehnt, so aufschluchzte, als sehe sie den Leichnam der geliebten Tochter, wandelte sich das Mitleid in mir in das Gefühl der Liebe. Es war mir unbehaglich, ihre Trauer bei der Begegnung mit uns mit anzusehen; ich begriff, daß wir selbst in ihren Augen gar nichts galten, daß wir ihr nur als eine Erinnerung teuer waren; ich fühlte, daß in jedem der Küsse, mit denen sie mein Gesicht bedeckte, der eine Gedanke zum Ausdruck kam: sie ist nicht mehr, sie ist tot, ich werde sie nie mehr wiedersehen.
Papa, der sich in Moskau fast gar nicht mit uns beschäftigte und mit ewig sorgenvollem Gesicht nur zum Mittagessen in schwarzem Gesellschaftsrock oder Frack zu uns kam, hatte gleichzeitig mit dem Aufgeben seiner großen Umschlagkragen, seines Schlafrockes, seiner Aufseher und Verwalter, der Spaziergänge zur Tenne und auf die Jagd in meinen Augen viel verloren. Karl Iwanowitsch, den die Großmutter »Instruktor« nannte und der plötzlich, weiß Gott warum, auf den Einfall kam, seine ehrwürdige, mir wohlbekannte Glatze durch eine rote Perücke mit schnurgeradem Scheitel in der Mitte des Kopfes zu verdecken, erschien mir so seltsam und komisch, daß ich mich wunderte, wie ich das früher nicht bemerkt hatte.
Zwischen den Mädchen und uns bildete sich ebenfalls eine unsichtbare Scheidewand; sie sowohl als wir hatten schon unsere Geheimnisse, es war als prahlten sie vor uns mit dem Längerwerden ihrer Röckchen und wir vor ihnen mit unseren Strippenbeinkleidern. Mimi aber erschien gleich am ersten Sonntag zu Mittag in einem so prächtigen Kleide und mit solchen Bändern auf dem Kopf, daß man sofort merkte, wir seien nicht mehr auf dem Lande, und alles werde nun anders werden.
Ich war nur um ein Jahr und einige Monate jünger als Wolodja. Wir wuchsen zusammen auf, lernten und spielten immer zusammen; man hatte zwischen uns gar keinen Unterschied des Älteren und des Jüngeren gemacht. Aber gerade um die Zeit, von welcher ich jetzt erzähle, begann ich zu verstehen, daß Wolodja an Jahren, Neigungen und Fähigkeiten nicht mein Genosse sei; es kam mir sogar vor, als ob Wolodja selbst sich seines Erstgeburtsrechtes bewußt und darauf stolz werde. Diese vielleicht trügerische Überzeugung flößte mir eine Eigenliebe ein, welche bei jedem Zusammenstoß mit ihm litt. Er war mir in allem überlegen: im Spiel, im Lernen, in Streitigkeiten, im Benehmen, und alles dieses entfernte mich von ihm und ließ mich mir unverständliche, moralische Leiden erdulden. Hätte ich, als Wolodja zum ersten Male Hemden aus holländischem Leinen mit Fältchen bekam, geradeheraus gesagt, daß es mich sehr kränkte, nicht ebensolche Wäsche zu haben, – ich bin überzeugt, mir wäre leichter zumute geworden und ich hätte nicht jedesmal, wenn er seinen Kragen richtete, mir eingebildet, er tue das nur, um mich zu kränken.
Am meisten quälte mich, daß Wolodja, wie es mir manchmal schien, mich verstand, sich aber bemühte, das zu verbergen.
Wer kennt nicht jene geheimnisvollen, wortlosen Beziehungen, die sich in dem kaum merklichen Lächeln, in einer Bewegung oder in einem Blick, bei Menschen, die immer zusammenleben, verraten: bei Brüdern, Freunden, Ehegatten, bei Herr und Diener, besonders, wenn diese Leute nicht vollständig aufrichtig gegeneinander sind. Wie viele unausgesprochene Wünsche und Gedanken, wieviel Furcht, durchschaut zu werden, drücken sich in einem zufälligen Blicke aus, wenn die Augen sich scheu und zaghaft begegnen!
Aber vielleicht täuschten mich in dieser Hinsicht meine übermäßige Eindrucksfähigkeit und meine Neigung, alles zu zergliedern; vielleicht empfand Wolodja überhaupt nicht so wie ich. Er war feurig, aufrichtig und unbeständig in seiner Begeisterung; die verschiedensten Dinge entzückten ihn, und er gab sich ihnen mit ganzer Seele hin.
Bald überkam ihn eine Leidenschaft für Bilder; er fing selbst zu zeichnen an, kaufte Bilder für sein ganzes Geld, erbat sich welche vom Zeichenlehrer, von Papa, von Großmama; bald eine Leidenschaft zu Dingen, mit welchen er sein Tischchen schmückte und die er im ganzen Haus sammelte; bald eine Passion für Romane, die er sich heimlich verschaffte und ganze Tage und Nächte hindurch las. – Ich wurde unwillkürlich von seinen Leidenschaften mit fortgerissen, aber ich war zu stolz, um ihm nachzuahmen, und zu jung und unselbständig, um meinen eigenen Weg zu gehen. Am allermeisten aber beneidete ich den glücklichen, vornehmen, aufrichtigen Charakter Wolodjas, der sich besonders deutlich in den Streitigkeiten äußerte, die wir zuweilen miteinander hatten. Ich fühlte, daß er schön handelte, aber ich konnte es ihm nicht gleichtun.
Einst, als seine Leidenschaft für Nippsachen ihren höchsten Grad erreicht hatte, trat ich an seinen Tisch heran und zerbrach unabsichtlich ein leeres, buntfarbiges Riechfläschchen.
»Wer hat dich gebeten, meine Sachen anzufassen?« fragte Wolodja, der eben ins Zimmer trat und die Unordnung bemerkte, die ich in der Symmetrie der verschiedenen Dekorationen seines Tischchens verursacht hatte. »Und wo ist das Fläschchen? Du hast es gewiß –«
»Ich habe es unabsichtlich fallen lassen und es ist zerbrochen; was ist denn dabei für ein Unglück?«
»Sei so gut und unterstehe dich niemals, meine Sachen anzurühren,« sagte er, die Scherben des zerschlagenen Fläschchens sammelnd und sie betrübt betrachtend.
»Bitte, kommandiere nicht,« antwortete ich, »hab' ich's zerbrochen, so hab' ich's zerbrochen, was ist da weiter darüber zu reden?« und ich lächelte, obgleich mir gar nicht nach Lächeln zumute war.
»Ja, dir ist es gleichgültig, aber mir nicht,« fuhr Wolodja fort und machte die Bewegung des Achselzuckens, die er von Papa geerbt hatte; »erst zerschlägt er's und dann lacht er noch! So ein unausstehlicher Bengel!«
»Ich bin ein Bengel, und du bist ein großer Herr, aber ein Dummkopf!«
»Ich habe keine Lust, mich mit dir herumzuzanken,« sagte Wolodja, indem er mich leicht fortstieß: »mach', daß du fortkommst.«
»Stoß mich nicht!«
»Ich sage dir, stoß mich nicht!«
Wolodja packte mich am Arm und wollte mich vom Tisch fortziehen, aber ich war schon aufs äußerste gereizt, ergriff das Tischbein und warf den Tisch um. »Da hast du's nun!« Und alle die Porzellan- und Kristallsächelchen flogen klirrend zu Boden.
»Unausstehlicher Bengel!« schrie Wolodja, indem er sich bemühte, die fallenden Sachen aufzufangen.
»Nun, jetzt ist alles aus zwischen uns,« dachte ich, als ich das Zimmer verließ, »jetzt sind wir für alle Ewigkeit entzweit.«
Bis zum Abend sprachen wir nicht miteinander. Ich fühlte mich schuldig, fürchtete mich, ihn anzusehen, und konnte mich den ganzen Tag mit nichts beschäftigen; Wolodja lernte gut und plauderte und lachte nach dem Mittagessen wie gewöhnlich mit den Mädchen.
Sobald der Lehrer den Unterricht beendet hatte, ging ich aus dem Zimmer: es war mir ängstlich, unbehaglich und peinlich, mit meinem Bruder allein zu bleiben. Nach der Geschichtsstunde am Abend nahm ich meine Hefte und ging zur Tür. Als ich an Wolodja vorbeikam, wäre ich gern an ihn herangetreten und hätte mich mit ihm versöhnt; trotzdem bemühte ich mich, ein böses Gesicht zu machen. In diesem Augenblick hob Wolodja den Kopf und blickte mir mit einem kaum merklichen, gutmütig spöttischen Lächeln grade ins Gesicht. Unsere Blicke begegneten sich, und ich merkte, daß er mich durchschaut hatte und auch wußte, daß ich das merke; aber ein unüberwindliches Gefühl zwang mich, mich abzuwenden.
»Nikolenka,« sagte er ganz schlicht, ohne jede Spur von Pathos, »genug des Ärgers, verzeihe mir, wenn ich dich gekränkt habe,« und er streckte mir die Hand entgegen.
Mir war es, als würgte mich ein Etwas, das in meiner Brust höher und höher stieg und meine Kehle zuschnürte, aber das währte nur eine Sekunde: meine Augen füllten sich mit Tränen und mir wurde leichter zumute.
»Verzeihe – mir, – Wolodja,« sagte ich, seine Hand drückend. Wolodja aber schaute mich an, als begreife er gar nicht, warum ich Tränen in den Augen habe.
»Um Gottes willen, Pulver!« schrie Mimi mit vor Erregung zitternder Stimme, »was macht ihr? Wollt ihr das Haus anzünden, uns alle umbringen?«
Und mit einem unbeschreiblichen Ausdruck mutiger Energie befahl Mimi allen, zur Seite zu treten, ging mit großen, energischen Schritten auf das ausgestreute Schrot zu und begann, der Gefahr nicht achtend, die aus einer plötzlichen Explosion entstehen konnte, es mit den Füßen zu treten. Als die Gefahr nach ihrer Meinung vorüber war, rief sie Michej und befahl ihm, dieses ganze »Pulver« weit fortzuschaffen, oder besser noch, ins Wasser zu werfen, und schritt mit stolzer Kopfbewegung dem Salon zu. »Gut wird auf sie geachtet!« murmelte sie.
Als Papa aus dem Seitenflügel kam und wir mit ihm zu Großmama gingen, saß Mimi bereits in deren Zimmer am Fenster und sah mit geheimnisvoller Amtsmiene drohend nach der Tür. Sie hielt etwas in der Hand, das in mehrere Papiere gewickelt war; ich erriet, daß es das Schrot war und daß Großmama bereits alles wußte.
Außer Mimi befand sich in Großmamas Zimmer noch das Stubenmädchen Gascha, die, wie man an ihrem zornroten Gesicht bemerken konnte, sehr aufgebracht war, und Doktor Blumental, ein kleiner, pockennarbiger Herr, der sich vergebens bemühte, Gascha zu beruhigen, indem er ihr mit Kopf und Augen geheimnisvolle, begütigende Zeichen machte.
Großmama selbst saß ein wenig abseits und legte die Patience »Der Reisende,« was immer auf eine sehr ungnädige Stimmung schließen ließ.
»Wie fühlen Sie sich heute, maman, haben Sie wohl geruht?« fragte Papa, ihr ehrfurchtsvoll die Hand küssend.
»Vortrefflich, mein Lieber, Sie scheinen ja zu wissen, daß ich immer vollkommen gesund bin,« antwortete Großmama in einem Tone, als ob Papas Frage die unangemessenste und beleidigendste von der Welt wäre. »Nun, wollen Sie mir nicht ein reines Taschentuch geben?« fuhr sie zu Gascha gewendet fort.
»Ich hab' es Ihnen schon gegeben,« erwiderte Gascha und zeigte auf ein schneeweißes Batisttuch, das auf der Armlehne des Sessels lag.
»Nehmen Sie diesen schmutzigen Wisch fort und geben Sie mir ein reines, meine Liebe.«
Gascha ging an die Chiffoniere, zog eine Schublade auf und stieß sie so kräftig zurück, daß die Scheiben im Zimmer klirrten. Großmama blickte uns alle streng an und fuhr fort, jeder Bewegung des Stubenmädchens genau zu folgen. Als Gascha ihr, wie mir schien, dasselbe Tuch gereicht hatte, sagte Großmama:
»Wann werden Sie mir den Schnupftabak reiben, meine Liebe?«
»Wenn ich Zeit habe, werde ich ihn reiben.«
»Was sagen Sie?«
»Heute werd' ich's tun.«
»Wenn Sie mir nicht dienen wollen, meine Liebe, so brauchten Sie es doch nur zu sagen, ich hätte Sie längst entlassen.«
»Wenn Sie mich entlassen, ich werde nicht weinen,« brummte das Mädchen halblaut.
Der Doktor winkte ihr immerfort zu, doch sie blickte ihn so zornig und entschlossen an, daß er den Kopf senkte und mit seinem Uhrschlüssel zu spielen begann.
»Sehen Sie, mein Lieber,« sagte Großmama zu Papa, als Gascha brummend das Zimmer verlassen hatte, »wie man mit mir in meinem eigenen Hause spricht.«
»Erlauben Sie, maman, daß ich selbst Ihnen den Tabak reibe,« sagte Papa, den diese unerwartete Anrede sichtlich in große Verlegenheit brachte.
»Nein, ich danke Ihnen, sie ist ja daher so grob, weil sie weiß, daß niemand außer ihr es versteht, den Tabak so zu reiben, wie ich ihn gerne habe. – Wissen Sie, mein Lieber,« fuhr Großmama nach kurzem Schweigen fort, »daß Ihre Kinder heute beinahe das Haus angezündet hätten?«
Papa sah Großmama mit ehrfurchtsvoller Neugier an.
»Ja, mit solchen Sachen spielen sie; zeigen Sie, bitte,« sagte sie zu Mimi gewandt.
Papa nahm das Schrot in die Hand und konnte sich eines Lächelns nicht enthalten.
»Das ist ja Schrot, maman,« sagte er, »das ist ganz ungefährlich.«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, mein Lieber, daß Sie mich belehren, nur bin ich schon zu alt –«
»Die Nerven, die Nerven,« flüsterte der Arzt.
Und Papa wandte sich sofort zu uns.
»Wo habt ihr das hergenommen? Und wie könnt ihr es wagen, mit solchen Sachen Unfug zu treiben?«
»Nicht die Kinder müssen Sie fragen, sondern den Instruktor,« sagte Großmama, indem sie das Wort Instruktor ganz besonders verächtlich aussprach: »wie achtet er denn auf die Knaben?«
»Woldemar sagt, Karl Iwanowitsch selbst habe ihm dieses Pulver gegeben,« mischte sich Mimi ins Gespräch.
»Nun, sehen Sie, wie gut er ist,« fuhr Großmama fort, »wo ist er denn, dieser Instruktor? – Wie heißt er doch? Rufen Sie ihn her!«
»Ich habe ihm Urlaub gegeben, einen Besuch zu machen,« sagte Papa.
»Das ist unvernünftig, er muß immer hier sein. Es sind Ihre Kinder und nicht meine, und ich habe kein Recht, Ihnen einen Rat zu geben, da Sie klüger sind als ich,« sprach Großmama weiter, »aber ich denke, es wäre Zeit, für die Knaben einen Hofmeister zu nehmen und nicht so einen Instruktor, einen deutschen Bauern. Ja, einen dummen Bauern, der sie nichts lehren kann als schlechte Manieren und Tiroler Lieder. Es ist wohl sehr wichtig für die Kinder, frage ich Sie, daß sie Tiroler Lieder singen können? Übrigens, jetzt ist ja niemand da, der sich um so etwas kümmert, und Sie können machen, was sie wollen.«
Das Wort »jetzt« bedeutete: weil sie keine Mutter haben, und weckte in Großmamas Herzen wehmütige Erinnerungen: sie senkte die Augen auf die Tabaksdose mit dem Porträt und wurde nachdenklich.
»Ich habe schon lange daran gedacht,« beeilte sich Papa zu antworten, »und ich wollte mich mit Ihnen darüber besprechen, maman; sollten wir nicht St. Jérôme ins Haus nehmen, der sie jetzt stundenweise unterrichtet?«
»Daran würdest du sehr gut tun, mein Freund,« sagte Großmama mit einer weniger unwilligen Stimme als früher, »St. Jérôme ist doch wenigstens ein gouverneur, der weiß, wie man des enfants de bonne maison erzieht, und kein ménin, der nur dazu taugt, die Kinder spazieren zu führen.«
»Gleich morgen werd' ich mit ihm sprechen,« sagte Papa.
Und in der Tat, zwei Tage nach diesem Gespräch mußte Karl Iwanowitsch seine Stelle einem jungen, geckenhaften Franzosen abtreten.
Spät abends vor dem Tage, an welchem Karl Iwanowitsch uns auf immer verlassen sollte, stand er in seinem wattierten Schlafrock und mit dem roten Käppchen neben seinem Bett über einen Koffer gebeugt und packte sorgfältig seine Sachen.
Karl Iwanowitsch hatte sich in letzter Zeit sehr kühl gegen uns verhalten. Es war, als vermeide er jeden Verkehr mit uns; auch jetzt, als ich ins Zimmer trat, blickte er mich nur von unten herauf an und setzte ruhig seine Arbeit fort. Ich warf mich auf mein Bett und Karl Iwanowitsch, der das früher streng verboten hatte, sagte nichts dazu; der Gedanke, daß er uns in Zukunft nicht mehr schelten, uns nie mehr etwas verbieten werde, daß er jetzt gar nichts mehr mit uns zu tun habe, erinnerte mich lebhaft an die bevorstehende Trennung. Es betrübte mich, daß er uns nicht mehr gern hatte, und ich wollte diesem Gefühle Ausdruck geben.
»Erlauben Sie, daß ich Ihnen helfe, Karl Iwanowitsch?« sagte ich nähertretend.
Karl Iwanowitsch schaute mich an und wandte sich wieder ab. Aber in dem flüchtigen Blick, den er mir zuwarf, las ich nicht die Gleichgültigkeit, mit welcher ich mir seine Kälte erklärt hatte, sondern tiefe, aufrichtige Trauer.
»Gott sieht alles und weiß alles, ohne seinen heiligen Willen geschieht nichts,« sagte er, indem er sich in seiner ganzen Größe aufrichtete und schwer aufseufzte; »ja, Nikolenka,« fuhr er fort, als er den Ausdruck ungeheuchelter Teilnahme bemerkte, mit dem ich ihn anschaute, »mein Schicksal ist es, unglücklich zu sein, von frühester Kindheit bis zum Grabe. Man hat mir stets das Gute, das ich den Menschen erwies, mit Bösem vergolten, aber mein Lohn ist nicht von dieser Welt, sondern von jener,« sagte er, gen Himmel weisend. »Wenn Sie meine Geschichte kennen würden und wüßten, was alles ich im Leben schon erduldet habe! Ich war Schuhmacher, ich war Soldat, ich war Deserteur, war Fabrikant und Lehrer, und jetzt bin ich eine Null, und wie Gottes Sohn habe ich nichts, da ich mein Haupt hinlege,« sagte er und ließ sich mit geschlossenen Augen in seinem Lehnstuhl nieder.
Da ich merkte, daß Karl Iwanowitsch in der gefühlvollen Stimmung war, in welcher er, ohne auf die Zuhörer zu achten, für sich selbst seine innersten Gedanken auszusprechen pflegte, setzte ich mich schweigend auf das Bett und wandte die Augen nicht von seinem gutmütigen Gesichte.
»Sie sind kein Kind mehr, Sie können es verstehen, ich will Ihnen meine Geschichte erzählen und alles, was ich bereits Schweres erlebt habe. Später einmal werden Sie sich des alten Freundes erinnern, der euch Kinder so sehr geliebt hat.«
Karl Iwanowitsch stützte den Ellbogen auf das Tischchen, das neben ihm stand, nahm eine Prise, richtete den Blick gen Himmel und begann mit dem gleichmäßigen Kehlton, mit dem er uns gewöhnlich diktierte, seine Erzählung.
»Das Unglück verfolgte mich schon im Mutterschoße,« sagte er in gebrochenem Russisch und wiederholte es dann noch gefühlvoller in seiner Muttersprache.
Da Karl Iwanowitsch mir später mehr als einmal in derselben Reihenfolge, mit denselben Ausdrücken und mit stets gleich bleibender Betonung seine Geschichte erzählt hat, so hoffe ich sie fast wörtlich wiedergeben zu können; natürlich ohne die Unrichtigkeiten in der Sprache, die ich schon angedeutet habe. Ob es wirklich seine Geschichte war oder vielleicht ein Erzeugnis seiner Phantasie, welches während seines einsamen Lebens in unserem Hause zustandegekommen war und an welches er durch das häufige Wiederholen selbst glaubte, oder ob er nur mit phantastischen Erfindungen die wirklichen Ereignisse seines Lebens ausschmückte, – das habe ich bis zur Stunde nicht entscheiden können. Einerseits erzählte er seine Geschichte mit zu lebhafter Empfindung und methodischer Folgerichtigkeit, die ja die Hauptmerkmale der Wahrscheinlichkeit bilden, andererseits enthielt seine Geschichte zuviel poetische Schönheiten, so daß grade diese Schönheiten Zweifel hervorriefen.
»In meinen Adern fließt das edle Blut der Grafen von Sommerblatt,« sagte er erst russisch, dann deutsch, »der Mann meiner Mutter (ich nannte ihn Papa) war Pächter beim Grafen Sommerblatt; er konnte die Schande meiner Mutter nicht vergessen und liebte mich nicht. Ich hatte einen kleinen Bruder, Johann, und zwei Schwestern, aber ich war ein Fremder in meiner eigenen Familie. Wenn Johann ungezogen war, so sagte Papa: ›Von diesem Bengel Karl habe ich keinen Augenblick Ruhe,‹ und ich wurde gescholten und bestraft; wenn die Schwestern miteinander stritten, sagte Papa: ›Karl wird nie ein gehorsamer Junge werden,‹ und ich wurde gescholten und bestraft; nur mein gutes Mütterchen liebte und küßte mich. Oft sagte sie zu mir: ›Karl, komm herein in mein Zimmer!‹ und dann küßte sie mich heimlich. ›Armer, armer Karl,‹ sagte sie, ›niemand liebt dich, aber ich möchte dich um nichts in der Welt hergeben, nur um eines bittet dich dein Mütterchen,‹ sprach sie zu mir, ›lerne gut und trachte nur, ein ehrlicher Deutscher zu werden, und der liebe Gott wird dich nicht verlassen.‹ Ich gab mir alle Mühe; als ich vierzehn Jahre alt geworden war und zur Kommunion gehen durfte, sagte Mama zu Papa: ›Karl ist nun ein großer Junge, Gustav, was sollen wir mit ihm anfangen?‹ Und Papa antwortete: ›Ich weiß nicht.' Da sagte Mama: ›Geben wir ihn in die Stadt zu Herrn Schulz, er soll Schuhmacher werden,‹ und mein Vater sagte: ›Gut.‹
Sechs Jahre und sieben Monate lebte ich in der Stadt beim Schustermeister, und mein Herr hatte mich gern. Er sagte: ›Karl ist ein guter Arbeiter und wird bald mein Geselle sein.‹ Aber der Mensch denkt und Gott lenkt! Im Jahre 1796 fand eine Konskription statt, und jeder Bursche zwischen achtzehn und einundzwanzig Jahren, der zum Soldaten taugte, mußte sich in der Stadt einfinden. Papa und mein Bruder Johann kamen in die Stadt, und wir gingen zusammen das Los zu ziehen, wer Soldat werden sollte und wer nicht; Johann zog eine schlechte Nummer, – er mußte Soldat werden; ich zog eine gute Nummer, – ich brauchte nicht Soldat zu werden. Aber Papa sagte: ›Ich hatte einen einzigen Sohn, und von diesem muß ich mich trennen‹; ich faßte seine Hand und sprach: ›Warum sprechen Sie so, Papachen, kommen Sie mit mir, ich will Ihnen etwas sagen!‹ Und Papa ging mit mir, und wir setzten uns in einem Wirtshaus an einen kleinen Tisch. ›Bringen Sie uns zwei Krüge,‹ sagte ich, und man brachte sie uns. Wir tranken jeder ein Gläschen und mein Bruder Johann trank ebenfalls. ›Papachen,‹ sagte ich, ›sagen Sie nicht, Sie hätten nur einen Sohn und müßten sich von ihm trennen; mir will das Herz aus dem Leibe springen, wenn ich so etwas höre; Bruder Johann soll nicht dienen, ich werde Soldat werden. Karl ist hier niemand nötig und Karl wird Soldat werden.‹ – ›Du bist ein braver Mensch, Karl Iwanowitsch,‹ sagte mir Papa und küßte mich, ›du bist ein braver Bursche.‹ Und ich wurde Soldat.«
»Es war damals eine schreckliche Zeit, Nikolenka,« fuhr Karl Iwanowitsch fort, immer wieder die Sätze erst russisch, dann deutsch sagend, »es war die Zeit Napoleons. Er wollte Deutschland erobern und wir verteidigten unser Vaterland bis auf den letzten Tropfen Blut; ich war bei Ulm, ich war bei Austerlitz, ich war bei Wagram.«
»Haben Sie wirklich auch Krieg geführt?« fragte ich, ihn verwundert anschauend, »haben Sie auch Menschen getötet?«
Karl Iwanowitsch beruhigte mich sofort über diesen Punkt.
»Eines Tages war ein französischer Grenadier hinter seinen Leuten zurückgeblieben und an der Straße niedergefallen; ich kam mit dem Gewehr herbeigelaufen und wollte ihn erstechen, aber der Franzose warf sein Gewehr fort und rief: ›Pardon,‹ da ließ ich ihn laufen. – Bei Wagram hatte Napoleon uns auf eine Insel zurückgeworfen und so umzingelt, daß wir uns auf keine Weise retten konnten. Dreimal vierundzwanzig Stunden waren wir ohne Proviant und standen bis an die Knöchel im Wasser; der Bösewicht Napoleon wollte uns nicht gefangen nehmen und auch nicht freilassen. Am vierten Tage nahm man uns, Gott sei Dank, gefangen und führte uns in eine Festung ab. Ich hatte blaue Beinkleider, einen Uniformrock aus feinem Tuch, fünfzehn Taler bar und eine silberne Uhr, – ein Geschenk meines Papas. Ein französischer Soldat nahm mir alles fort; zum Glück besaß ich noch drei Goldstücke, welche Mamachen mir in das Brustwams eingenäht hatte; sie wurden von niemand gefunden.
Ich wollte nicht lange in der Festung bleiben und entschloß mich zu fliehen. Einst an einem hohen Festtage sagte ich zum Sergeanten, der uns beaufsichtigte: ›Herr Sergeant, heute ist ein hoher Festtag, ich will ihn feiern; holen Sie bitte zwei Fläschchen Madeira, wir wollen ihn zusammen trinken.‹ Und der Sergeant sagte: ›Gut.‹ Als der Sergeant den Madeira geholt und wir jeder ein Gläschen getrunken hatten, faßte ich ihn bei der Hand und fragte: ›Herr Sergeant, vielleicht haben auch Sie Vater und Mutter?‹ Er sagte: ›Gewiß, Herr Mauer.‹ – ›Mein Vater und meine Mutter‹, sprach ich, ›haben mich schon acht Jahre lang nicht gesehen und wissen nicht, ob ich noch lebe oder ob meine Gebeine nicht schon längst in der feuchten Erde ruhen. O, Herr Sergeant, ich habe zwei Goldstücke, die in meinem Wams versteckt waren, nehmen Sie diese und lassen Sie mich frei; seien Sie mein Wohltäter, und mein Mütterchen wird ihr ganzes Leben lang für Sie zum allmächtigen Gott beten!‹
Der Sergeant trank ein Gläschen Madeira und sagte: ›Herr Mauer, ich liebe Sie sehr und bedauere Sie, aber Sie sind ein Gefangener und ich bin Soldat.‹ Ich drückte ihm die Hand und sagte: ›Herr Sergeant!‹ und der Sergeant sagte: ›Sie sind ein armer Mensch und ich werde Ihr Geld nicht nehmen, aber ich will Ihnen helfen: wenn ich schlafen gehe, kaufen Sie einen Eimer Schnaps für die Soldaten, dann werden auch sie einschlafen; ich werde nicht auf sie achten.‹
Er war ein guter Mensch. Ich kaufte einen Eimer Schnaps, und als die Soldaten betrunken waren, zog ich meine Stiefel und meinen alten Mantel an und ging leise zur Tür hinaus. Ich erstieg den Wall und wollte hinunterspringen, doch da unten war Wasser und ich wollte nicht mein letztes Gewand verderben: ich ging also zum Tor. Die Wache ging mit dem Gewehr auf und ab und sah mich an.
› Qui vive?‹ sagte er auf einmal, und ich schwieg; › qui vive? sagte er zum zweitenmal, und ich schwieg; › qui vive?‹ sagte er zum drittenmal, da ergriff ich die Flucht. Ich sprang ins Wasser, kletterte aus der andern Seite ans Ufer und machte mich aus dem Staube. Die ganze Nacht lief ich die Straße entlang, aber als es Tag wurde, fürchtete ich, daß man mich erkennen könnte, und versteckte mich in einem hohen Kornfelde; dort kniete ich nieder, faltete die Hände und dankte dem allmächtigen Gott für seine Barmherzigkeit, und mit beruhigtem Gefühl schlief ich ein.
Am Abend erwachte ich und ging weiter. Plötzlich holte mich ein großer deutscher Frachtwagen mit zwei Rappen ein; im Wagen saß ein gutgekleideter Mann, rauchte sein Pfeifchen und sah zu mir herüber. Ich ging langsam, damit der Wagen vorausfahre, aber je langsamer ich ging, um so langsamer fuhr der Wagen, und der Mensch sah mich an; ich ging schneller, da fuhr auch der Wagen schneller, und der Mensch sah mich an; ich setzte mich an den Wegrand, da brachte der Mann seine Pferde zum Stehen, und sah mich an. ›Junger Mann,‹ sagte er, ›wohin gehen Sie so spät?‹ Ich antwortete: ›Ich gehe nach Frankfurt.‹ – ›Setzen Sie sich in meinen Wagen, es ist Platz genug da, und ich führe Sie hin. Wie kommt es, daß Sie kein Gepäck haben, daß Sie unrasiert sind und daß Ihre Kleider schmutzig sind?‹ fragte er mich, als ich neben ihm saß. – ›Ich bin ein armer Mensch,‹ antwortete ich, ›ich suche Arbeit in einer Fabrik, mein Anzug ist schmutzig, weil ich unterwegs hingefallen bin.‹ – ›Sie sprechen die Unwahrheit, junger Mann,‹ sagte er, ›der Weg ist jetzt trocken.‹ Und ich schwieg.
›Sagen Sie mir die ganze Wahrheit,‹ sprach der gute Mann zu mir, ›wer sind Sie und woher kommen Sie? Ihr Gesicht gefällt mir, und wenn Sie ein ehrlicher Mensch sind, so will ich Ihnen helfen.‹
Und ich erzählte ihm alles. Er sagte: ›Gut, junger Mann, fahren Sie mit mir in meine Seilfabrik, ich werde Ihnen Arbeit, Kleidung und Lohn geben und Sie werden bei mir wohnen.‹
Und ich sagte: ›Gut.‹
Wir kamen in die Seilerei, und der gute Mensch sprach zu seiner Frau: ›Da ist ein junger Mann, der für sein Vaterland gekämpft hat und aus der Gefangenschaft entflohen ist. Er hat weder ein Heim, noch Kleider, noch Brot, er soll bei uns bleiben. Bringt ihm frische Wäsche und gebt ihm zu essen.‹
Ich lebte eineinhalb Jahre in der Seilerei, und mein Herr gewann mich so lieb, daß er mich nicht fortlassen wollte. Ich fühlte mich dort wohl. Ich war damals ein hübscher Mann, ich war jung, groß von Wuchs, hatte blaue Augen und eine römische Nase, und Madame L... (ich darf ihren Namen nicht nennen), die Frau meines Herrn, war eine hübsche, junge Frau.«
Hier machte Karl Iwanowitsch eine lange Pause, verdrehte seine guten, blauen Augen, wiegte den Kopf hin und her und lächelte, wie man unter dem Eindruck angenehmer Erinnerungen zu lächeln pflegt.
»Ja,« begann er wieder, sich im Lehnstuhl zurechtsetzend und seinen Schlafrock übereinanderschlagend, »ich habe viel Gutes und viel Böses in meinem Leben erfahren, aber hier ist mein Zeuge,« sprach er, indem er auf ein auf Kaneva gesticktes Bild des Heilands zeigte, das über seinem Bette hing; »niemand kann sagen, daß Karl Iwanowitsch kein Ehrenmann gewesen sei. Ich wollte nicht mit schwarzem Undank das Gute vergelten, das Herr L ... mir erwiesen hatte, und ich beschloß, aus seinem Hause zu entfliehen. Eines Abends, als alles schlafen gegangen war, schrieb ich einen Brief an meinen Herrn und legte ihn auf den Tisch in meinem Zimmer; dann nahm ich meine Kleider und drei Taler Geld und ging leise auf die Straße hinaus. Niemand hatte mich gesehen, und ich ging meines Weges.«
»Neun Jahre hatte ich mein Mütterchen nicht gesehen und ich wußte nicht, ob sie noch lebte, oder ob ihre Gebeine schon in der kühlen Erde ruhten. Ich begab mich in meine Heimat. Als ich in die Stadt kam, fragte ich: ›Wo wohnt Gustav Mauer, der Pächter des Grafen Sommerblatt?' und man sagte mir: ›Graf Sommerblatt ist gestorben, und Gustav Mauer wohnt jetzt in der Hauptstraße und hat einen Likörladen!‹ Ich zog meine neue Weste an und meinen guten Überrock, ein Geschenk des Fabrikanten, kämmte mir sorgfältig das Haar und ging in den Likörladen meines Papas; Schwester Mariechen saß im Laden und fragte, was ich wünsche. Ich antwortete: ›Kann man ein Gläschen Likör bekommen?‹ Da sagte sie: ›Vater, ein junger Mann wünscht ein Gläschen Likör.‹ Ich setzte mich an ein Tischchen, trank mein Gläschen Likör, rauchte mein Pfeifchen und betrachtete Papa, Mariechen und Johann, der ebenfalls in den Laden gekommen war. Im Gespräch sagte Papa zu mir: ›Junger Mann, Sie wissen wahrscheinlich, wo jetzt unsere Armee steht?‹ Ich antwortete: ›Ich komme selbst von der Armee, und sie steht bei Wien!‹ ›Unser Sohn‹, sagte Papa, ›war Soldat und hat uns schon neun Jahre nicht geschrieben, und wir wissen nicht, ob er lebt oder gestorben ist; meine Frau weint immer um ihn.‹ Ich rauchte mein Pfeifchen und sagte: ›Wie heißt Ihr Sohn und wo dient er? Vielleicht kenne ich ihn.‹ – ›Er heißt Karl Mauer und dient bei den österreichischen Jägern,‹ sagte mein Papa. – ›Er ist groß von Wuchs und ein hübscher Mensch wie Sie‹, sagte Schwester Mariechen. Ich sagte: ›Ich kenne Ihren Karl.‹ – ›Amalia,‹ rief auf einmal mein Vater, ›komm' doch her, hier ist ein junger Mann, der unsern Karl kennt,‹ und meine liebe Mama trat aus der Hintertür; ich erkannte sie sofort. ›Sie kennen unsern Karl?‹ fragte sie, sah mich an, erblaßte und begann zu zittern. ›Ja, ich habe ihn gesehen,‹ sagte ich und wagte nicht, meine Augen zu ihr zu erheben, das Herz wollte mir aus dem Leibe springen. ›Mein Karl lebt!‹ rief Mama, ›Gott sei Dank! wo ist mein lieber Karl? Ich würde ruhig sterben, wenn ich noch einmal ihn, meinen geliebten Sohn, sehen könnte, aber Gott will es nicht so!‹ und sie begann zu weinen. Ich ertrug es nicht; ›Mamachen,‹ rief ich, ›ich bin Ihr Karl!‹ und sie sank mir in die Arme.«
Karl Iwanowitsch schloß die Augen und seine Lippen zitterten.
»›Mutter,‹ sagte ich, ›ich bin Ihr Sohn, ich bin Ihr Karl,‹ und sie stürzte mir in die Arme,« wiederholte er, als er sich ein wenig beruhigt und die großen Tränen, die über seine Wangen rollten, getrocknet hatte.
»Aber es war Gott nicht gefällig, daß ich meine Tage in der Heimat beschließen sollte; mir war Mißgeschick beschieden. Das Unglück verfolgte mich überall, ich blieb nur drei Monate in der Heimat. Eines Sonntags saß ich im Kaffeehause, kaufte mir ein Glas Bier, rauchte mein Pfeifchen und unterhielt mich mit meinen Bekannten über Politik, über den Kaiser Franz, über Napoleon, über den Krieg, und jeder sagte seine Meinung. Neben uns saß ein unbekannter Herr in grauem Überrock, trank Kaffee, rauchte ein Pfeifchen und sprach nicht mit uns; er rauchte sein Pfeifchen und schwieg still. Als der Nachtwächter 10 Uhr verkündete, nahm ich meinen Hut, zahlte und ging heim. Um Mitternacht klopfte jemand an unsere Tür. Ich erwachte und rief: ›Wer da?‹ – ›Macht auf!‹ – Ich antwortete: ›Sagt, wer Ihr seid, und ich werde aufmachen!‹ – ›Macht auf im Namen des Gesetzes!‹ sprach es hinter der Tür. Und ich machte auf. Zwei Soldaten mit Gewehren standen an der Tür, und in mein Zimmer trat der unbekannte Herr im grauen Überrock, der neben uns im Kaffeehaus gesessen hatte; es war ein Spion. ›Kommen Sie mit,‹ sagte der Spion. – ›Gut,‹ sagte ich. Ich zog meine Stiefel und meine Pantalons an, nahm meine Hosenträger und ging im Zimmer umher. In meinem Herzen kochte es; ich sagte mir: ›Er ist ein Schurke;‹ als ich zur Wand kam, an der mein Degen hing, ergriff ich plötzlich den Degen und rief: ›Du bist ein Spion, verteidige dich!‹ Ich gab ihm einen Hieb rechts, einen Hieb links und einen auf den Kopf. Der Spion fiel um. Ich nahm meinen Mantelsack und meinen Beutel und sprang zum Fenster hinaus. Ich kam nach Ems und wurde dort mit dem General Sazin bekannt, er gewann mich lieb, verschaffte mir vom Gesandten einen Paß und nahm mich mit sich nach Rußland, wo ich seine Kinder erziehen sollte. Als der General Sazin starb, berief mich Ihr Mütterchen zu sich; sie sagte mir: ›Karl Iwanowitsch, ich übergebe Ihnen meine Kinder, haben Sie sie lieb, und ich werde Sie nie verlassen, ich werde für Ihr Alter sorgen.‹ Jetzt ist sie nicht mehr, und alles ist vergessen; für zwanzigjährige Dienste muß ich jetzt auf meine alten Tage aus die Straße hinaus, mir mein Stück trockenes Brot suchen. Gott sieht alles und weiß alles, und es ist wohl so sein heiliger Wille; nur um euch tut es mir leid, Kinder!« schloß Karl Iwanowitsch, indem er mich an der Hand zu sich heranzog und mich auf die Stirn küßte.
Nach Beendigung des Trauerjahres erholte sich Großmama ein wenig von dem Schmerz, der sie betroffen hatte, und empfing von Zeit zu Zeit wieder Gäste, besonders Kinder, unsere Altersgenossen und -genossinnen. An Ljubotschkas Geburtstag, am 13. Dezember, kam noch vor dem Mittagessen die Fürstin Kornakow mit ihren Töchtern, Frau Walachin mit Ssonitschka, Ilinka Grapp und die beiden jüngeren Brüder Iwin.
Das Geräusch der Stimmen, des Gelächters und Hin- und Herlaufens drang von unten, wo sich die ganze Gesellschaft versammelte, zu uns herauf; wir aber durften nicht eher zu den andern, als bis der Vormittagsunterricht beendet war. Auf dem Stundenplan, der im Schulzimmer hing, hieß es: Lundi, de 2 à 3, maître d'histoire et géographie, und diesen maître d'histoire mußten wir abwarten, anhören und hinausbegleiten, bevor wir frei waren. Es war schon zwanzig Minuten über zwei und der Geschichtslehrer war noch immer weder zu hören, noch auf der Straße zu sehen, die er kommen mußte und die ich entlang schaute, mit dem heißen Wunsch, ihn niemals zu erblicken.
»Es scheint, Lebedew kommt heute nicht,« sagte Wolodja, sich auf einen Augenblick von Smaragdows Lehrbuch, nach welchem er seine Aufgabe lernte, losreißend.
»Gott geb's, Gott geb's! Ich weiß tatsächlich nichts; allein mir scheint, er kommt schon,« setzte ich traurig hinzu.
Wolodja stand auf und trat ans Fenster.
»Nein, das ist er nicht, das ist irgend ein Herr,« sagte er, »warten wir noch bis halb drei,« fügte er hinzu, indem er sich reckte und sich gleichzeitig den Kopf kratzte, wie er das gewöhnlich zu tun pflegte, wenn er für einen Augenblick von der Arbeit ausruhte; »wenn er auch um halb drei noch nicht da ist, dann kann man es St. Jérôme sagen und die Bücher fortlegen.«
»Wenn er doch nicht käme!« sprach ich, mich ebenfalls reckend, und schüttelte über meinem Kopf das Lehrbuch Kaidanows, welches ich mit beiden Händen hielt.
Aus Langeweile schlug ich das Buch an der Stelle auf, die uns aufgegeben war, und begann zu lesen. Die Aufgabe war groß und schwer, ich wußte nichts und sah ein, daß es mir unmöglich sein würde, auch nur etwas davon zu behalten, um so mehr, als ich mich in jenem aufgeregten Zustande befand, in welchem die Gedanken sich weigern, sich auf irgend einen Gegenstand zu konzentrieren.
Nach der vorigen Aufgabe aus der Geschichte, die mir stets als der langweiligste und schwerste Gegenstand erschienen war, hatte Lebedew mich bei St. Jérôme verklagt und mir im Aufgabenhefte ein Zwei gegeben, was für sehr schlecht galt. In den russischen Schulen gilt 1 als die schlechteste, 5 als die beste Note. (Anm. d. Übers.) St. Jérôme hatte mir damals gesagt, wenn ich in der nächsten Stunde weniger bekäme als drei, so werde er mich streng bestrafen; jetzt war diese nächste Stunde gekommen und ich hatte, offen gestanden, große Angst.
Ich war so beschäftigt mit dem Lesen der Aufgabe, daß das Geräusch des Galoschenausziehens im Vorzimmer mich plötzlich auffahren ließ. Ich hatte kaum Zeit, mich umzusehen, da erschien auch schon in der Tür das pockennarbige, mir widerwärtige Gesicht und die nur zu bekannte, plumpe Gestalt des Lehrers in blauem, zugeknöpftem Frack mit den Gelehrtenknöpfen.
Der Lehrer legte bedächtig seine Mütze auf das Fensterbrett, die Hefte auf den Tisch, schlug mit beiden Händen seinen Frack zurück (als wenn das sehr notwendig gewesen wäre), und setzte sich pustend auf seinen Platz.
»Nun, meine Herren,« sagte er, indem er seine schweißigen Finger aneinander rieb, »lassen Sie uns zuerst das durchnehmen, was ich in der vorigen Stunde gesagt habe, und dann will ich mich bemühen, Sie mit den weiteren Ereignissen des Mittelalters bekannt zu machen.«
Das bedeutete: sagt eure Aufgaben her.
Während Wolodja ihm mit der Freiheit und Sicherheit antwortete, welche denen eigen ist, die ihre Aufgabe wissen, ging ich ohne jede Ursache auf die Treppe hinaus, wo Mimi, die stets die Ursache meines Unglücks war, plötzlich vor mir stand.
»Sie hier?« fragte sie und sah mich drohend an.
Ich fühlte mich durch und durch schuldig, sowohl weil ich nicht im Schulzimmer war, als auch weil ich mich an einem so unzeitgemäßen Orte befand. Daher schwieg ich, senkte den Kopf und bewies durch meine ganze Erscheinung die rührendste Reue.
»Nein, das ist doch unglaublich!« sagte Mimi, »was machen Sie hier?«
Ich schwieg.
»Nein, das wird nicht so bleiben,« sprach sie und klopfte mit den Fingerknöcheln auf das Treppengeländer, »ich werde alles der Gräfin erzählen.«
Es fehlten nur noch fünf Minuten auf drei, als ich ins Unterrichtszimmer zurückkehrte. Der Lehrer tat, als hätte er weder meine Abwesenheit noch meine Anwesenheit bemerkt, und erklärte Wolodja die Aufgabe für die nächste Stunde. Als er nach Beendigung seiner Auseinandersetzungen die Bücher zusammenlegte und Wolodja ins Nebenzimmer ging, um die Stundenmarke zu holen, kam mir der freudige Gedanke, daß alles vorüber sei und daß er mich vergessen habe.
Doch plötzlich wandte er sich mit dem Lächeln eines Bösewichtes zu mir.
»Ich hoffe, Sie haben Ihre Aufgabe gelernt,« sagte er, sich die Hände reibend.
»Jawohl, ich habe sie gelernt,« antwortete ich.
»Sagen Sie mir gefälligst etwas über den Kreuzzug Ludwigs des Heiligen,« sprach er, sich auf dem Stuhle schaukelnd und nachdenklich seine Füße anblickend; »erzählen Sie mir erst etwas von den Ursachen, die den französischen König veranlaßten, das Kreuz zu nehmen,« fuhr er fort, wobei er die Augenbrauen in die Höhe zog und mit dem Finger auf das Tintenfaß zeigte; »dann erklären Sie mir die allgemeinen, charakteristischen Merkmale dieses Kreuzzuges,« – und er machte mit der Hand eine Bewegung, als wolle er etwas fangen – »und endlich den Einfluß dieses Kreuzzuges auf die europäischen Staaten im allgemeinen,« und er schlug mit den Heften links auf den Tisch, – »und auf das französische Königreich im besonderen,« schloß er und schlug nun rechts auf den Tisch und neigte auch den Kopf nach rechts.
Ich schluckte ein paarmal, räusperte mich, legte den Kopf auf die Seite und schwieg; dann ergriff ich eine Feder, die auf dem Tische lag, begann an ihr zu zupfen und schwieg weiter.
»Geben Sie mir, bitte, die Feder,« sagte der Lehrer, die Hand darnach ausstreckend, »ich werde sie brauchen. Nun?«
»Lud – – Kön – – – Ludwig der Heilige war – war – war ein guter und kluger König.«
»Wie?«
»König. Er faßte den Plan, nach Jerusalem zu gehen und übergab die Zügel der Regierung seiner Mutter.«
»Wie hieß sie?«
»B–B–Blanka.«
»Wie? Bulanka?«
Ich lächelte ungeschickt und verlegen.
»Nun, wissen Sie nicht noch etwas?« fragte er spöttisch.
Ich hatte nichts zu verlieren; ich räusperte mich also und begann vorzuerzählen, was mir gerade in den Sinn kam. Der Lehrer schwieg, fegte mit der Feder, die er mir fortgenommen hatte, den Staub vom Tisch, sah unverwandt an meinem Ohr vorbei und wiederholte: »Gut, sehr gut;« ich fühlte, daß ich nichts wußte, daß ich mich ganz falsch ausdrückte, und es kränkte mich furchtbar, daß der Lehrer mich nicht unterbrach und mich nicht korrigierte.
»Warum faßte er denn den Plan, nach Jerusalem zu gehen?« fragte er, meine Worte wiederholend.
»Darum – weil – dazu – da er –«
Ich kam vollständig in Verwirrung, verstummte und fühlte, daß ich, wenn dieser Bösewicht von Lehrer auch ein ganzes Jahr schweigen und mich fragend ansehen würde, dennoch nicht imstande wäre, auch nur einen Laut hervorzubringen. Der Lehrer sah mich etwa drei Minuten an, dann zeigte sich auf seinem Gesicht plötzlich der Ausdruck tiefer Trauer, und mit gefühlvoller Stimme sagte er zu Wolodja, der eben wieder ins Zimmer trat:
»Reichen Sie mir, bitte, das Heftchen, damit ich Ihnen die Noten geben kann.«
Wolodja reichte ihm das Aufgabenbuch und legte vorsichtig die Stundenmarke daneben.
Der Lehrer öffnete das Buch, tauchte behutsam die Feder ins Tintenfaß und schrieb mit schöner Handschrift für Wolodja in die Rubrik Fortschritte und Betragen eine Fünf; dann hielt er die Feder über der Rubrik, in welcher meine Nummer stehen sollte, blickte mich an, schüttelte die Tinte ab und dachte nach.
Plötzlich machte seine Hand eine kaum merkliche Bewegung, und in der Rubrik Fortschritte erschienen eine schön geschriebene Eins und ein Punkt; eine zweite Bewegung – und in der Rubrik Betragen erschienen eine zweite Eins und ein Punkt.
Nachdem er das Heft sorgfältig geschlossen hatte, stand der Lehrer auf und ging zur Tür, als wenn er meinen Blick, in dem sich Verzweiflung, flehentliche Bitte und Vorwurf ausdrückten, gar nicht bemerkte.
»Michael Larionowitsch,« sagte ich.
»Nein,« antwortete er, sofort verstehend, was ich ihm sagen wollte, »so darf man nicht lernen, ich will das Geld nicht umsonst einstecken.«
Er zog die Galoschen an, warf den Kamelottemantel um und hüllte sich mit großer Sorgfalt in den Schal, als hätte man sich noch um irgend etwas sorgen können, nach dem, was mir passiert war! Für ihn war es ein Federstrich, für mich ein großes Unglück.
»Ist die Stunde zu Ende?« fragte St. Jérôme, ins Zimmer tretend.
»Ja.«
»War der Lehrer mit euch zufrieden?«
»Ja,« sagte Wolodja.
»Welche Note haben Sie bekommen?«
»Fünf.«
»Und Nikolaus?«
Ich schwieg.
»Mir scheint, eine Vier,« sagte Wolodja.
Er verstand, daß ich gerettet werden mußte, und sei es auch nur für den heutigen Tag. Mag die Strafe kommen, aber nur nicht heute, wo wir Gäste hatten.
» Voyons, messieurs (St. Jérôme hatte die Gewohnheit, bei jedem Wort voyons zu sagen), faites votre toilette et descendons.«
Wir hatten uns kaum unten mit den Gästen begrüßt, als wir zu Tisch gebeten wurden. Papa war sehr guter Laune (es war eine Zeit, in welcher er beim Spiel gewann), hatte Ljubotschka ein teueres, silbernes Service geschenkt und erinnerte sich während des Mittagessens, daß er bei sich im Seitenflügel noch eine Bonbonniere hatte, die für das Geburtstagskind bestimmt war.
»Anstatt den Diener zu schicken, geh' lieber du hinüber, Koko,« sagte er zu mir. »Die Schlüssel liegen auf dem großen Tisch in der Muschel, weißt du? Nimm sie also und öffne mit dem größten Schlüssel die zweite Schublade rechts; dort wirst du ein Kästchen und Konfekt in Papier finden. Bringe das alles her.«
»Soll ich dir auch Zigarren bringen?« fragte ich, weil ich wußte, daß er nach dem Mittagessen immer darnach schickte.
»Gut, bringe sie, aber paß auf, daß du bei mir nichts anrührst!« rief er mir nach.
Nachdem ich die Schlüssel an der bezeichneten Stelle gefunden hatte, wollte ich schon die Schublade öffnen, als mich der Wunsch packte zu erfahren, wozu der winzige Schlüssel, der am selben Bunde hing, wohl diente.
Auf dem Tisch lag zwischen tausenderlei verschiedenen Sachen eine gestickte Briefmappe mit daranhängendem Schloß, und ich wollte versuchen, ob der kleine Schlüssel dazu paßte. Der Versuch war von vollem Erfolge gekrönt: die Briefmappe öffnete sich, und ich fand darin einen ganzen Haufen Papiere. Das Gefühl der Neugier riet mir mit solcher Überzeugungskraft, nachzuschauen, was für Papiere das waren, daß ich die Stimme des Gewissens überhörte und den Inhalt der Mappe zu untersuchen begann.
Das kindliche Gefühl bedingungsloser Achtung vor allen älteren Leuten und besonders vor Papa war so stark in mir, daß mein Verstand sich unbewußt dagegen sträubte, irgend welche Folgerungen aus dem, was ich sah, zu ziehen; ich fühlte nur, daß Papa in einer ganz besonders schönen, für mich unerreichbaren Sphäre leben müsse, und daß mein Versuch, die Geheimnisse seines Lebens zu durchdringen, so etwas wie Tempelschändung war.
Daher hinterließen die Entdeckungen, die ich fast zufällig in Papas Mappe machte, in mir gar keine klaren Vorstellungen außer dem dunklen Bewußtsein, daß ich häßlich gehandelt hatte. Ich fühlte mich beschämt und verlegen.
Unter dem Einflusse dieses Gefühls wollte ich die Briefmappe so schnell als möglich schließen, aber es war mir offenbar beschieden, an jenem denkwürdigen Tage Unglück jeder Art zu erfahren: nachdem ich den Schlüssel in das Schlüsselloch gesteckt hatte, drehte ich ihn nach der falschen Seite um. Im Glauben, daß ich nun zugeschlossen habe, zog ich den Schlüssel heraus und – o Schreck! – hielt nur den Griff des Schlüssels in der Hand. Vergeblich bemühte ich mich, ihn mit dem im Schloß stecken gebliebenen Teil zu vereinigen und diesen durch irgend einen Zauber herauszuziehen. Ich mußte mich schließlich mit dem schrecklichen Gedanken vertraut machen, daß ich ein neues Verbrechen begangen hatte, welches noch heute bei Papas Rückkehr in sein Arbeitszimmer an den Tag kommen mußte.
Mimis Anklage, die Eins und das Schlüsselchen! Schlimmeres konnte mir nicht zustoßen. Großmama – für Mimis Anklage, St. Jérôme – für die Eins, Papa – für das Schlüsselchen. Und all dieses mußte spätestens heute abend über mich hereinbrechen.
»Was wird aus mir werden? Aaach, was habe ich angerichtet!« sagte ich laut, auf dem weichen Teppich des Arbeitszimmers hin und her gehend; »eh,« sprach ich dann zu mir selber, indem ich das Konfekt und die Zigarren nahm, »was kommen soll, das kommt doch!« und ich lief hinüber.
Dieser fatalistische Ausspruch, den ich in meiner Kindheit von Nikolaj gehört hatte, übte in allen schweren Stunden des Lebens einen wohltätigen, zeitweilig beruhigenden Einfluß auf mich aus. Beim Betreten des Saales befand ich mich in etwas erregter und unnatürlicher, aber äußerst lustiger Stimmung.
Nach dem Mittagessen begannen die petits jeux, an denen ich den lebhaftesten Anteil nahm. Als wir Katze und Maus spielen, lief ich ungeschickt an die Gouvernante der Kornakows, die mit uns spielte, heran, trat ihr zufällig aufs Kleid und zerriß es. Da ich bemerkte, daß es allen Mädchen und besonders Ssonitschka großes Vergnügen bereitete, zu sehen, wie die Gouvernante aufgeregt ins Mädchenzimmer ging, um ihr Kleid zu nähen, beschloß ich, ihnen dieses Vergnügen noch einmal zu bereiten. Infolge dieses liebenswürdigen Vorsatzes begann ich gleich nach der Rückkehr der Gouvernante um sie herumzugaloppieren und setzte diese Evolutionen so lange fort, bis ich Gelegenheit fand, wieder mit dem Absatz in ihr Kleid zu geraten und es zu zerreißen. Ssonitschka und die Prinzessinnen konnten kaum das Lachen zurückhalten, was meiner Eigenliebe ungemein schmeichelte; aber St. Jérôme, der wahrscheinlich meine Streiche bemerkt hatte, trat an mich heran, runzelte die Stirn (was ich nicht ausstehen konnte) und sagte, meine Ausgelassenheit werde kein gutes Ende nehmen, und wenn ich mich nicht artig benehmen würde, so werde er mich trotz des Feiertages bestrafen.
Aber ich befand mich in dem erregten Zustande eines Menschen, der mehr verloren hat, als er besitzt, der sich vor der Abrechnung fürchtet und verzweifelt immer neue Karten setzt ohne Hoffnung, sein Geld wiederzugewinnen, nur um sich selbst keine Zeit zur Besinnung zu lassen. Ich lächelte frech und ging von ihm fort.
Nach Katze und Maus schlug jemand ein Spiel vor, das wir, glaube ich, »lange Nase« nannten; das Spiel bestand darin, daß zwei Reihen Stühle einander gegenüber aufgestellt wurden und die Herren und die Damen sich in zwei Parteien teilten und einander abwechselnd auswählten.
Die jüngste Prinzessin wählte jedesmal den jüngsten Iwin, Katjenka wählte entweder Wolodja oder Ilinka, Ssonitschka aber jedesmal Sserjoscha. Zu meinem größten Erstaunen genierte sie sich nicht im geringsten, wenn Sserjoscha geradewegs auf sie zuschritt und ihr gegenüber Platz nahm; sie lachte mit ihrem lieben, hellen Lachen und nickte mit dem Köpfchen zum Zeichen, daß er recht geraten habe. Mich aber wählte niemand. Meine Eigenliebe war äußerst gekränkt, denn ich begriff, daß ich überflüssig, »überzählig« sei, daß bei mir jedesmal gesagt werden mußte: »Wer ist noch übrig geblieben?« – »Ach, Nikolenka, also nimm du ihn.« Daher schritt ich jedesmal, wenn an mich die Reihe kam, schnurstracks zu meiner Schwester oder zu einer der häßlichen Prinzessinnen, und leider irrte ich mich dabei niemals; Ssonitschka aber schien so beschäftigt mit Sserjoscha Iwin, daß ich für sie gar nicht existierte. Ich weiß nicht, mit welcher Begründung ich sie in Gedanken »Verräterin« nannte, da sie mir doch niemals versprochen hatte, mich zu wählen und nicht Sserjoscha; aber ich war fest überzeugt, daß sie gegen mich ganz abscheulich gehandelt hatte.
Nach dem Spiel bemerkte ich, daß die »Verräterin«, die ich verachtete, von der ich aber kein Auge lassen konnte, mit Sserjoscha und Katjenka in eine Ecke ging, wo sie geheimnisvoll miteinander flüsterten. Ich schlich mich hinter das Klavier, um ihre Geheimnisse zu entdecken, und sah folgendes: Katjenka hielt ihr Battisttüchlein an zwei Ecken wie eine Schutzwand, um die Köpfe von Sserjoscha und Ssonitschka zu verbergen. »Nein, Sie haben verloren, jetzt müssen Sie zahlen,« sagte Sserjoscha. Ssonitschka stand mit herabhängenden Armen, aber schuldbewußt vor ihm und erwiderte errötend: »Nein, ich habe nicht verloren, nicht wahr, Mlle. Catherine?« – »Ich liebe die Wahrheit,« antwortete Katjenka, »Sie haben die Wette verloren, ma chère.«
Kaum hatte Katjenka diese Worte ausgesprochen, als Sserjoscha sich vorbeugte und Ssonitschka einen Kuß gab. – einen Kuß, gerade auf ihre rosigen Lippen. Und Ssonitschka lachte auf, als hätte das gar nichts zu bedeuten, als wäre es sehr lustig. Entsetzlich!! O, die listige Verräterin!
Ich empfand plötzlich Verachtung für das ganze weibliche Geschlecht im allgemeinen und für Ssonitschka im besonderen. Ich redete mir ein, daß diese Spiele gar nichts Lustiges an sich hätten, daß sie sich nur für »Mädels« schickten, und mich packte die unwiderstehliche Lust, mich auszutoben und irgend einen so kühnen Streich auszuführen, daß alle staunen sollten. Die Gelegenheit dazu sollte nicht lange ausbleiben.
St. Jérôme hatte ein paar Worte mit Mimi gesprochen und dann das Zimmer verlassen; ich hörte seine Schritte zuerst auf der Treppe, dann über uns in der Richtung des Klassenzimmers. Ich kam auf den Gedanken, daß Mimi ihm vielleicht gesagt, wo sie mich während der Stunde gefunden hatte, und daß er nun hinaufgegangen sei, im Ausgabenbuch nachzusehen. Ich vermutete damals in St. Jérôme gar kein anderes Lebensziel als den Wunsch, mich zu strafen. – Ich habe irgendwo gelesen, daß Kinder zwischen zwölf und vierzehn Jahren, d. h. in den Jahren der Entwicklungszeit, eine besondere Neigung zur Brandstiftung und sogar zum Morde haben. Wenn ich an mein Knabenalter zurückdenke und besonders an den Gemütszustand, in welchem ich mich an jenem, für mich unglücklichen Tage befand, verstehe ich vollkommen die Möglichkeit des schrecklichsten Verbrechens ohne einen Zweck, ohne den Wunsch zu schaden, nur so aus Neugier, aus dem unbewußten Verlangen, etwas zu tun. Es gibt Augenblicke, in welchen die Zukunft dem Menschen in so düsterem Lichte erscheint, daß er sich fürchtet, seinen geistigen Blick auf sie zu richten, daß er die Tätigkeit des Verstandes in sich anhält und sich selbst zu überzeugen sucht, daß das Zukünftige nicht sein wird und das Vergangene nicht war. Zu solchen Augenblicken, wenn der Gedanke die willenlose Stimmung nicht im voraus beurteilt, und wenn als einzige Triebfeder des Lebens die Sinneninstinkte übrig bleiben, begreife ich, daß ein unerfahrenes Kind, das besonders zu diesem Gemütszustände veranlagt ist, ohne Zögern und ohne Furcht mit einem Lächeln der Neugier an das eigene Haus Feuer legt und einen Brand anfacht, an das Haus, in dem seine Brüder, sein Vater, seine Mutter, die es alle zärtlich liebt, schlafen. Unter dem Einflüsse einer ebensolchen, zeitweiligen Geistesabwesenheit – man möchte sagen Zerstreutheit – schwingt der siebzehnjährige Bauernbursche beim Anblick der Schneide des eben geschliffenen Beiles neben der Bank, auf welcher mit dem Gesicht nach unten sein alter Vater schläft, plötzlich das Beil und sieht mit stumpfer Neugier zu, wie das Blut aus dem zerschnittenen Hals unter die Bank rinnt; unter dem Einflüsse dieser selben Gedankenlosigkeit und instinktiven Neugier empfindet der Mensch eine Art von Genuß darin, sich an den äußersten Rand eines Abhanges zu stellen und zu denken: wie, wenn ich mich da hinunterstürze? Oder eine geladene Pistole an seine Stirn zu halten und zu denken: wie, wenn ich den Hahn losdrücke? Oder eine angesehene Persönlichkeit, für welche die ganze Gesellschaft kriechende Verehrung hegt, anzusehen und dabei zu denken: wie, wenn ich jetzt hingehe, ihn an der Nase fasse und sage: ›Nun mein Lieber, komm einmal mit‹?
Unter dem Einflüsse einer ebensolchen inneren Aufregung und Gedankenabwesenheit handelte ich, als St. Jérôme herunterkam und mir sagte, daß ich heute kein Recht hätte, hier zu sein, weil ich mich schlecht betragen und schlecht gelernt hatte, ich solle daher sofort hinaufgehen: ich streckte die Zunge gegen ihn heraus und erklärte, daß ich nicht gehen werde.
Im ersten Augenblick konnte St. Jérôme vor Erstaunen und Wut kein Wort hervorbringen.
» C'est bien,« sagte er, indem er mir nachschritt, »ich habe Ihnen schon wiederholt eine Strafe versprochen, vor welcher Ihre Großmama Sie immer wieder behütet hat; jetzt aber sehe ich, daß man Sie nur mit Prügel zum Gehorsam zwingen kann, und heute haben Sie sie vollauf verdient.«
Er sagte das so laut, daß alle Anwesenden seine Worte hören mußten. Das Blut strömte mit ungewöhnlicher Schnelligkeit zu meinem Herzen, ich fühlte, wie laut es schlug, wie mein Gesicht sich entfärbte und wie meine Lippen unwillkürlich zu zittern begannen; ich muß in jenem Augenblick zum Erschrecken ausgesehen haben, denn St. Jérôme trat, meinem Blick ausweichend, schnell an mich heran und faßte mich bei der Hand; aber kaum fühlte ich die Berührung seiner Hände, so wurde mir so schlecht zumute, daß ich außer mir vor Wut meine Hand losriß und ihm mit meiner ganzen kindlichen Kraft einen Schlag versetzte.
»Was geht mit dir vor?« fragte Wolodja, der mit Entsetzen und Staunen meine Tat gesehen hatte, und kam zu mir heran.
»Laß mich,« schrie ich unter Tränen; »niemand von euch liebt mich, niemand versteht, wie unglücklich ich bin; ihr seid häßlich, unausstehlich,« fügte ich in einem Wutanfalle, zur ganzen Gesellschaft gewandt, hinzu.
Aber in diesem Augenblick trat St. Jérôme mit entschlossenem und blassem Gesicht wieder an mich heran, und bevor ich mich verteidigen konnte, hatte er mich mit festem Griff gefaßt, hielt meine beiden Arme wie mit Klammern fest und zog mich mit sich fort. Mir schwindelte vor Erregung; ich weiß nur, daß ich mit Kopf und Knien verzweifelt um mich stieß, solange ich noch Kraft hatte. Ich erinnere mich, daß meine Nase mehrmals an die Beine eines andern schlug, daß mir ein Rockzipfel in den Mund geriet, daß ich rund um mich her die Anwesenheit verschiedener Beine merkte und den Geruch von Staub und Violette empfand, dem Parfüm von St. Jérôme.
Fünf Minuten später schlug hinter mir die Tür der Bodenkammer zu.
»Wassilij,« sagte St. Jérôme in widerwärtig feierlichem Tone, »bring die Rute!«
Hätte ich es mir damals wohl vorgestellt, daß ich nach all dem Unglück, welches mich betroffen, am Leben bleiben würde, und daß eine Zeit kommen werde, wo ich ganz ruhig an all dies zurückdenke?
Wenn ich mich an das erinnerte, was ich getan hatte, so konnte ich mir nicht vorstellen, was mit mir geschehen werde, aber ich ahnte unklar, daß ich unrettbar verloren sei.
Anfangs herrschte unter und neben mir völlige Stille, oder wenigstens schien's mir so bei meiner außerordentlichen inneren Erregung, aber allmählich unterschied ich verschiedene Laute. Wassilij kam von unten herauf, warf ein Etwas, das wie ein Besen aussah, auf das Fensterbrett und legte sich gähnend auf die große Truhe. Von unten schallte die laute Stimme von August Antonowitsch herauf (wahrscheinlich sprach er von mir), dann wurden Kinderstimmen hörbar, Gelächter, Gelaufe, und nach einigen Minuten ging alles im Hause wieder seinen Gang, als ob niemand wüßte und dachte, daß ich in der dunklen Bodenkammer saß.
Ich weinte nicht, aber es lag mir etwas wie ein Stein auf dem Herzen. Gedanken und Vorstellungen jagten einander in meiner erregten Einbildung; aber die Erinnerung an das Unglück, das mich betroffen hatte, unterbrach immer wieder ihre wunderliche Kette, und ich geriet von neuem in das endlose Labyrinth der Ungewißheit über das mir bevorstehende Schicksal, der Verzweiflung und Angst,
Ich geriet auf den Gedanken, daß irgend ein mir nicht bekannter Grund meiner Unbeliebtheit, ja selbst Verhaßtheit existieren müsse. (In jener Stunde war ich fest überzeugt, daß alle – von Großmama bis zum Kutscher Philipp – mich haßten und sich an meinem Leiden ergötzten.) »Wahrscheinlich bin ich nicht der Sohn meines Vaters und meiner Mutter, nicht Wolodjas Bruder, sondern eine unglückliche Waise, ein Findling, der aus Barmherzigkeit aufgenommen worden ist,« sagte ich mir, und dieser absurde Gedanke gewährt mir nicht nur einen gewissen wehmütigen Trost, sondern erscheint mir auch vollkommen wahrscheinlich.
Es tut mir wohl zu denken, daß ich unglücklich bin, nicht durch meine Schuld, sondern weil das schon von Geburt an mein Schicksal ist, und daß mein Geschick dem des unglücklichen Karl Iwanowitsch gleicht.
»Warum aber dies Geheimnis noch länger verbergen, wenn es mir selbst bereits gelungen ist, es zu durchschauen?« sage ich mir, »gleich morgen gehe ich zu Papa und sage ihm: ›Papa, vergebens verbirgst du mir das Geheimnis meiner Geburt, – ich kenne es!‹ Er wird sagen: ›Was soll man machen, mein Freund, früher oder später hättest du's ja doch erfahren, – du bist nicht mein Sohn, aber ich habe dich an Sohnes Statt angenommen, und wenn du dich meiner Liebe würdig erzeigen wirst, werde ich dich nie verlassen.‹ Und ich werde antworten: ›Papa, obgleich ich nicht das Recht habe, dich mit diesem Namen zu nennen, so spreche ich ihn jetzt zum letztenmal aus; ich habe dich immer geliebt und werde dich immer lieben, ich werde nie vergessen, daß du mein Wohltäter bist, aber ich kann nicht länger in deinem Hause bleiben. Hier hat mich niemand lieb und St. Jérôme hat sich verschworen, mich zu vernichten. Er oder ich muß dein Haus verlassen, weil ich nicht für mich einstehe, – ich hasse diesen Menschen so sehr, daß ich zu allem bereit bin. Ich werde ihn töten. Ja, ich sag's: Papa, ich werde ihn töten!‹ Papa wird mich zu beruhigen suchen, aber ich werde mit der Hand abwehren und ihm sagen: ›Nein, mein Freund und Wohltäter, wir können nicht beisammen bleiben, laß mich fort.‹ Und ich werde ihn umarmen und werde – ich weiß nicht, warum – in französischer Sprache sagen: › Oh mon père, oh mon bienfaiteur, donne-moi pour la dernière fois ta bénédiction et que la volonté de Dieu soit faite!‹ Und bei diesem Gedanken schluchze ich, in meiner dunklen Bodenkammer auf dem Koffer sitzend, laut auf. Plötzlich aber erinnere ich mich wieder der schmachvollen Strafe, die mich erwartet, die Wirklichkeit erscheint mir im wahren Lichte, und die Phantasiebilder zerflattern im Augenblick.
Dann wieder stelle ich mir vor, ich sei schon frei, nicht mehr daheim. Ich werde Husar und ziehe in den Krieg. Von allen Seiten stürmen die Feinde heran, ich schwinge den Säbel und töte einen, – ein zweiter Streich, und ich töte den zweiten, dritten. Endlich sinke ich zu Boden, durch Wunden und Anstrengung erschöpft, und schreie: »Sieg!« Der General kommt herangeritten und fragt: »Wo ist er – unser Retter?« Man zeigt auf mich, er fällt mir um den Hals und ruft unter Freudentränen: »Sieg!« Ich werde wieder gesund und spaziere, eine schwarze Binde um den Arm, über den Twerschen Boulevard. Ich bin General! Und da begegnet mir der Kaiser und fragt: »Wer ist dieser verwundete junge Mann?« Man sagt ihm, daß das der berühmte Held Nikolaj sei. Der Kaiser tritt auf mich zu und sagt: »Ich danke dir. Ich will alles tun, um was du mich bitten wirst.« Ich verneige mich ehrfurchtsvoll, stütze mich auf den Säbel und sage: »Ich bin glücklich, großer Kaiser, daß ich mein Blut für mein Vaterland vergießen durfte, und wäre auch gern dafür gestorben; aber wenn du so gnädig bist, mir eine Bitte zu gewähren, so bitte ich um eines: erlaube mir, meinen Feind, den Ausländer St. Jérôme, zu vernichten. Ich will meinen Feind St. Jérôme vernichten!« Und ich trete drohend vor St. Jérôme hin und spreche: »Du bist schuld an meinem Unglück, – à genoux!« Aber plötzlich fällt es mir ein, daß in jedem Moment der wirkliche St. Jérôme mit der Rute eintreten kann, und ich sehe mich nicht mehr als General, der das Vaterland rettet, sondern wieder als das kläglichste, bemitleidenswerteste Geschöpf.
Bald kommt mir der Gedanke an Gott, und ich frage ihn dreist, warum er mich strafe. »Ich habe doch, glaube ich, nie vergessen, morgens und abends zu beten, warum also leide ich?« – Bald bilde ich mir ein, daß ich unbedingt sterben werde, und ich stelle mir lebhaft St. Jérômes Erstaunen vor, wenn er in der Bodenkammer statt meiner eine Leiche finden werde. Mich der Erzählungen Natalia Ssawischnas erinnernd, daß die Seele des Verstorbenen vor vierzig Tagen das Haus nicht verläßt, schwebe ich in Gedanken nach meinem Tode unsichtbar durch alle Zimmer von Großmamas Haus und belausche Ljubotschkas aufrichtiges Weinen, Großmamas Bedauern und Papas Gespräch mit August Antonowitsch. »Er war ein prächtiger Junge!« wird Papa mit Tränen in den Augen sagen. – »Ja,« wird St. Jérôme erwidern, »aber ein großer Taugenichts.« – »Sie sollten die Toten achten!« wird Papa rufen, »Sie waren die Ursache seines Todes, Sie haben ihn eingeschüchtert, er konnte die Demütigung nicht ertragen, die Sie ihm zugedacht hatten. Fort von hier, Bösewicht!«
Und St. Jérôme wird in die Knie sinken, weinen und um Verzeihung bitten. – Nach vierzig Tagen entschwebt meine Seele in den Himmel; dort erblicke ich etwas wunderbar Schönes, Weißes, Durchsichtiges, Langes, und ich fühle, daß es meine Mutter ist. Dieses weiße Etwas umfließt mich, liebkost mich; aber ich bin unruhig und erkenne meine Mutter nicht recht. »Wenn du's wirklich bist,« sage ich, »so zeige dich mir deutlicher, damit ich dich umarmen kann.« Und ihre Stimme antwortet mir: »Hier sind wir alle so, ich kann dich nicht besser umfassen. Ist dir dabei denn nicht wohl?« – »Doch, mir ist sehr wohl, aber du kannst mich nicht kitzeln, und ich kann deine Hände nicht küssen –« – »Das ist nicht nötig, hier ist's auch so sehr schön,« sagt sie, und ich fühle, daß es wirklich sehr schön ist, und fliege mit ihr immer höher und höher. Dann ist mir, als erwachte ich, und ich finde mich wieder auf dem Koffer in der dunklen Bodenkammer, mit tränennassen Wangen, gedankenlos die Worte wiederholend: »Und wir fliegen höher und höher.« Ich mache lange alle möglichen Anstrengungen, um mir über meine Lage klar zu werden, aber vor meinem geistigen Auge erscheint in diesem Augenblick nur eine schrecklich finstere, undurchdringliche Ferne. Ich bemühe mich, zu den wonnevollen, glücklichen Traumbildern zurückzukehren, welche durch das Bewußtsein der Wirklichkeit unterbrochen worden waren; aber zu meinem Erstaunen sehe ich, sobald ich meine Gedanken den früheren Pfad führen will, daß sie sich nicht weiterspinnen lassen und – was am allererstaunlichsten ist – daß sie mir nicht den geringsten Genuß mehr bereiten.
Ich verbrachte die Nacht in der Bodenkammer und niemand kam zu mir; erst am andern Morgen, das heißt am Sonntage, wurde ich in die kleine Kammer neben dem Unterrichtszimmer geführt und wieder eingeschlossen. Ich begann zu hoffen, daß meine Strafe sich auf Einsperrung beschränken werde, und unter der Einwirkung eines süßen, stärkenden Schlummers, des hellen Sonnenscheins, der auf den Eisblumen des Fensters spielte, und des Alltagslärmes auf den Straßen beruhigten sich meine Gedanken allmählich. Trotzdem war die Einsamkeit sehr drückend: ich hatte das Verlangen, mich zu bewegen, jemand alles zu erzählen, was sich in meiner Seele angehäuft hatte, und kein lebendes Wesen war in meiner Nähe! Diese Lage wurde noch unerträglicher, als ich – so unangenehm es mir auch war – nicht umhin konnte mitanzuhören, wie St. Jérôme, in seinem Zimmer auf und niedergehend, in aller Ruhe lustige Weisen pfiff. Ich war völlig überzeugt, daß er gar keine Lust hatte, zu pfeifen, und daß er es einzig und allein daher tat, weil er mich quälen wollte.
Um zwei Uhr gingen St. Jérôme und Wolodja nach unten, und Nikolaj brachte mir das Mittagessen; als ich mit ihm ein Gespräch anknüpfte über das, was ich angestellt hatte und was meiner wartete, sagte er:
»Ach, gnädiger Herr, machen Sie sich keine Sorgen: kommt Zeit, kommt Rat!«
Obgleich dieses Sprichwort, das auch in späteren Zeiten mehr als einmal meinen Mut aufrecht erhalten hat, mich ein wenig tröstete, so machte mich gerade der Umstand, daß man mir nicht Brot und Wasser allein geschickt hatte, sondern ein ganzes Mittagsmahl und sogar Rosenkuchen, sehr bedenklich. Hätte man mir keinen Kuchen geschickt, so hatte das bedeutet, daß man mich mit Arrest bestrafen wollte; nun aber stellte es sich heraus, daß ich noch gar nicht bestraft sei, daß man mich nur als einen schädlichen Menschen von den andern entfernt hatte, und daß mir die Strafe noch bevorstehe. Während ich mich mit der Lösung dieser Frage abmühte, drehte sich ein Schlüssel im Schloß meines Kerkers, und St. Jérôme trat mit strenger Amtsmiene ins Zimmer.
»Kommen Sie mit zu Großmama,« sagte er, ohne mich anzublicken.
Ich wollte vor dem Verlassen des Zimmers meine Rockärmel putzen, an denen Kreideflecken waren, aber St. Jérôme erklärte das für völlig überflüssig, als befände ich mich bereits in einem so kläglichen moralischen Zustande, daß es gar nicht der Mühe wert sei, mich um mein Äußeres zu kümmern.
Als St. Jérôme mich an der Hand durch den Saal führte, sahen mich Katjenka, Ljubotschka und Wolodja mit ganz demselben Ausdruck an, mit dem wir die Sträflinge anzusehen pflegten, die an jedem Montag vor unseren Fenstern vorübergeführt wurden. Und als ich an Großmamas Lehnstuhl herantrat, um ihr die Hand zu küssen, wandte sie sich von mir ab und versteckte die Hand unter der Mantille.
»Ja, mein Lieber,« sagte sie nach ziemlich langem Schweigen, während dessen sie mich vom Kopf bis zu den Füßen mit einem Blick gemessen hatte, daß ich nicht wußte, wo ich meine Augen und Arme lassen sollte; »ich kann wohl sagen, daß Ihnen viel an meiner Liebe gelegen ist und daß Sie mir wirklich Freude machen. Mr. St. Jérôme, der sich auf meine Bitte Ihrer Erziehung angenommen hat,« fügte sie hinzu, jedes Wort lang dehnend, »will jetzt nicht mehr in meinem Hause bleiben. Weswegen? – Ihretwegen, mein Lieber. Ich hatte gehofft, Sie würden dankbar sein,« fuhr sie nach kurzer Pause fort, in einem Ton, der bewies, daß ihre Rede wohlvorbereitet war, »für seine Sorgfalt und Mühe, Sie würden seine Verdienste zu würdigen wissen, aber Sie, ein Milchbart, ein Bengel, Sie haben es gewagt, die Hand gegen ihn zu erheben! Sehr gut! Sehr schön!! Ich fange nun auch an zu glauben, daß Sie nicht imstande sind, eine feine Behandlung zu würdigen, daß für Sie andere, niedrige Maßregeln angewandt werden müssen. – Bitt' sofort um Verzeihung!« fügte sie in streng befehlendem Tone hinzu, indem sie auf St. Jérôme zeigte, »hörst du?«
Ich sah nach der Richtung, nach der Großmamas Hand wies, und als ich St. Jérômes Rock erblickte, wandte ich mich ab und rührte mich nicht von der Stelle, wobei mich wieder Herzbeklemmungen überkamen.
»Nun? hören Sie vielleicht nicht, was ich sage?« Ich zitterte am ganzen Körper, rührte mich aber nicht von der Stelle.
»Koko!« sagte Großmama, da sie wohl meine innere Qual bemerkte, »Koko!« sagte sie weniger in befehlendem als in zärtlichem Tone, »bist du das?«
»Großmama! um keinen Preis bitte ich ihn um Verzeihung –« sagte ich und verstummte plötzlich, weil ich fühlte, daß ich die Tränen, die mich zu ersticken drohten, nicht hätte zurückhalten können, wenn ich noch ein Wort gesagt hätte.
»Ich befehle es dir, ich bitte dich. Was hast du nur?«
»Ich – ich – will – nicht – kann nicht!« stammelte ich, und das verhaltene Schluchzen, das meine Brust beengte, durchbrach plötzlich alle Schranken und drängte sich in verzweifeltem Strome hervor.
» C'est ainsi que vous obéissez à votre seconde mère, c'est ainsi que vous reconnaissez ses bontés!« sprach St. Jérôme mit tragischer Stimme, » à genoux!«
»Mein Gott, wenn sie das sehen würde!« sagte Großmama, sich von mir abwendend und die hervorquellenden Tränen trocknend, »wenn sie sehen würde ... Alles ist zu etwas gut! Ja, sie hätte diesen Kummer nicht überlebt, hätte ihn nicht überlebt!«
Und Großmama weinte immer heftiger. Auch ich weinte, aber ich dachte nicht daran, um Verzeihung zu bitten.
» Tranquillisez-vous au nom du ciel, madame la comtesse,« sagte St. Jérôme.
Aber Großmama hörte nicht mehr auf ihn, sie bedeckte das Gesicht mit den Händen, und ihr Weinen ging bald in krampfartiges hysterisches Schluchzen über. Mit erschreckten Gesichtern stürzten Mimi und Gascha ins Zimmer, es verbreitete sich der Geruch irgend welcher Essenzen, und im ganzen Hause entstand plötzlich ein Laufen und Flüstern.
»Freuen Sie sich an Ihrem Werk!« sagte St. Jérôme, indem er mich nach oben führte.
Mein Gott, was hatte ich angerichtet! was für ein entsetzlicher Verbrecher war ich doch!
Kaum war St. Jérôme hinuntergegangen, nachdem er mir befohlen hatte, in mein Zimmer zu gehen, als ich – ohne mir Rechenschaft über mein Tun zu geben – die große Treppe hinablief, die auf die Straße führte.
Ob ich für immer aus dem Hause fliehen, ob ich mich ins Wasser stürzen wollte, weiß ich nicht mehr; ich weiß nur, daß ich, das Gesicht mit den Händen bedeckend, um niemand zu sehen, immer weiter treppabwärts lief.
»Wohin?« fragte mich plötzlich eine bekannte Stimme; »dich suchte ich gerade, mein Täubchen!«
Ich wollte vorbeilaufen, aber Papa ergriff mich am Arm und sagte streng: »Komm einmal mit, mein Lieber! Wie konntest du dich unterstehen, die Briefmappe in meinem Arbeitszimmer anzurühren?« fragte er, indem er mich mit sich ins kleine Divanzimmer zog. »Na? warum schweigst du? Na?« setzte er hinzu, mich beim Ohr nehmend.
»Verzeih!« sagte ich, »ich weiß selbst nicht, was über mich gekommen war.«
»So, du weißt nicht, was über dich gekommen war, du weißt nicht, weißt nicht, weißt nicht, weißt nicht –« wiederholte er, bei jedem Wort an meinem Ohr ziehend; »wirst du noch einmal deine Nase hinstecken, wo sie nicht hingehört? wirst du? wirst du?«
Obgleich mein Ohr gräßlich schmerzte, weinte ich nicht und ein angenehmes moralisches Gefühl erfüllte mich. Kaum hatte Papa mein Ohr freigegeben, als ich seine Hand ergriff und sie unter Tränen mit Küssen bedeckte.
»Schlage mich noch!« schluchzte ich, »stärker, schmerzhafter! Ich bin ein Taugenichts, ein schlechter, ein unglücklicher Mensch!«
»Was hast du?« fragte er, mich leicht von sich schiebend.
»Nein, ich gehe um keinen Preis von dir!« rief ich, mich an seinen Rock klammernd. »Alle hassen mich, ich weiß es, aber um Gottes willen, höre du mich an, schütze mich, oder jage mich aus dem Hause! Ich kann nicht mit ihm zusammenbleiben, er sucht, mich in jeder Weise zu demütigen, er befiehlt, daß ich vor ihm auf den Knieen liegen soll, er wollte mich prügeln! Ich ertrage das nicht, ich bin kein Kind, ich überlebe das nicht, ich werde sterben, ich werd' mir selbst das Leben nehmen! Er hat Großmama gesagt, ich sei ein nichtsnutziger Bube, jetzt ist sie krank, sie wird durch meine Schuld sterben – ich – kann – mit ihm – um Gottes–willen, prügle du – wa–rum – quä–len –«
Die Tränen drohten mich zu ersticken, ich sank auf den Divan und ließ – unfähig, weiterzusprechen – den Kopf auf Papas Knie fallen, wobei ich so heftig schluchzte, daß es mir schien, ich müsse gleich sterben.
»Wovon sprichst du, Kerlchen?« fragte Papa voller Teilnahme und beugte sich über mich.
» Er ist mein Tyrann, – mein Peiniger – ich will sterben – niemand liebt mich!« konnte ich kaum noch hervorstoßen, dann fiel ich in Krämpfe.
Papa nahm mich auf seine Arme und trug mich ins Schlafzimmer. Ich schlummerte ein.
Als ich erwachte, war's schon sehr spät; eine Kerze brannte neben meinem Bette, und im Zimmer saßen unser Hausarzt, Mimi und Ljubotschka. Ich sah es ihren Gesichtern an, daß sie um meine Gesundheit besorgt waren. Aber ich fühlte mich so wohl und so leicht nach dem zwölfstündigen Schlafe, daß ich gleich aus dem Bett gesprungen wäre, wenn es mir nicht leid getan hätte, ihnen die Überzeugung von meiner schweren Krankheit zu rauben.
Ja, es war das echte Gefühl des Hasses, – nicht jenes Hasses, von dem nur in Romanen die Rede ist und an den ich nicht glaube, eines Hasses, der angeblich Genuß darin findet, einem Menschen Böses zu tun, – sondern des Hasses, der uns einen unüberwindlichen Widerwillen einflößt gegen einen Menschen, der eigentlich unsere Achtung verdient, eines Hasses, der uns seine Haare, seinen Hals, seinen Gang, seine Stimme, alle seine Gliedmaßen, alle seine Bewegungen widerwärtig macht, und uns zugleich mit unbegreiflicher Gewalt zu ihm hinzieht und uns zwingt, mit unruhiger Aufmerksamkeit die geringste seiner Handlungen zu verfolgen. Dieses Gefühl empfand ich für St. Jérôme.
St. Jérôme lebte nun schon eineinhalb Jahre bei uns. Wenn ich jetzt kaltblütig an diesen Menschen zurückdenke, so finde ich, daß er ein guter Franzose war, aber ein Franzose im höchsten Grade. Er war nicht dumm, recht gebildet, und erfüllte gewissenhaft seine Pflichten gegen uns, aber er besaß die allen seinen Landsleuten eigenen und dem russischen Charakter so entgegengesetzten Merkmale des leichtfertigen Egoismus, der Eitelkeit, Keckheit und des aufdringlichen Selbstvertrauens. Alles das mißfiel mir ungemein. Es versteht sich von selbst, daß Großmama ihm ihre Ansicht über Körperstrafen klargemacht hatte, und er wagte es nicht, uns zu schlagen; ungeachtet dessen drohte er besonders mir häufig mit Prügeln und sprach dabei das Wort fouetter (fast wie foüatter) so widerwärtig und mit solcher Betonung, als würde es ihm das größte Vergnügen gewähren, mich zu schlagen.
Ich fürchtete den Schmerz der Strafe nicht im geringsten, hatte ihn auch nie empfunden, aber der bloße Gedanke, daß St. Jérôme mir einen Schlag versetzen könnte, verursachte mir das quälende Gefühl unterdrückter Verzweiflung und Wut.
Es war vorgekommen, daß Karl Iwanowitsch, wenn er sich ärgerte, sich persönlich mit Hilfe des Lineals oder der Hosenträger mit uns auseinandersetzte, aber daran kann ich ohne den geringsten Zorn zurückdenken. Selbst in der Zeit, von der ich spreche (als ich vierzehn Jahre alt war), hätte ich, falls es Karl Iwanowitsch eingefallen wäre, mich zu hauen, kaltblütig seine Schläge ertragen. Karl Iwanowitsch hatte ich lieb, ich konnte mich seiner erinnern, solange ich überhaupt denken konnte, und ich hatte mich gewöhnt, ihn als Mitglied unserer Familie zu betrachten, St. Jérôme aber war ein stolzer, von sich eingenommener Mensch, für den ich nichts fühlte außer der unwillkürlichen Achtung, die mir alle »Großen« einflößten. Karl Iwanowitsch war ein komischer alter Mann, ein »Instruktor«, den ich von ganzem Herzen liebte, den ich aber trotzdem in meiner kindlichen Auffassung der gesellschaftlichen Stellung mir unterordnete. St. Jérôme dagegen war ein gebildeter, hübscher, junger Geck, der danach strebte, sich allen gleichzustellen.
Karl Iwanowitsch schalt und bestrafte uns stets kaltblütig; man merkte, daß er das für eine zwar unumgängliche, aber unangenehme Pflicht hielt. St. Jérôme dagegen liebte es, sich mit der Rolle des Erziehers zu drapieren; wenn er uns strafte, so merkte man es ihm an, daß er es mehr zu seinem Vergnügen als zu unserm Nutzen tat. Er ließ sich von seiner eigenen Größe hinreißen. Seine prunkvollen französischen Phrasen, die er mit starker Betonung der Endsilben, mit accent circonflex, sprach, waren mir unbeschreiblich widerlich. Wenn Karl Iwanowitsch sich ärgerte, sagte er: »Puppenkomödie, ausgelassener Bengel, spanische Fliege;« St. Jérôme nannte uns mauvais sujet, vilain garnement usw., Benennungen, die meine Eigenliebe verletzten.
Karl Iwanowitsch ließ uns mit dem Gesicht zur Wand knien, und die Strafe bestand in dem physischen Schmerz, den diese Stellung verursachte; St. Jérôme schrie, die Brust vorstreckend und eine großartige Handbewegung machend: » A genoux, mauvais sujet!« und befahl, mit ihm zugewandtem Gesicht niederzuknien und um Verzeihung zu bitten. Die Strafe bestand in der Demütigung.
Ich wurde nicht bestraft, und es wurde überhaupt mit keinem Wort erwähnt, was vorgefallen war; aber ich konnte all das während der zwei Tage Erduldete nicht vergessen: Verzweiflung, Scham, Angst und Haß. Obgleich St. Jérôme sich seit jenem Tage anscheinend nicht mehr um mich kümmerte, konnte ich mich nicht daran gewöhnen, ihn gleichmütig anzusehen. Jedesmal, wenn unsere Blicke sich zufällig begegneten, glaubte ich, daß in meinen Augen eine allzu deutliche Feindseligkeit zu lesen sei, und beeilte mich, einen gleichmütigen Ausdruck anzunehmen; doch dann schien es mir wieder, daß er meine Verstellung durchschaue, ich wurde rot und wandte mich ab.
Kurz, es war für mich unsagbar schwer, zu ihm irgend welche Beziehungen zu unterhalten.
Ja, je weiter ich in der Schilderung jener Zeit meines Lebens vorrücke, desto schwerer und mühevoller wird sie mir; selten, selten finde ich in den Erinnerungen aus jener Zeit Augenblicke eines wahren, warmen Gefühles, wie es den Anfang meines Lebens so hell und beständig durchstrahlt hatte. Unwillkürlich möchte ich die Wüste meiner Knabenjahre schneller durchlaufen und zu der glücklichen Zeit gelangen, als abermals das wahrhaft zärtliche, edle Gefühl der Freundschaft mit hellem Licht das Ende dieses Lebensabschnittes beleuchtete und den Grund legte zu der neuen, von Herrlichkeit und Poesie durchdrängten Zeit des Jünglingsalters.
Ich will nicht Stunde für Stunde meinen Erinnerungen folgen, sondern nur einen schnellen Blick auf die wichtigsten von ihnen werfen, von der Zeit an, zu welcher ich in meiner Beichte gekommen bin, bis zu meiner Begegnung mit einem ungewöhnlichen Menschen, der auf meinen Charakter und meine Sinnesrichtung einen entscheidenden und wohltätigen Einfluß ausübte.
Wolodja bezieht in den nächsten Tagen die Universität. Die Lehrer unterrichten ihn schon allein und ich höre mit Neid und unwillkürlicher Achtung, wie er, kräftig mit der Kreide an die schwarze Tafel klopfend, Funktionen, Sinusen, Koordinationen und so weiter auseinandersetzt, Dinge, die mir als der Ausdruck unerreichbarer Weisheit erscheinen. An einem Sonntag nachmittag versammeln sich in Großmamas Zimmer alle Lehrer, zwei Professoren, und es wird in Gegenwart von Papa und einigen Gästen eine Probe des Universitätsexamens abgehalten, wobei Wolodja zu Großmamas größter Freude ungewöhnliche Kenntnisse verrät; auch mir werden Fragen aus einigen Gegenständen vorgelegt, aber ich beantworte sie sehr schlecht, und die Professoren geben sich merkliche Mühe, meine Unwissenheit vor Großmama zu verbergen, was mich noch mehr in Verlegenheit bringt, übrigens widmet man mir wenig Aufmerksamkeit: ich werde erst fünfzehn Jahre alt, folglich habe ich noch ein Jahr bis zur Prüfung. Wolodja kommt nur zum Mittagessen herunter und verbringt die ganzen Tage und selbst die Abende oben bei seinen Büchern, nicht gezwungen, sondern auf eigenen Wunsch; er ist sehr ehrgeizig und möchte das Examen nicht mittelmäßig bestehen, sondern vorzüglich.
Und nun ist der Tag des ersten Examens da. Wolodja legt einen blauen Frack mit Bronzeknöpfen an, eine goldene Uhr und Lackstiefel. An der Freitreppe hält Papas Phaeton, Nikolaj wirft die Lederdecke zurück, und Wolodja fährt mit St. Jérôme zur Universität; die Mädchen, besonders Katjenka, blicken mit freudigen, entzückten Gesichtern durchs Fenster auf Wolodjas schlanke Gestalt, als er in den Wagen steigt; Papa sagt: »Gebe Gott, gebe Gott!« und Großmama, die sich auch mühsam ans Fenster geschleppt hat, macht mit Tränen in den Augen so lange das Zeichen des Kreuzes hinter Wolodja her, bis der Phaeton hinter der Ecke der Nebengasse verschwunden ist, und flüstert dabei etwas vor sich hin.
Wolodja kehrt zurück. Alle fragen ihn voller Ungeduld: »Nun? Gut? Welche Note?« Aber man sieht es schon seinem fröhlichen Gesichte an, daß alles gut gegangen ist; Wolodja hat eine Fünf bekommen. Am nächsten Tage wird er mit den gleichen Glückwünschen und mit der gleichen Angst hinausgeleitet und mit der gleichen Ungeduld und Freude wieder empfangen; so vergehen neun Tage. Am zehnten Tag steht die letzte, schwerste Prüfung bevor, – Religion; alle stehen am Fenster und erwarten ihn mit noch größerer Ungeduld; es ist schon zwei Uhr und Wolodja ist noch nicht da.
»Mein Gott, Kinder, sie kommen, sie kommen!« schreit Ljubotschka, das Gesicht an die Fensterscheibe drückend.
Und wirklich, im Phaeton neben St. Jérôme sitzt Wolodja, aber nicht mehr im blauen Frack und der grauen Mütze, sondern in der Studentenuniform mit gesticktem, blauem Kragen, einem Dreimaster auf dem Kopf und einem vergoldeten Degen an der Seite.
»O, wenn du das erlebt hättest!« ruft Großmama, als sie Wolodja in der Uniform erblickt, und fällt in Ohnmacht.
Wolodja kommt mit strahlendem Gesicht ins Vorzimmer gelaufen, küßt mich und umarmt mich, Ljubotschka, Mimi und Katjenka, die dabei bis über die Ohren errötet. Wolodja ist außer sich vor Freude, und wie hübsch er ist in dieser Uniform! Wie gut steht ihm der blaue Kragen zu dem eben hervorsprossenden, schwarzen Schnurrbärtchen! Was hat er für eine dünne, feine Taille und für einen vornehmen Gang! An diesem denkwürdigen Tage speisen alle in Großmamas Zimmer, aus allen Gesichtern strahlt die Freude, und während des Mahles, als die süße Speise gereicht wird, bringt der Haushofmeister mit gemessen wichtiger und doch lustiger Miene, in eine Serviette gehüllt, eine Flasche Champagner. Zum erstenmal nach mamans Tode trinkt Großmama Champagner; sie leert, Wolodja beglückwünschend, einen ganzen Pokal und weint wieder vor Freude, wenn sie ihn ansieht.
Von nun an fährt Wolodja schon allein in eigener Equipage aus, empfängt bei sich seine Bekannten, raucht, besucht Bälle, und ich selbst habe sogar gesehen, wie er einmal in seinem Zimmer mit seinen Bekannten zwei Flaschen Champagner geleert hat, und wie sie bei jedem Glase auf das Wohl gewisser, geheimnisvoller Personen anstießen und sich darum stritten, wer le fond de la bouteille bekommen sollte. Er speist jedoch regelmäßig zu Hause, setzt sich nach dem Diner wie früher in das Divanzimmer und plaudert beständig geheimnisvoll mit Katjenka; aber soviel ich, als beim Gespräch Unbeteiligter, verstehen kann, sprechen sie nur von den Helden und Heldinnen der Romane, die sie gelesen haben, von Eifersucht, von Liebe, und ich kann gar nicht begreifen, was sie in solchen Gesprächen Unterhaltendes finden und warum sie so verständnisvoll lächeln und so lebhaft debattieren.
Ich bemerke überhaupt, daß zwischen Katjenka und Wolodja, außer der selbstverständlichen Freundschaft zwischen Jugendgespielen, irgendwelche seltsame Beziehungen existieren, die sie von uns andern entfernen und miteinander geheimnisvoll verbinden.
Papa ist besonders gut aufgelegt, seit Wolodja die Universität besucht, und kommt häufiger als gewöhnlich zu Großmama zu Mittag, Übrigens ist der Grund seiner Heiterkeit, wie ich durch Nikolaj erfahren habe, der, daß er in letzter Zeit außerordentlich viel im Spiel gewonnen hat. Es kommt sogar vor, daß er des Abends, bevor er in den Klub geht, zu uns herüberkommt, sich an das Klavier setzt, uns um sich her versammelt und mit seinen weichen Schuhen den Takt schlagend (er kann Absätze nicht leiden und trägt sie nie), Zigeunerlieder singt. Man muß dann das komische Entzücken seines Lieblings Ljubotschka beobachten, die ihn vergöttert. Zuweilen kommt er in das Unterrichtszimmer und hört mit strenger Miene zu, wie ich meine Aufgaben hersage; aber an einigen Worten, durch die er mich korrigieren will, merke ich, daß er wenig von dem weiß, worin ich unterrichtet werde. Zuweilen blinzelt er heimlich und macht uns ein Zeichen, wenn Großmama brummig ist und sich ohne Grund über alle ärgert. »Na, heute haben wir' s bekommen, Kinder,« sagt er dann; überhaupt steigt er allmählich in meinen Augen von der unerreichbaren Höhe, auf welche ihn meine kindliche Einbildungskraft gestellt hatte, herab. Ich küsse zwar mit demselben aufrichtigen Gefühl der Liebe und Verehrung seine große, weiße Hand, aber ich erlaube mir schon viel über ihn nachzudenken, seine Handlungen zu beurteilen, und es kommen mir über ihn unwillkürlich Gedanken, deren Auftauchen mich erschreckt. Nie werde ich einen Fall vergessen, der mir viele solche Gedanken eingab und mir viele seelische Leiden bereitete.
Einmal kam er spät abends in schwarzem Frack und weißer Weste in den Salon, um Wolodja, der sich eben in seinem Zimmer ankleidete, zu einem Ball abzuholen. Großmama wartete im Schlafzimmer, daß Wolodja sich ihr zeige (sie hatte die Gewohnheit, ihn vor jedem Ball zu sich zu rufen, ihn zu segnen, zu mustern und ihm gute Lehren zu geben). Im Saale, der nur von einer Lampe erhellt war, gingen Mimi und Katjenka auf und ab, Ljubotschka saß am Klavier und übte das zweite Konzert von Field, das Lieblingsstück von maman.
Nie habe ich bei jemand eine solche Familienähnlichkeit gefunden, wie zwischen meiner Schwester und meiner Mutter; diese Ähnlichkeit lag nicht im Gesicht, nicht in der Figur, sondern in irgend etwas Angreifbarem: in den Händen, in der Art zu gehen und besonders in der Stimme und in gewissen Ausdrücken. Wenn Ljubotschka sich ärgerte und sagte: »Eine ganze Ewigkeit läßt man uns nicht fort,« so sprach sie die Worte »eine ganze Ewigkeit«, die auch maman oft zu sagen pflegte, so, daß man maman zu hören glaubte, so gedehnt: ga – anze Ewigkeit! Aber am auffallendsten war diese Ähnlichkeit im Klavierspiel und in allen Handgriffen dabei: sie ordnete ganz ebenso ihr Kleid, blätterte ganz ebenso mit der linken Hand von oben die Noten um, schlug ebenso im Ärger mit der Faust auf die Tasten, wenn ihr eine schwere Passage lange nicht gelingen wollte, und sagte dabei: »Ach, mein Gott!« Und sie zeigte dieselbe Zartheit und Sauberkeit des Spieles, jenes herrlichen Fieldschen Spieles, das man so trefflich jeu perlé genannt hat und dessen Schönheit die Kunststücke der modernen Klaviervirtuosen nicht vergessen machen können.
Papa kam mit schnellen, kleinen Schritten ins Zimmer und trat an Ljubotschka heran, die bei seinem Anblick zu spielen aufgehört hatte.
»Nein, spiel' nur, Ljuba, spiel'«, sagte er, sie auf den Stuhl niederdrückend, »du weißt, wie gern ich dir zuhöre.«
Ljubotschka spielte weiter, und Papa saß lange, den Kopf in die Hand gestützt, ihr gegenüber, dann zuckte er schnell mit der Schulter, stand auf und begann im Zimmer auf und nieder zu gehen; wenn er an das Klavier kam, blieb er jedesmal stehen und sah Ljubotschka lange aufmerksam an. An seinen Bewegungen und am Gange merkte ich, daß er aufgeregt war. Nachdem er einige Male durch den Saal gegangen war, blieb er hinter Ljubotschkas Stuhl stehen und küßte sie auf das schwarze Haar, dann wandte er sich schnell um und nahm seine Wanderung wieder aus. Als Ljubotschka zu Ende gespielt hatte und sich mit der Frage an ihn wandte: »War es gut?« nahm er schweigend ihren Kopf in beide Hände und küßte sie auf Stirn und Augen mit einer Zärtlichkeit, wie ich sie nie bei ihm gesehen hatte.
»Ach, mein Gott, du weinst!« sagte Ljubotschka plötzlich, ließ seine Uhrkette los und sah ihm mit großen, erstaunten Augen ins Gesicht; »verzeih' mir, Herzenspapa, ich hab' ganz vergessen, daß das mamans Stück war.«
»Nein, mein Liebling, spiele es nur öfter,« sagte er mit vor Erregung zitternder Stimme, »wenn du wüßtest, wie wohl es mir tut, mit dir zu weinen.«
Er küßte sie noch einmal, gab sich Mühe, seine innere Erregung zu überwinden, zuckte mit der Schulter und ging zur Tür, die über den Korridor in Wolodjas Zimmer führte.
»Woldemar, bist du bald fertig?« rief er, mitten im Korridor stehen bleibend. In diesem Augenblick ging Mascha, das Stubenmädchen, an ihm vorüber; beim Anblick des gnädigen Herrn senkte sie die Augen und wollte ihm ausweichen; er hielt sie an. »Du wirst immer hübscher,« sagte er, sich zu ihr neigend.
Mascha errötete und senkte den Kopf noch tiefer. »Erlauben Sie,« flüsterte sie.
»Woldemar, was ist? Kommst du bald?« wiederholte Papa, sich aufrichtend und sich räuspernd, als Mascha vorüber war und er mich erblickte. –
Ich liebe meinen Vater, aber der menschliche Verstand führt ein vom Herzen unabhängiges Dasein und birgt oft Gedanken in sich, die das Gefühl beleidigen und ihm unbegreiflich und hart erscheinen; und solche Gedanken kommen mir, obgleich ich mich bemühe, sie zu vertreiben.
Großmama wird von Tag zu Tag schwächer; ihre Glocke, die Stimme der brummigen Gascha und das Zuschlägen der Tür ertönen immer häufiger aus ihrem Zimmer; sie empfängt uns nicht mehr in ihrem Boudoir im Voltaire-Stuhl, sondern in ihrem Schlafzimmer im hohen Bett mit den spitzenbesetzten Kissen. Wenn ich ihr guten Morgen wünsche, bemerke ich auf ihrer Hand eine blaßgelbe, glänzende Geschwulst, und das Zimmer ist von dem schweren Geruch erfüllt, den ich vor fünf Jahren im Zimmer meiner Mutter empfunden habe; der Doktor kommt dreimal am Tage zu ihr, und es haben schon mehrere Konsultationen stattgefunden, aber ihr Charakter und das stolze, zeremonielle Benehmen gegen alle im Hause und besonders gegen Papa hat sich nicht im geringsten verändert. Sie dehnt die Worte ganz ebenso wie früher, zieht die Augenbrauen hoch und sagt zu ihm: »Mein Lieber.«
Aber seit einigen Tagen läßt man uns nicht mehr zu ihr, und eines Vormittags schlägt St. Jérôme mir während der Unterrichtszeit vor, mit Ljubotschka und Katjenka spazieren zu fahren. Obgleich ich, in den Schlitten steigend, bemerke, daß die Straße vor Großmamas Fenster mit Stroh bedeckt ist und daß fremde Männer in blauen Kitteln an unserem Tor stehen, so kann ich's mir doch nicht erklären, warum man uns zu so ungewöhnlicher Stunde spazieren schickt. Während der ganzen Spazierfahrt befinden Ljubotschka und ich uns aus irgend welchem Grunde in jener besonders fröhlichen Stimmung, in welcher jeder gewöhnliche Zufall, jedes Wort, jede Bewegung zum Lachen reizen.
Ein Hausierer ergreift seine Mulde und läuft im Trab über die Straße, – und wir lachen; ein zerlumpter Fuhrknecht jagt, die Enden der Leine schwingend, hinter unserem Schlitten her, – und wir lachen; Philipps Peitsche bleibt an den Schlittenkufen hängen, er dreht sich um und sagt: »Ach, na!« – und wir sterben vor Lachen. Mimi sagt ärgerlichen Gesichtes, daß nur die Dummen ohne Grund lachen, und Ljubotschka, ganz rot von der Anstrengung des unterdrückten Lachens, sieht mich von unten herauf an, unsere Blicke begegnen sich, und wir brechen in ein solch homerisches Gelächter aus, daß uns Tränen in die Augen treten und wir die Ausbrüche des Lachens, das uns zu ersticken droht, nicht zurückhalten können. Sobald wir uns ein wenig beruhigen, sehe ich Ljubotschka an und sage ein gewisses Wörtchen, das bei uns seit einiger Zeit in Mode ist und stets Lachen hervorruft, und wir lachen wieder los.
Als wir uns auf der Heimfahrt dem Hause nähern, öffne ich eben den Mund, um Ljubotschka eine herrliche Grimasse zu schneiden, als mein Blick auf einen schwarzen Sargdeckel fällt, der an einen Flügel der Eingangstür gelehnt ist, und mein Mund bleibt in derselben verzerrten Stellung.
» Votre grand-mère est morte,« sagt St. Jérôme, der uns entgegenkommt, bleichen Antlitzes.
Die ganze Zeit, solange Großmamas Leiche im Hause ist, empfinde ich das drückende Gefühl der Todesangst, das heißt der Leichnam erinnert mich lebhaft und unangenehm daran, daß auch ich einmal sterben muß, – ein Gefühl, das man grundlos mit der Trauer zu verwechseln pflegt. Ich traure nicht um Großmama, und es gibt wohl niemand, der aufrichtig um sie trauert; obgleich das Haus von Trauergästen überfüllt ist, so bedauert doch niemand, daß sie gestorben ist, mit Ausnahme einer einzigen Person, deren übergroßer Schmerz mich unsagbar in Erstaunen setzt, und diese eine Person ist das Stubenmädchen Gascha. Sie geht auf den Dachboden, schließt sich dort ein, hört nicht auf zu weinen, verwünscht sich selbst, rauft sich das Haar, hört auf keinen Zuspruch und behauptet, nur der Tod bleibe ihr nach dem Verlust der geliebten Herrin als einziger Trost.
Ich wiederhole, daß die Unwahrscheinlichkeit in Sachen des Gefühls das sicherste Merkmal der Wahrheit ist.
Großmama ist nicht mehr. Aber in unserem Hause leben noch die Erinnerungen an sie, und es wird viel über sie gesprochen. Diese Gespräche beziehen sich hauptsächlich auf das Testament, das sie vor ihrem Hinscheiden gemacht hat und das niemand kennt außer ihrem Busenfreunde, dem Fürsten Iwan Iwanowitsch. Bei Großmamas Dienstboten bemerke ich einige Aufregung; ich höre häufig Verhandlungen darüber, wer an wen übergehen werde, und ich gestehe, unwillkürlich denke ich mit Freuden daran, daß wir eine Erbschaft antreten werden.
Sechs Wochen später erzählt mir Nikolaj, der stets der Neuigkeitskrämer in unserem Hause ist, daß Großmama ihr ganzes Vermögen Ljubotschka hinterlassen und bis zu deren Verheiratung die Verwaltung nicht Papa, sondern dem Fürsten Iwan Iwanowitsch übertragen habe.
Es bleiben mir nur noch wenige Monate bis zum Eintritt in die Universität: ich lerne gut; ich erwarte nicht nur ohne Furcht meine Lehrer, ich finde sogar einiges Vergnügen am Lernen.
Es macht mich froh, klar und deutlich die gelernte Aufgabe herzusagen. Ich bereite mich für die mathematische Fakultät vor und ich habe diese Wahl – aufrichtig gesagt – nur deshalb getroffen, weil mir die Worte Sinus, Tangente, differential, integral ungemein gefallen. Ich bin viel kleiner als Wolodja, breitschultrig, fleischig und häßlich wie früher und ärgere mich darüber wie früher; ich bemühe mich, als Original zu erscheinen. Nur eines tröstet mich: daß Papa einmal zu mir gesagt, ich besäße eine »kluge Fratze«, und ich glaube fest daran.
St. Jérôme ist zufrieden mit mir und lobt mich, und nicht nur, daß ich ihn nicht mehr hasse, sondern, wenn er zuweilen sagt, daß es mit »meinen Fähigkeiten, mit meinem Verstande« eine Schande sei, dies oder jenes nicht zu tun, so ist mir sogar, als wenn ich ihn liebte.
Ich beginne allmählich von den Fehlern meines Knabenalters zu genesen mit Ausnahme des Hauptfehlers, der mir viel Schlimmes im Leben zufügen sollte, – meiner Neigung zum Philosophieren.
Obgleich ich im Kreise von Wolodjas Bekannten eine Rolle spielte, die meine Eigenliebe kränkte, liebte ich es doch, in seinem Zimmer zu sitzen, wenn er Besuch hatte, und schweigend alles, was dort geschah, zu beobachten. Öfter als alle andern kamen zu Wolodja der Adjutant Dubkow und der Student Fürst Nechljudow. Dubkow war klein, sehnig, brünett, nicht mehr in der ersten Jugend und etwas kurzbeinig, aber nicht grade häßlich und immer lustig; er war einer jener beschränkten Menschen, die grade durch ihre Beschränktheit besonders angenehm sind, die nicht imstande sind, die Dinge von verschiedenen Seiten zu betrachten, und selten in Begeisterung geraten. Die Urteile dieser Menschen sind immer einseitig und fehlerhaft, aber stets aufrichtig und mit sich fortreißend; sogar ihr engherziger Egoismus erscheint gewissermaßen entschuldbar und liebenswürdig. Außerdem besaß Dubkow für Wolodja und mich eine doppelte Anziehungskraft: das militärische Äußere, und was die Hauptsache war, das Alter, mit welchem die Jugend gewöhnlich den Begriff der Wohlanständigkeit ( comme il faut) verbindet, die man in diesen Jahren sehr hoch schätzt; Dubkow war in der Tat das, was man un homme comme il faut zu nennen pflegt. Das Einzige, was mich unangenehm berührte, war, daß Wolodja sich manchmal vor ihm wegen meiner unschuldigsten Handlungen und vor allem wegen meiner Jugend zu schämen schien.
Nechljudow war nicht hübsch: die kleinen grauen Augen, die niedrige, steile Stirn, die unverhältnismäßig langen Arme und Beine konnten nicht schön genannt werden: hübsch war an ihm nur der ungewöhnlich hohe Wuchs, die zarte Gesichtsfarbe und die schönen Zähne. Aber sein Gesicht erhielt einen so originellen und energischen Ausdruck durch die schmalen, glänzenden Augen und das wechselnde, bald strenge, bald kindliche und unsichere Lächeln, das man ihn nicht übersehen konnte.
Er schien sehr schamhafter Natur zu sein, denn jede Kleinigkeit ließ ihn bis über die Ohren erröten; aber seine Schüchternheit glich nicht der meinigen; je mehr er errötete, desto mehr Entschlossenheit drückte sein Gesicht aus, es war, als ärgere er sich selbst über seine Schwäche.
Obgleich er mit Dubkow und Wolodja sehr befreundet schien, merkte man doch, daß nur der Zufall sie zusammengeführt hatte. Ihre Anschauungen waren äußerst verschieden: Wolodja und Dubkow hatten förmlich Angst vor allem, was ernsten Betrachtungen und Empfindsamkeiten ähnlich war, Nechljudow dagegen war Enthusiast im höchsten Grade und ließ sich, allem Spott zum Trotz, oft in Betrachtungen über philosophische Fragen und über Gefühle ein; Wolodja und Dubkow sprachen gern von den Gegenständen ihrer Liebe (und sie pflegten zuweilen in mehrere zugleich verliebt zu sein und beide in dieselben), Nechljudow dagegen wurde jedesmal ernstlich böse, wenn man auf seine Liebe zu einer gewissen »Rothaarigen« anspielte.
Wolodja und Dubkow erlaubten sich häufig liebevoll über ihre Verwandten zu spötteln, Nechljudow dagegen konnte man in Wut bringen, wenn man von seiner Tante, der er eine Art begeisterter Vergötterung widmete, in ungünstiger Weise sprach.
Fürst Nechljudow fiel mir gleich beim ersten Male auf, sowohl durch sein Gespräch, als durch sein Äußeres. Aber obgleich ich in seiner Sinnesrichtung viel Gemeinsames mit meiner eigenen empfand, oder vielleicht grade deshalb, – das Gefühl, das er mir einflößte, als ich ihn zum ersten Male sah, war durchaus kein freundliches.
Mir mißfiel sein schneller Blick, die harte Stimme, das stolze Aussehen und vor allem die völlige Gleichgültigkeit, die er mir bezeigte. Oft überkam mich während des Gespräches große Lust, ihm zu widersprechen, zur Strafe für seinen Stolz wünschte ich ihn mit meinen Einwürfen zu besiegen, ihm zu beweisen, daß ich gescheit sei, obgleich er mir keine Aufmerksamkeit schenken wolle; aber meine Schüchternheit hielt mich davon zurück.
Wolodja lag mit ausgestreckten Beinen auf dem Divan und las, den Kopf in die Hand gestützt, einen französischen Roman, als ich gewohnheitsgemäß nach dem Nachmittagsunterricht in sein Zimmer kam. Er erhob für einen Moment den Kopf, um mich anzublicken und las dann weiter; – es war die einfachste und natürlichste Bewegung, und doch machte sie mich erröten. Mir schien, als drücke sein Blick die Frage aus, weshalb ich komme, und das schnelle Neigen des Kopfes den Wunsch, die Bedeutung des Blickes vor mir zu verbergen. Diese Sucht, der allereinfachsten Gebärde eine Bedeutung beizulegen, war der charakteristische Zug meines Wesens in jenem Alter. Ich ging an den Tisch und nahm ebenfalls ein Buch, aber bevor ich zu lesen begann, fiel es mir ein, es sei doch lächerlich, daß wir, nachdem wir uns den ganzen Tag nicht gesehen, kein Wort miteinander sprachen.
»Bleibst du heute abend zu Hause?«
»Ich weiß nicht. Warum?«
»So,« sagte ich und da ich merkte, daß das Gespräch nicht in Gang kommen wollte, nahm ich das Buch und begann zu lesen.
Seltsam, unter vier Augen konnten wir Stunden und Stunden schweigend verbringen, aber es genügte die Anwesenheit einer dritten Person, selbst einer schweigsamen, um zwischen uns die interessantesten und mannigfaltigsten Gespräche anzuregen. Wir empfanden, daß wir uns gegenseitig zu genau kannten, – und zu viel oder zu wenig einander kennen, verhindert gleicher Weise die Annäherung.
»Ist Wolodja zu Hause?« ertönte im Vorzimmer Dubkows Stimme.
»Ja,« sagte Wolodja, zog die Füße vom Divan und legte das Buch auf den Tisch.
Dubkow und Nechljudow traten in Mantel und Hut ins Zimmer.
»Was ist, Wolodja, fahren wir ins Theater?«
»Nein, ich habe keine Zeit,« antwortete Wolodja errötend.
»Ach was nicht noch! komm' nur, bitte!«
»Ich habe ja auch keine Karte.«
»Karten bekommst du, soviel du willst, an der Kasse.«
»Wart', ich komm' gleich,« antwortete Wolodja ausweichend und ging achselzuckend hinaus.
Ich wußte, daß Wolodja große Lust hatte, ins Theater zu gehen, wozu ihn Dubkow aufforderte, daß er sich nur deshalb weigerte, weil er kein Geld hatte, und daß er hinausgegangen war, um bei dem Haushofmeister fünf Rubel bis zum nächsten Monatsgelde zu leihen.
»Guten Tag, Diplomat!« sagte Dubkow, indem er mir die Hand reichte.
Wolodjas Freunde nannten mich »Diplomat«, weil die selige Großmama einmal nach dem Diner, als man über unsere Zukunft sprach, in ihrer Gegenwart geäußert hatte, Wolodja müsse zum Militär, mich aber hoffe sie, als Diplomaten zu sehen in schwarzem Frack und mit einer Frisur à la coq, die nach ihrer Meinung eine unumgängliche Vorbedingung für den Diplomatenstand war.
»Wohin ist Wolodja gegangen?« fragte mich Nechljudow.
»Ich weiß es nicht,« sagte ich und errötete bei dem Gedanken, daß sie wahrscheinlich errieten, warum Wolodja hinausgegangen war.
»Wahrscheinlich hat er kein Geld! Nicht wahr? O Diplomat!« fügte er bekräftigend hinzu, mein Lächeln richtig auslegend. »Ich habe auch kein Geld, und du, Dubkow?«
»Wollen sehen!« antwortete Dubkow, sein Geldtäschchen hervorziehend und äußerst sorgfältig das darin enthaltene Kleingeld mit seinen kurzen Fingern befühlend. »Da ist ein Fünfkopekenstück, da ein Zwanziger, und sonst – huiii!« sagte er mit komischer Handbewegung.
In diesem Augenblick trat Wolodja ins Zimmer.
»Na, fahren wir?«
»Wie du komisch bist!« rief Nechljudow, »warum sagst du nicht, daß du kein Geld hast? Nimm meine Karte, wenn du willst.«
»Und du selbst?«
»Er wird zu seinen Cousinen in die Loge gehen,« sagte Dubkow.
»Nein, ich werde überhaupt nicht gehen.«
»Warum nicht?«
»Weil ich nicht gern in der Loge sitze, wie du weißt.«
»Warum nicht?«
»Ich mag nicht, es ist mir unbehaglich.«
»Immer die alte Geschichte! Ich begreife nicht, wie du dich unbehaglich fühlen kannst, wo alle dich gern sehen. Das ist lächerlich, mon cher!«
»Was soll ich anfangen, si je suis timide! Ich bin überzeugt, du bist noch nie im Leben rot geworden, ich aber erröte alle Augenblicke bei der geringsten Kleinigkeit!« sagte er und wurde auch dabei rot.
» Savez-vous, d'où vient votre timidité? – d'un excès d'amour propre, mon cher!« sagte Dubkow in gönnerhaftem Ton.
»Wieso excès d'amour propre?« antwortete Nechljudow empfindlich, »im Gegenteil, ich geniere mich deshalb so leicht, weil ich zu wenig amour propre habe! Ich bilde mir immer ein, daß ich ein unangenehmer, langweiliger Gesellschafter bin, daher –«
»Zieh' dich an, Wolodja!« sagte Dubkow, indem er Wolodja bei den Schultern faßte und ihm den Rock auszog; »Ignaz, der gnädige Herr muß sich anziehen!«
»Daher passiert es mir oft –« fuhr Nechljudow fort. Aber Dubkow hörte nicht mehr auf ihn. »Trala – ta – ra – ra – la – la –« trällerte er vor sich hin.
»Du hast mir nicht geantwortet,« sagte Nechljudow, »aber ich werde dir beweisen, daß Schüchternheit durchaus nicht der Eigenliebe entspringt.«
»Du wirst es beweisen, wenn du mitgehst.«
»Ich habe gesagt, daß ich nicht mitgehe.«
»Nun, so bleib hier und leg' deine Beweise dem Diplomaten vor; wenn wir heimkehren, wird er's uns erzählen.«
»Ich werd's auch beweisen!« sagte Nechljudow mit kindischem Eigensinn, »kommt nur bald zurück!«
»Was meinen Sie: leide ich an Eigenliebe?« fragte er, sich zu mir setzend.
Obgleich ich mir über diesen Punkt eine feste Meinung gebildet hatte, war ich durch die unerwartete Anrede so verlegen, daß ich nicht gleich antworten konnte.
»Ich denke wohl,« sagte ich, wobei ich fühlte, daß meine Stimme zitterte und eine schnelle Röte mein Gesicht bedeckte bei dem Gedanken, nun sei der Augenblick gekommen, ihm zu beweisen, daß ich »klug« sei; »ich denke, jeder Mensch besitzt Eigenliebe, und was der Mensch auch tun mag – es geschieht alles aus Eigenliebe.«
»Und was ist denn nach Ihrer Meinung Eigenliebe?« fragte Nechljudow mit einem, meiner Meinung nach etwas verächtlichen Lächeln.
»Eigenliebe,« erwiderte ich, »ist die Überzeugung, daß ich besser und klüger bin als alle.«
»Ja wie können denn alle Menschen diese Überzeugung haben?«
»Ich weiß nicht, ob's recht ist oder nicht, aber niemand gesteht es ein; ich bin überzeugt, daß ich der klügste Mensch auf der Welt bin, und ich bin auch überzeugt, daß Sie von sich ganz dieselbe Überzeugung haben.«
»Nein, ich bin der erste, der eingesteht, daß er Leute getroffen hat, die er für klüger hielt als sich selbst.«
»Das kann nicht sein,« antwortete ich bestimmt.
»Denken Sie denn in der Tat so?« fragte Nechljudow, indem er mich scharf ansah.
»Im Ernst,« erwiderte ich.
Da kam mir plötzlich ein Gedanke, dem ich auch sofort Ausdruck lieh.
»Ich will's Ihnen beweisen. Warum lieben wir uns selbst mehr als die andern? – Weil wir uns für besser, für liebenswerter halten als die andern. Wenn wir finden würden, daß die andern besser sind als wir, so würden wir sie auch mehr lieben als uns selbst, – und das kommt niemals vor. Und selbst wenn es vorkommen sollte, so habe ich doch recht!« fügte ich mit unwillkürlichem Lächeln der Selbstzufriedenheit hinzu.
Nechljudow schwieg einen Augenblick.
»Sieh' mal an! Ich hätte nie gedacht, daß Sie so gescheit sind!« sagte er dann mit so gutmütigem, liebem Lächeln, daß es mir plötzlich war, als sei ich außerordentlich glücklich.
Das Lob wirkt so mächtig nicht nur auf das Gefühl, sondern auch auf den Verstand des Menschen, daß es mir unter diesem angenehmen Eindruck war, als sei ich bedeutend klüger geworden, und die Gedanken sammelten sich mit ungewöhnlicher Schnelligkeit in meinem Kopf. Von der Eigenliebe kamen wir unmerklich auf die Liebe zu sprechen, und das schien ein unerschöpfliches Thema zu sein. Dem unbeteiligten Zuhörer wären unsere Ansichten und Betrachtungen wahrscheinlich wie blühender Unsinn erschienen, – so unklar und einseitig waren sie, – für uns aber hatten sie hohe Bedeutung. Unsere Seelen waren so harmonisch gestimmt, daß diese leiseste Berührung einer Saite des einen im Herzen des andern einen Widerhall weckte. Grade dieser übereinstimmende Klang der verschiedenen Saiten, die wir im Gespräch anschlugen, bereitete uns Genuß. Es war uns, als fehle es uns an Worten und an Zeit, um einander alle die Gedanken mitzuteilen, die nach Ausdruck verlangten.
Von jener Zeit an bildeten sich zwischen Dmitrij Nechljudow und mir recht seltsame, aber äußerst angenehme Beziehungen. In Gegenwart von anderen Leuten beachtete er mich fast gar nicht; kaum aber waren wir allein, so setzten wir uns in ein gemütliches Eckchen und begannen zu philosophieren, alles um uns her vergessend und gar nicht bemerkend, wie die Zeit verflog.
Wir sprachen von unserm künftigen Leben, von den Künsten, vom Militärdienst, von Heirat und Kindererziehung, und es fiel uns niemals ein, daß alles, was wir sprachen, ein furchtbarer Unsinn war. Es fiel uns nicht ein, weil der Unsinn, den wir sprachen, ein lieber, vernünftiger Unsinn war, und in der Jugend schätzt man noch die Vernunft, glaubt man noch an sie. In der Jugend sind alle Seelenkräfte auf das Zukünftige gerichtet, und dieses Zukünftige nimmt unter dem Einfluß der Hoffnung, die nicht auf der Erfahrung der Vergangenheit beruht, sondern auf der eingebildeten Möglichkeit des Glückes, so verschiedenartige, lebendige und bezaubernde Formen an, daß schon die bloßen Begriffe und die Mitteilung der Phantasien von künftigem Glück ein wirkliches Glück dieses Alters bilden. Bei den metaphysischen Betrachtungen, die das Hauptthema unserer Gespräche bildeten, liebte ich den Zeitpunkt, wo die Gedanken einander schneller und schneller folgen und, immer abstrakter werdend, schließlich einen solchen Grad von Nebelhaftigkeit erreichen, daß es unmöglich wird, sie in Worten auszudrücken, und daß man im Glauben, das zu sagen, was man denkt, etwas ganz anderes sagt. Ich liebte jenen Augenblick, in dem man, immer höher und höher in das Gebiet des Denkens aufsteigend, plötzlich die ganze Unbegrenztheit dieses Gebietes erkennt und die Unmöglichkeit des weiteren Vordringens einsieht.
Einst während der Butterwoche Der russische Fasching. (Anm. d. Übers.) war Nechljudow von verschiedenen Vergnügungen so in Anspruch genommen, daß er, obgleich er mehrere Male täglich zu uns ins Haus kam, kein einziges Mal mit mir sprach, und das kränkte mich so, daß er mir wieder als hochmütiger, unsympathischer Mensch erschien. Ich wartete nur auf eine Gelegenheit, ihm zu beweisen, daß mir an seiner Gesellschaft nicht das geringste liege und daß ich durchaus keine besondere Zuneigung für ihn empfinde.
Als er das erste Mal nach der Butterwoche wieder ein Gespräch mit mir anknüpfen wollte, sagte ich, ich müsse meine Aufgaben machen, und ging nach oben; aber nach einer Viertelstunde ward die Tür des Unterrichtszimmers geöffnet und Nechljudow trat ein.
»Störe ich Sie?« fragte er.
»Nein,« erwiderte ich, obgleich ich eigentlich gern gesagt hätte, daß ich wirklich zu arbeiten habe.
»Warum sind Sie denn aus Wolodjas Zimmer gegangen? Wir haben doch schon so lange nicht philosophiert. Und ich habe mich schon so daran gewöhnt, daß es mir förmlich abgeht.«
Mein Ärger war im Augenblick verflogen und Dmitrij war in meinen Augen wieder derselbe gute und liebe Mensch.
»Sie wissen wohl, warum ich fortgegangen bin?« sagte ich.
»Vielleicht,« antwortete er, neben mir Platz nehmend, »allein wenn ich's auch errate, so kann ich's doch nicht sagen. Sie aber können es.«
»Ich will's auch sagen: ich ging fort, weil ich Ihnen böse war, – das heißt ich war nicht böse, aber gekränkt. Die Sache ist einfach die, daß ich immer fürchte, Sie verachten mich, weil ich noch sehr jung bin.«
»Wissen Sie, warum wir uns so nahe getreten sind?« sagte er, mit einem gutmütigen und klugen Blick mein Geständnis beantwortend, »warum ich Sie lieber habe als Menschen, mit denen ich besser bekannt bin und mehr Gemeinsames habe? Ich habe das gleich durchschaut. Sie haben eine bewundernswerte, seltene Eigenschaft – die Aufrichtigkeit.«
»Ja, ich spreche immer grade das aus, was ich mich zu bekennen schäme,« bestätigte ich, »aber nur dem gegenüber, dem ich vertraue.«
»Ja, aber um einem Menschen zu vertrauen, muß man mit ihm völlig befreundet sein, und wir zwei sind noch nicht Freunde, Nikolaj; erinnern Sie sich, was wir von der Freundschaft gesagt haben: wahre Freunde müssen Vertrauen zueinander haben.«
»Das Vertrauen, daß Sie das, was ich Ihnen sage, niemand weitersagen,« erwiderte ich; »und gerade die wichtigsten und interessantesten Gedanken sind doch die, die wir um keinen Preis anderen verraten möchten. Und so häßliche, niedrige Gedanken sind das! Wenn wir wüßten, daß wir sie eingestehen müßten, würden sie nie wagen, uns in den Sinn zu kommen.«
»Wissen Sie, was mir einfällt, Nikolaj?« fragte er, indem er aufstand und sich lächelnd die Hände rieb; » machen wir's so, und Sie werden sehen, wie nützlich es für uns beide sein wird; geben wir uns das Wort, einander alles zu bekennen. Wir werden einander kennen lernen und uns voreinander nicht genieren; und um die andern nicht fürchten zu müssen, geben wir uns das Wort, niemals, mit niemand und nichts übereinander zu sprechen. Machen wir's!«
»Gut,« erwiderte ich.
Und wir »machten es« in der Tat. Was daraus wurde, will ich später erzählen.
Kapp sagt, bei jeder Zuneigung gebe es zwei Parteien: die eine liebt, die andere läßt sich lieben, die eine küßt, die andere hält die Wange hin. Das ist ganz richtig; bei unsrer Freundschaft war ich der Küssende, und Dmitrij der, welcher die Wange hinhält, aber auch er wäre bereit gewesen, der Küssende zu sein. Wir liebten gleichmäßig, weil wir einander kannten und schätzten; aber das verhinderte nicht, daß er Einfluß auf mich übte und daß ich mich ihm unterordnete.
Es versteht sich von selbst, daß ich mir unter Nechljudows Einfluß auch unwillkürlich seine Sinnesrichtung aneignete, deren Wesen in der entzückten Verehrung des Tugendideals bestand und in der Überzeugung, daß der Mensch dazu bestimmt sei, sich beständig zu vervollkommnen. Die ganze Menschheit veredeln, alle Laster und alles Unglück der Menschen austilgen, erschien mir damals als etwas Erreichbares: sehr leicht und einfach erschien es mir auch, mich selbst zu bessern, mir alle Tugenden anzueignen und glücklich zu sein.
Übrigens – Gott allein weiß, ob diese edlen Jugendträume wirklich lächerlich waren, und wer daran schuld ist, daß sie sich nicht verwirklichten.