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Von den Kirschbäumen, an deren schwarzen Ästen sich kleine, hellgrüne Blätterknospen schüchtern entfalteten, fielen die schneeweißen Blüten auf den von den ersten wärmenden Strahlen der Frühlingssonne erweichten braunen Boden.
Die Rasenflächen waren mit einem leichten frischen Schimmer überhaucht, ihr Grün machte den Eindruck, als sei es mit Chlor gebleicht.
Die schwarzen Stämme der Bäume waren überzogen mit einem seinen, schillernden, sammetartigen Moosflaum: ein Zeichen, daß der Lebenssaft in dem dürren Holze kräftig emporstieg.
Der Himmel war klar, fast frostklar; und die matte Sonnenscheibe schien strahlenlos in diesem blaßblauen Meere zu schwimmen.
Aber scharf und grell hoben sich alle Gegenstände auf der Erde von einander ab; die braunen Wege, die grünen Wiesen und die Felder mit ihrer aufkeimenden Saat, die roten Ziegeldächer, die schwarzen, vom Regen verwitterten Strohdächer der Ställe, die gelblichen, waschblauartigen oder blendendweißen Kalkwände der Häuser, auf denen sich gleich schwarzen Vierecken die Fenster und Thüröffnungen abzeichneten. –
Mitten durch das Dorf zog sich die graustaubige Landstraße, und von den Obstbäumen, die sie zu beiden Seiten besäumten, fielen die Blüten nieder und mischten sich mit dem Staube, der sie begrub, wenn ein Wagen ihn in die windstille Luft des Frühlingsnachmittags emporwirbelte ...
Und auch in dem kleinen Garten des Amtmanns fielen die Schneeblüten von den schwarzen Zweigen, und wirbelten nieder auf das blonde Haupt seiner Tochter Johanna und auf die breiten Schultern des Forstassessors Hans Nissen, der in dem schmalen Wege neben ihr herging, mit ihr in den Gemüsegarten eintrat, dann die Stacketthür der Hecke öffnete, die den Garten von den freien Feldern abschloß, und mit ihr hinaustrat auf den Wiesenpfad, der zum Flusse hinabführte.
Sie gingen an den verkrüppelten knorrigen Weiden hin und lauschten, wie das schmutziggelbe Wasser des rasch fließenden Stromes an das etwas aufgeworfene Ufer schlug ... und wie die hochgehenden Wellen in den trocknen braunen Schilfresten und dem geknickten Röhricht murmelten und seufzten. –
Johanna trug ihren breiten Strohhut in der Hand, daß die langen, roten Bänder am Boden nachschleiften.
Sie hatte ihn am Morgen hervorgesucht, weil der Tag so sonnenfroh war, daß man glauben konnte, man sei schon mitten im Sommer.
In ihrem Herzen war es Sommer, seit den drei Tagen, daß Hans Nissen gekommen war.
Sie hatten sich bei einer Freundin Johanna's den Winter in der Stadt kennen gelernt. Vor einem Monate hatte er seine feste Anstellung erhalten, war auf der Durchreise, um Verwandte zu besuchen, durch das Dörfchen gekommen und hatte dem Amtmann einen Besuch gemacht. Mit der nächsten Post schon wollte er weiter. Allein man hatte ihn überredet, wenigstens einen Tag zu bleiben; und schon seit drei Tagen wohnte er jetzt in dem Wirtshause des Dorfes, brachte aber jede freie Minute im Hause des Amtmanns zu.
Die Sonne hatte schon die Kraft, zu erwärmen, wenn auch die Luft kalt und klar schien ...
Hoch über ihnen tummelte sich ein Schwärm Tauben, deren Gefieder zuweilen wie Silber ausglänzte, während sie im nächsten Augenblick nur eine Zahl schwarzer Punkte zu sein schienen.
Die beiden gehen schweigend neben einander, immer den Fluß entlang, der eilends dahinrauscht, als müsse er noch vor der Nacht sein Ziel erreichen ...
– Johanna! flüstert der Mann leise und bleibt stehen.
Auch das Mädchen ist stehn geblieben. Aber es sieht nicht auf.
Er greift nach ihrer Hand, die sie ihm willig läßt. Er ruft sie wieder beim Namen – und wie sie erbebt, zieht er sie an sich. Sie wehrt ihm nicht. Sie weint, als sie an seiner Brust liegt. Sie klammert sich an ihn und lächelt unter den Thränen, die er ihr von den Wangen küßt.
Er spricht auf sie ein, aber sie antwortet ihm nicht. Sie schmiegt sich nur an, und läßt sich von ihm küssen ...
Sie ist so glücklich, daß sie keine Worte findet. Sie ist so glücklich, daß sie alles vergißt. – Sie will einen Augenblick selig sein ... nur eine Stunde, eine Minute. Denn sie glaubt nicht an das Glück. –
Sie gehen den Weg wieder zurück, jetzt den Fluß hinauf, den Wassern entgegen, die fern aus dem Gebirge kommen, dunkelgelb und schmutzig, – Frühlingsgewässer von dem tauenden Schnee der Berge.
Das kleine Haus liegt wieder vor ihnen, mit seinem roten Ziegeldache, seinen blendend weißen Kalkwänden und den frisch gestrichenen grünen Fensterläden.
Vom Kirchturme her tönt der Klang der Glocke. Die Uhr schlägt ... Es ist zwei.
Er will gleich zu ihrem Vater, um ihm alles zu sagen. Aber sie wehrt ihm. Er soll warten, wenigstens bis zum Abend. Der Vater ist nicht gut aufgelegt.
Und Hans verspricht es, wie schwer es ihm wird.
Er tritt mit ihr in das Haus ein. Er sitzt ihr bei Tisch gegenüber, und sie sprechen wie gewöhnlich mit einander.
Nur ihre Blicke verraten ihr Geheimnis.
Allein der Amtmann ahnt nichts. Denn Johanna ist still und ruhig wie immer. Nur ihr Gesicht ist schmaler und bleicher, und zuweilen zucken die Lippen, als ob ein innerlicher Schmerz sie quäle.
Sie bezwingt sich, damit die beiden nichts merken.
Endlich ist das Essen vorüber.
Der Vater in seiner grauen Hausjoppe setzt sich in seinen Ruhesessel, stopft sich seine lange Pfeife und setzt die Hornbrille aus, um die Zeitung zu lesen. Aber er ist schläfrig, und als er die Pfeife ausgeraucht hat, lehnt er sich zurück, und bald hält er sein gewohntes Nachmittagsschläfchen.
Die beiden jungen Leute gehn hinaus in den Garten.
Eine Zeitlang ruhen sie sich auf einer der Bänke, die hier in die Erde eingerammt sind. Allein es ist noch zu frisch zum längeren sitzen, und so wandern sie im Garten auf und ab, und Hans spricht von seiner Zukunft ... von seinem Glücke.
Sie hört ihn schweigend an, und lächelt glückselig wie im Traum, aber sie widerspricht ihm nicht.
Dann gehn sie durch das Dorf, hinaus in den erwachenden Wald, in dem die Büsche schon mit einem lustigen grünen Kleide bedeckt sind, und wo aus dem dicht mit fauligem Laube bedeckten Boden tausende weißblühender, nickender Anemonen emporblühen, und sich das bescheiden blaue Leberblümchen scheu verkriecht.
Der Sonnenschein flittert durch das kahle Geäst, durch das schwarze Gitterwerk der Stämme und Zweige. Zuweilen raschelt ein Vogel in dem feuchten Laube, und einmal krächzt eine Dohle unheimlich heiser auf dem höchsten Wipfel einer ausgedörrten Eiche.
Allein die beiden hören es kaum.
Hans hat den Arm um ihren Leib gelegt, und so schreiten sie immer tiefer in den Wald hinein.
Das welke Laub rauscht zu ihren Füßen auf.
Dann stoßen sie auf ein altes Mütterchen, das Reiser sucht und ihnen lange nachschaut, bis ihre trüben Augen sie nicht mehr sehen können ...
* * *
Die Sonne neigt sich dem Untergange zu.
Ein leichter, kalter Hauch weht über die Felder.
Frühlingsnebel, der die jungen Blätterknospen vor dem Erfrieren schützt.
In der dunstigen Stube des Wirtshauses sitzt der Schulze, die Arme breit auf den verschnittnen Holztisch gelegt. Ein Gast tritt ein und schlägt die Thür krachend zu.
– n' Abend!
– n' Abend, Hinrich!
– Sall ick 'ne lüttje Lage hebben ...
– Rieke! ...
Das Mädchen, vom Wirte gerufen, setzt den Schnaps und das Weißbier vor den Gast, der seine verknitterte Mütze auf den Tisch gelegt hat und sich mit der braunen schwieligen Hand über das Gesicht gefahren ist.
Draußen knallt ein Fuhrmann mit der Peitsche. Das Mädchen bringt auch ihm einen Schnaps hinaus.
Die beiden Männer haben aus dem Fenster gesehn.
Hans und die Tochter des Amtmanns gehen vorüber.
– Süh! – Is dat nich Amtmanns Hanne un de Forstaksesser? fragt Hinrich.
– Jo, en schönet Paar, wat? –
– Jo-jo! ... Ick glöv fast, hei will se frieen.
– Dat kann schon sien ...
– Ob hei wat davon weet?
– Dat 's aber slimm ... Seggen möt sei et ja doch.
– Jo. En Geheimnis is et nich.
– Nee! – Töv ... wo lang is dat blot her?
– So'n Johr feir oder fiev möt et all sien.
– Jo, so lang is et. – Nich wohr, et was so 'n verlumpeter Bohnwärter?
– Jo, so'n elenden Kierl. En armet fievtein jöhrigtet Mäken tau öberfallen. Hei kunn doch annere enaug kreegen.
– Ick glöv, hei härr se ook abmurkst, wenn den Schmidt sien Jochen nich just dartaukomen wör.
– Jo – jo – vor't Gericht hat hei dat jo ook taugeben.
– Ick segg blot, wat et nich vor Unminschen givt. T' is ne Schanne!
– Den Kierl hebbet se ja doch ook orntlich innesperrt.
– Jo, averst dat arme Mäken! – Verschimpfiert blievt se doch ehr ganzet Leve lang.
– De wert schon mal en Mann kreegen.
– Glövst du dat? –
– Na jo. Sei kann doch nich dervor. –
– Ne, dat kann se nich. – Averst wut du so eine tor Fru nöhmen, segg?
– Dat nu all nich ...
– Sühst de! ... Ick ook nich. – Aber lied daun kann et einen. So en bravet, hübschet Mäken, und so 'n Unglück ...
– Ob de Aksesser se nimmt? –
– Wer weet ... De Stadtlüe sind ja oft komische Minschen.
– Ut Dörp mot se blot ruut. Anerswo, wo se et nich weeten, kann et jo all ganz gut gahn.
– All de Tid hat kein Minsch mehr wat dervon seggt.
– Nee, – averst jetzt snakt se alle wedder von dat oll Tüg, siet de Aksesser do is.
– Dat 's nu mal nich anners.
– Nee, un dat wird et ook nich. –
– Aber schode is it um de Hanne. –
– Jo – jo, schod' is et all. – Dat 's wahr ... Sall ick noch en lüttjen hebben? ...
* * *
Die Sonne ist blutrot. –
Mit ihrem untern Rande berührt sie schon den fernen Horizont. Eine drohende Feuerkugel scheint sie unbeweglich zu stehen.
Die Spitzen der Bäume zittern im leichten Abendwinde.
Gleich einem Schneefalle wirbeln die tausend Blütenflocken durch die kühle Abendluft. –
Johanna sitzt auf einer Bank hinter dem Hause.
Im Sommer schlingt sich um das Holzgerüst üppig rankendes Weinlaub.
Jetzt sieht man nur leere, zerbrochene Holzsparren und armselige Stangen.
Das junge Mädchen klammert sich mit beiden Händen an die morsche Holzlehne der Bank, und so sitzt sie angstvoll gekrümmt da, die Augen auf die Hände gepreßt, daß die Knöchel ihr in die Augenhöhlen dringen ...
Er ist hineingegangen zu ihrem Vater. –
Jetzt ist der Traum zu Ende.
Jetzt kommt das Erwachen ...
Und sie lauscht, sie lauscht atemlos; denn sie weiß, wenn er es erfährt, wird er aufschreien, aufschreien, wie sie selbst es gethan, als ihr zum ersten Male das Bewußtsein gekommen ist von dem, was ihr geschehen.
Sie richtet sich jäh auf und blickt in die blutrote Sonne, starren Auges, bis ihr die Thränen in die Augen treten; aber sie wendet den Blick nicht ab.
Und sie sieht alles wieder ... wie sie als fünfzehnjähriges Mädchen hinaus in die Felder gegangen war. Und sie sieht wieder das Gesicht des Unmenschen, wie er gleich einem Tiere über sie herstürzte. Vergebens ihr Hilferufen, vergebens all ihre Kraft. – Er hatte sie zu erdrosseln gesucht. Dann waren ihr die Sinne geschwunden und sie wußte von nichts mehr, von gar nichts. – Da war endlich Rettung gekommen ...
Aber sie hatte selbst Wochen lang krank gelegen ...
Und dann alle jene Scenen vor Gericht, die sie erleben mußte, die ihr, dem Mädchen, nicht erspart bleiben konnten. –
Dann war sie von dem Vater zu Verwandten gebracht nach Süddeutschland. Und eines Tages war ihr die richtige Erkenntnis gekommen durch eine Geschichte, die sie in der Zeitung las ...
Wie sie über die folgenden Tage weggekommen war, wußte sie nicht mehr. Endlich hatte sie ihre Ruhe wieder erlangt, und nun forderte sie von ihrem Vater, daß sie in das Dorf zurückkehren durfte.
Sie wollte der Welt trotzen. –
Wie sie zu kämpfen hatte, welche Demütigungen, wie viel versteckte Qual! Aber sie trug den Sieg davon.
Sie hatte anfangs am Leben verzweifelt, dann aber hatte der Trotz sie stark gemacht.
Sie war still geworden, in sich verschlossen, und dabei opferte sie sich für den geringsten im Dorfe. Und alles schien vergessen, denn sie alle liebten sie.
Sie hatte auf das Glück verzichtet. Sie wußte, daß sie kein Anrecht mehr darauf hatte.
Und jetzt –
Es war zu spät ...
Sie konnte sich ihr Glück vielleicht mit einer Lüge erkaufen. Warum nicht? ... Hundert andere thaten es auch.
Sie wollte aufschreien, hineinstürzen in das Haus, ehe der Vater ihm alles gesagt. –
Da hörte sie, wie die Thür des Hauses aufgerissen wurde, wie die Glocke so grell klingelte ... blechern, seelenlos – und wie dann die Thür wieder zuschlug ...
Sie sank auf die Bank zurück.
Es war wieder alles still. Nur die Schelle der Hausthür glaubte sie noch immer zu hören. –
Es war zu spät ...
Sie suchte sich zu erheben, aber sie hatte keine Kraft mehr. Und doch mußte sie alles wissen.
Sie wollte rufen, die Stimme versagte ihr. –
Als der Amtmann in den Garten kam, fand er sie besinnungslos am Boden liegen. –
Er trug sie hinauf in ihr Zimmer ...
* * *
Die Sonne war untergegangen. Graue Dämmerung kroch über die Erde hin.
Im Zimmer droben war es schon dunkel.
Als sie erwachte und den Vater neben sich sah, stieß sie ihn von sich. Sie wollte keinen Menschen sehen.
Sie hatte sich erhoben und an das Fenster gesetzt.
Einförmig grau lag die weite Ebene vor ihr, die fernen Berge verschwanden in Nebel und Dunkel.
Die Nacht brach ein ...
Die Sterne blitzten auf, und nun fiel der bleiche Schein des Mondes durch die schleierhafte Nacht.
Sie saß noch immer und lauschte.
Vielleicht kam er doch wieder! ...
Wenn er sie wirklich liebte, – wenn er sie so liebte, wie sie ihn ...
Sie suchte sich mit Hoffnung zu betrügen.
Eine Stunde war vergangen, seit er in das Haus getreten war vor ihren Vater.
Sie hatte ihn nicht gesehn, als er das Haus verlassen; von jenem Augenblicke an hatte sie nichts mehr empfunden.
Die Welt hatte alle Farbe für sie verloren. –
Sie brauchte den Vater nicht zu fragen. Sie wußte alles. Und noch immer gellte ihr das blecherne Geklingel der Thürglocke in den Ohren.
Sie hielt die Hände vor die Ohren ... aber sie hörte das Geräusch nur deutlicher. Es brachte sie zum Wahnsinn.
Und jetzt mischte sich ein anderes hinein.
Ein Wagen fuhr am Hause vorüber.
Sie brach in die Kniee zusammen und klammerte sich an die Fensterbrüstung.
Sie wußte, daß er es war, der vor ihr floh.
Ihr war, als ob die Räder des Wagens über ihr armes Herz gingen.
Dann hob sie den Kopf mit gewaltsamer Anstrengung.
Sie wollte schreien, ihm nachrufen. Sie wollte hinter ihm herstürzen, sich ihm zu Füßen werfen, ihn anflehen, daß er sie nicht verstoße. Er konnte mit ihr thun, was er wollte ... wenn sie nur bei ihm bleiben durfte. –
Indessen fuhr der Wagen immer weiter.
Das Geräusch ward leise und leiser ... Dann erstarb es, und dann verschwand das Gefährt im Nebel ...
Von dem Flusse stieg der Nebel auf. Das Mondlicht lag auf seinen Fluten.
Sie glaubte ihr murmeln und locken zu hören.
Es zog sie hinaus. Dort gab es ein Vergessen.
Sie hatte lange genug gekämpft. Sie hatte keine Kraft mehr. – Sie wollte das Ende. –
Hastig warf sie ein Tuch um die Schultern. – Rasch hinunter, und dann hinab in die kalte Flut.
Leise huscht sie die Treppe hinunter ... sie tritt in den Garten ...
Der Vater! – –
Er steht vor ihr. Er faßt ihre Hände. Sie sieht seine angstvoll bittenden Augen, sie sieht die Thränen darin. Er ruft sie bei ihrem Namen ...
Sie kann ihn nicht verlassen.
Sie wirft sich an seine Brust, und jetzt findet sie Thränen. – Sie weint sich aus ...
Um seinetwillen muß sie ausharren. –
Und fester und fester klammert sie sich an den alten Mann, der mit zitternden Händen über ihr blondes Haar streicht, und immer aufs neue, sie besänftigend, mit herzzerreißender Stimme bittet:
– Mein Kind! – Mein armes ... armes Kind! ...