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Nur zu rasch war die schöne Ferienzeit für Bärbel vergangen. Die zehn Tage im Elternhause lagen wie ein herrlicher Traum hinter ihr; regelmäßig ging sie an jedem Morgen ins Atelier Brausewetter.
Bärbel hatte schon in Dillstadt die verschiedensten Bekannten angesprochen, ob sie denn nichts für die verarmte Familie Schleifer tun könnten. Seitdem sie aber wieder in Dresden war, bestürmte sie die Bekannten der Großmama, Anita eine Existenz zu schaffen.
»Sie muß einen Beruf haben, sie will doch so gern arbeiten, ihr ist alles recht. Ohne einen Beruf ist man wie eine Katze ohne Schwanz.«
Frau Lindberg wehrte ab, wenn Bärbel zu stürmisch verlangte, daß man Anita anstellen möge. In der heutigen Zeit war es nicht so einfach, ein junges, gänzlich mittelloses Mädchen einem Berufe zuzuführen, zumal überall doch Überfüllung herrschte. Bärbel hatte sich daher an Harald Wendelin gewandt.
»Ihr habt über hundert Angestellte, da könntet ihr doch noch Anita aufnehmen. Mit einem Gehalt von hundertzwanzig Mark kann sie auskommen. Ich habe mir gestern abend im Bett alles genau berechnet. Ich würde schon mit hundertundzehn Mark auskommen. Bitte, sprich doch mit deinem Direktor und stellt Anita an.«
»Du denkst dir das so einfach, Bärbel. Ein Gehalt von hundertzwanzig Mark zahlt man heute einer gelernten Kraft. Und wenn wirklich jene Anita Schleifer bei uns eingestellt würde, wäre sie eine junge Anfängerin und müßte sich mit einem kleinen Anfangsgehalt begnügen.«
»Wie hoch wäre das?«
»Allerhöchstens fünfzig Mark.«
Bärbel schüttelte den Kopf. »Mit fünfzig Mark kann sie nicht auskommen, auch wenn sie täglich Buttermilch und Schwarzbrot ißt. – Das geht nicht. – Könntet ihr denn nicht einmal etwas mehr geben? Anita ist recht begabt.«
»Sie hat aber vom kaufmännischen Beruf keine Ahnung.«
Bärbel überlegte. »Ja, Böcke wird sie natürlich machen, das ist immer so im Beruf. Aber im Kaufmännischen wird das gewiß nicht so viel auf sich haben wie in unserem photographischen Atelier.«
»O doch, Bärbel,« erwiderte Harald Wendelin lachend, »ungelernte Kräfte kann man niemals an eine verantwortliche Stelle sehen. Nach dieser Richtung hin werde ich deiner Anita wenig helfen können. Aber ich will mich einmal umtun, vielleicht findet sich etwas anderes für das junge Mädchen.«
»Gib dir nur rechte Mühe, Harald, mir liegt viel daran, Anita in den Sattel zu helfen.«
Wenige Tage später kam der junge Ingenieur wieder zu Frau Lindberg. Im Laufe der Unterhaltung sagte er plötzlich, daß sich für Anita eine Möglichkeit biete, Geld zu verdienen. Man saß gerade beim Abendessen. Bärbel sprang voller Begeisterung auf.
»Mit hundertundfünf Mark geht es auch schon. Ich habe mir die Sache mehrfach durchgerechnet. – Wieviel bekommt sie?«
»Ich war kürzlich in einer mir bekannten Familie. – Sie, gnädige Frau, kennen Herrn und Frau Dr. Brecht ebenfalls. Man sucht für die vier Kinder ein junges, gewissenhaftes Mädchen. Man wollte zwar eine gelernte Kindergärtnerin wählen, doch meinte Frau Dr. Brecht, daß sie es schließlich auch einmal mit einer ungelernten Kraft versuchen wolle.«
Bärbel schlang in stürmischer Begeisterung beide Arme um Harald.
»Ach, du – – das ist famos! Nun kann sie Geld verdienen, sie wird es sicherlich gut dort haben, und immer mit vier Kindern zu spielen, ist einfach herrlich!«
»Das bringt auch viel Arbeit mit sich, Bärbel.«
»Ich schreibe heute noch an Anita. – Soll sie sich bewerben? – Wann kann sie antreten – – was bekommt sie?«
»Frau Dr. Brecht wartet auf einen Brief. Du kannst deiner Anita also schreiben, daß sie sich möglichst rasch um diesen Posten bewerben soll. Fräulein Schleifer könnte schon am ersten September ihre Stellung antreten.«
An diesem Abend schrieb Bärbel nach Dillstadt. Sie riet Anita, die Stelle anzunehmen.
»Du hast dort freie Wohnung, gutes Essen, viel Vergnügen mit den Kindern und bekommst obendrein noch Geld. Wenn wir beide frei haben, zeige ich Dir Dresden. – Es ist eine herrliche Stadt, dann lernst Du auch Harald Wendelin kennen, der Dir sehr gefallen wird. Zu meiner Großmama darfst Du immer kommen, wenn Du Sorgen hast, sie versteht es, Tränen zu trocknen und Herzen froh zu machen. Die Großmama wird Dir bestimmt gefallen. Sie ist ein ganz seltenes Exemplar.«
Rasch wanderte Goldköpfchens Brief in den Postkasten.
Wieder vergingen einige Tage. Als Bärbel an einem Abend aus dem Atelier heimkam, erzählte ihr Frau Lindberg, daß Frau Dr. Brecht bei ihr gewesen wäre und nach Anita gefragt habe.
»Frau Dr. Brecht meinte zwar, daß die Stelle in ihrem Hause für ein junges Mädchen, das in verwöhnten Verhältnissen lebte, ein wenig zu schwer sei, denn vier Kinder beanspruchten viel Sorgfalt und Mühe.«
»Das ist nicht so schlimm,« meinte Bärbel, »Mutti hat auch vier Kinder, sie ist doch immer mit uns fertig geworden.«
»Für eine Mutter ist das ganz etwas anderes, mein Kleines.«
»Schon richtig, liebe Großmama, aber Anita wird den Kindern gewiß auch Muttergefühle entgegenbringen. Dann geht es zu machen.«
»Wenn nun aber Anita versagt?«
»Wo denkst du hin, Großmama! Anita ist gewiß glücklich, daß sie eine Stelle bekommt. Jeder Mensch sollte zufrieden sein, der sich sein tägliches Brot selbst verdienen kann. Ihr wird jeder Tag ein Freudentag sein. Sie wird erst jetzt finden, wo das wahre Glück wohnt.«
So wurde Anita Schleifer in das Haus des Dr. Brecht als Kinderfräulein engagiert, und Bärbel wartete voller Ungeduld auf das Eintreffen der Schulkameradin. Sie war es auch, die Anita am ersten September abends von der Bahn abholte, sie wies ihr den Weg und brachte sie bis an die Wohnungstür des Arztes.
»Wenn du krank wirst, hast du es furchtbar praktisch. Man wird dich dann gut verpflegen.«
Anita war sehr gedrückt. Sie sagte immer wieder zu Bärbel, daß sie große Angst habe; aber Goldköpfchen tröstete:
»Angst haben wir alle, wenn wir in den Beruf gehen. Was meinst du, wie mir zumute war, als ich vor elf Monaten nach dem Atelier Brausewetter ging? Ich habe wie Espenlaub gezittert.«
Dann hörte Bärbel vier Tage lang nichts von Anita Schleifer.
»Sie hat natürlich viel zu tun,« meinte die Großmama, »Anita wird keine Zeit haben, zu dir zu kommen. Sie muß sich erst einrichten.«
Zwei Tage später war Anita da. Sie warf sich weinend in Bärbels Arme.
»Ich halte es nicht länger aus, – ach, es ist schrecklich! Lieber tot sein, als solche Stelle zu haben. Die vier Kinder bringen mich um, niemals ist man sein freier Herr. – Was verlangt man nicht alles von mir! Lieber will ich hungern, als noch länger in Stellung sein.«
Bärbel war sprachlos darüber. Dieser leidenschaftliche Schmerzensausbruch erschütterte sie, aber auf der anderen Seite wieder begriff Bärbel nicht, daß man über seine Stellung gar so verzweifelt sein konnte.
Ganz erstaunt fragte Goldköpfchen:
»Was haben Sie dir denn getan, Anita?«
Unter strömenden Tränen begann Anita zu erzählen. Bärbel hatte rasch die Großmama herbeigerufen, denn sie war die einzige, die die Erregte trösten konnte. Vielleicht wußte die Großmama auch Rat, vielleicht konnte sie Anita ihre Stelle erleichtern.
Aufmerksam lauschten beide den Worten Anitas. Aber Bärbel fand gar nicht, daß die Forderungen, die man an Anita stellte, so schrecklich waren. Anita beklagte sich, daß sie die Sachen der Kinder in Ordnung halten müsse, daß sie mit dem ältesten Mädchen Schulaufgaben zu machen habe, daß sie mit den beiden Kleinen zusammen schlafen müsse, daß sie früh vor sieben aufstehen sollte und anderes mehr.
»Dumme Gans haben sie noch nicht zu dir gesagt, Anita?«
»Das ist doch ganz ausgeschlossen!«
»Ach nein,« sagte Goldköpfchen tief seufzend, »Herr von Sasseneck hat es oftmals gemurmelt. Und Fräulein Pertis hat mir sogar gesagt, ich sei ein impertinentes Geschöpf. Oh, – man hat auf mir herumgetreten, Anita, ich habe meine einstige Schulkameradin bedienen müssen. Kleine Kinder mußte ich trösten, Schicketanz bin ich gewesen, ich habe mich sogar von dem Sasseneck umarmen lassen müssen. Siehst du, das bringt eben der Beruf mit sich. Weißt du, ich finde, du hast doch gar keinen Grund zum Weinen.«
»Ach, Bärbel, es ist alles so schrecklich!«
Goldköpfchen dachte an die ersten Tage der Lehrzeit zurück. Da war auch mancher Seufzer über die jungen Lippen gekommen. Es hatte oft genug gejammert, daß tausend Lehrtage eine furchtbare Zeit wären.
»Schmeiß' 'mal den Kopf stolz in den Nacken, Anita, es geht uns allen so wie dir, die wir zum erstenmal in den Beruf treten. Ich habe auch gehört, daß jeder Mensch anfangs darunter leiden muß. Man hat eben den Ernst des Lebens noch nicht erfaßt. Du mußt nur alles von der sonnigen Seite anschauen, dann findest du Trost.«
»Ich glaube, ich ertrage es nicht. – Wenn ich des Morgens erwache, sehe ich die Lasten des Tages vor mir.«
»Wenn ich früh erwache, Anita, sehe ich einen Hut, eine zerbrochene Platte, ein Stückchen Schokolade, Haralds Bild – – komm 'mal mit, Anita, dir will ich die Romane meines Lebens erzählen. Man kann daraus verflixt viel lernen. Hänge dir nur auch alles über dein Bett, das hilft, das macht fröhlich und traurig zusammen, aber innerlich stark.«
»So geht es nun Tag für Tag weiter. Man ist nicht mehr für sich selbst da, man ist Personal in einem fremden Hause – –«
»Das darf dich nicht drücken, Anita, du bist doch dort eine vollwertige Hausgenossin, und ich? – – Ach, noch heute höre ich von manchem Kunden: wo ist das Lehrmädchen? Und manchmal liegt in diesem Wort eine Welt von Verachtung. Aber ich ertrage das alles, Anita, ich finde, der Beruf ist etwas Schönes, für ihn kann man leiden. Ich ranke mich an dem Gedanken empor, daß ich später einmal auf eigenen Füßen stehen kann. – Du mußt nicht weinen, Anita, ich verstehe dich, ich weiß, daß es schwer ist. Großmama, rede du doch 'mal mit ihr. Du hast mich damals auch aufgerichtet, du weißt, wie man mit Verzweifelten spricht. – Du kannst meiner Großmama vertrauen, Anita, sieh 'mal, auch in deinem Beruf gibt es Sonnenschein. – – So, Großmama, jetzt bist du an der Reihe.«
Bärbel ging davon. Sie hatte in ihrem Stübchen noch ein Kästchen mit Konfekt, das hatte ihr Harald erst kürzlich mitgebracht. Dieses Konfekt wollte sie Anita schenken.
»Ich will ihr Sonne in ihren Beruf tragen, ich weiß, daß gutes Konfekt tröstet.«
So waren Frau Lindberg und Anita allein. Die gütige weißhaarige Dame zog Anita neben sich auf das Sofa.
»Ich habe es mir gedacht, Fräulein Anita, ich weiß, wie schwer es jedem jungen Mädchen wird, sich im Beruf zurechtzufinden. Man muß sich erst völlig umstellen, muß das eigene Ich in den Hintergrund schieben und von den hochfliegenden Zukunftsplänen ablassen, die man sich erdachte. Darum ist es auch ein so großer Schritt, wenn es heißt: hinein in den Beruf. Nun seien Sie genau so tapfer wie meine Enkelin. Bärbel hat auch gar manchesmal an demselben Platze gesessen und bitterlich geweint; das geht vorüber. Wenn Sie in vier Wochen wieder bei mir sein werden, sind Ihre Augen gewiß viel heller. Was Sie heute bedrückt, ist nur das Ungewohnte, das Neue. Das Leben ist ein Kampf, und ein jeder muß versuchen, Sieger zu bleiben.«
Aber Anita hatte noch zuviel auf dem Herzen. Immer wieder brachte sie neue Anklagen gegen ihre Brotgeber vor, und Frau Lindberg hatte lange Zeit zu tun, ehe sie dieses unglückliche Mädchen ein wenig getröstet hatte. – Schließlich gelang es ihr.
»Ich wollte noch heute kündigen,« sagte Anita, »nun will ich es noch einmal versuchen. – Sie haben mir so gut zugeredet.«
Frau Lindberg nahm sich vor, am morgigen Tage Frau Dr. Brecht aufzusuchen, um auch mit ihr über Anita zu reden. Sie wußte, daß Frau Brecht eine nachsichtige und gutherzige Dame war, die gewiß den Verhältnissen Rechnung trug und einsah, daß es Anita nicht leicht wurde, die erste Stellung auszufüllen.
Als Bärbel schließlich mit dem Konfekt erschien und ihr Erlebnis mit Geheimrat Rose erzählte, lachte Anita.
»Nun bin ich beruhigt,« sagte Bärbel erleichtert aufatmend, »wenn man wieder lachen kann, ist das Innere geglättet. Für mich hat es Stunden gegeben, in denen ich glaubte, daß ich niemals wieder lachen würde. Ich wünsche dir nicht, Anita, daß ein Augenblick an dich herantritt wie der, als ich die Platte des Geheimrats zerschlug. Nacht war es in mir, Nacht um mich, aber heute kann ich doch wieder lachen.«
Nach vierzehn Tagen traf Bärbel ganz zufällig auf der Straße mit Anita zusammen. Sie hatte einen Knaben und ein Mädchen an der Hand und machte Besorgungen. Bärbel begrüßte die Schulkameradin stürmisch.
»Deine Großmama hat recht gehabt« sagte Anita, »ich denke immer an ihre Worte. Und wenn es mir 'mal besonders schwer wird, rufe ich mir alles das ins Gedächtnis zurück, was sie mir sagte. Es wird schon gehen.«
»Häng' dir nur auch was über dein Bett, das nützt!«
Man trennte sich rasch wieder, denn Anita hatte Eile. Bärbel berichtete der Großmama strahlend, was sie gehört hatte.
Wieder vergingen die Tage. – Da wurde Bärbel eines Morgens von Herrn Brausewetter gerufen.
»Wir haben morgen den ersten Oktober, Fräulein Wagner, vor einem Jahre sind Sie bei mir eingetreten.«
»Ein unvergessener Tag!«
»Ich bin in dem ersten Jahre mit Ihnen recht zufrieden gewesen, Fräulein Wagner, alles, was Sie an Vorkenntnissen brauchen, haben Sie sich angeeignet. Am morgigen Tage werden Sie die erste Aufnahme selbst machen, und zwar ganz allein, ohne jede Hilfe.«
»Oh – –!«
Herr Brausewetter lachte. Bärbel hatte das Gesicht so verzogen, daß er das hübsche Mädchen kaum erkannte.
»Hoffentlich kommt eine erstklassige Künstlerin oder ein berühmter Forscher oder sonst etwas ganz Feines,– nur kein Baby!«
»An so seltenen Kunden werden Sie sich nicht versuchen, Fräulein Wagner. – Wie wäre es, wenn Sie mich photographierten?«
»Der Lehrling den Chef,« jubelte sie, »ach, Herr Brausewetter, ich mache von Ihnen ein Bild, wie Sie noch keines gehabt haben, – künstlerisch! Darf ich auch die Stellung angeben?«
»Wollen Sie sich nicht lieber zuerst an einem Brustbild versuchen?«
»Ach nein,« sagte sie bittend, »ich möchte sogar die Dekoration stellen. Herr Brausewetter, Sie sind stets so gut zu mir gewesen, – darf ich bei meinem ersten Bilde alles selbst anordnen?«
»Meinetwegen,« sagte er lächelnd. »Ich möchte einmal sehen, ob Sie Geschmack haben.«
Schmunzelnd berichtete er seiner Frau von Fräulein Wagners Verlangen.
»Ich bin fest überzeugt, daß aus dieser ersten Aufnahme nicht gerade viel herauskommt. Aber sie soll einmal zeigen, was sie kann.«
Bärbel stürmte heute heim. Sie riß die Großmama fast um und sprudelte ihr das große Glück entgegen.
»Das Bild muß dann unten in einen der großen Schaukästen, Großmama. Ich werde mir die erdenklichste Mühe geben. – Ob ich ihn auf einen Felsen setze? – Ob ich ihn gravitätisch als Chef durch einen Säulengang wandeln lasse, – oder – – vielleicht betrachtet er andächtig seine echte Havanna. – – Großmama,« schrie sie plötzlich jubelnd auf, »ich hab's, ich stelle ihn hin, eine Photographie in der Hand: Der König der Photographen. – Wenn er sich morgen nur einen dunklen Anzug anzieht. – – Großmama, gehe ich zu weit, wenn ich ihm den Schlips anders binde?«
»Mein Kind, Herr Brausewetter ist stets tadellos gekleidet, damit brauchst du dich nicht zu befassen.«
Am heutigen Abend machte Bärbel wohl noch mehrere hundert Vorschläge, wie sie Herrn Brausewetter aufnehmen sollte. Sie wollte am anderen Morgen sogar ein kleines antikes Tischchen mitnehmen, weil es ihr für die Aufnahme geeignet erschien.
»Weißt du noch, Großmama, wie es heute vor einem Jahre war? Damals zitterte ich vor Angst, heute zittert das Glück aus allen Hautporen!«
»Zittre nicht zuviel, Bärbel, sonst wird aus der Aufnahme nichts.«
»Es wird etwas Großartiges! Das Bild kommt über mein Bett, Großmama, und dann ist der Triumphzug beendet!«
Bärbel zog sich heute das gute Kleid an.
»An diesem großen Tage muß ich festlich gekleidet sein.«
Noch war sie sich nicht ganz klar, wie sie Herrn Brausewetter photographieren würde. Sie wollte gleich einmal in den Dekorationen herumsuchen. Es mußte ein Bild erstehen, wie es im Atelier bisher noch nicht aufgenommen worden war.
Sie wußte, daß Herr Brausewetter gegen neun Uhr kam. Um diese Zeit war im Atelier stets wenig zu tun. So blieb ihr also Muße, die Dekoration zu stellen.
Die Schweißtropfen standen dem jungen Mädchen auf der Stirn, denn alles, was umherstand, wurde untersucht, aufgestellt, wieder fortgeräumt.
Und schließlich glaubte Bärbel das Richtige gefunden zu haben. Sie stellte eine Säule auf, drapierte aus gelbem Samt den Hintergrund, warf Blumen auf die Erde und schuf ein sehr anmutiges Bild. Auf die Säule kam eine kostbare Schale, die ebenfalls mit Blumen gefüllt wurde. Kritisch betrachtete Bärbel durch den Apparat ihr Werk, schob die verstreuten Blumen noch etwas hin und her und rief schließlich nach Herrn Münzinger.
»Sie haben recht viel Geschmack, Fräulein Wagner.«
Da kam auch schon Herr Brausewetter. Aufgeregt stürmte ihm Bärbel entgegen und stieß heftig in der Tür mit ihm zusammen. Sie rieb sich das Gesicht.
»Erster Zusammenstoß, – Herr Brausewetter, es ist alles fertig, bitte, ziehen Sie sich schnell aus.«
Er trug wirklich einen dunklen Anzug und hatte eine tadellos sitzende Krawatte umgebunden.
»Nehmen Sie, bitte, die Glacés in die Hand, ganz lässig. – So, und nun folgen Sie mir ins Atelier.«
Prüfend glitten die Blicke des gewieften Photographen über die Dekoration hinweg.
»Soll das für meine Aufnahme sein?«
»Ja, – gefällt es Ihnen?«
»Ich wollte Ihnen zwar alles überlassen, Fräulein Wagner, möchte Sie aber darauf aufmerksam machen, daß dies hier den Rahmen für ein Damenbild abgibt. – Ist es nicht zu weichlich für einen Mann?«
»Ich fand es so schön.«
»Ich will Ihnen einen Vorschlag machen, Fräulein Wagner. Zum einjährigen Gedenktage Ihres Hierseins werde ich Sie aufnehmen. So, nun stellen Sie sich einmal in Ihre Dekoration.«
Bärbel war darüber ein wenig enttäuscht, ließ sich jedoch photographieren. Nur einige kurze Hinweise des Chefs, dann war die Aufnahme gemacht.
»Nun komme ich an die Reihe. Wir räumen das fort, Sie geben meinem Bilde einen schlichten Hintergrund.«
Aber Bärbel war damit nicht ganz einverstanden. Schließlich mußte doch der Säulengang herhalten, und Herr Brausewetter wurde auf eine Treppe gestellt.
»Den rechten Fuß etwas weiter nach links,« sagte Bärbel, die am Apparat stand.
Herr Brausewetter befolgte ihren Befehl lächelnd.
»Nicht mit dem ganzen Fuße auftreten – – den linken Fuß etwas weiter rechts – – den Daumen nicht so steif, – – den Kopf etwas stolzer zurückgeworfen – in die Augen etwas mehr Glanz – – nein, so geht es nicht, Herr Brausewetter, wir wollen die Füße umstellen.«
Er tat alles, was sie sagte.
»Nicht gar so sehr lächeln, Herr Brausewetter. Sie sollen als der Chef des Hauses photographiert werden und müssen ernst und würdig aussehen. Vielleicht drehen Sie sich um und gehen die Treppe hinauf – – bitte, den Kopf über die Schulter wenden – – noch etwas mehr. – Ach nein, Herr Brausewetter, so geht es nicht, ich habe zuviel Hinterfront von Ihnen. Bitte, drehen Sie sich noch einmal um.«
»Ich fürchte, daß der Kunde ungeduldig wird, Fräulein Wagner.«
»Es soll doch etwas Künstlerisches werden, Herr Brausewetter, bitte, gedulden Sie sich noch ein Weilchen. Den linken Fuß etwas weiter nach vorn – – den rechten Arm ein wenig höher. Auch die linke Hand etwas weiter vorgestreckt. – – So, nun stehen Sie 'mal ganz ruhig, ich möchte das Bild erst prüfen.«
»Dann bekommen wir eine steife Stellung heraus, Fräulein Wagner.«
»Sie müßten kerzengrade stehen, Herr Brausewetter, den Ellenbogen mehr an den Körper – –.«
Wieder mußte er stehen, wieder ging Bärbel um ihn herum, schaute dann längere Zeit durch den Apparat, schüttelte den Kopf.
»Solange dürfen die Vorbereitungen nicht dauern, es wird niemals etwas Vernünftiges. Alles ungezwungen, natürlich, das ist das Haupterfordernis.«
»Sie haben recht, Herr Brausewetter, Sie sehen jetzt aus, als ob Sie vollkommen auf Draht gezogen wären. Bitte, lassen Sie die Glieder wieder locker. So, – nun stellen Sie sich bitte hin, so ganz ohne Zwang.«
Er tat es. – Bärbel seufzte. »Es will mir noch nicht gefallen, – den Kopf mehr zurück.«
Endlich war alles soweit.
»Jetzt geht es los,« sagte Bärbel, »bitte, recht freundlich, und ja nicht wackeln, – ganz still stehen.« Sie schrie Herrn Brausewetter förmlich an. »Vielleicht den Kopf etwas mehr nach links. – So – nun gleich. – Eins – – zwei – – zwei und einhalb – – den linken Fuß weiter vor. – Ach, ich habe ja solche Angst – – es muß etwas Überwältigendes werden, – also jetzt recht freundlich! – – Eins – – zwei – –«
»Ich bitte, daß Sie sich beeilen, Fräulein Wagner.«
»Ja ja,« sagte sie bebend, »es geht schon los, – den Mund etwas geöffnet – – ach, nein, den Mund fest zu. – Eins – – zwei – –« dann ein leises Knacken, und mit einem hörbaren Seufzer kam es von Bärbels Lippen: »drei – fertig!«
»Ob es etwas geworden ist, Fräulein Wagner?« sagte Herr Brausewetter, und seine Augen lachten.
»Meine Hände sind eiskalt, – bitte, fühlen Sie 'mal. – Aber schön war es doch!«
»Nun werden Sie die Platte fertigmachen. Retuschieren wird sie Herr Münzinger.«
»Fein – – fein! – Ach, Herr Brausewetter, ich bin ja so glücklich!«
Er wandte ihr den Rücken, sie brauchte nicht zu sehen, daß er sich das Lachen verbiß.
Bärbel eilte in die Dunkelkammer. Sie wollte von dem Bilde etwa ein Dutzend Abzüge machen. Eines davon kam über ihr Bett, das zweite sollte die Großmama haben, Harald eines, die Eltern, Joachim, Edith, Anita und viele andere mehr. – Ob die Stellung ungezwungen aussehen würde?
»Herr Münzinger, Herr Münzinger, ich glaube, das Bild wird herrlich!«
Sie meldete es sogar Fräulein Pertis, daß sie den Chef in künstlerischer Pose aufgenommen habe. Sie lief ans Telephon, ließ sich mit Harald verbinden und sagte ihm dasselbe.
»Wenn du morgen zu uns kommst, zeige ich dir das Bild. – Du mußt mir aber ganz ehrlich sagen, ob es dir imponiert!«
Dann saß Bärbel in der Dunkelkammer und ließ die Flüssigkeit über die Platte laufen. In etwa zwei Minuten würde sie sehen können, ob Herr Brausewetter gut getroffen war und ob seine Stellung ungezwungen wirkte. Bärbel hatte die feste Überzeugung, daß sie etwas Gutes geleistet habe.
Zwei Minuten – – Bärbel nahm die Platte heraus. Noch war es nicht soweit. – Drei Minuten – – warum war denn noch immer nichts zu sehen? Unentwegt arbeitete sie weiter. – Die Zeit verrann.
»Ja, – was ist denn das?«
Sechs Minuten, – sieben Minuten. Nach zehn Minuten erschien Herr Brausewetter.
Mit gut gespieltem Ernst sagte er:
»Wollen Sie mir einmal die Aufnahme zeigen, ich bin doch neugierig.«
Bärbel starrte in die Schale. »Ich weiß nicht, Herr Brausewetter, es ist wie verhext!«
Er nahm die Platte, sie schaute in sein lachendes Gesicht.
»Das wird nichts, Fräulein Wagner, – auf der Platte ist nichts.«
»Auf der Platte ist nichts?«
»Nein.«
»Ja, – warum denn nicht?«
»Weil ein Lehrling vergessen hat, den Kassettenschieber herauszuziehen.«
Bärbel starrte den Chef an. Alles hatte sie bedacht, nur das Wichtigste hatte sie zum Schluß vergessen. – Richtig! In ihrer Erregung war ihr das völlig aus dem Sinn gekommen. Nun saß sie in der Dunkelkammer, wollte ein Bild hervorzaubern, das nicht auf die Platte gekommen war. Brausewetter lachte belustigt auf, als er das verdutzte Gesicht seiner Elevin sah.
»Das ist ja schrecklich!« stammelte Bärbel.
»Sie sehen, Fräulein Wagner, es ist nicht so leicht. Aber der Schaden kann wieder behoben werden.«
Eine Neuaufnahme konnte aber nicht mehr gemacht werden, da am heutigen Tage mehrere Kunden erschienen, die Herrn Brausewetter und seinen Photographen sehr in Anspruch nahmen. Es wurde Mittag, die Pause kam heran, und Bärbel ging heim.
»Nun, mein Kind,« fragte Frau Lindberg ahnungslos, »wie ist die erste Aufnahme geworden?«
»Es ist nur ein einziges Unglück, Großmama!«
»Was denn?«
Bärbel holte aus der Handtasche eine Platte hervor.
»Wieder etwas für die Wand,« sagte sie tief bekümmert.
»Ach, Großmama, allen habe ich es schon gesagt, daß ich etwas Hervorragendes leisten werde, und nun ist es gar nichts geworden. – Nun bin ich für alle Zeiten blamiert. Als ich vor einem Jahre ins Atelier eintrat, fing es gleich mit einer Dummheit an, und heute, wieder nach einem Jahre, geht es mit der Dummheit weiter! Ich glaube, ich werde nie ein künstlerischer Lichtbildner werden!«
Frau Lindberg mußte wieder einmal trösten.
»Du wirst eine andere Aufnahme machen, mein Goldköpfchen, und es wird alles klappen.«
»Da hast du wohl recht, Großmama, aber die Tatsache bleibt bestehen, daß meine Erstaufnahme verpfuscht ist!«
Am Nachmittage wurde noch eine zweite Aufnahme von Herrn Brausewetter gemacht, die gut gelang. Aber Bärbel war viel zu ehrlich, um diese zweite Aufnahme als ihre erste photographische Arbeit auszugeben.
Harald Wendelin, der am nächsten Tage kam, fragte natürlich auch nach dem Bilde.
»Du hast mir gesagt, ich solle dir ehrlich sagen, ob mir die Aufnahme imponiert.«
»Ach, Harald,« sagte Goldköpfchen niedergeschlagen, »mit dem Imponieren ist es wieder einmal nichts. Ein unglücklicher Stern schwebte über mir, ich habe das Wichtigste vergessen. Ich bin sehr unglücklich.«
»Nicht doch, Bärbel, es fällt kein Meister vom Himmel. Gerade das, was zuerst mißglückt, wird späterhin sehr gut.«
»Du findest immer Worte des Trostes, Harald. – Warum schiltst du mich nicht aus, warum bist du immer so lieb zu mir und entschuldigst meine Fehler?«
»Weil ich dich eben sehr lieb habe, Bärbel.«
Sie schaute ihn mit einem kindlichen Lächeln an.
»Lieb hast du mich? – Das ist schön, Harald, ich habe dich auch sehr lieb, und wenn ich erst mein Atelier habe, wirst du zuerst photographiert. Wenn ich neben meiner Kamera stehe, ist es mir, als hätte uns das Schicksal zusammengeschmiedet, denn ich weiß, daß ich das Richtige erwählte; und wenn du dann so lieb zu mir sprichst, ist es mir, als wärest du der Dritte im Bunde. – Weißt du, Harald, ich finde, wir drei gehören zusammen. Die Kamera, du und ich.«
»Ja, Bärbel, wir gehören zusammen.«
Da trat sie ganz langsam einen Schritt von ihm zurück. Was war das für ein eigenartiger Ton, der heute durch seine Stimme klang, und was war das für ein strahlender Blick, den er ihr zuwarf? Sie senkte plötzlich die Augen, und immer wieder tönte es ihr in den Ohren: wir gehören zusammen. – –
An diesem Abend stand Bärbel lange vor ihrem Bett und schaute das Bild Harald Wendelins an. Dann nahm sie es von der Wand.
»Du bist nett, – du bist lieb, – – du bist gut! – Meinst du wirklich, daß wir zusammengehören? – Ach ja, – ich bin ja so furchtbar glücklich! Ich will dich lieber wieder an die Wand hängen, daß ich dich immerfort ansehen kann. – Wir gehören zusammen. – Gute Nacht, Harald, – lieber, lieber Junge, – schlaf süß!«
Dann stieg Bärbel ins Bett, sie lächelte noch im Einschlafen, und unbewußt flüsterten die jungen Mädchenlippen:
»Wir gehören zusammen!«