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Im Hause des Professors begann man langsam mit den Vorbereitungen für die Reise nach Schweden. Bender hatte beschlossen, Frau und Tochter mitzunehmen. Er selbst würde sich freilich seinen Angehörigen wenig widmen können, da er durch Vorträge in Stockholm und Upsala stark in Anspruch genommen war. Frau Bender nahm mit Pommerle in einem Seebad an der schwedischen Küste Wohnung. Professor Halvorsen hatte sich bereit erklärt, Frau Bender nach jeder Richtung hin mit Rat und Tat zu unterstützen.
Pommerle war von strahlender Freude erfüllt. Wenn es auch anfangs wenig Meinung für Schweden hatte, erfüllte der Gedanke, das geliebte Meer wiederzusehen, das Kinderherz; außerdem hatten ihm die Eltern versprochen, acht Tage in Pommern zu bleiben, daß das Kind sein altes Heimatdorf wiedersehen konnte.
Jule hatte zu den verschiedensten Mitteln gegriffen, um Pommerle von der Reise zurückzuhalten. Sogar ein Buch hatte er gelesen, das ihm der Meister auf sein Bitten hin gab. In diesem Buch stand zu lesen, daß ein Schwedenkönig Pommern einstens bedroht und stark verwüstet hätte.
»Ich denke, du hast dein Pommernland lieb, Hanna? Der Schwede hat alles kaputt gemacht. Zu solchen Leuten geht man nicht! Die betrachtet man als Feinde.«
Pommerle hatte sich darauf bei den Eltern Rat und Auskunft geholt, und schon am folgenden Tage erklärte es dem Freunde, daß das alles schon gewesen wäre, ehe der Jule geboren sei, und noch viel vorher. Außerdem seien die Schweden keine schlimmen Leute und keine Feinde.
Trug die beabsichtigte Reise die Schuld daran, daß Jule von Tag zu Tag stiller und verstockter wurde? Meister Reichart wußte keinen Rat mehr. Sein Lehrling war in den letzten Monaten ein gradezu prächtiger Mensch gewesen, fleißig, gewissenhaft, der sich ohne Murren ein Wort des Tadels anhörte. Das alles war seit dem Geburtstag Professor Benders ganz plötzlich anders geworden. Jule zog sich scheu von der Familie seines Meisters zurück, sogar Sabine, die bis dahin das Vertrauen Jules besessen hatte, wurde von ihm mit barschen Worten zurückgewiesen.
Doch das war es nicht allein, was den Meister besorgt machte. Jule mußte eine heimliche Leidenschaft haben, er verbrachte seit Wochen alles Geld, was er bekam. Niemals besaß er auch nur einen Pfennig, und oftmals bat er mürrisch, man möge ihm einen kleinen Geldbetrag schenken. Es war nicht zu ergründen, was der Knabe mit seinem bescheidenen Lehrlingssold anfing, er schüttelte verstockt den Kopf, wenn ihn jemand danach fragte.
»Ich glaube, der Bengel raucht heimlich«, sagte der Meister. »Ertappt habe ich ihn freilich noch niemals.«
»Seit Wochen drückt ihn ein Leid«, sagte Sabine, »ich merke es. Doch wenn ich ihn frage, weicht er mir aus.«
»So spreche ich einmal mit seinem Vormund. Man muß doch erfahren, was den Jungen quält. So scheu ist er noch nie gewesen. Er sitzt in der Ecke und starrt vor sich hin.«
»Pommerle müßte ihn einmal fragen, Vater. Der Jule liebt das Pommerle, ihm wird er sicherlich sein Herz ausschütten.«
An diesem Abend kam Pommerle in die Wohnung Meister Reicharts und plapperte erfreut von den Vorbereitungen, die für die Reise getroffen wurden.
»Ein blaues Kleid näht mir die Mutti, blau wie das Meer, und weiße Punkte sind darin, weiß, wie der Strandsand. Das ist mein Ostseekleid, Sabine.«
Jule war vom Tisch aufgestanden und wollte schweigend zur Tür hinausgehen. Da hielt ihn der Meister zurück.
»Wo willst du schon wieder hin, Junge? Immer suchst du das Alleinsein. – Was ist denn los, Jule?«
Pommerle warf einen fragenden Blick auf den Spielgefährten. Wie traurig der Jule aussah, irgend etwas müßte ihn bedrücken. Ob er in der Tischlerei wohl einen Bock geschossen hatte?
»Was hat denn der Jule?« fragte das Kind leise.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Sabine. »Ich habe mir schon gedacht, du solltest ihn einmal fragen, was ihn drückt. Dir wird er es gewiß sagen. Ich glaube, der Jule geht soeben hinaus. Er ist jetzt viel allein. Lauf ihm rasch nach, Pommerle.«
Hurtig huschte das kleine Mädchen hinter Jule her, der mit gesenktem Kopf über den Hof schritt und sich in einer Ecke auf einem Stoß Bretter niederließ.
»Jule!«
Unwillig hob er den Kopf, als er Pommerle erblickte.
»Jule, warum läufst du fort? Warum bist du so viel allein? Haste was Schlimmes angestellt?«
»Nein.«
»Warum bist du dann so traurig?«
»Am Sonntag bringe ich deinem Vater viele schöne Steine. Ich habe mächtig danach klettern müssen und lange gesucht. Das muß er mir ordentlich bezahlen.«
»Das wird er schon tun.«
»Freilich, er hat ja viel Geld, er kann mit dir nach Schweden fahren.«
»Ich glaub's ja, Jule, daß du gerne mitkommen möchtest. Doch wenn du ausgelernt hast, fahren wir zusammen, dann heiraten wir und du machst an der Ostsee eine Tischlerei auf.«
»Bis dahin bin ich verhungert, wie die anderen.«
»Warum willst du denn verhungern, Jule? Gibt dir der Meister nicht genug zu essen?«
»Laß mich in Ruh!«
»Jule«, sagte Pommerle mit zitternder Stimme, »willst du nichts mehr von mir wissen? Kannst du mich nicht mehr leiden? – Jule, hab' ich dir was Schlimmes getan?«
»Laß mich in Ruh!«
Eine ganze Weile schaute Pommerle sorgenvoll auf den Freund, dann übermannte es der Kummer. So unfreundlich war der Jule noch niemals gewesen. Er schickte sogar sein Pommerle fort, wollte nicht mit ihm reden. In der Ecke lag ein Haufen Hobelspäne. Darauf ließ sich das kleine Mädchen nieder, dicke Tränen rannen ihm über die Wangen.
Jule horchte auf. Das klang doch wie leises Schluchzen. Er schielte hinüber, er sah, wie sich Pommerle mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen wischte. Da sprang er jäh auf.
»Warum natscht du denn?«
»Wenn du nichts mehr von mir wissen willst – –«
Da saß der Jule schon neben seinem Pommerle in den Hobelspänen und stieß es derb in die Seite.
»Du bist ein Gamel! Natürlich will ich was von dir wissen!«
Das schmutzige Gesicht Pommerles begann sogleich wieder zu strahlen. »Ach, Jule, dann ist alles wieder gut.« Pommerles Hände tasteten sich zu denen des Freundes, umklammerten sie und hielten sie fest. »Nun bin ich wieder froh.«
»Ich kann überhaupt nicht mehr froh werden.«
»Jule – Julchen, ich mach dich froh. – Was hast du denn ausgefressen?«
»Wenn – – wenn andere Leute verhungern müssen, und wenn man zusehen muß, wie sie verhungern – – es nützt ja nichts, wenn man ihnen auch ein Brot kauft – sie müssen eben verhungern. – – Ich weiß, der Großvater hat es erzählt, ich war noch ganz klein, da hat er auch gehungert und ich weiß, wie weh der Hunger tut, denn ich habe auch manchmal Hunger gehabt.«
»Jule – wer muß denn verhungern?«
»Viele hundert Menschen.«
»Wo verhungern sie denn?«
»Ich hab' es gelesen. Es steht in der Zeitung. – Hier, lies nur!« Jule zog aus der Tasche ein zerknittertes, unsauberes Zeitungsblatt, und wieder trat in sein Gesicht ein gramvoller Zug.
Pommerle las die traurige Statistik. Erschütternd war der Bericht, den man über die Not eines Volkes gab. Hier hatte einer freiwillig seinem Leben ein Ende bereitet, weil er sich und seine Familie nicht ernähren konnte. Eine Mutter mit ihren Kindern war in den Tod gegangen, weil das Brot fehlte. Zahlen, erschreckende Zahlen, die von grenzenlosem Elend redeten.
Pommerle hielt den Atem an. Wohl hatten ihm die Eltern schon oftmals erzählt, daß es viel Elend in der Welt gäbe; Pommerle hatte auch schon manches Geschenk an arme Leute austeilen dürfen. Daß aber eine ganze Familie des Hungers starb, daß Hunderte von Menschen nichts zu leben hatten, war für das kleine Mädchen zunächst etwas ganz Unfaßliches.
»Jule – sie haben alle gar nichts mehr zu essen? Da müssen sie doch fürchterlich hungern, und schließlich werden sie schwach und krank und schließlich sterben sie.«
»Der Großvater hat in einer kleinen Stube gesessen und gewebt, dabei hat er kaum das Brot verdient. Dann hat er mir noch erzählt, daß sein Bruder auch krank vor Hunger gewesen ist. Aber verhungert ist er nicht richtig. Aber wenn sie hier schreiben, daß die Leute nicht weiterleben wollen – –. Ach, Pommerle, ich möchte einen Sack voll Geld haben!«
»Jule, ich sage es dem Vati, er muß den armen Leuten Geld geben.«
»Da kann dein Vater auch nichts tun. Er kann doch nicht allen helfen, die noch sterben wollen, weil sie hungern müssen.«
»Jule, was tun wir denn da?«
»Die reichen Leute müßten eben jeder was abgeben. Es müßte einer dem anderen helfen. Aber manche kaufen sich lieber teure Zigaretten und der andere hat kein Brot. – Und wieder andere fahren bis Schweden und verfahren das viele Geld.«
Pommerle blickte stumm zur Erde. Endlich sagte es langsam: »Die Mutti sagte, die Reise kostet dem Vati viel Geld.«
»Na ja – aber ihr wollt ja eure Freude haben. Und hier in Hirschberg gibt es auch welche, die haben nichts zu essen.«
In seiner ungeschickten, doch gutmütigen Art schilderte Jule die Not der Mitmenschen, wie er sie verstand. Er wußte nicht viel vom Leben, doch das eine war ihm aus seiner traurigen Kindheit im Gedächtnis haften geblieben, daß Hunger und Elend den Menschen schließlich zur Verzweiflung bringen konnten. Pommerle erfuhr auch, daß Jule seit dem Tage, da er zum ersten Male die traurige Kunde in der Zeitung gelesen hatte, jeden Pfennig seines Verdienstes an die in der Zeitung genannte Adresse sandte, daß er in seiner ungelenken Art dazu schrieb, man solle den Betrag dafür verwenden, daß ein Mensch weniger zu verhungern brauche.
Vor den Augen des kleinen Mädchens erschloß sich plötzlich etwas ganz Neues. Auf Jules weiches Gemüt hatte diese Zeitungsnotiz, über die Tausende von Menschen interesselos hinweglasen, einen ergreifenden Eindruck gemacht und ihn tief erschüttert. So kam es, daß er Worte fand, die auch Pommerle bis zu Tränen rührten. Es sah die Welt plötzlich mit anderen Augen an. Wie anschaulich wußte der Jule von Hunger und Elend zu berichten, wie heiß war der Wunsch in seinem jungen Herzen, daß sich die Menschen zusammenschließen möchten, um jenen zu helfen, die nichts hatten.
»Bist du so traurig, Jule, weil es den Leuten so schlecht geht?«
»Wenn sie hungern müssen!«
»Nein, Jule, jetzt sollen die Menschen nicht mehr hungern, ich sage es dem Vater. Er wird schon Rat wissen. Morgen bringe ich dir Geld, das schickst du einem, daß er sich mal ordentlich sattessen kann.«
»Soviel kann keiner geben, da müßten alle Leute helfen.«
»Der Vati wird schon Rat wissen, lieber Jule. Und nun sei nicht länger traurig. – Weißt du, ich laufe gleich heim und sage es dem Vati. – Jule, ich habe auch was in der Sparbüchse, das bringe ich dir.«
»Sag lieber nichts«, meinte Jule verlegen. »Sie lachen mich aus. Ich weiß schon, daß ich nicht helfen kann. Aber keiner soll es wissen. Man soll über solches Zeug nicht reden. – Sag es nicht dem Meister, auch nicht der Sabine. Das ist meine Sache!«
Pommerle strich dem Freunde zärtlich über die Wangen. »Jule, ich hab' dich doch immer lieb, und heute hab' ich dich noch viel lieber, ich weiß selbst nicht warum. – Ob die Leute in Neuendorf auch schon gehungert haben? Ach nein, die haben immer Flundern und Heringe, die können sich immer sattessen. Ach, Jule, Flundern und Pellkartoffeln! Jule, hast du schon mal so was Gutes gegessen?«
»Du darfst auch dem Professor nichts sagen.«
»Daß die Leute hungern, sage ich dem Vati. Und nun sei nicht länger traurig, wir lassen keinen verhungern.«
Pommerle hielt es für richtig, noch an diesem Abend mit den Eltern über das Gehörte zu sprechen. Es hatte sich Jules Kummer zu eigen gemacht und fühlte sich selbst bedrückt in dem Gedanken, daß es so viele Menschen gäbe, die Not leiden.
Frau Bender merkte sogleich, daß die Seele ihres kleinen Töchterchens in Aufruhr gekommen war, und nach wenigen Fragen wußte sie, was das Kind quälte.
»Der Jule meint, wenn wir alle helfen würden, wenn jeder dem anderen von seinem Essen was gäbe, brauchten die Leute nicht zu verhungern.«
»Ja, mein Mädchen, der Jule hat recht, doch die Menschen achten nicht immer auf das Elend, das in ihrer Nähe zu finden ist.«
»Mutti, der Jule meinte, die reichen Leute rauchen feine Zigaretten und reisen nach Schweden. Der Jule gibt sein ganzes verdientes Geld für die armen Leute.«
Ein feines Rot zog über das Gesicht der Professorengattin. Vor wenigen Tagen war durch das ganze Land der Aufruf gegangen, gemeinsam der großen Not zu steuern. Jeder einzelne sollte Opfer bringen, jeder sollte versuchen zu helfen, denn es sei nicht mehr mit anzusehen, wie furchtbar ein Teil der Bevölkerung leide. Auch in Frau Bender war der Gedanke aufgestiegen, daß sie verpflichtet sei, sich mehr um den notleidenden Mitmenschen zu kümmern. Heute kam ein neunjähriges Mädchen, dessen Herz bereits von dem Jammer der Notleidenden erfüllt war, und mahnte an eine heilige Pflicht.
»Mutti, können wir nicht allen den Leuten ein bißchen helfen?«
»Gewiß, mein Kind.«
»Mutti, denke nur, in der Zeitung steht geschrieben, daß viele hundert Menschen schon verhungert sind, und eine Mutti hat sogar ihre Kinder totgemacht, weil sie nichts zu essen hatte. – Mutti, du wolltest mir noch einen Mantel kaufen, ich möchte ihn nicht haben. Schenke dem Jule das Geld, ich fahre lieber in dem alten nach – – Schweden.«
Es wurde Frau Bender ordentlich heiß ums Herz. Auch sie hatte schon öfters diese erschütternden Statistiken gelesen und hatte geholfen; trotzdem hatte sie nichts entbehrt. Und dieses Kind war sogleich bereit, auf den neuen Mantel, den es gestern noch so gerne haben wollte, zu verzichten.
Pommerle schmiegte sich fester an die Mutter. »Ich möchte ja so gerne nach Schweden fahren, aber der Jule meinte – –. Mutti, würden viele Leute was zu essen bekommen, wenn wir nicht nach Schweden fahren?«
»Mutti wird gleich morgen manches heraussuchen und auch Geld geben für eine arme Familie, die in unserer Nähe wohnt. – Doch nun geh, mein Kind, Mutti hat noch zu tun.«
Sie schickte heute das Kind nicht hinaus, weil die Arbeit drängte, sondern weil sie von den Worten der Kleinen tief ergriffen war, weil sie selbst ein peinigendes Gefühl der Unruhe in sich aufsteigen fühlte. Man hatte die Wohlhabenden aufgerufen, zu opfern, zu geben, doch erst das kleine Mädchen hatte sie auf die Notwendigkeit dieses Opferns aufmerksam gemacht.
Seit jener Unterredung mit Jule bewegten sich Pommerles Gedanken in anderen Bahnen. In der Schule sprach es mit seinen Kameradinnen von der Not der Mitmenschen. Die Lehrerin wurde gefragt und gebeten, sie möge den Kindern davon erzählen. Pommerle wollte wissen, ob ihr bekannt sei, daß Jules Großvater gehungert habe und daß der Onkel, der sich als Weber sein Brot verdiente, kaum etwas zum Essen hatte. Aufmerksam lauschten die Kleinen den ernsten Berichten, die Fräulein Meersmann gab. Die große Arbeitslosigkeit, die bisher noch zugenommen hatte, brachte viele Menschen an den Rand der Verzweiflung. Manches Kinderherz schlug angstvoll in dem Gedanken, daß eines Tages auch der Vater seine Stelle verlieren würde. Dann kam auch zu ihnen der Hunger und schließlich das Elend.
Immer wieder war es Pommerle, das mit zäher Energie betonte: »Da müssen eben alle Menschen helfen.«
Von nun an verfolgte das kleine Mädchen die Zeitungsnachrichten voller Aufmerksamkeit. Und jedesmal, wenn ihm ein neues trauriges Vorkommnis bekannt wurde, legte es sich wie eine drückende Last auf die Kinderseele. Immer wieder nahm es seinen Weg zu Jule, immer wieder sprachen die beiden diese traurigen Fälle durch, ohne zu wissen, wie zu helfen wäre, wie man das Schreckliche verhindern könne. Pommerles strahlendes Gesichtchen bekam einen nachdenklichen Ausdruck; mitunter lag es wie ein Schleier über den blauen Kinderaugen.
In Jule wollte der Frohsinn nicht mehr erwachen. Eines Sonntags, als er von Benders wieder zum Abendessen eingeladen war, legte der Professor den Arm um die Schulter des hochaufgeschossenen Knaben.
»Ist dir das Herz noch immer schwer, Jule?«
Er wollte abwehren, doch das Zucken seiner Mundwinkel verriet dem Professor, wie es in ihm arbeitete. Er rief auch sein Pommerle herbei, ließ die beiden Kinder niedersitzen und begann zu erzählen von dem Neuen, Großen, was ein Volk plane.
»Wenn du sagst, lieber Jule, daß einer dem anderen helfen müsse, hast du ganz recht. Aber nicht jeder tut es, nicht jeder denkt an den Nächsten. Und darum muß dem deutschen Manne, der deutschen Frau und dem deutschen Kinde klargemacht werden, daß in dieser traurigen Zeit Gemeinnutz vor Eigennutz geht. Du brauchst nicht mehr so verzweifelt dreinzublicken. Ein ganzes Volk ist bereit, seinen notleidenden Brüdern zu helfen. Von allen Seilen sucht man nach Mitteln und Wegen, um Arbeit zu schaffen, denn Arbeit ist das einzige, was uns wieder auf die Beine helfen kann, was uns vorwärts bringt.«
»Es sind viele Hunderte, die hungern müssen.«
»Tausende sind es, mein lieber Junge, und Hunderttausende von Menschen, die keine Arbeit haben. Ein ganzes Heer hoffnungsloser Menschen, denen man neuen Mut und neue Hoffnungen schenken will. Und dabei soll jeder einzelne mithelfen. Durch unser ganzes Volk geht der Ruf: beteilige dich, opfere, opfere so viel du kannst. Ist es dir unmöglich, viel zu geben, so spende weniges, aber gib, gib, denn du brauchst ja noch nicht zu hungern.«
»Will man den Hungernden wirklich helfen?« fragte Jule gespannt.
»Ja mein Junge, es soll versucht werden. Mit Kraft und Energie beginnt man mit dem großen Werk, das zum Winter noch weiter ausgedehnt wird. Unser Volk soll doch wieder gesund und froh werden, und das kann es nur durch Arbeit. Hunderte von Köpfen grübeln darüber nach, wie es anzufassen ist. Hab also Vertrauen, mein Junge, der Weg, den wir gemeinschaftlich gehen wollen, führt uns heraus aus der Not, in der wir augenblicklich stecken. Einer allein kann hier gar nichts tun, alle müssen mithelfen, alle müssen das Wort verstehen lernen, das ich dir vorhin schon sagte: Gemeinnutz geht vor Eigennutz.«
»Ist's möglich den Leuten zu helfen, daß keiner mehr zu verhungern braucht?«
»Mein lieber Jule, wenn ein Sechzig-Millionen-Volk denselben Wunsch, denselben Willen hat, muß es gelingen. Du, mein guter Junge, hast das deutsche Elend bereits begriffen, und mein Pommerle hat es auch schon begriffen. Sieh, mein lieber Jule, das freut mich. Ihr seid die Jugend, ihr geht hoffentlich einem glücklicheren Leben entgegen, doch mithelfen müßt ihr nach Kräften.«
»Vati, ich gebe meine ganze Sparbüchse.«
»Das ist es nicht allein, Pommerle; man muß sich die Gedanken zu eigen machen, die darin gipfeln, welches ist der rechte Weg zum Licht? Unser Vaterland hat einstmals sehr glückliche Tage gesehen, sie sollen wiederkommen. Jeder Deutsche hat seine Heimat lieb, aus dieser Heimat sollen die vielen Sorgen vertrieben werden, die sich dort einnisteten. Du brauchst also den Kopf nicht hängen zu lassen, mein Junge, ein einziges Zeitungsblatt hat dir diese schweren Lasten aufs Herz gewälzt. Nun steck die Nase des öfteren in die Zeitungen, dann wirst du bereits die ersten Anzeichen sehen, die bessere Zeiten künden.«
In gespanntester Aufmerksamkeit folgte Jule allen weiteren Berichten, die Professor Bender gab. Auch Pommerles Wangen hatten sich gerötet; ein beglückendes Gefühl überkam sie. Wenn der Vater meinte, daß das Schreckliche, von dem der Jule erzählt hatte, nicht mehr so häufig passieren sollte, mußte es wahr sein. Nicht alles verstand das Kind, was der Vater sagte. Doch eins verstand es bereits: der Hunger würde in Zukunft nicht mehr so groß sein, wie es in der Zeitung stand, die Jule ständig bei sich trug.
Selbstverständlich besprach Pommerle alles, was es vom Vater gehört hatte, mit Sabine. Das Kind wurde immer kleinlauter, als es hörte, daß Sabine auf die Sommerreise verzichtete, die sie mit der Meisterin machen wollte.
»Unser Hirschberg ist so schön, hier habe ich alles, was ich brauche, doch das ist es nicht allein. Es ist erst neulich ein Aufruf ergangen, man möge kranke Kinder nach Möglichkeit in gesunde Gegenden schicken. Familien, die genügend Raum zur Verfügung haben, sollten solch ein krankes oder schwaches Kind aufnehmen, es einige Wochen beköstigen, damit es gekräftigt und erfrischt wieder in seine dürftige Stadtwohnung zurückkehrt. Mutter meinte, wir haben Platz. So wollen wir aus Breslau einen kleinen Knaben zu uns nehmen, der daheim mit seinen fünf Geschwistern in einer düsteren Kellerwohnung lebt. Die Eltern sind arbeitslos, sie können den Kindern kaum das Nötigste geben. Ich denke es mir wunderschön, solch armem Kinde unser schönes Riesengebirge zeigen zu können.«
»Hast du dich nicht sehr auf die Reise gefreut, Sabine?«
»Ja, Pommerle, das habe ich, doch freue ich mich jetzt noch viel mehr darüber, einem armen, kranken Kinde die Gesundheit zurückgeben zu können.«
»Wir wollen doch auch verreisen.«
»Ich weiß es, kleines Pommerle. In vier Wochen fahrt ihr nach Schweden.«
»Wohin gehen denn die anderen Geschwister von dem kleinen kranken Jungen aus dem Keller?«
»Ich denke, es werden sich andere Familien melden, die diese armen Kinder aufnehmen. Zu helfen ist heute heilige Pflicht.«
Als Pommerle am anderen Tage in der Klasse hörte, daß sich verschiedene Eltern ihrer Schulfreundinnen ebenfalls zur Aufnahme eines Großstadtkindes gemeldet hatten, stand es für die kleine Hanna fest, daß auch der Vater solch ein Kind ins Haus nehmen müsse. Pommerle malte sich die schrecklichsten Bilder von dem Leben solch eines kleinen Mädchens aus. Die Kellerwohnung finster und feucht, große Schnecken an den Wänden. Die Kinder auf einem Berg Kartoffeln sitzend, genau solch ein Berg, wie er im Keller der Eltern lag. Nein, das ging nicht!
Beim Mittagessen brachte das Kind sein Anliegen vor.
»Huh – und dann kommt eine große kalte Schnecke, und das Kleinste liegt noch in den Windeln, und sie kriecht dem Kinde ins Gesicht. Dann ist kein Waschbecken da, daß es sich waschen kann. – Ach, Mutti, ich möchte auch ein kleines Mädchen hierhaben. Die Paula und die Trude, auch die Ella bekommt ein kleines Mädchen ins Haus. Auch Sabine freut sich darauf. In der Zeitung hat es gestanden. – Nicht wahr, Vati, das gehört auch zu dem großen Werk, das das Elend fortjagen will?«
»Jawohl, mein Kleines, doch wir werden solch ein Kind nicht nehmen können, dein Vater muß nach Schweden um Vorträge zu halten, und Mutti und du fahren mit.«
»Die Sabine wollte auch fortfahren – sie hat sich sehr darauf gefreut. Nun freut sie sich noch mehr, weil sie ein Kindchen kriegt, eins aus dem Keller.«
»Willst du damit sagen, Pommerle, daß du nicht mit nach Schweden kommen willst, daß du auf die Reise verzichtest, daß du lieber mit einem armen Kinde daheim spielen möchtest, das wir in den Ferien in unser Haus nehmen?«
»Ja, Vati, ich möchte nicht mit nach Schweden, ich bleibe lieber bei dem armen Kind aus dem Keller!«
Der Professor schaute seine kleine Tochter ernst an. Ein heller Schein glitt über sein Gesicht.
»Ich habe auch schon daran gedacht«, sagte Frau Bender und zog Pommerle an sich. »Haben wir nicht unser herrliches Hirschberger Tal? Haben wir nicht Freuden daheim in Hülle und Fülle? Man braucht uns, hungernde Kinder rufen nach uns. – Sag, mein Kleines, wollen wir Vati allein nach Schweden reisen lassen? Wollen wir hierbleiben und uns dafür zwei recht arme, blasse Kinder ins Haus holen, mit denen du in den Ferien spielst?«
»Ach ja, Mutti! Zwei arme Kinderchen, denen wir immerfort zu essen geben!«
»Dann geht es aber auch nicht nach Pommern, an die See, mein Kind.«
Das Köpfchen des kleinen Mädchens sank ein wenig herab. »Die liebe, liebe Ostsee«, sagte es leise.
»Wenn wir verreisen, können wir keine fremden Kinder aufnehmen.«
Ganz still war es im Zimmer geworden. Pommerle sagte nichts mehr. Schweden gab es mit leichtem Herzen auf, aber der Gedanke, auch Neuendorf lassen zu müssen, in diesem Sommer die geliebte Ostsee nicht wiederzusehen, erschien ihm freilich furchtbar schwer. Das Kind sah die fragenden Blicke, die Vater und Mutter auf sein Gesicht hefteten. Da barg es das Gesicht rasch in der Mutter Schoß.
»Nun, mein Pommerle?«
»Und wenn wir nur ein Kind nehmen, und dann doch noch ein kleines bißchen an die Ostsee fahren?«
»Wie wäre es, Pommerle, wenn wir ein Mädchen von der Ostsee kommen ließen?«
»Die Elli Götsch!«
»Nein, wir würden uns erkundigen, wo solch armes Kind wohnt, das Not leidet. Die Kleine kann dir dann von der Ostsee erzählen, wie es dort aussieht. – Was meinst du dazu?«
Eine Weile war Pommerle still, dann schüttelte es energisch den Kopf, daß die blonden Locken nur so flogen.
»Ein Kind aus dem dunklen Kellerloch, wo es nach ollen Kartoffeln stinkt, aber – – aber – – nicht von der Ostsee.«
»Warum nicht?«
Wieder das heftige Kopfschütteln. Mit in Tränen schwimmenden Augen hob Pommerle das Gesicht.
»Nicht von der Ostsee, dann höre ich es immerzu rauschen, wenn sie von dort erzählt. – Nein, ein Kind aus dem finstern Kellerloch. Ich will schon mit ihm spielen, sehr schön.«
Frau Bender zog Pommerle an ihre Brust und küßte es innig.
»Überlege es dir bis morgen, mein Kleines. Wenn du wirklich auf die Schwedenreise verzichten willst, nehmen wir statt dessen zwei arme, notleidende Kinder auf. Ich weiß, daß es dir nicht leicht wird, doch du hast selbst gesagt, daß jeder Opfer bringen soll. – Mein kleines Pommerle hat die Mutter nach dieser Richtung hin belehrt. Und nun überlege es dir genau.«
Pommerle kam zu keinem Entschluß. Es lief am Abend noch zum Jule.
Mit schwankender Stimme berichtete es von dem Plan, die Reise aufzugeben und zwei arme Kinder während der Ferien in der Villa aufzunehmen.
»Nu geht es nicht an die Ostsee, das ganze Jahr nicht und – – ich habe mich doch so furchtbar darauf gefreut.«
»Auch nicht nach Schweden?«
»Nein, Jule, nicht nach Schweden!«
»Hurra – hurra – es geht nicht nach Schweden!« Jule machte einige gewaltige Sprünge, warf die Mütze hoch in die Luft und jauchzte. »Hier bleibst du, den ganzen Juli!«
»Auch nicht an die Ostsee komme ich.«
»Ich bringe dir feine Blumen, Pommerle, Riesengebirgsblumen, ich mach dir auch 'nen feinen kleinen Kasten. Willst du auch Steine aus der Schneegrube haben? – Ich schenke dir auch 'nen Laubfrosch. – Du, ich habe auch ein Taschenmesser vom Meister bekommen. Hier hast du es.«
»Was soll ich denn damit?«
»Du sollst dich freuen. Ich schenke dir alles, was ich habe.«
»Ich habe mich aber so sehr auf die Ostsee gefreut. Aber wenn doch die armen Kinder hungern – –«
»Nicht nach Schweden – nicht nach Schweden«, schrie Jule immer wieder. Aber Pommerle, mit dem traurigen Gesicht, wurde nicht angesteckt von seiner großen Freude. Da trat Jule erneut zu ihm. »Du – sieh doch mal das Messer genau an, ich schenk' es dir wirklich. – Was willst du noch haben? Ich hole dir schon am Sonntag schöne Blumen. – Pommerle, wir machen zusammen eine feine Radtour, ich setz dich hinten drauf.«
»Ja, Jule – aber weißt du, mich kneift es so ein bißchen am Herzen.«
»Weil du nicht an die Ostsee kannst?«
»Ich glaub' schon.«
Nun wurde auch Jule still. Ein wenig verstand er die Sehnsucht des Pommerle. Es tat ihm weh, daß er die Spielgefährtin nicht aufheitern konnte.
»Wenn du dir eben nichts aus dem Messer machst, nehme ich es mir wieder. – Aber weißt du, es wird halt auch sehr schön sein, wenn du die Kinder vollstopfst. Vielleicht wollte die Mutter ihre Kinder auch totmachen, wie die Frau in der Zeitung. Nun kriegt sie den Brief, sie soll die Kinder nach Hirschberg schicken, die Kinder dürfen auf die Schneekoppe, dann freut sie sich. Und vielleicht gehen wir auch zum Burgberg, zum Kilian, der wird schon helfen. Wenn er aus dem Berge herauskommt und uns Gold bringt – –«
»Laß nur, Jule, das ist ja Unsinn.«
»Dir wird es schon noch mal schlecht gehen, Pommerle, dir wird der Rübezahl noch einen ordentlichen Streich spielen. Immer mußt du ihn ärgern. Ich bin schon viel länger in Hirschberg als du, ich muß es besser wissen.«
»Meinst du, daß es die alte Frau aus dem Keller sehr freuen wird, wenn sie ihre Kinder herschickt?«
»Na und ob, es freut sie mächtig. – Mußt nicht traurig sein, Pommerle, wenn ich erst ausgelernt habe, dann heirate ich dich, und wir gehen im Sommer immer an die Ostsee. Aber ich denke mir, wir sollen doch jetzt alle mithelfen. Ich möcht manchmal auch gerne eine Zigarette rauchen, dann sage ich mir, es soll keiner hungern. Du hast doch gesagt, und die Sabine sagt es auch, man freut sich so sehr, wenn man helfen kann.«
Ein Geräusch ließ die beiden Kinder sich umsehen. Da stand die blinde Sabine in der Tür, die die letzten Worte Jules gehört haben mußte. Sie legte den Arm um Pommerle.
»Weißt du noch, liebe, kleine Freundin, daß du mir einmal das Herz recht hell machen wolltest? Da hast du mich zu dem alten Harfenkarle geführt, der hat mir ein wunderschönes Lied gesungen, das ich bis heute nicht vergessen habe, das ich oft vor mich hinsumme. Weißt du es noch?«
Pommerle nickte.
»Ich möchte es dir trotzdem vorsingen. Geh, Jule, hole meine Laute herunter.«
Die Laute wurde gebracht. Leise begann Sabine zu singen:
»Ich sing mit den Vöglein, daß laut es schallt,
Kann lachen, springen und scherzen,
Ich freu' mich an Wiese, Feld und Wald,
Ich habe die Sonne im Herzen.
Drum bin ich der reichste, der glücklichste Mann,
Vergessen sind Sorgen und Schmerzen,
Ich wandle zufrieden des Lebens Bahn,
Denn mir leuchtet die Sonne im Herzen.«
Als Pommerle eine halbe Stunde später Sabine verließ, spiegelte sich die Sonne, die es im Herzen trug, auf seinem Gesicht wieder.
»Ich will mit den Kindern aus dem Keller spielen, das macht Freude, denn ich darf mitarbeiten an dem großen Werk, an dem alle Deutschen beteiligt sind, ich will helfen!«