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Überall Neues

Nun weilte man schon drei Tage an den Ufern des Vierwaldstätter Sees, und Pommerle staunte jeden Tag über etwas Neues. Was gab es hier alles zu sehen! Was sich den Blicken bot, erschien dem Kinde seltsam. Dabei vergaß es zu keiner Stunde, daß die Mutti »eine Frau mit einer Krankheit« sei, die Schonung brauche und daß sie gerade an den Tagen, da der Väti nicht hier war, auf die arme kranke Mutti gut aufpassen müsse.

Pommerle war von rührender Aufmerksamkeit. Sie achtete genau auf alles, was die Mutter brauchte; sie hielt ihr früh das Handtuch hin, nahm die Seife aus dem Näpfchen, brachte die Schuhe herein, rückte den Stuhl am Frühstückstisch stets noch ein wenig zurecht und wollte ihr sogar die Brötchen mit Butter streichen.

»Du sollst deine kranke Lunge nicht ausrecken, Mutti. Als mein Bein kaputt war, durfte ich es auch nicht bewegen. Bitte, bitte, sage mir immer, wenn ich dir was holen soll. Ich tue es doch furchtbar gern.«

Kam die Rigibahn angepustet, zog Pommerle rasch die Gardinen am Fenster zurück, ging zur Mutter und führte sie ans Fenster.

»Guck, wie sie kriecht, wie sie pustet. – Mutti, warum ist die Lokomotive hinten, wenn die Bahn hochklettert und wenn sie 'runterkommt auch? Weißt du, die Schweiz ist ein komisches Land.«

»Bei den Zahnradbahnen ist das oft der Fall. Die Lokomotive muß aufwärts stoßen und abwärts bremsen. Du hast sicher schon gesehen, daß das Rad, welches zwischen den Rädern der Lokomotive angebracht ist, mit seinen Zähnen in eine eiserne Schiene greift. Dort unten, wo das Gleis über die Straße führt, siehst du es gut.«

»Ja, Mutti, das habe ich mir ganz genau angesehen. Ich habe auch den Finger schon tief in die Löcher gesteckt. Das ist furchtbar drollig. Wenn der Zug kommt, legt ein Mann schnell zwei Stangen über den Weg.«

»Ich denke, daß wir in einigen Tagen mit dem Väti hinauf zum Rigi fahren werden.«

»Bis oben hinauf zu dem großen Hause?«

»Ja, sogar noch ein Stückchen höher, denn von hier unten kannst du den Gipfel nicht sehen.«

»Ach, das wird fein sein! Dann stößt mich die Mutter Uhse bis hinauf.«

»Wer?«

»Haste dir mal die kleine Lokomotive ganz genau angesehen, Mutti? Wenn sie unten im Bahnhof steht, ist sie schief und krumm. Sie hat kleine Vorderräder, und der Schornstein ist immer nach vorn gebeugt. Die Lokomotive steht genau so krumm da wie die Mutter Uhse in Hirschberg.«

Frau Bender mußte lachen, denn Pommerle hatte gar nicht so unrecht. Die Zahnradlokomotive mit ihren kleinen Vorderrädern und den viel größeren Hinterrädern machte wirklich einen schiefen Eindruck. Sie erklärte dem Kinde, aus welchem Grunde diese Lokomotive anders eingerichtet sei. Bergan oder bergab fahrend, stand die Lokomotive durch ihre besondere Bauart auf der schrägen Ebene nicht schief, wie das der Fall gewesen wäre, wenn alle vier Räder gleiche Größe gehabt hätten.

»Mutti, was werde ich noch alles in diesem komischen Lande sehen? Der Vati sagte, wir fahren mal zur Tellskapelle, zur Tellsplatte und zum Denkmal von Wilhelm Tell. Ich will dir gleich erzählen, wer der Wilhelm Tell war. Oder weißt du das schon?«

»Natürlich, mein Pommerle, weiß ich das. Das lernt jedes deutsche Mädchen in der Schule.«

»Aber der Tell war doch ein Schweizer Mann.«

»Das macht doch nichts, mein Kind. Der Tell gilt als Befreier der Schweiz, die damals von Österreich unterdrückt wurde. Da hatten sich mehrere Männer aus den verschiedensten Gegenden zusammengetan – –«

»Weiß ich, Mutti! Aus berühmten Städten sind die berühmten Leute gekommen; der Stauffacher, der Attinghausen und der Melchtal, aus den Kantonen Schwyz, Uri und Unterwalden.«

»Brav, Pommerle! Wo hast du das alles denn gelernt?«

»Als ich in der Schule sagte, daß ich nach der Schweiz fahre, hat uns der Studienrat in einer Stunde immerfort von der Schweiz erzählt. Er sagte, ich solle mir alles genau ansehen.«

»Dann weißt du wohl auch, daß der große deutsche Dichter Friedrich von Schiller ein Theaterstück über Wilhelm Tell schrieb?«

»Ja, Mutti, der Tell hat in der Hohlen Gasse von Küßnacht gesessen und auf den Landgraf gewartet, um ihn zu erschießen. In die Hohle Gasse setze ich mich auch. – Hu, wird das graulich sein!«

Pommerle unterbrach sich im Reden, denn eben kam wieder ein Zug vom Rigi herabgefahren.

»Mutti, darf ich ganz rasch hinunter auf die Straße laufen und sehen, wie sie ganz dicht an mir vorüberfährt?«

»Lauf, mein Kind.«

Es waren vom Hotel nur wenige Schritte bis zu der Straße, die von der Rigibahn überquert wurde. Pommerle konnte nicht oft genug die seltsame Lokomotive bestaunen, die einen, an Sonntagen zwei Wagen stieß.

Sie war nicht die einzige Neugierige. Drei Kinder in ihrem Alter warteten gleichfalls an der Schranke und ließen die Bahn an sich vorüberrollen. Pommerle wandte sich an eines der Mädchen.

»Eine feine Bahn habt ihr!«

Das Kind erwiderte nichts und steckte einen Bonbon in den Mund, den es einer Tüte entnahm. Pommerle schaute mit verlangendem Blick auf die schwarze Süßigkeit. Das kleine Mädchen fing den Blick auf und fragte in echtem Schweizer Dialekt:

»Wilscht Gueteli?«

Pommerle, der die Aussprache fremd war, auch nicht wußte, daß Gueteli eine Leckerei bedeute, schwieg. Und als das Kind zum zweiten Male fragte, zuckte sie mit den Schultern. Der etwas größere Knabe richtete darauf das Wort an Pommerle; doch auch jetzt hatte die Angeredete keine Ahnung davon, was die Frage bedeute. Pommerle vernahm beständig nur Laute, die zischten und glucksten, außerdem endeten die meisten Worte auf i.

»Du mußt es anders sagen. Ich habe nicht verstanden.«

Erneut sprach der Knabe auf sie ein.

»Ach so«, sagte Pommerle. »Mutti hat mir gestern gesagt, ihr habt eine Schweizer Aussprache. Wartet mal, ich kann auch anders.« Sie dachte an die schlesische Heimat mit ihrer eigenen Mundart, die sie oftmals im Verkehr mit Jule anwandte.

»Wos a soit, woas ich ne, ich verstoa dich ne.«

Die Kinder blickten Pommerle noch erstaunter an als bisher, denn von schlesischer Mundart verstanden sie überhaupt nichts. So hätten auch sie mit Pommerle sagen können: Was sie sagt, weiß ich nicht. Ich versteh' dich nicht.

Abermals eine Frage des kleinen Schweizer Mädchens.

»Nee«, sagte Pommerle, »nu wiß ich mi arn gor ka Roat.«

»Was?« fragte der Knabe.

Da versuchte Pommerle sich wieder auf Hochdeutsch verständlich zu machen und wiederholte: »Nun weiß ich mir gar keinen Rat mit euch.«

Schlesische Mundart verstanden die Kinder hier also nicht, das war Pommerle jetzt klar. »Oh«, rief sie beglückt, »ich kann ja noch eine Sprache, die ich mit meinem ersten Vater in Neuendorf gesprochen habe. Könnt ihr Platt?«

Wieder eine unverständliche Antwort des Mädchens.

»Wat seggst?« fragte Pommerle auf echtes Platt.

Den Kindern wurde ein wenig ängstlich zumute; sie machten Miene, fortzulaufen. Ja, es war schlimm, wenn man sich in einem fremden Lande nicht verständigen konnte. Glücklicherweise sprachen die jungen Mädchen, die das Essen brachten, genau solch ein Deutsch, wie Pommerle es kannte.

Da eine Verständigung mit den kleinen Mädchen unmöglich war, kehrte Pommerle enttäuscht zur Mutter zurück und berichtete ihr, daß sie nicht wisse, was die Kinder hier in Vitznau redeten. Frau Bender lachte dazu.

»Mein liebes Pommerle, mit der schlesischen Mundart kommst du hier nicht weiter, die kennt in der Schweiz kein Mensch.«

»Mutti, ich will mal den Mann unten im Hotel fragen. Der kann doch viele Sprachen. Die Familie, die ganz hinten im Eßsaal an dem runden Tisch sitzt, spricht anders mit ihm als wir. Und die versteht er auch.«

»Es sind Engländer, mein Kind. Die Schweiz ist ein großes Fremdenland. Die Portiers der Hotels müssen mehrere Sprachen sprechen können; auch die jungen Mädchen, die uns das Essen bringen. Wie könnten sie sich sonst mit den Fremden verständigen?«

»Oh, dann sind das alles sehr gelehrte Leute! – Mutti, ich möchte gern mal wissen, ob der Mann unten im Hotel auch Schlesisch kann.«

»Das glaube ich nicht.«

Es ließ dem Kinde keine Ruhe. Als es am Nachmittag wieder durch die Halle ging, stand der Pförtner mit verschränkten Armen am Hauseingang. Pommerle betrachtete ihn eine Weile schweigend.

»Nun, kleines Mädchen, hast du ein Anliegen?«

»Können Sie auch Schlesisch sprechen?«

»Schlesisch? Ist das anders als deutsch?«

»Ich will Ihnen mal ein schönes Gedicht sagen, das hat mir der Harfenkarle vorgesungen. Manchmal singt er es ganz richtig deutsch, und manchmal singt er es auf Schlesisch, dann ist es noch viel schöner.«

»Nun gut, so sage mir das Gedicht einmal. Ich denke, ich werde es verstehen.«

Pommerle stellte sich vor den Pförtner hin und begann mit ihrem hellen Stimmchen das Lied zu singen, das ihr der Harfenkarle, der alte Kräutersammler aus Hirschberg, oftmals vorgesungen hatte.

»Zor Arbeit, ne zum Mißiggang
Hot mich mei Goot geschoffa,
Drim will ich oll mei Laba lang
De Kräft' zomma roffa.
Ich bien gesund und wuhlgemutt,
Doas ihs doch wull is grißte Gutt.«

»Sehr schön! Wirklich sehr schön! Ich hab's auch verstanden. Der liebe Gott hat uns zur Arbeit, nicht zum Müßiggang geschaffen. Wir sollen die Kräfte zusammenraffen. Ist man gesund und wohlgemut, ist das das beste und schönste Gut.«

Pommerles Augen strahlten. »Sie sind ein sehr kluger Herr! Am Sonnabend kommt mein Vati wieder her. Er ist auch ein sehr kluger und gelehrter Mann.«

»Du bist zum erstenmal in der Schweiz?«

»Ja!«

»Dann hast du wohl noch nie einem Herdenaustriebstag beigewohnt?«

Das Kind zog die Stirn kraus. »Was ist denn das?«

»Am Montag der kommenden Woche werden die Viehherden auf die Almen getrieben. Sie bleiben den Sommer über draußen und kommen erst zum Herbst wieder zurück in ihre Ställe. Das ist ein großer Zug. Die Sennen und Sennerinnen gehen mit den Tieren hinauf zu den Almen. Du wirst viele Kühe, Ziegen und Schafe sehen. Aus der ganzen Gegend sammeln sie sich hier; dann geht es in der Frühe los.«

»Und das kann ich sehen?«

»Ja, kleines Mädchen, doch mußt du am Montag frühzeitig aufstehen. Es geht beizeiten los.«

Pommerle klatschte fröhlich in die Hände. »Meine Mutti darf nicht zeitig aufstehen. Ihre kranke Lunge soll lange im Bett bleiben. Aber am Montag ist der Väti hier, der krabbelt gern recht früh heraus. Bei uns in Hirschberg ist er manchmal mit der Sonne aufgestanden und losgegangen. Wann geht denn das Vieh zur Alm?«

»Früh um sechs Uhr.«

»Oh, das ist ja, wenn der erste Zug hinauf zum Rigi pustet!«

»Ganz recht, am Sonntag fährt der erste Zug schon um sechs Uhr, an den Wochentagen fährt er später.«

»Das habe ich mir alles am Bahnhof angesehen. Der eine Mann hat mir gezeigt, wo es steht. – Nun weiß ich es ganz genau. Ich habe alles auswendig gelernt. Immer, wenn es so spät ist, laufe ich ans Fenster und passe auf.«

Die Neuigkeit, daß das Vieh am Montag früh auf die Alm getrieben werde, mußte Pommerle sofort der Mutter überbringen.

»Ich darf doch mit dem Väti hingehen, Mutti? Dann erzähle ich dir ganz genau, wie es gewesen ist. Bleibe du nur ruhig im Bett liegen, denn gerade frühmorgens weht von den Bergen eine kalte Luft, die deiner Lunge nicht gut bekommt. Aber wenn die Sonne höher steht, dann tut sie dir gut.«

Pommerle freute sich, daß es die Worte, die am Empfangstage die Wirtin gesprochen hatte, wieder anwenden konnte. Die Hotelbesitzerin hatte der Mutter gesagt, daß es in der Frühe kalt von oben wehe, weil noch zuviel Schnee auf den Bergen läge.

»Gewiß, mein liebes Kind, der Väti wird sich den Herdenauftrieb auch gern ansehen. Es freut mich, daß er dafür zurecht kommt.«

Jetzt wartete Pommerle sehnsuchtsvoll auf das Eintreffen des Vaters. Sie wußte, daß er mit dem Dampfer nachmittags um fünf Uhr kam; so ging sie mit der Mutter zur Anlegestelle hinunter.

»Guck, Mutti, es ist wirklich ein schönes Land! Drüben der Bürgenstock liegt mitten im See. Dort hinüber fahren wir doch auch mal? Ich möchte so gern mit dem Fahrstuhl an dem Berg hochklettern, den wir abends immer so hell beleuchtet sehen.«

»Das sollst du alles noch sehen, Pommerle. Doch erst laß uns ein Weilchen hier sein. Die Reise soll auch dir von Vorteil sein, du sollst dein Wissen erweitern. Nicht nur müßig sein.«

»Nein, Mutti, zur Arbeit, nicht zum Müßiggang hat uns der Herr geschaffen. Der Studienrat sagte, ich müsse ihm viel von der Schweiz erzählen, wenn ich zurückkomme. Oh, ich mache die Augen gut auf! Jetzt weiß ich schon ganz genau, wann die Rigibahn fährt. Soll ich es dir sagen?«

»Nein, nein«, lachte Frau Bender.

»Und jetzt lerne ich noch, wann die Schiffe ankommen. Der Mann in der Halle weiß es genau, den frage ich immer.«

»Schau, Pommerle, da kommt das Schiff!«

»Und bringt den Väti! Montag gehen wir gleich früh zum Herdenvieh; vielleicht bis hinauf zur Alm!«

»Nein, mein Kind, das ist für dich viel zu weit.«

Das kleine Mädchen verfolgte den näherkommenden Dampfer mit sehnsüchtigen Blicken. Der Väti wanderte so gern, er würde vielleicht mit ihr um den Vierwaldstätter See gehen, bis hin zur Hohlen Gasse nach Küßnacht, wo der Tell saß, oder mit dem erleuchteten Fahrstuhl fahren. Mit dem Vater war Pommerle oft im Riesengebirge gewandert, während die arme Mutti, deren Lunge nicht in Ordnung war, daheim blieb und sich schonte.

Noch ein Weilchen, da konnte Pommerle den mit dem Taschentuch winkenden Vater erkennen. Kaum hatte das Schiff angelegt, als Pommerle ihm zurief: »Väti, wir gehen am Montag mit den Kühen auf die Alm, frühzeitig um sechs Uhr. Eine alte kluge Kuh geht voran, dann kommen wir gleich hinterher und hinter uns die anderen Kühe! Oh, das wird schön sein! Der Mann sagte, es wäre herrlich, daß wir gerade zu dem Herdentrieb zurechtgekommen sind.«

Inzwischen hatte das Schiff festgemacht. Professor Bender stieg aus und wurde stürmisch von Pommerle begrüßt. Sofort setzte sich der Plappermund in Bewegung, denn es gab ja soviel zu berichten.

Die stürmische Freude Pommerles verstummte jedoch plötzlich, als der Vater berichtete, daß man morgen, Sonntag, Besuch bekomme. Pommerle hatte den Besuch Professor Unolds noch immer nicht verschmerzt. Unold war an einem Tage nach Hirschberg gekommen, an dem eine Hörnerschlittenfahrt geplant worden war. Dadurch war das Vergnügen ins Wasser gefallen. Wenn man nun am Montag zum Herdenaustrieb gehen wollte, machte vielleicht wieder ein Professor die große Freude zuschanden.

»Wer kimmt ock?« fragte das kleine Mädchen in schlesischer Mundart.

»Professor Laberté. Er war in Zürich, stammt aus Genf und kommt morgen mit dem Auto hier vorüber. Selbstverständlich habe ich ihn gebeten, mich im Hotel zu besuchen. Er hofft, daß er gegen Mittag in Vitznau ist. Er fährt schon nach kurzem Aufenthalt wieder weiter.«

»Noch am Sonntag, Väti?«

»Ja, mein Kleines.«

»Na, dann mag er kommen. Am Montag hätten wir ihn nicht brauchen können, den Labertee. – Sollst du auch nach Genf kommen und den Leuten was Gelehrtes erzählen, Väti? – Nimmst du mich mit?«

»Nein, Pommerle, der Vati bleibt in Zürich und in Vitznau.«

So waren die Sorgen des Kindes rasch wieder geschwunden. Der Professor zeigte sich auch bereit, den Herdenaustrieb anzusehen. War es doch ein schöner Anblick, wenn hinter der mit Blumen geschmückten Leitkuh die anderen Kühe von blumengeschmückten Sennen und Sennerinnen zur Alm getrieben wurden.

Das wißbegierige Mädchen machte dem Vater für Sonntag allerlei Vorschläge. Man könnte doch hinauf zum Rigi mit der krummen Mutter Uhse fahren, oder drüben am Bürgenstock mit dem Fahrstuhl hinauf. Auch Küßnacht und die Hohle Gasse wollte es sehen oder die Tellskapelle. Oder gar mit dem Dampfer nach Weggis oder Luzern.

»Das alles wirst du in den vier Monaten unseres Hierseins sehen. Morgen vormittag machen wir einen Spaziergang am See, das genügt fürs erste. Ich werde dir die Namen der Berge sagen, die wir sehen. Wir werden den Pilatus begrüßen, der, wenn wir eine halbe Stunde wandern, drüben hervorkommt. Wenn du recht brav bist, fahren wir später einmal hinauf zum Pilatus.«

Am Sonntagmittag stellte sich der französische Professor Laberté in Vitznau ein. Pommerle war sehr schweigsam, lauschte jedoch interessiert auf alles, was Laberté sagte. Er hatte eine so komische Aussprache, es hörte sich an, als ob er einen spitzen Mund mache. Laberté richtete auch an Pommerle das Wort, die ihm artig Bescheid gab.

Am Schluß des Essens gab es für das Kind noch eine Überraschung. Es bekam zum ersten Mal in seinem Leben ein Glas Sekt.

»So schöne Berge wie hier hast du in deiner Heimat nicht.«

»So schön sind sie auch«, erwiderte Pommerle, »nur nicht so hoch. In unserem Riesengebirge ist es so sehr schön.«

Am Schluß des Essens gab es für das Kind noch eine Überraschung. Es bekam zum erstenmal in seinem Leben ein Glas Sekt. Den hatte Professor Laberté kommen lassen, der lächelnd meinte, das kleine aufgeweckte Mädchen müsse auch einmal echten französischen Champagner trinken. Pommerle lachte fröhlich auf, als es die Nase über das prickelnde Getränk hielt.

»Ist das ulkig!«

»Schmeckt es?« fragte Laberté.

Pommerle nippte und machte ein verlegenes Gesicht.

»Nun, Pommerle«, fragte der Vater, »wie schmeckt es?«

Noch zögerte die Kleine, dann winkte sie dem Vater, er möge sich zu ihr neigen. Als das geschah, flüsterte der Kindermund: »Es schmeckt nach eingeschlafenen Füßen.«

Bender lachte, und auch Professor Laberté, der die leise gesprochenen Worte gehört hatte, stimmte in das Gelächter ein.

»Du hast recht, mein Kind. – Ich glaube«, wandte er sich an Professor Bender, »daß Ihnen Ihr Töchterchen viel Freude bereitet mit seinem aufgeschlossenen Sinn und den hellen Augen. Genau so habe ich mir die deutschen Mädchen gedacht.«

»Ich bin glücklich, daß ich ein deutsches Mädchen bin«, sagte Pommerle ernsthaft.

Bald nach dem Essen fuhr der Professor in seinem Auto ab. Pommerle war wirklich froh darüber, denn nun war der morgige Tag nicht mehr gefährdet.

»Väti, vergiß ja nicht, mich zu wecken! – Väti, morgen früh pustet die alte Mutter Uhse nicht so zeitig am Fenster vorüber, da kommt sie erst um sieben Uhr fünfzig. – Väti, bitte, bitte, verschlafe die Zeit nicht!«

Zur Sicherheit sagte es Pommerle abends noch allen Hotelangestellten, die sie zu sehen bekam, man solle um fünfeinhalb Uhr anklopfen, damit sie zum Herdenaustrieb zurechtkomme. Willig ging das Kind am Abend auch zu Bett, denn für morgen winkte eine große und schöne Überraschung.

Der Hausdiener des Hotels machte sich ein besonderes Vergnügen daraus, das allgemein beliebte deutsche Mädchen am Montagfrüh zu wecken. Er klopfte laut an die Zimmertür. Sofort ertönte Pommerles helle Stimme:

»Ich stehe schon auf, denn ich gehe zum Herdentag!«

Das Kind holte den Vater aus dem Bett. »Mach nur recht schnell, Väti. – Hörst du, da draußen läutet es schon!«

Pommerle hatte recht. Die ersten Kühe wurden zum Sammelplatz geführt. Eine jede hatte eine Glocke um den Hals gehängt. Bald läutete es heller, bald dunkler. Pommerle lief oftmals ans Fenster und rief von Zeit zu Zeit dem Vater zu, ob er bald fertig sei. So schlecht wie heute hatte sich das kleine Mädchen schon lange nicht gewaschen.

Endlich war es soweit.

Das Frühstück stand noch nicht bereit; man wollte auch erst nach der Rückkehr den Morgenkaffee einnehmen. Sogar Pommerle, das die hellen Hörnchen, die es morgens gab, so gern aß, dachte jetzt nicht an Milch und Hörnchen, es folgte dem Geläut der Kühe hin zur Sammelstelle.

Der kleine Ort war schnell durchwandert.

Reges Leben herrschte bereits überall. Auf der Straße stand ein zweirädriger Karren, von zwei starken Ochsen gezogen. Man war gerade dabei, einen riesigen Kupferkessel aufzuladen, dazu Eimer, Milchkannen und noch anderes Gerät, das Pommerle bisher nie gesehen hatte.

»In dem großen Kessel wird der Käse gekocht«, erklärte der Professor. »Oben auf der Alm wird der Käse hergestellt. Auf den hohen Almen bleiben die Leute und schlafen in ihren Sennhütten. Es sind bescheidene Häuschen. Trotzdem sind die Leute glücklich und zufrieden.«

Für das kleine Schlesiermädchen gab es schon wieder Neues zu sehen. Da kam eine hellbraun und weiß gefleckte große Kuh, die sah ordentlich verständig aus. Sie trug einen bunten Kranz auf dem Kopf, mit bunten Bändern geschmückt, die lustig im Morgenwind wehten. An beide Hörner waren außerdem noch kleine Sträußchen Frühlingsblumen gebunden, die das helle Entzücken Pommerles hervorriefen.

»Diese Kuh«, so erklärte einer der Umherstehenden, »ist die Leitkuh. Sie ist schon mehrere Jahre auf der Alm gewesen und kennt den Weg genau. Sie geht als erste, dann folgen ihr die anderen.«

Wohl vierzig Kühe standen auf dem Platz umher. Viele von ihnen trugen Blumensträußchen am Schwanz, mit dem sie sich die Fliegen fortschlugen. Plötzlich lachte Pommerle schallend auf.

»Sieh doch die liebe Kuh! Sie frißt der andern das Blumensträußchen ab!« Pommerle sprang vor Freude bald wie ein Fröschlein umher, bald von einem Bein auf das andere.

Die Sennerinnen waren heute besser gekleidet als sonst am Alltag. Sie trugen Sträußchen an der Brust und Kränze auf dem Kopf. Sehr schön hatten auch die Burschen sich ausgestattet. Obwohl es noch recht kühl war, trugen sie keine Jacken; so leuchteten ihre weißen Hemden in der Morgensonne. Doch heute, am Herdenauftriebstage, kannten sie kein Gefühl der Kälte. Sie knallten mit den langen Peitschen, stießen lautes Jauchzen aus und schwenkten ihre Filzhüte, an denen neben den üblichen Münzen, Medaillen und Federn heute Blumen und ganze Büsche frischen Grüns steckten.

Langsam setzte der Zug sich in Bewegung. Die Leitkuh, ihrer Würde voll bewußt, ließ lautes Brüllen hören. Langsam, Schritt für Schritt, ging sie des Weges. Sie kannte sich aus; ihr brauchten die voranschreitenden beiden Sennerinnen den Weg nicht zu zeigen. Mit lautem Rufen und Peitschenknallen wurde manche Kuh, die ihren Weg selbständig machen wollte, zur Herde zurückgetrieben.

Jetzt klang helles Läuten an Pommerles Ohr. Viele braune Ziegen mit silberhellen Glöckchen kamen in schnellen Sprüngen gelaufen. Sie hatten sich an einer anderen Stelle versammelt und waren in Eile, sich den Kühen anzuschließen. Wie sie sprangen, wie sie durcheinander meckerten! Dazu klangen und sangen die Glöckchen an ihren Hälsen eine gar liebliche Melodie. – Und hinter den Ziegen – Pommerle jubelte hell auf – kamen wohl hundert weiße Schäfchen. Sie drängten und stießen sich, so daß der Hund des Hirten viel Arbeit hatte, die hier und dort Ausbrechenden zurück zur Herde zu treiben. Die Schäfchen hatten nur vereinzelt Glöckchen am Halse.

Der Hirte am Schlusse des Zuges trug einen großen Sack auf dem Rücken.

»Was hat er denn da drin?« forschte Pommerle neugierig.

Professor Bender erklärte dem Kind, daß in dem Sack Salz sei, das der Hirte für die Schäfchen mit zur Alm hinauf nehme.

»Sie brauchen Salz«, sagte er zu dem gespannt lauschenden Töchterchen. »Die Schäfchen würden verwildern und zu weit fortlaufen, wollte nicht zweimal in jeder Woche der Hirte kommen und ihnen Salz bringen. Er streut das Salz auf die Steine im weiten Umkreis, wo die Schäfchen weiden. Doch muß er sich dabei sehr vorsehen, daß er nicht zwischen die Masse der Tiere gerät. Es ist schon vorgekommen, daß ein unvorsichtiger Hirte totgedrückt wurde von den ihn umdrängenden Schafen.«

Den Schluß des Zuges bildete der bepackte Karren mit den beiden Ochsen und eine Menge Menschen, die den Herdenaustrieb begleiteten.

Von Zeit zu Zeit stimmte einer der Burschen ein Lied an, das mit lautem Jodler endete.

»Väti, bitte, laß uns auch ein Stück mitgehen. Es bimmelt so schön.«

Professor Bender gab dem Wunsche des Kindes gern nach, denn auch er hatte Freude an den Tieren; vor allem an den zutraulichen Ziegen, die begehrlich Pommerles Hand leckten.

»Ach, ich habe kein Salz für euch«, klagte Pommerle.

Von Zeit zu Zeit bückte sich das Kind, um rasch ein grünes Blättchen abzureißen. Auch diese Gabe wurde von den Ziegen entgegengenommen.

»Väti, warum sind die Ziegen braun? Wir haben in Hirschberg doch nur weiße Ziegen.«

»Das sind Bergziegen, mein Kind.«

»Ach ja, ich weiß, Gemsen!«

Bender lachte. »Nein – nein! Ziegen sind keine Gemsen. Gemsen lassen sich nicht zur Alm treiben, die bleiben hoch oben in den Felsen, sie kommen nicht ins Tal zu den Menschen. Doch halten viele Wanderer die braunen Ziegen für Gemsen, weil sie eben auch nur weiße Ziegen kennen.«

Pommerle wollte immer weitergehen, doch schließlich mahnte der Vater energisch zum Heimgehen.

»Wenn es noch wärmer geworden ist, Pommerle, gehen wir gemeinsam einmal zur Alm hinauf. Dort kannst du dem Weiden der Kühe zusehen und bekommst ganz frische Milch und Käse.«

»Ach, Väti, gleich heute will ich dem Jule schreiben. So etwas hat er noch nicht gesehen! Er wird gar nicht glauben, daß es braune Ziegen gibt und daß man den Kühen Blumen an die Schwänze bindet. – Ach, wäre der Jule doch hier! Es wäre dann noch schöner! Aber es ist auch mit dir sehr schön, Väti. Kein Kind auf der ganzen Welt hat so einen lieben Väti und so eine liebe Mutti wie ich!«

Noch am selben Tage schrieb Pommerle einen sechs Seiten langen Brief an Jule.


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