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Pucki rieb sich die Augen und streckte sich im Bett. Soeben hatte das Hausmädchen an die Tür gepocht und gerufen:
»Aufstehen, es ist Zeit!«
Pucki hob den Kopf und schaute zu dem anderen Bett hinüber, in dem Carmen Gumpert lag. Sie schlief noch fest. Ein paar Augenblicke überlegte Pucki, ob sie aufstehen und die Schläferin an der Nase ziehen sollte. Es war eigentlich ganz schön, daß sie bei Tante Grete nicht allein war. Besonders der lustige, große Hans Rogaten gefiel ihr außerordentlich. Er wußte allerlei schnurrige Sachen zu erzählen und konnte so gut Gesichter schneiden. Das sah sehr lustig aus. Das Schönste aber waren seine Ohren, mit denen er wackeln konnte wie das weiße Pferd von Onkel Niepel. Pucki brach oftmals beim Essen in fröhliches Lachen aus, wenn Hans Rogaten mit ernsthaftem Gesicht die Ohren hin und her wackeln ließ.
Nun war sie schon zehn Tage in Rotenburg und eine volle Woche in der neuen Schule. Vierzig Kinder waren in der Sexta, Knaben und Mädchen bunt durcheinander. Pucki hatte sich bisher nur an Carmen Gumpert angeschlossen, den anderen Mitschülern ging sie noch aus dem Wege. Fräulein Papst gefiel ihr lange nicht so gut wie Fräulein Caspari, dagegen hatte sie bei Studienrat Altmann ganz gern Unterricht. Für ihn lernte sie fleißig.
Rotenburg selbst war eine recht lustige Stadt. Mit Eberhard und Hans Rogaten war Pucki wenige Tage nach ihrer Ankunft überall umhergegangen. Da gab es einen alten, sehr breiten Wallgraben, in dem man schöne Anlagen angelegt hatte. Unten, auf der Sohle des einstigen Wallgrabens, war eine breite, schöne Promenade geschaffen worden, an der hin und wieder eine Bank zum Niedersitzen stand. Mitten in Rotenburg stand eine sehr alte, ehrwürdige Kirche mit einem hohen Glockenturm. Man hatte ihr erzählt, daß diese Kirche wohl bald tausend Jahre alt sei. Ein Stückchen weiter stand ein Denkmal, das auf hohem Sockel ein prachtvolles Pferd mit einem Reiter zeigte. Eberhard hatte Pucki erzählt, daß es das Standbild des Großen Kurfürsten wäre, von dem sie gar bald in der Schule hören würde. Gar drollig sah der Reiter in seiner riesigen Lockenperücke aus. Eberhard hatte auf ihre Fragen berichtet, daß zu jener Zeit, da der Große Kurfürst lebte, alle Herren solche Locken getragen hätten.
Das Allerschönste an Rotenburg aber war ein großer See, ganz dicht vor dem uralten Stadttor, durch das man gehen mußte, wenn man zum Bahnhof wollte. Dieser See war im Winter eine schöne Eisbahn, auf der die Bewohner Rotenburgs Schlittschuh liefen. Im Sommer konnte man darauf Kahn fahren. Viele Schwäne schwammen auf dem See.
So stellte Pucki mit Befriedigung fest, daß diese Stadt gar nicht so häßlich wäre, wie sie anfangs geglaubt hatte. Wenn sie eine halbe Stunde wanderte, kam sie auch in einen Wald, doch war bisher noch keine Zeit zu solch einem Spaziergang gewesen. Tante Grete paßte genau auf, daß die Schularbeiten gemacht wurden. Sogar dem großen Eberhard und dem langen Hans hatte sie strenge Worte gesagt, als sie einmal erst in später Abendstunde ihre Aufgaben erledigen wollten. Da hatte Pucki die Augen weit aufgerissen und sich furchtbar gewundert, daß weder Eberhard Gregor noch der lange Hans Rogaten ein Wort darauf sagten. – –
Pucki ließ ein lautes Gähnen hören und dehnte sich erneut im Bett. Eigentlich wäre es an der Zeit, aufzustehen, aber es lag sich heute gar so gut in dem hübschen Bett mit den weißen Gitterstäben. Und da Carmen, die sonst immer sehr rasch aufstand, heute das Klopfen überhört hatte, hielt es Pucki für richtig, auch noch liegen zu bleiben.
Die Augen des Kindes wanderten im Zimmer umher. Es war größer als das Kinderzimmer im Forsthaus. Es hatte zwei Fenster, vor denen gelbe Vorhänge hingen, die nachts fest zugezogen waren. Drüben stand ein Tisch, davor einige Stühle, an den Wänden zwei Schränke, ein großer Waschtisch und zwei kleine Kommoden. Über jedem Bett hing ein Wandspruch. Pucki konnte den Spruch über ihrem Bett schon auswendig. Er gefiel ihr recht gut. Auch jetzt las sie halblaut die wenigen Zeilen:
»Mit fröhlichen Sinnen
Soll man beginnen,
Mit lustigem Lachen
Läßt alles sich machen.«
So ähnlich hatte auch der große Claus zu ihr gesprochen. Immer tapfer sein und sich fröhlich durchkämpfen, und wenn es einmal gar nicht geht, mit der Faust auf den Tisch schlagen und sagen: Ich will's versuchen! Oh, das hatte ihr schon manches Mal geholfen, obwohl die Lehrerin ihr deswegen bereits einen Verweis erteilt hatte. Auch Tante Grete schaute stets verwundert drein, wenn sie bei irgendeiner Gelegenheit mit der Faust auf den Tisch schlug.
Carmen schlief noch immer. Pucki kicherte vergnügt unter der Decke. Na, das würde nachher eine tolle Jagd werden! Dann steckte man nur die Nasenspitze ins Waschwasser, ließ auch mal das Zähneputzen sein, schlüpfte, so schnell es ging, in die Kleider und freute sich, daß man in wenigen Minuten fix und fertig dastand.
Draußen auf der Straße bellte ein Hund. Da mußte Pucki an ihren Harras denken. Ob er sie in Haus und Garten suchte? Aber am nächsten Sonnabend kam der gute Onkel Oberförster mit dem Wagen und brachte sie zu den Eltern. Ach, es war vor Freude kaum auszuhalten! Leider dauerte es noch ein ganzes Weilchen, bis der Sonnabend da war.
»Pucki – Carmen!« Das war die Stimme von Tante Grete. Die Tür wurde geöffnet, sie trat ein. »Nanu, was ist denn heute los, wird hier nicht aufgestanden?«
Die schwarzhaarige Carmen fuhr aus tiefem Schlaf empor. »Ist es denn schon so spät?«
Pucki aber zog schuldbewußt die Decke ein wenig höher und rührte sich nicht.
»Pucki, du kleine Langschläferin, willst du heute gar nicht erwachen?«
Da kam auch Hedis blonder Lockenkopf hervor.
»Nun aber rasch, Kinder, es ist die höchste Zeit, der Kaffee wartet schon. Ihr dürft nicht zu spät zur Schule kommen. Nun schnell aufgestanden!«
Tante Grete wartete noch, bis die beiden Mädchen aus den Betten waren, dann verließ sie das Zimmer.
»Du, jetzt machen wir Galopp«, sagte Pucki. »Heute wasche ich mich nicht.«
»Aber Pucki, das geht doch nicht!«
»Ach, das geht schon. – Paß mal auf!« Pucki tauchte das Handtuch mit einer Ecke in den Wasserkrug, fuhr damit im Gesicht herum und sagte lustig lachend: »Fertig!«
Carmen dagegen plätscherte in der Waschschüssel und war erst beim Abtrocknen, als Pucki schon fertig angekleidet in der Tür stand.
»Au fein, das war 'ne Hetze, das mache ich jetzt immer so!«
»Dann wird dich bald niemand mehr ansehen, wenn du schmutzig bist.«
»Ich lese rasch noch ein Stückchen aus meinem Vogelbuch, bis du fertig bist. Oder noch besser, erzähle mir was von dem Lande, in dem deine Mutter lebte, wo es so viele Apfelsinen gibt, die man direkt von den Bäumen pflücken kann.«
»Wir müssen uns beeilen, Hedi.«
»Du sollst nicht immer Hedi zu mir sagen, ich bin doch Pucki.«
»Du heißt doch Hedi!«
»Nun ja, aber wenn du mich nicht Pucki nennst, nenne ich dich auch nicht Carmen, sondern Schwarzkopf.«
Carmen lachte. »Ich kann doch nichts dafür, daß ich schwarze Haare habe, ich möchte auch viel lieber so blonde Locken haben wie du.«
»Hat deine Mutti immer schwarze Haare gehabt?«
»Ja.«
»Und dein Vater auch?«
»Nein –«
»Ich denke es mir schrecklich einen Vater zu haben, der immerfort auf einem Schiff sitzt und auf dem Wasser schwimmt. Es ist doch viel schöner, wenn der Vater durch den Wald gehen kann.«
»Du hast es sehr gut, Hedi, du darfst am Sonntag zu deinen Eltern. Ich habe meinen Vater seit dem vorigen Sommer nicht mehr gesehen, und jetzt ist er ganz weit fort, irgendwo in Indien.«
»Hm –«, sagte Pucki. Sie konnte sich keine Vorstellung von dem fernen Lande machen. Tante Grete hatte ihr zwar vorgestern auf einer runden Weltkugel gezeigt, wo Indien liegt.
»Ich werde sehr lieb zu dir sein, Carmen, weil dein Vater so weit fort ist und weil du keine Mutter mehr hast. Das ist sehr schlimm, keine Mutter zu haben. Das habe ich schon bei unserem Plüschli gesehen, doch bei Kindern ist es noch viel schlimmer.«
»Ja, es ist sehr schlimm«, sagte Carmen, und ihre großen, schwarzen Augen schimmerten trübe. »Nun bin ich hier bei Tante Grete. Sie hat mich auch sehr lieb, doch meine Mutter hatte mich noch viel lieber.«
»Sei doch nicht traurig, Carmen, ich habe noch ein schönes Osterei, das schenke ich dir.« Schon war Pucki an der Kommode, wühlte den Inhalt eines Schubes durcheinander, warf bald ein Paar Strümpfe, dann wieder einige Haarschleifen hinaus und blieb nachdenklich vor der Schublade sitzen. »Ja – wo habe ich denn die Eier?« Dann wurde der Schrank aufgerissen, doch auch darin fand sie das Gesuchte nicht. »Oh, ich weiß«, rief das Kind plötzlich, »im Waschtisch liegen sie!«
Dort lagen tatsächlich die Ostereier, die Pucki noch nicht verspeist hatte.
»Hier hast du welche!«
»Wir sollen doch vor dem Frühstück nichts Süßes essen.«
»Ach, iß es nur rasch auf, das macht nichts.«
»Nein, Pucki, Tante Grete hat es verboten, und dann dürfen wir es nicht tun. Tante Grete meint es sehr gut mit uns. Sie sagte, wir können nur gesund bleiben, wenn wir das tun, was sie uns rät.«
»Oh«, lachte Pucki übermütig, »ich tue manches nicht, was mir große Leute raten!«
»Seid ihr nun bald fertig?« Wieder betrat Tante Grete das Zimmer der beiden Mädchen.
»Ich bin fertig«, sagte Pucki, »jetzt komme ich zum Kaffeetrinken.«
»Was ist denn das dort, Pucki?« Frau Perler wies auf die geöffnete Schranktür, auf die weitherausgezogene Schublade und auf die Sachen, die auf der Erde verstreut lagen.
»Weißt du, Tante Grete, in Birkenhain sind mal die Heinzelmännchen gekommen und haben mir geholfen. Ich dachte, in Rotenburg wird es auch Heinzelmännchen geben. Ich hab's mal versuchen wollen.«
»Schnell, schnell, Pucki, hier wird alles brav aufgeräumt.« Und als Pucki die Strümpfe im Bogen in die Schublade warf, schüttelte Frau Perler mißbilligend den grauen Kopf. »Nein, mein Kind, so geht es nicht! Ein Mädchen muß sich von klein an daran gewöhnen, seine Sachen ordentlich zu halten. Schau einmal in die Schubfächer von Carmen, da liegt alles sauber und ordentlich, wo es hingehört.«
»Wir wollen jetzt Kaffee trinken.«
»Pucki, erst wird Ordnung gemacht.«
Sie zog zwar die Stirn kraus; als sie aber sah, daß Frau Perler nicht aus dem Zimmer ging, blieb ihr nichts anderes übrig, als alles wieder ordentlich an seinen Platz zu legen. Es sah auch jetzt noch nicht ordentlich aus, aber Tante Grete war zunächst damit zufrieden. Nur ganz allmählich konnte sie Pucki an Ordnung gewöhnen.
Beim Frühstück gab es wieder eine Ermahnung. Pucki hatte die unsauberen Marmeladenfinger verstohlen an der Tischdecke abgewischt, und als Frau Perler warnend den Finger hob, hatte sie eine Erwiderung auf den Lippen. Da mußte sie an Eberhard denken, der auch einen berechtigten Vorwurf schweigend entgegengenommen hatte. – Bums, fiel die kleine Faust auf den Tisch.
Tante Grete sagte nichts, sie schüttelte nur den Kopf. Sie hatte durch Eberhard erfahren, was dieser Faustschlag bedeute.
Auf dem Schulwege wollte Pucki von Carmen über Spanien etwas hören. »Wenn ich erst groß bin, fahre ich auch nach Spanien und esse so viele Apfelsinen von den Bäumen, bis ich nicht mehr kann. – Gibt es dort auch wilde Tiere? Löwen und Tiger?«
»Ach, Pucki, das weiß ich doch nicht, ich bin doch gar nicht in Spanien gewesen, nur meine Mutter hat mir von dem Lande erzählt.«
»Ich würde mir immerfort davon erzählen lassen, dann hätte ich auch gewußt, ob es Löwen gibt. Aber ich will mal den großen Claus danach fragen.«
In der Schule gab es heute wieder einen Verweis. Die Lehrerin sprach davon, daß sie am Sonnabend den Kindern ein Gedicht vorlesen wollte, das dann gelernt werden müßte. Da schrie Pucki:
»Da kommt ja das Auto vom Onkel Oberförster!«
Vergessen war das Klassenzimmer, vergessen die Lehrerin. Noch einmal jubelte Hedi Sandler:
»Am Sonnabend fahre ich in meinen lieben Wald. Dann sehe ich meine Eltern, den Harras, den Peter, vielleicht kommt dann auch das Plüschli! Na, und die Ziegen werden sich freuen. – Ach, ich freue mich so sehr!«
»Hedi, was ist das für ein Betragen?« ermahnte die Lehrerin.
»Onkel Gregor sagte, er käme gleich, wenn wir gegessen haben – –«
»Wenn du nicht ruhig bist, lasse ich dich nachsitzen.«
Jäher Schreck durchfuhr Pucki. Wieder wollte das Kind eine Antwort geben, aber – nur die kleine Faust fiel auf die Schulbank.
Von nun an war Pucki unaufmerksam. Ihre Gedanken weilten im Forsthaus Birkenhain, und je länger sie daran dachte, um so größer wurde die Sehnsucht. – Ach, wieder durch den Wald laufen, wieder bei Vati und Mutti sitzen dürfen, die lieben Stimmen hören und frischgebackene Waffeln essen! Wenn doch nur erst der Sonnabend käme! Der Harras würde dann immerfort an ihr hochspringen und würde nicht von ihrer Seite gehen. – Oh, den ganzen Sonnabend nachmittag und den ganzen Sonntag über dürfte sie daheim sein.
Daß sie heute einen Tadel bekam, machte auf Pucki wenig Eindruck. Das Wichtigste war, daß der Sonnabend immer näher heranrückte.
An diese Fahrt dachte Pucki noch immer, als die Schulstunden vorüber waren und sie mit Carmen dem Hause Frau Perlers zueilte.
»Ach, ich freue mich so sehr auf zu Hause, daß ich es kaum aushalten kann.«
»Du kannst darüber auch sehr glücklich sein – du kannst zu deinen Eltern. Ich kann nie zu meinem Vater, er ist jetzt lange fort. – Ach, wenn ich doch auch noch eine Mutti hätte!«
Pucki blieb stehen und legte den Arm um Carmen. »Ja, ich bin viel glücklicher als du, das weiß ich. Ich will auch nicht mehr traurig sein, wenn ich wieder von daheim fort muß. Ich kann zu den Ferien immer wieder zurück.«
Der Jammer Carmens stimmte Pucki nachdenklich. Wie schlimm mußte es sein, wenn die Mutti tot war. Pucki nahm sich vor, am Sonnabend und Sonntag ganz besonders lieb zu Eltern und Geschwistern zu sein, damit sie durch Ärger ja nicht krank würden, wie sie das gestern von einer Mitschülerin gehört hatte. Deren Mutter hatte sich so aufgeregt, daß sie zu Bett gehen mußte und der Arzt gerufen wurde.
»Ich glaube, ich bin doch ein glückliches Kind. Ich kann nach Hause, und die arme Carmen kann es nicht.«
Am Sonnabend früh war es mit Pucki kaum zum Aushalten. Sie schrie und jubelte durch die Räume, weckte Carmen schon eine Stunde zu früh und rief ihr ins Ohr:
»Heute kommt der Onkel Oberförster, heute kann ich nach Hause!«
In der Schule wurde sie mehrmals ermahnt. Obwohl sich Pucki ernstlich vornahm, recht aufmerksam zu sein, kam die innere Freude immer wieder zum Durchbruch. Erst als die Lehrerin ärgerlich wurde, machte Pucki verstohlen einige Faustschläge auf die Bank.
»Ich will mich jetzt nicht so toll freuen«, klang es leise.
Das Mittagessen wurde in größter Hast eingenommen. Hans Rogaten wackelte mit den Ohren und fragte Pucki, ob sie ihn nicht mitnehmen wolle, er möchte auch einmal das Forsthaus sehen. Er würde es dann sehr schön zeichnen und ihr das Bild schenken.
»Ich frage den Onkel Oberförster.«
»Nein, er muß hierbleiben, Pucki«, lachte Eberhard, »er muß lernen. Er ist schon zweimal sitzengeblieben.«
»Dann kannst du ein anderes Mal mitkommen«, rief Pucki, »das ist schön. Wackel doch noch mal mit den Ohren.«
Und Hans Rogaten, der gutmütige Faulpelz, erfüllte Pucki gerne den Wunsch.
Wartend stand sie dann am Fenster des Wohnzimmers. Immer wieder gingen die Augen hinüber zu der großen Standuhr.
»Warum kommt er noch nicht?«
»Er kommt überhaupt nicht«, sagte Hans Rogaten, »der Herr Oberförster hat eine Panne und muß umkehren. Das Uhrenmännchen sagt es auch.«
»Was für ein Männchen?«
»Das Uhrenmännchen. – Höre doch, was die Uhr tickt. – Kommt – nicht, kommt – nicht.«
Pucki schaute ernsthaft auf die Uhr. Diese Uhr hatte schon mehrfach ihre Aufmerksamkeit erregt. Solch eine Uhr kannte sie nicht. Bunte Blumen waren auf die große weiße Scheibe gemalt, in deren Mitte sich die großen Zeiger befanden. Zwei schwere Gewichte hingen an Ketten herab. Mittags um zwölf Uhr öffnete sich über dem Zifferblatt eine Klappe, ein kleines Männchen trat hervor, nickte mit dem Kopf und verschwand wieder in der Uhr, wenn die zwölf Schläge vorüber waren.
»Kommt – nicht, kommt – nicht«, ärgerte Hans. »Was das Uhrenmännchen sagt, stimmt immer.«
»Das Uhrenmännchen weiß gar nichts«, sagte Pucki ärgerlich.
»Hast du 'ne Ahnung, kleines Mädchen. Laß dir mal von Tante Grete erzählen, was das Uhrenmännchen weiß.«
»Ja«, nickte Carmen, »das Uhrenmännchen sagt manchmal etwas.«
Pucki holte einen Stuhl herbei, stieg darauf und hielt den Perpendikel an. »Ätsch«, rief sie strahlend, »jetzt sagt das Uhrenmännchen gar nichts mehr!«
»Du, wenn das Tante Grete sieht. Die Uhr hat sie sehr lieb. Die hat schon vor hundert Jahren in der Stube der Großeltern gehangen.«
»Das ist mir ganz gleich«, meinte Pucki, »wenn das Uhrenmännchen so dummes Zeug redet – –. Oh, draußen hält ein Auto!« Pucki sprang vom Stuhl, riß ihn dabei um und fiel auf den Fußboden. Die Knie schmerzten wohl, doch verbiß sie den Schmerz und eilte zum Fenster. »Das Auto kommt, das Auto!«
»Kommt – nicht, kommt – nicht«, sagte Hans. Er hatte die Uhr wieder angestoßen.
»Kommt – doch, kommt – doch«, tröstete Eberhard. »Laß doch das Ärgern sein, Hans.«
»Ich zieh dir die Ohren noch länger, du langer Hans«, sagte Pucki. »Er kommt doch, der Onkel Oberförster, ich höre es ganz deutlich. Jetzt fürchtet sich das Uhrenmännchen vor mir. – Du –«, sie stellte sich vor die große Uhr, »kommt er oder kommt er nicht?«
»Tick – tack – tick – tack – –«
Leise murmelte Pucki: »Kommt – doch – kommt – doch.«
Und richtig, unten auf der Straße ertönte die Hupe.
»Das ist er«, sagte Eberhard. Beinahe hätte Pucki mit dem Kopf die Fensterscheibe eingestoßen.
»Onkel Oberförster«, schrie sie, daß es durch die Wohnung hallte.
Wenige Minuten später hing sie an seinem Halse, lachte, strampelte, weinte, hüpfte von einem Fuß auf den anderen, lief in ihrer Erregung gegen die geschlossene Tür, riß ein Tischchen um und suchte in ihrem Zimmer vergeblich nach Hut und Mantel.
»Was suchst du denn, Pucki?«
»Onkel Oberförster, fahre nur nicht fort. – Wo ist denn mein Mantel? Carmen, hast du mir den Mantel weggenommen?«
»Du hast doch den Mantel an, Pucki.«
»Ach so, das habe ich ganz vergessen. Ich komme schon, Onkel Oberförster!«
»Du Irrwisch, ich will doch noch eine Tasse Kaffee trinken! Wenn ich zwei volle Stunden am Steuer sitze, möchte ich mich erst ein wenig ausruhen.«
»Kaffee bekommst du daheim. Ach, bitte, komm doch!«
»Nein, Pucki, erst Kaffeetrinken.«
»Ach, dann mach aber ganz schnell. Ich geh schon 'runter und setze mich in den Wagen.«
»Den habe ich zugeschlossen.«
»So komm rasch und schließe ihn wieder auf. – Ach, Onkel, sag doch schnell, damit sie dir Kaffee bringen.«
Pucki ließ mit Drängen nicht nach. Eberhard mußte hinuntergehen und den Wagen aufschließen, damit sich Pucki hineinsetzen konnte.
»Hast du dich denn von Tante Grete verabschiedet«, fragte er unten.
»Nein«, sagte das Kind kleinlaut, »ich komme doch wieder.«
»Dann komm nur noch mal mit hinauf, sonst läßt sie dich das nächste Mal nicht fahren.«
Der Abschied ging sehr schnell. Pucki eilte dann wieder zurück in den Wagen und zählte die Minuten. Warum kam der Onkel Gregor noch immer nicht? Unablässig drückte sie auf die Hupe, bis sich oben ein Fenster öffnete und Oberförster Gregor hinausschaute.
»Laß endlich die Hupe in Ruhe, Pucki, sonst bleibe ich noch eine volle Stunde hier sitzen.«
Da bekam die Hupe einen Faustschlag. Dann saß das Försterkind wartend im Wagen. Voller Ungeduld rückte es hin und her und stieß oftmals tiefe Seufzer aus.
Endlich war es so weit. Pucki winkte strahlend zu den Fenstern hinauf. Dort oben standen Tante Grete, Hans Rogaten und Carmen Gumpert. Die Augen Carmens waren voll Trauer.
»Sie tut mir furchtbar leid, Onkel Oberförster, denn sie kann niemals mehr zu ihrer Mutti fahren. – Einmal nehmen wir sie mit, nicht wahr? – Onkel Oberförster, sieh doch, wie der lange Hans schön mit den Ohren wackelt. – So, und nun fahre los!«
Unterwegs richtete Pucki wohl zwanzigmal an Onkel Gregor dieselbe Frage: »Kannst du nicht schneller fahren?« Aber als dann endlich der Birkenhainer Forst in Sicht kam, zappelte das Kind derart mit Händen und Füßen, daß der Oberförster mehrmals in Gefahr kam, ins Gesicht gestoßen zu werden.
»Wenn du nicht ruhig sitzt, du kleines Ding, kommst du das nächstemal hinten in den Wagen.«
Pucki versetzte sich einen Faustschlag auf die Knie.
Kurz darauf klang es jauchzend von den Kinderlippen: »Oh, der weiße Stein!«
Noch eine Wegbiegung – da stand das Forsthaus. Puckis Hände ließen die Hupe nicht mehr los, sie tutete unaufhörlich.
»Sie müssen doch wissen, daß wir kommen«, schrie sie aufgeregt.
Man hörte es im Forsthaus. Sandler, seine Frau und die beiden Kinder kamen in den Garten. Auch Minna, die treue Hausangestellte, verließ die Küche, Harras wurde unruhig und bellte laut.
»Mutti! Vati! Harras! – Waltraut – oh – oh, ich bin da! Eure Pucki ist endlich wieder da!«
Der Oberförster mußte das aufgeregte Kind festhalten, das über den geschlossenen Wagenschlag klettern wollte.
»Du brichst dir noch Hals und Beine, du Unband«, sagte er.
»Ich bin wieder daheim! – Oh, ich bin bei euch. – Ach – ach – ich kann ja nichts sagen, ach – oh!«
Bald hing Pucki am Halse des Vaters, bald lag sie am Boden und umarmte Harras, den treuen Jagdhund, dann drückte sie sich so fest an die Mutter, daß Frau Sandler kaum Luft bekam. Sie riß die zweijährige Agnes zu Boden, die laut zu schreien begann, und stieß Waltraut aus Versehen so heftig mit dem Ellenbogen in den Rücken, daß auch sie zu weinen anfing. Da küßte Pucki der Schluchzenden die Tränen fort. Dann lief sie freudestrahlend durch den Garten.
»Ich kann in mein Elternhaus kommen, ich habe einen Vati und eine Mutti, und die arme Carmen hat das nicht. – Ach, wie glücklich bin ich!«
Jeder Baum wollte umschlungen sein, jede Blume wurde begrüßt. Auch Minna wurde stürmisch guten Tag gesagt. Den beiden Ziegen brachte Pucki frisches Gras; sie war in allen Ecken des Hauses zu finden. Und zwischendurch tönte ihr jubelndes Rufen:
»Ich bin daheim, ach, wie bin ich glücklich!«
Sie hatte sich weder vom Onkel Oberförster noch von Eberhard verabschiedet. Es gab ja auch in Haus, Hof und Garten so viel zu sehen. Alles dünkte Pucki heute so wunderschön. Erst beim Kaffeetrinken fand das erregte Kind Zeit, von Rotenburg und den dortigen Erlebnissen zu berichten.