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Mutter und Kind

Hedwig Gregor lag an der Erde und schaute belustigt ihrem Söhnchen zu, das auf allen vieren auf dem Spielteppich herumkroch. Jedesmal, wenn das Kind eines der aufgenähten Tiere erreichte, brach es in lautes Freudengeschrei aus, tappte mit der Hand darauf und drehte den Kopf nach der Mutter um.

»Ja, ja, Karlchen, ein Wauwau!«

»Wau, wau«, wiederholte der fünfzehn Monate alte Knabe. Zärtlich glitt die kleine Hand über den Rücken des Tieres. Dann kroch Karlchen weiter. »Mama, Mama–.«

»Ein Affe, Karlchen, ein schöner, brauner Affe. – Sag' Affe!«

»Affe – Affe – Affe«, rief der Knabe, dann wies er auf den rotwangigen Apfel, den der aufgenähte Affe in der Hand hielt.

»Ein Apfel, Karlchen!«

Der Kleine quälte sich einige Male mit dem Wort herum, bekam es aber nicht heraus. Jauchzend hob ihn Pucki auf und schwenkte ihren Einzigen durch die Luft. Pucki war der Neckname der jungen Mutter seit frühester Kindheit.

»Bist selber ein süßer Affe, unser Sonnenschein, unser Glück! – Hast du es gehört? – Du bist unser Glück, Karlchen!«

Der Junge griff lachend mit beiden Händen in das Blondhaar seiner jungen, schlanken Mutter, die sich willig von den Kinderhänden zausen ließ.

»Bist doch unser Glück, du süßer Bengel! Aber jetzt ist's mit dem Spielen aus.«

Karlchen schien sich darum gar nicht zu kümmern, denn wieder zauste er Puckis Haar oder patschte ihr gar mit der kleinen Hand ins Gesicht. Dabei krähte er laut vor Vergnügen und rief abwechselnd:

»Wauwau! – Affe! –«

»Nun ist es genug, Karlchen!« Puckis Ton wurde ein wenig strenger. »Du weißt, Doktor Claus Gregor und seine Frau Hedwig, geborene Sandler, aus dem Forsthaus Birkenhain wollen kein gewöhnliches Kindchen haben, sondern ein kluges Kind. Ganz Rahnsburg soll über dich staunen, mein Karlchen. – Hörst du? Du wirst ein kluges Kind. – Was wirst du?«

»Affe – –«

»Unsinn, Karlchen, du wirst ein kluges Kind! Oder gar ein Wunderkind!« Pucki betonte jede Silbe mit großem Nachdruck. »Was wirst du, Karlchen?«

»Wauwau! – Affe! –« krähte der Junge lustig.

Frau Doktor Gregor hielt ihr Kind glückselig im Arm und ging mit ihm tänzelnd durch das Zimmer. Dabei summte sie leise ein Lied vor sich hin. Dann begann sie zu erzählen, was sie bewegte, mehr für sich als zu dem Kind, das es ja doch noch nicht begreifen konnte: »Morgen ist ein Festtag, Karlchen. Was ist morgen? – Morgen ist der neunzehnte September. Es sind genau drei Jahre her, daß dein Vater deine Mama heiratete. Das verstehst du heute noch nicht, Karlchen, so viel kann dein kleines Gehirn noch nicht fassen. – Man soll Kinder auch nicht übermäßig anstrengen, aber man soll den Verstand wecken. – Steht auf Seite vierundvierzig meines Erziehungsbuches.«

Dann trat sie mit dem Knaben auf dem Arm an eines der Fenster. Mit ausgestrecktem Arm wies sie hinaus.

»Sieh mal da, Karlchen! Was ist denn da draußen, mein Liebling? Karlchen, was ist das?«

Das Knäblein hörte nicht auf die Frage, denn draußen auf der Straße gab es mancherlei zu sehen. Da kam gerade ein Wagen mit Kohlen gefahren.

»Aufpassen, Karlchen! Was ist das?«

»Wauwau!« jauchzte der Knabe.

Pucki versetzte ihm einen leichten Schlag. »Nein – du kleines Schaf. Das ist ein Hottehü!«

»Mamma, Mamma – Hottehü!«

Pucki verließ das Fenster und ging mit ihrem Kind an die Tür, um nach dem Mädchen zu rufen, das in der Küche beschäftigt war.

Karlchen verzog den kleinen Mund; er hätte so gerne noch aus dem Fenster gesehen und dem Wagen mit dem Pferd nachgesehen.

Da bellte gerade in diesem Augenblick draußen ein Hund. Der Knabe wurde unruhig auf der Mutter Arm und rief lebhaft:

»Wauwau sehen – Wauwau –!«

Mit beiden Händchen fuhr Karlchen der Mutter in die Haare und zog daran. »Wauwau sehen –«

»Eigentlich bist du ein unartiger Junge! Es ist gut, daß dein Vater noch Sprechstunde hat. – Also schön, sehen wir uns den Wauwau an.«

Ein Hund, der das Pferd umsprang, nahm Karlchens ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Er klatschte in die Händchen, lachte laut auf und schenkte der Mutter wieder den zärtlichen Blick, der Pucki dem Kinde gegenüber alle Energie nahm. Wie oft versuchte sie sachlich und ruhig zu bleiben und ihr Kind so zu erziehen, wie sie es einst in ihrer Ausbildung als Kindergärtnerin gelernt hatte. Sie war ja eine prächtige Jugenderzieherin gewesen, und die Kinder liebten »Tante Pucki« schwärmerisch, obwohl sie auch streng sein konnte. Wenn aber Karlchen seine Blauaugen ein wenig zusammenkniff, den Kopf schäkernd auf die Seite legte, den kleinen Mund spitz machte, dann waren bei der Mutter alle guten Vorsätze vergessen. Dann riß sie den Kleinen an sich und küßte ihn herzhaft ab. Claus tadelte oft, daß man ein Kind nicht von Jugend an verziehen solle. Ein Vater war eben anders als eine Mutter, dachte Pucki. Mit diesem Gedanken beschwichtigte sie die aufsteigenden Zweifel an der Richtigkeit ihrer Kindererziehung.

Schließlich setzte sie den Knaben wieder auf den Spielteppich. Auf die Arbeit, die sie sich damit gemacht hatte, war Pucki sehr stolz. Von jeher war sie eine gute Zeichnerin gewesen. So hatte sie selbst Tiere entworfen, die sie dann in Stoff ausschnitt und auf den Teppich nähte. Besonders reizend war ihr der Affe gelungen, der in der ausgestreckten Rechten einen rotwangigen Apfel hielt. Aber auch Hase und Hühner wirkten außerordentlich naturgetreu. Ein Jäger mit Flinte fehlte natürlich auch nicht, denn Pucki war ja eine Försterstochter. Die Mitte des Teppichs aber zierte ein Fuchs, der einer Gans nachstellte. Diesen Fuchs und die Gans hatte Pucki mit besonderer Liebe entworfen, denn es war doch beim Singen des Kinderliedes gewesen, daß sie Claus kennenlernte und sich später mit ihm verlobte:

»Liebe Pucki, laß dir raten,
kleiner Herzensdieb,
nimm, du brauchst nicht Hans Rogaten,
mit dem Claus vorlieb.«

So summte sie auch jetzt leise vor sich hin.

Der gute Hans Rogaten! Er war jetzt Apotheker in Leipzig. Sie schrieb oftmals an ihn, denn er war ihr bester und treuester Freund geblieben.

Wie doch die Zeit eilte! Drei Jahre war es her, daß sie in diesem Hause als Frau des Arztes Claus Gregor wohnte. Mit ihren dreiundzwanzig Jahren kam sich Pucki schon sehr würdig vor. Claus fand freilich häufig etwas an ihr zu tadeln, und doch liebte er ihren Übermut, der mitunter allerdings recht heftig durchbrach.

»Ich bin eben ein Puck und werde es bis an mein Lebensende bleiben! Ich glaube, ich mache noch mit neunzig Jahren Dummheiten. Unser Karlemann soll anders werden! – Junge, du wirst ein furchtbar gelehrter Mann, darum müssen wir zeitig anfangen, dich klug zu machen. Nicht wahr, du wirst ein kluges Kind?«

Karlchen war wieder eifrig damit beschäftigt, dem Hahn auf dem Teppich den Kamm abzureißen, denn ein Stückchen Stoff hatte sich von der Friesunterlage gelöst. Nun arbeitete er nach Kräften daran, den ganzen Gockel in seinen Besitz zu bekommen. Lachend kniete Pucki neben ihm nieder.

»Donnerschock, hast du Kräfte!« lobte sie.

In diesem Augenblick brachte Emilie, das im Doktorhause angestellte Mädchen, einen Brief.

»Von Carmen!« rief Pucki erfreut. Carmen war ihre liebste Freundin, die seit drei Jahren verheiratet war. Leider wohnte sie weit entfernt. Sie war monatelang nicht zu erreichen, da sie ihren Gatten, den Offizier der Handelsmarine Stieger, oft auf seinen weiten Reisen nach fernen Erdteilen begleitete. Carmen wußte so schöne Dinge zu erzählen; so freute sich Pucki auch heute wieder auf die Nachrichten, die ihr Carmen berichten würde.

Karlchen arbeitete noch immer an dem Hahn. So setzte sich Pucki ans Fenster und begann den Brief zu lesen. Carmen berichtete von der Villa, die sie gekauft hätten. Ihre beiden Kinder waren während ihrer Abwesenheit bei den Schwiegereltern gewesen. Nun würde sie wieder für mehrere Monate daheim bleiben, um ihr Mutterglück genießen zu können. Carmen bat Pucki herzlich, sie möge es einrichten, daß sie für wenige Tage nach Blankenese kommen könne. Sie wollte sie im Auto von Hamburg abholen. Sie berichtete weiter, wie gut es ihr ginge und daß sie jetzt besondere Freude daran hätte, das neue Heim noch schöner auszugestalten als die erste Wohnung.

»Ach, Karlemann, deine Tante Carmen hat furchtbar viel Geld! Sie kann alles haben, was sie sich wünscht. Dein Vater verdient ja auch gut, aber lange nicht so viel, daß wir uns eine Villa kaufen und neu einrichten können. – Ach, ich möchte auch viel Geld haben! – Karlchen, wie machen wir das?«

Es war gewiß kein Neid, der Pucki beim Lesen des Briefes erfüllte. Sie gönnte der Freundin von Herzen das Schönste und Beste, denn Carmen war in ihrer Jugend nicht so glücklich gewesen wie Pucki. Ohne Mutter war sie aufgewachsen und zeitig in eine Pension gekommen, weil ihr Vater nur selten zu Hause weilte, da ihn sein Beruf als Schiffsarzt durch die ganze Welt führte.

Als Pucki den Brief zum zweiten Male gelesen hatte, öffnete sich die Zimmertür. Claus Gregor, der Rahnsburger Arzt und Puckis Gatte, trat über die Schwelle.

»Papa – Papa!« jubelte der Knabe, dem es noch immer nicht gelungen war, den Hahn von dem Teppich abzureißen.

Das ernste Gesicht des jungen Vaters strahlte. Er schwenkte seinen Knaben hoch durch die Luft und küßte ihn. Dann wandte er sich an seine junge Frau:

»Ich muß sogleich einen Krankenbesuch machen und werde nicht pünktlich zum Essen zurück sein.«

»Weiß schon, Claus, es ist immer dasselbe.«

»Aber Pucki, sei doch zufrieden, daß ich so viel zu tun habe. Du bist doch selbst immer in Sorge, daß wir verhungern müssen, seitdem sich in Rahnsburg noch Doktor Ucker niedergelassen hat.«

Claus lachte belustigt auf und strich seiner Gattin zärtlich über den welligen Scheitel.

»Ach ja«, seufzte Pucki, »andere Leute kaufen sich eine Villa und können sich nach dreijähriger Ehe schon wieder anders einrichten, und wir müssen jeden Pfennig behutsam umdrehen, ehe wir ihn ausgeben.«

»Pucki, übertreibe nicht! – Ich glaube, dein Mann hat eine gute Praxis, und gehungert hast du noch nie!«

»Gewiß nicht, Claus! – Carmen richtet sich aber völlig neu ein. – Lies mal ihren Brief.«

»Später, Pucki, jetzt muß ich fort.«

»Mit dem Auto?«

Karlchen hatte kaum das Wort Auto gehört, als er laut losbrüllte: »Auto – – Papa – Auto!«

»Nein, mein Junge, ich kann dich nicht mitnehmen.«

»Auto!« wiederholte der Kleine unwillig.

»Karlchen, artig sein!« Doktor Gregor hob warnend den Finger. Der Junge aber rief immer wieder: »Auto! – Auto!«

Pucki lachte belustigt dazu. »Na, hat er Energie oder hat er keine?«

»Ich weiß nicht, kleine Frau, ob ich das Energie nennen kann. Du warst doch eine tüchtige Kindergärtnerin. Vergiß nicht, daß die Erziehung des Kindes frühzeitig beginnen muß!«

Karlchen war hurtig auf allen vieren zur Tür gerutscht. Dort saß er abwartend und murmelte immer wieder vor sich hin: »Auto!«

Claus ging ihm nach, trug ihn zurück auf den Spielteppich und sagte mit Nachdruck: »Hier bleibst du sitzen und bist artig! Der Papa fährt mit dem Auto fort.«

Pucki bemerkte, wie sich das Gesicht des Jungen zum Weinen verzog. Rasch nahm sie den Knaben auf den Arm. Aber Karlchen war unwillig.

»Also auf Wiedersehen, Pucki. – Auf Wiedersehen, Karlchen!«

Die junge Mutter trat mit dem Kinde ans Fenster. »Paß auf, mein Liebling, wir schauen dem Vater nach und machen Winke-winke!«

Aber Karlchen begann laut zu schreien, als er draußen vor der Tür das Auto stehen sah, in das der Vater einstieg und davonfuhr. Alle Beschwichtigungsversuche der Mutter fruchteten nichts.

»Auto – Auto!« schrie der kleine Mann immer energischer. Sein Gesicht färbte sich dunkelrot vor Zorn.

»Schau den Wauwau an!« Pucki holte den weißen Stoffhund herbei und reichte ihn dem Knaben. Aber Karlchen warf den Hund zu Boden.

»Komm, ich setze dich in den Sportwagen, dann fahren wir durch den Vorgarten.« Als Karlchen in dem Sportwagen saß, schrie er um so lauter. Da kehrte Pucki, die nicht wollte, daß die Vorübergehenden sein Geschrei hören sollten, rasch mit dem Knaben ins Haus zurück.

»Sei doch endlich ruhig, Karlchen! Ich habe allen Menschen, die ich kenne, erzählt, daß du das artigste Kind auf der Welt bist! Karlchen – Karlemännchen – Mäuschen, sei doch endlich still!«

Mit dem Kinde auf dem Arm eilte Pucki durch das Wohnzimmer, durch das Eßzimmer. Wenn sie etwas wüßte, um den Knaben abzulenken!

Sie tänzelte hin und her und sang mit ihrer tiefen, unmelodischen Stimme ein Kinderlied. Dabei stieß sie aus Versehen an den Teewagen, der an der einen Wand stand. Der Wagen setzte sich langsam in Bewegung. Da verstummte das Geschrei des Knaben. Verlangend hingen die Kinderaugen an dem kleinen Tischchen.

Der fahrbare Teetisch! Er war ein Geschenk des Herrn Wallner aus Eisenach, ein Geschenk des ekligen Großpapas, der Pucki das Leben in ihrer ersten Stellung so schwer gemacht hatte. Herr Wallner hatte immer wieder ihren Weg gekreuzt. Auf der Hochzeitsreise war sie ihm in Wiesbaden begegnet, dann war Herr Wallner, den Claus für einen Nervenkranken hielt, auf den Gedanken gekommen, auch nach Rahnsburg überzusiedeln, und hier hatte er sich schließlich mit der Schwester ihrer einstigen Lehrerin verheiratet. Pucki hatte ihn seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen, denn Herr Wallner fand plötzlich Gefallen am Reisen. Sie lachte über den merkwürdigen alten Herrn, der sich, seit er sich als junger Ehegatte fühlte, auch äußerlich verändert hatte. Der graue Vollbart, der sein Gesicht umrahmte, war braun geworden, auf dem einst kahlen Kopf trug er eine leicht gewellte Perücke. Auch die Kleidung war gepflegt und ein wenig stutzerhaft. Jedesmal, wenn Pucki den Teetisch benutzte, gingen ihre Gedanken zu diesem seltsamen Manne.

Das Geschrei Karlchens weckte sie aus ihren Gedanken. »Auto – Auto!«

»Freilich, mein süßer Junge, jetzt fährst du Auto! Einsteigen – tu – tu – –«. Dann setzte sie Karlchen auf die untere Platte des Tisches. »Halte dich fest, Junge, das Auto fährt los! – Tu – tu –«

Karlchen war begeistert. Er hielt sich brav fest, und Pucki stieß unter ständigem Tu–tu den Teewagen durch die Zimmer. Sie überhörte es, daß draußen im Hausflur jemand mit Emilie sprach.

»Tu – tu – –«

Da öffnete sich die Tür zum Wohnzimmer. Pucki wäre fast mit dem Teewagen gegen den eintretenden Herrn gestoßen, der erstaunt auf Mutter und Kind blickte.

»Herr Wallner – – Sie? – Ach, an Sie habe ich gerade eben zufällig denken müssen.«

»Mein Teewagen – –«

Pucki wurde rot. Es war ihr peinlich, daß Herr Wallner sah, zu welchem Zweck sein Geschenk Verwendung fand. »Ich dachte – Sie wären noch verreist«, stotterte sie verlegen.

»Auto – tu – tu –« rief Karlchen. »Mama – tu – tu!«

Pucki hob verlegen das Kind vom Teewagen. »Ich freue mich, Herr Wallner, Sie wiederzusehen. Bitte, wollen Sie Platz nehmen. Seit dem Frühling habe ich Sie nicht mehr gesehen.«

»Das ist Ihr Junge? Ein strammer Bengel, tüchtig gewachsen. – Sieht klug aus.«

»Er ist über alle Maßen klug. Unser ganzes Glück. Er kann schon recht nett sprechen, hat wirklich seltene Gaben.«

»Na, komm mal her, mein Junge. – Ich habe dir etwas mitgebracht.«

Erst jetzt sah Pucki, daß Herr Wallner eine große Tasche trug. Aus dieser Tasche nahm er einen rotwangigen Apfel.

»Äpfel aus unserem Garten, Frau Pucki. Ich habe sie Ihnen mitgebracht. Der schönste, mein Junge, ist für dich. – Hier, nimm ihn!«

Karlchen hatte sich aufgerichtet. Er hielt sich mit einer Hand am Stuhl fest und betrachtete eine Weile forschend den fremden Mann. Herr Wallner stand noch immer da und hielt in der ausgestreckten Hand den Apfel.

»Nimm ihn, Karlchen«, sagte Pucki, »der Onkel ist ein lieber Onkel.«

Das Kinderköpfchen wandte sich um, die Blauaugen suchten den Teppich. Sie blieben auf dem Affenbild haften, und plötzlich jauchzte der Knabe laut: »Affe – Affe – Affe!«

Pucki fuhr zusammen, als hätte sie ein Schlag getroffen. Sie begriff sofort, was ihr Kind meinte. Karlchen hatte gar nicht so unrecht, das bartumrandete Gesicht Wallners hatte wirklich eine flüchtige Ähnlichkeit mit dem Affen, der ebenfalls einen Apfel in der Hand hielt.

»Affe – Affe – Affe«, schrie Karlchen immer wieder, trippelte zum Teppich hin, patschte mit der kleinen Hand auf das Tier, lächelte dann süß Herrn Wallner an und sagte zärtlich: »Affe – Affe!«

Der alte Herr machte ein süß-saures Gesicht.

»Das also ist das kluge Kind!« Seine Stimme klang ein wenig gereizt.

»Er ist – er hat – er bedankt sich für den Apfel. – Ach, Herr Wallner, ich freue mich sehr.– Emilie wird das Kind sogleich fortholen.«

»Lassen Sie den Jungen ruhig hier.« Herr Wallner warf den Apfel in die Tasche zurück.

»Affe – Affe – Affe«, schrie Karlchen immer wieder. Am liebsten hätte Pucki gelacht. Trotzdem ärgerte sie sich über sich, daß sie die Lage so wenig beherrschte.

»Wird das Kind alltäglich in meinem Teewagen spazierengefahren?«

»O nein, ich wollte ihm heute eine besondere Freude bereiten. Karlchen ist sonst ein sehr artiges Kind. Er schreit sonst nie.«

Pucki hatte nach dem Hausmädchen geklingelt. Als Emilie kam, gab sie ihr ein Zeichen, den Knaben hinauszunehmen. Da fing Karlchen an, entsetzlich zu schreien.

»Das artige Kind ist heute ungnädig«, sagte Herr Wallner spitz.

In Pucki stieg der Ärger hoch. Sie fand, daß Herr Wallner in letzter Zeit viel netter gewesen war als heute. Das war wieder derselbe höhnische Klang in seiner Stimme, den sie von früher her kannte.

»Sie wollten wohl zu meinem Manne«, sagte sie ebenfalls gereizt. »Beabsichtigen Sie, wieder eine Kur zu machen? Sind die Nerven ein wenig mitgenommen, oder ist Ihnen die letzte Reise schlecht bekommen?«

»Es scheint mir fast«, gab er unfreundlich zurück, »als wären Sie in Ihrer Ehe noch kratzbürstiger geworden.«

Pucki setzte sich im Sessel zurecht. »O nein«, sagte sie würdevoll, »ich glaube, es gibt auf der ganzen Erde kein größeres Familienglück als das meine. Ich habe einen prachtvollen Mann, der ein äußerst beliebter und gesuchter Arzt ist. Unsere Verhältnisse sind die denkbar besten. Wir fühlen uns in Rahnsburg sehr wohl.«

Nach dieser Äußerung wurde die Unterhaltung wieder friedlicher. Eine halbe Stunde lang sprachen die beiden von Herrn Wallners Reise, bis plötzlich lautes Schreien aus der Küche herüberklang.

»Das Kind«, sagte Herr Wallner ein wenig spitz.

»Bitte, entschuldigen Sie mich einen Augenblick.«

»Ich gehe schon, Frau Pucki.« Mit diesen Worten erhob sich Herr Wallner. Da wurde die Zimmertür aufgerissen; Emilie stand draußen. »Kommen Sie schnell, Frau Gregor, Karlchen hat sich eine Gabel in die Hand gestoßen!«

»Wie können Sie dem Kind auch eine Gabel zum Spielen geben«, schalt Frau Gregor.

Da empfahl sich Herr Wallner rasch.

Im Sprechzimmer verband Pucki kunstgerecht ihrem Jungen die Hand. Als Karlchen dabei kläglich weinte, erhielt er von der besorgten Mutter einen zärtlichen Kuß. »Es ist ja gar nicht schlimm, mein Liebling! Du mußt nicht weinen!«

Dann lachte sie fröhlich, bis Karlchen in ihr Gelächter mit einstimmte.


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