Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Im August wird ein Musikfest stattfinden, das eine der interessantesten Epochen in der Geschichte der Kunst bezeichnen wird. Der berühmte, solange mit Ungeduld erwartete Opernzyklus Richard Wagners mit dem Gesamtnamen »Der Nibelungenring« soll endlich aufgeführt werden in einem eigens dafür erbauten Theater des bayerischen Städtchens Bayreuth. Die kolossale Schöpfung des berühmtesten aller lebenden Komponisten wird jedenfalls eine unvergängliche, historische Spur hinterlassen. Wenn man in Erwägung zieht, daß Wagner in seinem Vaterlande wie in der ganzen übrigen zivilisierten Welt die angestrengteste Aufmerksamkeit des musikliebenden Publikums auf sich konzentriert; wenn man sich erinnert, daß er eine Masse entzückter Anhänger besitzt, die ihn im höchsten Grade vergöttern, und daß es andererseits nicht wenig Menschen gibt, die ihm nicht nur das Genie, sondern sogar eine mittelmäßige Begabung absprechen, so kann man sich leicht vorstellen, welcher Lärm, welche Aufregung in der europäischen Presse entstand anläßlich der angekündigten Aufführung des gigantischen Werkes des so viel bejubelten und viel angefeindeten Meisters. Ich nehme an, daß es für meine Leser nicht uninteressant sein wird, die einzelnen Entwicklungsstadien der Vorbereitung des Bayreuther Musikfestes, sowie die Vorstellung der Riesenoper selber zu verfolgen.
Im Jahre 1862 gab Wagner im sechsten Bande seiner gesammelten Werke den Text zu seiner zukünftigen Trilogie heraus, welche er »Der Ring des Nibelungen, ein Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend«, benannte. Im Nachwort zu diesem ausgezeichneten literarischen Erzeugnis, welches damals teilweise schon in Musik gesetzt war, erklärte Wagner, daß er alle Hoffnung verloren habe, die Verwirklichung seiner Idee, d. h. die Aufführung seiner Tetralogie zu erleben; und in der Tat war der Plan so unermeßlich groß, die Verwirklichung desselben bereitete scheinbar so unüberwindliche Schwierigkeiten, erforderte so außerordentliche musikalische Kräfte und so ungeheure Geldmittel, daß die verzweifelte Gemütsstimmung des Künstlers wohl begreiflich war. In solcher Stimmung fühlte Wagner das Bedürfnis, sich durch eine neue Arbeit abzulenken, und schuf damals seine Volksoper »Die Meistersinger von Nürnberg.« In diese Zeit fällt die Bekanntschaft Wagners mit dem jungen König von Bayern, und die ihm von dem königlichen Mäzenas verschaffte Muße gewährte dem Meister die Möglichkeit, die umfangreiche Partitur der Meistersinger zu beendigen. Die Oper wurde in München mit starkem Erfolge aufgeführt und von den meisten großen Bühnen Deutschlands angenommen. Hierdurch ermutigt, wandte sich Wagner wieder der Arbeit an seinem Nibelungenring zu, und seine Freunde kamen seinen Bemühungen, den großen Plan endlich zu verwirklichen, erfolgreich zu Hilfe. Die Gemahlin des preußischen Ministers v. Schleinitz und der Pianist Tausig, beide begeisterte Verehrer des Komponisten, ersannen den großen Plan, die zum Bau des Theaters einstweilen erforderliche Summe von 300 000 Talern mittels Ausgabe von Anteilscheinen zu beschaffen. Der Tod verhinderte Tausig, der Begründer dieser Aktiengesellschaft zu werden, aber seine Idee überlebte ihn. Zunächst bildeten in Mannheim mehrere Anhänger Wagners nach Tausigs Plan einen Richard-Wagner-Verein. Das Beispiel Mannheims fand bald Nachahmung, zunächst in Wien, dann in anderen deutschen Städten, schließlich auch im Auslande, in Pest, Brüssel, London und Neuyork. Im Jahre 1871 sah sich Wagner der Verwirklichung seiner Hoffnung schon so nahe, daß er anfing, einen Ort zu suchen, der sich für den Bau des Theaters eignete. Seine Wahl fiel auf die kleine Stadt Bayreuth, die ehemalige Residenz der Markgrafen von Bayreuth, deren anmutige Lage allen Anforderungen des Meisters entsprach. Die lokalen Machthaber kamen der Sache fördernd entgegen, schenkten das zum Bau erforderliche Grundstück, und so konnte schon am 22. Mai 1871 das Fundament des Theaters gelegt werden. Die Feier der Grundsteinlegung wurde mit einem Konzert eingeleitet, wobei Wagner die Neunte Symphonie von Beethoven dirigierte. 1875 war der Bau vollendet und im Frühjahr 1876 konnte mit den Proben begonnen werden. Eine Eigentümlichkeit des Bayreuther Theaters besteht in dem ungeheuer großen, unsichtbaren Orchester. Wagner ging bei dessen Schöpfung von der Ansicht aus, daß die allzu reale technische Einrichtung des Klangkörpers dem idealen Eindruck der Musik hinderlich sei, und kam so zu dem Entschluß, das Orchester in einer Vertiefung zwischen der Bühne und dem Zuschauerraum unterzubringen. Der Zuschauerraum selbst bildet ein allmählich sich verbreiterndes Amphitheater; Logen fehlen gänzlich. Der Zuschauerraum wird während der Vorstellung verdunkelt. Wagner will, daß die Aufmerksamkeit der Zuhörer durch nichts von der Bühne abgelenkt und zerstreut wird, und außer der jeweiligen Szene nichts weiter für die Hörer in der Welt existieren soll. Der ganze Zyklus soll dreimal zur Aufführung gelangen und umfaßt mithin zwölf Abende. Jeder, der einen Anteilschein über dreihundert Taler gezeichnet hat, hat das Recht, allen zwölf Vorstellungen beizuwohnen; der Käufer einer Drittelaktie über hundert Taler kann den ganzen Zyklus einmal hören.
Am 12. August, am Tage vor der ersten Vorstellung des ersten Teiles der Tetralogie »Der Ring des Nibelungen« kam ich in Bayreuth an. Die Stadt bot einen ungewöhnlich belebten Anblick. Einheimische und Ausländer, die von allen vier Himmelsgegenden hierhergekommen waren, eilten zum Bahnhofe, um dem Empfang Kaiser Wilhelms beizuwohnen. Aus dem Fenster eines benachbarten Hauses konnte ich diesen Empfang mit ansehen. Ein paar glänzende Uniformen an der Spitze, dann eine Prozession von Musikern des Wagnertheaters mit ihrem Dirigenten Hans Richter, darauf die hohe, schlanke Figur und der schöne Greisenkopf des Abbé Liszt, der mich schon so oft auf seinen in aller Welt verbreiteten Porträts gefesselt hatte, endlich in einem eleganten Wagen ein kleiner Mann mit starker Adlernase und feinen spöttischen Lippen, die den Urheber dieser ganzen kosmopolitisch-artistischen Feierlichkeit charakterisierten: Richard Wagner selbst. Das Orchester schmetterte einen Tusch, aus der Menge erschollen betäubende Hurrarufe, und der kaiserliche Sonderzug fuhr langsam in die Station ein. Der kaiserliche Greis bestieg den ihn erwartenden Wagen und fuhr zum Schloß unter dem lebhaften Jubel des Volkes. Beinahe ebenso stürmisch wurde auch Wagner begrüßt, der hinter dem Kaiser durch die dichte Menschenmenge fuhr. Welch stolzes Gefühl mußte dieser Mann wohl empfinden, daß er endlich über alle Hindernisse triumphierte und durch die Macht seines Willens und seines Genies seine kühnsten Träume erfüllt sah! ...
Ich schlenderte in der kleinen Stadt umher. Alle Straßen waren von einer geschäftigen Menge erfüllt, und merkwürdigerweise hatten alle Menschen einen suchenden, unruhigen Ausdruck im Gesicht. Nach einem Weilchen hatte ich die sehr einfache Erklärung dieser auf allen Gesichtern sich zeigenden Besorgnis gefunden, die sich ohne Zweifel auch in meiner eigenen Physiognomie ausprägte. Alle diese in den Straßen der Stadt eilig Umhersuchenden trachteten nach der Befriedigung des stärksten aller menschlichen Bedürfnisse, eines Bedürfnisses, das sogar durch den Durst nach künstlerischem Genuß nicht erstickt werden kann! sie suchten Nahrung. Die kleine Stadt gewährte zwar allen Fremden Obdach, aber für ausreichende Ernährung konnte sie nicht sorgen. Infolgedessen erfuhr ich am ersten Tage nach meiner Ankunft, was der Kampf um ein Stück Brot bedeutet. Da es nur wenige Hotels in Bayreuth gibt, hat der größte Teil der Zugereisten in Privatwohnungen Aufnahme gefunden. Die verschiedenen Tables d'hotes in den Gasthäusern können nicht alle Hungernden befriedigen. Jedes Stück Brot, jedes Seidel Bier muß erkämpft werden mit unglaublichen Anstrengungen, durch List und eiserne Geduld. Hat man glücklich einen Platz an der Tafel erwischt, neue schwere Enttäuschung! Denn die lange erwartete Schüssel kommt in vollständig geleertem Zustande zu einem. Unter den Gästen herrscht eine chaotische Unordnung. Alles schreit durcheinander. Die ermatteten Kellner schenken selbst den berechtigtsten Forderungen nicht die geringste Aufmerksamkeit. Es war der reine Zufall, wenn man die eine oder die andere Schüssel bekam. Neben dem Wagnertheater sind große Zeltrestaurants aufgeschlagen, die auf großen Plakaten für 2 Uhr mittags ein gutes Diner versprechen, aber es gehört wahrer Heroismus dazu, sich durch das Gewühl der Hungrigen hindurchzuarbeiten. Während der ganzen ersten Serie der Vorstellungen der Tetralogie bildete das Essen das allgemeine Gesprächsthema und schwächte ganz bedeutend das Interesse für die Kunst ab. Man hörte mehr von Beefsteaks, Schnitzeln und Bratkartoffeln als von Wagners Leitmotiven.
Ich erwähnte schon, daß in Bayreuth Gäste aus aller Herren Länder zusammen gekommen waren. In der Tat hatte ich schon am Tage meiner Ankunft Gelegenheit, eine ganze Menge bekannter Vertreter der Tonkunst aus beiden Weltteilen zu sehen; übrigens ist das cum grano salis zu verstehen. Die musikalischen Berühmtheiten ersten Ranges glänzten durch Abwesenheit. Verdi, Gounod, Ambroise Thomas, Brahms, Anton Rubinstein, Raff, Joachim, Hans v. Bülow waren nicht nach Bayreuth gekommen.
Von den Virtuosen ersten Ranges bemerkte ich mit Ausnahme von Franz Liszt, dessen Anwesenheit bei den nahen, verwandtschaftlichen Beziehungen und seiner langjährigen Freundschaft zu Wagner ja selbstverständlich ist, nur unsern Nikolaus Rubinstein. Außer ihm waren von russischen Musikern nur noch Laroche, Faminzin, Professor Klindworth vom Moskauer Konservatorium, der bekanntlich sämtliche Teile der Tetralogie fürs Klavier arrangiert hat, und Frau Valseck, die in Moskau gut bekannte Gesanglehrerin, anwesend. Die Vorstellung des Rheingold fand am Sonntag, den 1. August, um 7 Uhr abends statt. Walküre, Siegfried und Götterdämmerung nahmen mit einstündigen Unterbrechungen je die Zeit von 4-10 Uhr in Anspruch. Wegen Erkrankung des Sängers Betz wurde Siegfried von Dienstag auf den Mittwoch verschoben, so daß die erste Serie fünf Tage, anstatt vier in Anspruch nahm. Um 3 Uhr nachmittags begann die große Pilgerfahrt der nach Bayreuth gekommenen Künstler und Musikliebhaber in der Richtung des Theaters, das in beträchtlicher Entfernung von der Stadt liegt. Diese Stunde war wohl die schwerste des Tages, sogar für diejenigen Glücklichen, denen es gelungen war, zu Mittag zu essen, denn auf dem ganzen Wege ist man den sengenden Sonnenstrahlen schutzlos preisgegeben, und zum Überfluß geht es noch bergauf. Im Schatten der Mauern des Theaters staut sich die Menge und versucht sich mit Bier in einem der Zeltrestaurants zu erfrischen. Hier werden alte Bekanntschaften erneuert und neue angeknüpft; Klagen über die mangelhafte Verpflegung mischen sich mit Besprechungen der gestrigen und Fragen über die bevorstehende Aufführung. Punkt 4 Uhr erschallt eine laute Fanfare. Die ganze Menge strömt ins Theater. Fünf Minuten später haben alle schon ihre Plätze eingenommen. Von neuem ertönt ein Trompetenstoß, die laute Unterhaltung verstummt, die Gaslampen verlöschen plötzlich, das ganze Theater liegt in tiefster Dunkelheit, und aus dem in der Vertiefung sitzenden, unsichtbaren Orchester ertönen die schönen Klänge des Vorspiels. Der Vorhang wird auseinandergeschoben und die Vorstellung beginnt. Jeder Akt dauert anderthalb Stunden. Der erste Zwischenakt gestaltet sich recht qualvoll, da man beim Verlassen des Theaters sehr schwer ein schattiges Plätzchen findet, denn die Sonne steht noch hoch am Himmel. Der zweite Zwischenakt dagegen bietet köstliche Augenblicke. Die Sonne ist schon am Horizont niedergesunken, abendliche Kühle macht sich angenehm bemerkbar und die waldigen Höhen, die das freundliche Städtchen umrahmen, bieten einen erquickenden Anblick. Um 10 Uhr endigt die Vorstellung, und nun beginnt der erbittertste struggle for life, d. h. der Kampf um einen Platz zum Abendessen im Theaterrestaurant. Diejenigen Festbesucher, denen dieses nicht gelungen, strömen in die Stadt zurück, um dort eine noch schrecklichere Enttäuschung zu erleben. In den Gasthöfen ist alles bis aufs letzte Plätzchen besetzt; man dankt Gott, wenn man ein Stück kaltes Fleisch und eine Flasche Wein oder Bier findet. Ich sah in Bayreuth eine Dame, die Gattin einer der höchstgestellten Persönlichkeiten Rußlands, die während ihres ganzen Bayreuther Aufenthaltes nicht ein einziges Mal zu Mittag gegessen hat; Kaffee war ihre einzige Nahrung.
Manche Leser, die vielleicht finden, daß ich schon zu viel über Bayreuth und meinen Aufenthalt daselbst erzählt habe, werden erwarten, daß ich mich jetzt dem wesentlichen Gegenstand meiner Aufgabe zuwende, d. h. der kritischen Erörterung der künstlerischen Vorzüge und Fehler der Wagnerschen Schöpfung. Ich muß jedoch meine Leser um Entschuldigung bitten und kann nur für eine ferne Zukunft eine ins einzelne gehende Analyse des Nibelungenringes versprechen. Nachdem ich nämlich im Laufe des vergangenen Winters mich mit dem umfangreichen Werke bekannt gemacht hatte, war ich der naiven Anschauung, daß es genügen würde, dasselbe einmal zu hören, um hinlänglich damit vertraut zu werden. Ich habe mich aber bitter getäuscht; Wagners Tetralogie ist in ihrem gigantischen Umfange ein so kompliziertes und so fein durchdachtes Werk, daß viel Zeit zu seinem Studium erforderlich ist und man es mehrere Male hören muß. Es ist jedem bekannt, daß erst nach mehrmaligem Hören die Vorzüge und Mängel eines Musikwerkes klarwerden. Sehr oft wird man von irgendeiner Stelle, die man das erstemal nicht genügend beachtet hat, bei einer Wiederholung plötzlich ergriffen und bezaubert, und ebenso kommt es vor, daß irgendeine Stelle, die einen anfangs entzückte, beim nochmaligen Hören hinter den neu entdeckten Schönheiten weit zurücktritt. Aber auch das mehrmalige Hören genügt nicht, um sich mit neuer Musik vertraut zu machen, sondern man muß die Partitur studieren, dann erst kann man versuchen, einigermaßen gründliche Urteile zu fällen. Diesen Weg werde ich später einschlagen und vorläufig nur einige allgemeine Bemerkungen in bezug auf die Musik des Nibelungenringes und die szenische Ausführung machen.
Ich muß sagen, daß jeder, der an zivilisatorische Kraft der Kunst glaubt, von Bayreuth einen sehr erquickenden Eindruck mit fortnehmen muß, angesichts dieses großartigen künstlerischen Unternehmens, das durch seinen inneren Wert und seine Wirkung geradezu einen Markstein in der Geschichte der Kunst bilden wird. Angesichts dieses Gebäudes, das dem der Menschheit auf allen Stufen ihrer Entwickelung eigenen Bedürfnis nach künstlerischen Genüssen seine Entstehung verdankt, angesichts einer Masse von Menschen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten und aus aller Herren Länder, die sich in einem kleinen Winkel Europas im Namen der ihnen allen gleich teuren Kunst versammelt haben, angesichts dieser ganzen unerhörten musikalisch dramatischen Festlichkeit, wie lächerlich und kläglich erscheinen da doch jene Tendenzprediger, die in ihrer Blindheit unser Jahrhundert für ein Zeitalter des völligen Verfalls der reinen Kunst halten! Die Bayreuther Feier ist auch zugleich eine Lehre für jene verstockten Verfolger der Kunst, die in ihrer Hoffart glauben, daß fortgeschrittene Leute sich mit nichts anderem beschäftigen müssen, als was unmittelbaren, praktischen Nutzen bringt. Hinsichtlich der Förderung der materiellen Wohlfahrt der Menschheit haben die Bayreuther Festspiele allerdings keine Bedeutung, aber dafür eine um so größere und unvergängliche im Sinne des Strebens nach künstlerischen Idealen. Ob Richard Wagner recht getan hat, indem er im Dienst seiner Idee bis zum Äußersten gegangen ist, ob er das Prinzip des ästhetischen Gleichgewichts vernachlässigt hat und ob die Kunst noch weiter auf demselben Wege, den er als Ausgangspunkt bezeichnet, fortschreiten wird, oder ob der Nibelungenring zugleich den Punkt bedeutet, von dem aus die Reaktion beginnen wird – wer wollte das heute entscheiden? Sicher ist nur, daß sich in Bayreuth etwas vollzogen hat, woran sich noch unsere Enkel und Urenkel erinnern werden.
Wenn ich als Musiker von Profession nach der Aufführung der einzelnen Teile der Tetralogie das Gefühl vollständiger geistiger und physischer Erschöpfung empfand, wie groß muß da die Ermattung der zuhörenden Dilettanten sein? Es ist wahr, daß die letzteren sich weit mehr mit den Wundern beschäftigen, die auf der Bühne vorgehen, als mit dem im Schweiße seines Angesichts in seiner Vertiefung unermüdlich arbeitenden Orchester und den Sängern; aber man muß doch annehmen, daß Wagner seine Musik komponiert hat, damit sie angehört wird und nicht als etwas Nebensächliches. Der Musiker urteilt eben über die Musik, und der Dilettant erfreut sich an den Dekorationen und den Verwandlungen, den Drachen und Schlangen, den schwimmenden Rheintöchtern und anderem. Da er meines Erachtens ganz unfähig ist, aus diesem Meer von Tönen sich einen musikalischen Genuß zu schöpfen, aber an einer blendenden Ausstattung der Szene Vergnügen findet, so vermischt er den letzteren Eindruck mit dem musikalischen und sucht nun sich und anderen einzureden, daß er die Schönheiten der Wagnerschen Musik vollständig erfaßt habe.
Ich machte die Bekanntschaft eines russischen Kaufmanns, der mir versicherte, daß er in der Musik niemanden außer Wagner anerkenne. »Aber kennen Sie denn alle anderen?« fragte ich ihn, und da stellte sich heraus, daß mein lieber Landsmann von der Musik überhaupt gar keinen Begriff besaß, aber dafür das Glück hatte, mit dem berühmten Meister persönlich bekannt zu sein und zu seinen Abendgesellschaften geladen zu werden. Und da er sich durch diese Bekanntschaft ungewöhnlich geschmeichelt fühlte, so hielt er es für seine Pflicht, alles zu verwerfen, was Wagner selbst nicht anerkennt. Solcher Wagnerverehrer gibt es leider sehr viele, und das macht einen traurigen Eindruck. Allerdings hat der Meister eine große Anzahl begeisterter und aufrichtiger Verehrer, auch unter den Musikern von Fach; aber diese sind zu bewußtem Enthusiasmus auf dem Wege des Studiums gelangt, und wenn Wagner in seinem Streben nach seinem Ideal moralisch unterstützt werden kann, so geschieht es durch die warme Ergebenheit dieser Leute. Es wäre nur interessant, zu erfahren, ob Wagner sie von der Schar falscher Verehrer und besonders Verehrerinnen, die ebenso unwissend wie unduldsam gegen Andersmeinende sind, zu sondern versteht. Ich wiederhole, daß ich Gelegenheit hatte, in Bayreuth vielen trefflichen Künstlern zu begegnen, die der Wagnerschen Muse unbedingt ergeben sind, und an deren Aufrichtigkeit zu zweifeln ich keinen Grund habe; eher will ich zugeben, daß ich aus eigener Schuld noch nicht zu vollem Verständnis der Wagnerschen Musik gediehen bin und daß ich nach fleißigem Studium derselben vielleicht später einmal mich dem Kreise der Wagnerianer pur sang anschließen werde. Heute sage ich ganz aufrichtig, daß der Nibelungenring auf mich einen erdrückenden Eindruck gemacht hat, nicht so sehr durch seine musikalischen Schönheiten, die er vielleicht in zu reicher Fülle enthält, als durch seine riesenhaften Dimensionen.
Ein solches Riesenwerk verlangt auch gewaltige Talente zu seiner Ausführung. Um eine Partie zu singen, wie die des Wotan oder Siegfried, muß man in der Tat ein Riese sein, und da solche Sänger und Sängerinnen nicht aufzutreiben waren, so stand niemand, vielleicht mit Ausnahme der Wiener Primadonna Materna als Brunhilde, auf der Höhe seiner Aufgabe. Das bezieht sich übrigens nur auf die Darsteller der Götter und Riesen; die Rollen der Zwerge, die keine so außergewöhnlichen Kräfte erfordern, die Rheintöchter, überhaupt alle Partien zweiten Ranges waren ausgezeichnet besetzt. Besonders gut war Mime als Sänger wie als Schauspieler. Das Orchester war über alles Lob erhaben. Der Männerchor, der im letzten Teile der Tetralogie episodisch erscheint, war so vorzüglich, daß er, ungeachtet seiner geringen Stärke, das Orchester übertönte.
Nun will ich zum Schlusse sagen, was ich zu guter Letzt aus dem Bayreuther Festspielhause mit heimgenommen habe: 1. Eine verwirrte Erinnerung an zahllose überraschende Schönheiten, besonders symphonischer Natur, was sehr sonderbar ist, da Wagner am allerwenigsten darauf ausgeht, eine Oper in symphonischem Stil zu schreiben; 2. eine ehrfurchtsvolle Bewunderung für das ungeheure Talent des Dichterkomponisten und seine Technik; 3. den Zweifel an der Richtigkeit von Wagners Ansicht über das Wesen der Oper; 4. wie schon erwähnt, das Gefühl großer Ermattung, aber auch den Wunsch, das Studium dieser kompliziertesten aller jemals geschriebenen Tonschöpfungen fortzusetzen.
Mögen manche von Wagners Theorien irrig und ziellose Don-Quijoterien sein, mögen viele Stellen des Nibelungenrings langweilig, unklar und unverständlich sein in textlicher und harmonischer Hinsicht und es der kolossalen Arbeit vielleicht beschieden sein, im verödeten Bayreuther Festspielhause im ewigen Schlaf zu ruhen: niemand wird die Größe der von Wagner gelösten Aufgabe und das Ungewöhnliche der Geisteskraft ableugnen, das eimnal Begonnene zu Ende zu führen und so einen der großartigsten künstlerischen Pläne zu verwirklichen, der jemals dem Kopfe eines Menschen entsprungen ist.
Als der Schlußakkord der letzten Szene des letzten Teiles der Tetralogie verklungen war, wurde Wagner vom Publikum hervorgerufen. Er kam und hielt eine kleine Rede, die mit folgenden Worten schloß: »Sie haben nun gesehen, was wir können, jetzt brauchen Sie nur zu wollen, und wir haben eine deutsche Kunst.« Ich überlasse es dem Leser, sich diese Worte zu erklären, wie es ihm gefällig ist, und will nur bemerken, daß sie im Publikum einen gewissen Zweifel hervorriefen. Einige Augenblicke war alles lautlos. Darauf neue Beifallsrufe, aber weit weniger begeistert als vor dem Erscheinen des Meisters. Ich glaube, die Mitglieder des Pariser Parlaments weiland verfuhren ebenso, als Ludwig XIV. ihnen die berühmten Worte zurief: » L'état c'est moi!« Zuerst wunderten sie sich schweigend über die Größe der ihnen zugemuteten Aufgabe, dann erinnerten sie sich, daß der Sprecher ein König sei, und riefen: » Vive le roi!«