Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III

»Wir sprechen immer von da unten!« sagte er. »Haben wir eigentlich keine andern Sorgen?« »Wenn ich mich mit Ihnen unterhalte«, sagte ich, »das ist wie Klatsch. Man plätschert behaglich in dieser dicken Suppe – Sie wissen immer so schön, wie ichs meine ... mit jedem kann man das nicht.« »Danke«, sagte er. Wir saßen an der Selbstleber-Ecke; von hier war es einigen Verdrehten gelungen, wieder ins Leben zurückzuspringen – ein Verzweiflungsakt, der nur alle paar Jahre einmal vorkam. Ein gewisses Astrallicht zitterte um uns. Ich fing wieder an. »Ich muß sie etwas fragen«, sagte ich. Er nickte zustimmend. »Kennen Sie den Haß der Nähe?« »Sie meinen: die Geschichte mit der Ehe. Ich war vierzehn Jahre ...« »Nein, das meine ich nicht«, sagte ich. »Es ist etwas Andres. Passen Sie auf: Der Rennreiter steht an den Tribünen, das Pferd ist abgesattelt, er hat gewonnen, ist sauber gebadet und schön massiert, er ist guter Laune. Bei ihm steht sein Freund, der Bücherschreiber. Dem will er ein gesellschaftlich passendes Wort sagen. ›Habe gestern das neue Buch von Agnes Günther gelesen‹ sagt er, ›ein sehr schönes Buch!‹ Aber da kommt er an den Rechten. ›Was!‹ sagt der bücherschreibende Freund, ›ein schönes Buch? Die Günther und ein schönes Buch? Na, hören Sie mal ... das ist der hundsgemeinste Kitsch, der mir jemals ...‹ Der Rennreiter ist ganz erschrocken. Was ist das? Er hat doch nur eine belanglose Phrase sagen wollen, irgend etwas Verbindlich-Unterhaltsames – ihm ist das Buch in Wirklichkeit völlig gleichgültig ... Und der Andre schäumt. Er zitiert Agnes Günther und Erika Händel-Manzonetti und Waldemarine Bonsels, und was Sie wollen! Und schäumt und geifert und tobt und ist ganz befangen in seinem Kram ...« Ein älterer bebarteter Geist huschte vorüber, murmelte etwas von »überwertiger Idee«, bekam einen Meteorstein ins Kreuz und verschwand. Ich fuhr fort: Und umgekehrt ist es genau so. Der Literat besichtigt die Maschine des Ingenieurs, wird in der Fabrik herumgeführt ... Und sagt: ›Hübsche Maschine das –!‹ Der Ingenieur lächelt, zunächst nachsichtig. ›Das ist eine belanglose Sache, lieber Freund!‹ antwortet er. ›Um Ihnen die Wahrheit zu sagen: der größte Dreck des Jahrhunderts. Unpraktisch, total verbogen, unmöglich.‹ Und dann schnurrt er Zahlenreihen ab, daß dem Besucher ganz himmelangst wird, er beschimpft seine Konkurrenten und lobt versteckt sich, preist Amerika und spielt das russische Spiel: Napleratj na wsju Ewropu! Spuck auf ganz Europa ... Und der Literat steht da, verdutzt, vor den Kopf gehauen und kann sich diesen Eifer gar nicht erklären ...« »Ja«, sagte er. »Das kenne ich.« »Woher kommt es –?«, sagte ich. »Niemand kann sich einen Passanten vorstellen«, sagte er. »Alle glauben, man kenne die Hintergründe, wisse, wie es gemacht wird, sehe die Sache auch von hinten an, gewissermaßen. Aber dem Vorübergehenden ist das ja alles so völlig gleichgültig, so ganz und gar gleichgültig. Er will nichts als die Resultate. Er geht ebenso vorbei, pickt sich hier ein Körnchen und da, etwas Wissen, Unterhaltung, Anschauung – mögen die sich da die Knochen zusammenschlagen! Und wie sie schlagen! Sie packen ihren ganzen Hauskram aus, sie erzählen Einzelheiten, berichten, wie es zustande gekommen ist, und wie es hätte werden müssen ... Sie sind nicht zu halten. Wie sie sich hassen, die Nahen –!« »Sind Sie mal in einen fremden Familienzank hineingeraten?«, sagte ich. Er horchte auf. »Die heißen Köpfe, die roten Gesichter, der Eifer, dieser Übereifer, diese für den Fremden ganz unverständliche Kraft des Hasses, der Abneigung ... Welch ein Aufwand! Welch tönendes Geschrei!« »Nah sind sie sich«, sagte er. »Sie rächen sich für die Nähe – sind sich verwandt, gruppenweise, Alle miteinander. Sie hassen sich im Nebenmann, drum herum liegt die ganze große Welt, sie sehen sie nicht – sie können sie nicht sehen. Es sind Generale fürs Spezielle. Man möchte sie herausheben und zur Abkühlung etwas hochhalten. Wer, ich bitte Sie, wer sieht über weite Strecken, wer sieht die Welt, wer sieht Alles –?« In der Ferne zuckt eine Lichtschneide auf, es murrte schwach, wir sagten nichts mehr.

Er lachte noch, als wir schon längst wieder allein waren. »Das war wie auf einem Theater!« sagte ich. »Haben Sie das gesehn?« sagte er. »Sein Gesicht? Der Ausdruck in den erstaunten Augen? Der ganz verdutzte Kerl? Es war herrlich.« Sie hatten einen Ehemaligen eingeliefert, der frisch angekommen war, einen gut bezahlten Schreiber von da unten, sie nennen es wohl höheren Beamten oder dergleichen. Der hatte sein Lebelang in einem Teich von Wichtigkeit gepatscht, er troff noch davon, als er ankam. Und nun traf er da auf seine alten Freunde, und die klärten ihn ein bißchen auf, wie es denn nun mit ihm in Wirklichkeit da unten bestellt gewesen sei, sie hatten ihm die Wahrheit gesagt, die volle persönliche Wahrheit ...

»Er hats erst gar nicht geglaubt!« sagte er. »Haben Sie das bemerkt? Dann traf es ihn wie ein Starkstrom. Er ist noch ein zweites Mal gestorben, glauben Sie? Jetzt ist er ganz hin.« »Es ist nicht sein Fehler«, sagte ich. »Wie?« sagte er. »Es ist nicht sein Fehler? Natürlich ist es sein Fehler!« »Es ist nicht sein Fehler«, sagte ich. »Er ist so eingerichtet. Wir waren es auch.« Die Wolke, auf der wir saßen, trieb rasch seitwärts, es war ein unbehagliches Gefühl; wir sprangen auf eine andre, solidere, die leise schwankte. Irgendeine Sonne erhellte sie sanft von unten her. »Ich weiß nicht recht, was Sie meinen«, sagte er. »Ich meine«, sagte ich, »daß er nichts dafür kann. Sehen Sie einmal: Man sagt immer: wenn Menschen wüßten, was über sie gesprochen wird ... Das ist dumm. Was wird denn schon gesprochen? Es wird geklatscht, Verleumdungen werden gesagt, Lügen, Konkurrenzlügen, Eifersuchtslügen, Selbstberuhigungslügen, Neidlügen – das ist nicht sehr interessant, und häufig erfahren es die Besprochenen ja auch. Nein, das ist es nicht. Aber wie über sie gesprochen wird, wie über alle gesprochen wird – das ist es!« »Und wie wird über alle gesprochen?« sagte er. »Jeder Mensch«, sagte ich, »kann nur leben, wenn er sich ernst nimmt. Verzweifeln kann er, leiden kann er, gegen sich wüten kann er – aber Verzweiflung, Leid, Wut muß er ernst nehmen. An seiner Wohnungstür steht: Schulze; Sie, das glaubt er sich! Er glaubt: hier wohnt Schulze, Schulze bin ich – die Sache ist in Ordnung. Sie ist aber nicht in Ordnung. Wenn er wüßte ...! Wenn jeder wüßte, wie die andern von ihm sprechen: durch die Nase, achselzuckend, unter der Hand, nach der Melodie: Ach, der –! Haben Sie einmal mitangehört, wie diese Summe von: Geburt, nassen Windeln, sexueller Not, Verliebtheit, Ansätze des kleinen Lebenswerks, das Lebenswerk selbst, und bestände es auch nur im Erringen einer Position beim Magistrat, Wirken und Arbeit, Arbeitsnächte und Erholungstage im Herbst, wie diese unendliche Summe, die jenem das Gefühl seiner ernsten Sicherheit gibt, von andern abgetan wird? Man kann den Namen an der Wohnungstür aussprechen ... man braucht nur die Stimme singend etwas fallen zu lassen, so: Schulze ...! und der Kurswert des Mannes ist auf Null. Es sind alles Papiere, die noch gar nicht wissen, daß sie unter pari stehen. Da werden zweierlei Notierungen vorgenommen: das Werk notiert sich selber: große Hausse – aber gewandelt wird es ganz anders, ganz anders. Die letzte Selbstachtung ginge in die Binsen, hörten sie es mit an.« »Aber sie hören es zum Glück nicht mit an ...!« sagte er.

Jetzt war das Licht von unten stärker geworden; wir hockten da wie die Weihnachtsengel auf einer Photochromansichtskarte. »Nein, sie hören es nicht. Das ist nicht nur ihr Glück«, sagte ich. »Es ist eine der Hauptbedingungen ihres Lebens. Sie könnten gar nicht leben, hörten sie es. Sie könnten nicht leben, wüßten sie, wie die andern von ihnen sprechen. Sie haben zwar so eine dumpfe Ahnung, als sei das alles Schwindel: das Gummigrinsen der Begrüßung, die teilnahmsvollen Fragen nach Arbeit, Miete, Frau und der werten Gesundheit – Aber sie klammern sich ja doch an diesen Korken der Konvention, es ist das schönste Gesellschaftsspiel. Sie nehmen es ein wie Medizin. Hörten sie –! Wüßten sie –! Sie gingen zu tausenden ein, sie müßten eingehen, wer kann so leben, wenn er weiß, wie vergeblich, wie nichtig, wie wenig es ist im Grunde –!« »Wer?« sagte er. »Ein ganz Starker.« »Nein«, sagte ich. »Auch ein ganz Starker braucht die Lüge, grade der. Doch Haß ist Anerkennung, Kampf Hochachtung, Neid Balsam für die Seele. Aber eins kann keiner vertragen, das ist ein kleiner Tod.« »Was?« sagte er. »Verachtung –« sagte ich. »Keiner weiß, wie er verachtet wird, sonst könnte er nicht leben. Er wird verachtet, sonst könnten die andern nicht leben.« Die Wolke schimmerte nunmehr blutrot, von unten müssen wir schön ausgesehen haben. Es gab aber kein Unten, es war niemand da, der uns auslachen konnte, und so segelten wir froh dahin.

 

»Kennen Sie das Entzücken an der erotischen Häßlichkeit?« fragte der Dritte. Er war plötzlich da, hatte kaum Guten Wolkentag gesagt, er saß mit uns, neben uns, aber die Beine ließ er nicht baumeln, das hätten wir uns auch schön verbeten. Mit den Beinen baumelten nur wir. Wir warfen beide mit einem Ruck die Köpfe herum und starrten ihn an. »Die Freude an der Häßlichkeit? von Frauen?« sagte der Dritte noch einmal. Darüber war hier noch nie gesprochen worden; eine fast asketische Scham hatte uns gehindert, uns über das Allerselbstverständlichste auszusprechen. »Zeig mal, wie ist das bei dir –?« sagen die Kinder, als sei der andre ein fremder Erdteil. Warten stand in der Luft; wir mußten etwas sagen; wir konnten nichts sagen. Der Dritte ignorierte eine Antwort, die nicht gegeben worden war, und fuhr fort: »In Gerichtsverhandlungen haben sie oft dem fein gebildeten Angeklagten vorgehalten, er habe mit der eignen Reinmachefrau ein Verhältnis gehabt, es hörte sich an wie Vorwurf der Blutschande; habe er sich denn nicht geekelt? mit einem so tiefstehenden Geschöpf? so unter ihm? wie? Sie hatten das wohl nie gespürt, sonst hätten sie nicht so dumm gefragt. Daß plötzlich eine Figur aus der einen Sphäre in die andere gezogen wurde, was Freude am Spiel bedeutet: so, wie wenn einer auf einer Flasche bläst oder mit einem Violinbogen ficht oder – spaßeshalber – Hanfgras raucht. Man kann Hanfgras rauchen, dazu ist es unter anderm auch da, wenn Sie wollen, man tut es nur gemeinhin nicht. Aber auf einmal zuckt in einem das Spiel.« Wir sahen uns an, mit jenem unausgesprochenen Tadel im Blick, der blitzschnell den andern verrät, die Einheitsfront von zweien gegen den Dritten herstellt, einig, einig, einig. Ich gab ein vorsichtiges Räuspern von mir, wie die Einleitung zu einer Einleitung ... Der Dritte ließ es nicht dazu kommen. »Man fällt so tief«, sagte er, – »oh, so tief. Schlaffe Brüste, graue Wäsche, ein dummes Lachen, meliertes Haar, eine kommune Bemerkung, weit unter allem möglichen; verbildeter Körper, geweiteter Nabel, glitzernde Augen, die das Glitzern nicht gewohnt sind ... so tief sinkt man. Man wühlt sich in das Unterste hinein, man verachtet sich und ist stolz auf diese Verachtung und böse auf diesen Stolz. Nägel sitzen im Fleisch, die man immer tiefer hereintreibt, wissen Sie. Es ist, wie wenn einer Pfützen aufleckt. Noch tiefer hinab, noch schmieriger, ja, ich gehöre zur Vorhölle, ich kann gar nicht tief genug fallen, da habt ihr mich ganz und gar, streck dem Kosmos die Zunge heraus, so, die breite, gereckte, dicke Zunge –« Der Dritte schwieg. Da sprachen wir zum erstenmal. Ich sagte: »Und nachher?« Auch er, mit dem ich dergleichen nie besprochen hatte, war mit von der Partie. »Armer«, sagte er. »Und nachher?« Der Dritte sah uns voll an, er schaffte es, wir waren gegen ihn nur einer. »Nachher –« sagte der Dritte. »Ich bin kein Armer. Ich bin reich – mir konnte nichts geschehen, nachher. Ich ging wieder im Licht, war emporgetaucht, die Scham hatte ich heruntergeschluckt und abgewaschen, sie war nicht mehr da. Ich brauchte nicht zu beichten, jeder meiner Blicke beichtete, aber sie sahen es nicht. Ich fühlte mich sicher, weil ich den moorigen Untergrund kannte, ich strauchelte nicht, ich fiel nicht, ich nicht. Ich war wie eine Bank: das war mein Aktienkapital für die Reserve, damit arbeitet man nicht alle Tage, aber es steht hinter einem, und es ist da. Man kann darauf zurückgreifen, wenn es not tut. Und es tut manchmal not, und wenn es soweit ist, dann ist da wieder dieser ungeheuerliche Sturz zwischen fünf Minuten vor acht, wo du telephonierst, bis um dreiviertelzehn – du fällst und steigst: mit eingezogenen Schwingen, die Süßigkeit der Säure auskostend, das Licht des Drecks, die tausend Tasten einer Orgel, von der nun die untersten, selten benutzten Bässe anklingen, so dumpf, daß das Ohr sie kaum noch hören kann. Herauf und herunter, herauf und herunter: ein Luzifer und ein Dunkelheitsbringer, ein Adler und ein Wischlappen, ein Höhenflieger und ein Tauchervogel. Man fällt so tief. Womit ich Ihnen einen schönen guten Abend zu wünschen die Ehre habe.« Weg war der Dritte. Ich sah ihn an ... »Man muß sich«, sagte er, »die Zelle weit träumen, in die man eingesperrt wird. Sonst hält man es nicht aus. Wissen Sie, was er uns beschrieben hat?« – »Nein«, sagte ich; »was?« »Dauerlauf an Ort«, sagte er. »Eine sehr gesunde Übung.«

Wir saßen auf der Wolke und ließen etwas baumeln, was man als Beine ausgeben konnte – lange. »Er hat einen neuen Meteorstein gemacht«, sagte er. »Sie können sich diesen Stolz nicht vorstellen, diese Schöpferfreude! Diese Gehobenheit! ›So aus dem Nichts ...‹ waren seine Worte. ›Und jetzt: ein Stein!‹ Als ob es das erste Mal wäre! Wie lange hat er dieses Metier nun schon? Können Sie das verstehen?« – »Er ist naiv«, sagte ich. »Wer etwas schafft, muß daran glauben. Er schöpft freilich mit der Kelle aus einem Riesenbottich, nach einiger Zeit fällt das Geschöpfte, das Geschaffene wieder zurück ... Aber er hat Freude an Sachen. Ich begreife diese Freude schon. Haben Sie sie nie empfunden?« Er horchte angestrengt von mir fort: offenbar auf Ätherwellen, deren Klang noch niemand erlöst hat; pfeifend, wie die Kobolde heulten sie dahin, durchaus bereit, zur Neunten Symphonie zu werden, wenn es ihnen einer befahl, unglücklich ob ihrer ungebärdigen Freiheit. Sie verklangen. »Haben Sie niemals Freude an Sachen empfunden?« sagte ich. Er wandte sich mir zu. »Ich? Nie!« sagte er. »Doch«, sagte ich. »So: Alle Männer haben sie an sich, diese Freude. Wenn wir eine Seifenhülse leer gewaschen hatten, waren wir stolz darauf wie auf ein gutes Werk. Diese mit dem Weltall einverstandene Miene, wenn einer die leere Schachtel fortwarf: in Ordnung. Sauber. Gut aufgebraucht. Eine neue. Waren Sie kein Pedant? Die letzte Feder verbraucht, eine Flasche Haarwasser zu Ende gespritzt, ein kleines Pappblatt mit Kragenknöpfen abgelegt – welche Gehobenheit! es ist etwas geschehen! winzig kraucht eine minime Eitelkeit vom Magen zum Hirn empor: ich war tätig. Das gleiche befriedigende Gefühl, wie wenn in der Schule eine Rechenaufgabe mit Null aufging. Saldo. Bilanz. Fertig. Wir waren uns in diesem Augenblick so einig mit dem All.« »Ich war ein Pedant«, sagte er. »Das ist wahr. Ich habe die Sachen geliebt, weil sie so schön geduldig waren, so still; wenn man es geschickt anfing, beherrschte man sie vollkommen. Zeitweise regierten sie uneingeschränkt; das war, wenn man nichts andres vorhatte; wenn keine Geldnot war, keine ungeduldige Frau, kein fressender Schmerz, keiner über die Ehe; über die eigne Gefühllosigkeit beim Tode eines Freundes, welchen Ärger man sehr schön als Ergriffenheit ausgeben konnte – wenn alles still war ... Aber manchmal –« »Manchmal –?« sagte ich. »Manchmal«, sagte er, »hatten wir gar keine Sachen. Vergessen die Krawatten, nicht beachtet die Schuhleisten, unangesehen die Aschbecher, übergangen die Türschwellen – es war nichts mehr da. Da sind wir dann einem Ziele zugestürmt.« »Wie bitte?« sagte ich. »Einem Ziele zugestürmt«, sagte er. »Ich bin länger hier oben als Sie – ich weiß, daß wir nicht mehr wollen. Manchmal wollte ich, noch wollen zu können. Sehen Sie, darum liebten wir die Sachen: sie wollten nicht, sie taten nicht mit, stumm ruhten sie am Strom unseres Willens; und vorüber strömte der Fluß der Energien, das Leben brandete an den Ufern der Hosenstrecker, vorbei, wo einsame Kleiderbügel ragten ... An ihnen konnte man die Geschwindigkeit des eignen Strudels ermessen. Und sie ließen sich beherrschen –« Nun raste eine Flottille erkälteter Pfiffe über uns dahin; es ächzte in der Materie, akustischer Urschlamm tobte über uns hinweg, bereit, den nächsten Empfänger zu zertrümmern ... »Hören Sie das ...« sagte er. »Ich kann das nicht hören«, sagte ich. »Ohren ordnen – dies müßte man ungeordnet aufsaugen, Menschen sind mit der Ordnung verbundene Wesen. Woher also«, sagte ich, »der Stolz, wenn etwas so Dummes fertig gemacht war wie der Schlußverbrauch einer Seifenschachtel?« »Weil Männer«, sagte er, »wenn sie etwas taugen, Jungen sind; Schüler sind sie, Musterschüler oder Mittelschüler oder bewußt schlechte Schüler, auf alle Fälle unsagbar eitel auf die gute oder schlechte Leistung. Wenn auf dem Schreibtisch kein Schnitzelchen Papier mehr liegt; wenn alles abgeblasen ist; wenn das Bett in kantiger Weiße strahlt, die Badewanne trocken blitzt, die Lampen sanft brennen –: es gibt keinen Mann, der dann nicht wie der König der Sahara durch sein kleines Reich schritte, Wüstenkönig ist der Löwe – und dieser ist sogar noch stolz auf die Leistung der andern. Wer kann ganz und gar ermessen, wie unsagbar simpel wertvolle Männer sind –!« »Ich weiß nur«, sagte ich, »wer es nicht weiß. Wer sie für dumm und unschlau hält, für unlistig, also für belächelnswert – wer also auch anders, ganz anders zu den Sachen steht; wer die Sachen wirklich besitzt, eigentumsgierig, oberflächlich, abstrakter, happig-abweisend ... wer sie hätschelt oder herumstößt, aber nicht liebevoll-väterlich zu ihnen sein kann; wer einseitiger Besitzer ist, nichts kommt von den Sachen zurück – wer die Sachen hat, ohne sie je zu haben.« »Wer?« sagte er. Leise ließ ich mich von der Wolke fallen, sacht glitt ich dahin, durch ungebärdig flackernde Töne, durch Schwingungen, die noch nicht wußten, ob sie Ton oder Licht werden sollten; ich entschwand ihm, ohne zu antworten, vielleicht hätte ihn die Antwort gekränkt, und ich behandelte ihn zart. Zart wie eine Frau.

Wir hatten etwas Neues erfunden: wir fuhrwerkten Ihm in Sein Wetter, und Er war ganz verzweifelt. Hatte Er südöstlichen Regen mit leichten Erdbeben angesagt, so zogen wir des Nachts vorher hin und stellten das Erdbeben ab, und am nächsten Morgen war große Verwirrung: Er schimpfte auf den Barometer, und in den Erdbebengebieten sanken die Aktien der katholischen Kirche beträchtlich. Seit Er sich darauf versteift hatte, nach dem Kriegsende das Wetter durchgehend schlechter zu machen, nahm unser Unfug kein Ende. Es war eine schöne Zeit. Wir hatten Seinen Barometer grade so durcheinandergebracht, daß es einem schon leid tun konnte, und nun ruhten wir uns von getaner Arbeit aus: sanft mit den Beinen baumelnd und gelöst vergnügt, wie wir es da unten nie gewesen waren ... »Haben Sie«, sagte er plötzlich, »eigentlich immer alles gesagt –?« »Ich habe vieles gesagt«, sagte ich, darunter auch manchmal das, was ich wirklich meinte. Aber immer –?« »Immer«, sagte er, »und alles, darauf kommt es an. Haben Sie zum Beispiel alles über Ihre Freunde zu Ihren Freunden gesagt, über die, die Sie umgaben, die, die Sie umgaben?« – »Wie hätte das sein können?« sagte ich. »Von den engeren Freunden will ich gar nicht einmal reden – Freundschaft beruht darauf, daß eben nicht alles gesagt wird, nur so ist Beieinandersein möglich. Das ist nicht Lüge, das ist etwas Andres?« »Aber sonst –« »Nun, sonst?« sagte er. »Ich habe nicht alles gesagt!« sagte ich. »Manchmal bin ich fast daran geplatzt. Aber ich hätte von Bruno sagen müssen, er sei im Grunde ein sattgefressener Versorgter, der nur so lange mit unsereinem umgehe, wie er beneiden oder verachten könne, von ihm aber dürfe man nichts wollen, nicht das Kleinste; und von Willi, daß er ein tragischer Schlemihl sei, dessen Unglück darin bestehe, das Unglück durch seine bloße Existenz herbeizulocken, einer jener vielen, die nichts dafür können ...; und von Hanno, daß seine Carrière uns dazu verleitet, den Blitz der Götter herabzuflehen, nur, damit jener doch ein Mal in seinem Leben einen auf's Dach bekäme; und von Oskarchen, daß er Sitten und Gebräuche eines kleinen Provinzlers sein eigen nenne, und daß der Umgang mit ihm nicht heiter sei; und von Lenchen ...« – »Allmächtiger!« sagte er, »welche Liste –!«

»Rufen Sie Ihn nicht beim Namen!« sagte ich. »Sie wissen, daß Er es nicht mag.« Wir lauschten. In der riesigen Weltennacht regte sich nichts, unser Streich war geglückt. Er würde morgen große Augen machen ... »Welche Liste!« sagte er. »Und mit denen sind Sie umgegangen? Denn es waren immerhin Ihre nächsten Leute!« »Ich hatte keine andern«, sagte ich. »Andre hätten mir auch gar nichts genützt. Aber ich habe es ihnen nicht gesagt, das da.« »Und warum nicht –?« sagte er. »Weil«, sagte ich, »man so nicht leben kann – mit der Wahrheit in der Hand. Sie vertragen es nicht. Sie leben von der Lüge, von einer eingebildeten Überlegenheit, von dem Glauben, sie würden geachtet, während sie in Wirklichkeit nur benutzt, ausgenutzt, ignoriert und geduldet sind. Sag ihnen, wie du wirklich über sie denkst, wenn ein Brief von ihnen ankommt – und alles ist aus.« »Und«, sagte er, »haben es Ihnen die andern gesagt, das Wahre –?« Ich sah ihn betroffen an. »Nein«, sagte ich. »Doch – ich glaube – ja. Ich denke ... ja. Wie?« »Und«, sagte er, »woraus leiten Sie Ihre Überlegenheit her, die Legitimation, so herablassend auf alle andern zu sehen, so vernichtend zu urteilen, die witzige Scheidung: Ich und die andern zu machen – woraus leiten Sie es her – ?« »Daraus, daß ich lebte«, sagte ich. Nun sprach er nicht mehr, und wir warteten auf den jungen Morgen.

 

*

Die in diesem Band vereinigten Nachher-Geschichten von Kurt Tucholsky erscheinen mit freundlicher Genehmigung der Rowohlt-Verlags G.m.b.H., Hamburg; Frau Mary Tucholsky hat dankenswerterweise die Sammlung durch einige, bisher noch nicht in Buchform veröffentlichte Beiträge ergänzt. Alle Rechte an dieser Ausgabe sind dem Georg Büchner Verlag, Darmstadt und Düsseldorf, vorbehalten. Die Gesamtherstellung erfolgte durch die Zentraldruckerei Wust & Co., Düsseldorf.

 

Im Rowohlt-Verlag, Hamburg, erschienen folgende Werke des Dichters: Schloß Gripsholm Gruß nach vorn – Na und? Und überhaupt – Rororotucholsky – Panter, Tiger u. Co. Ein Pyrenäenbuch


 << zurück