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… Ja, ja, fing Peter Gavrilowitsch an, das waren schwere Tage und ich möchte sie in der Erinnerung nicht noch einmal durchleben … Aber, ich habe Ihnen mein Versprechen gegeben; ich muß Ihnen Alles erzählen. Hören Sie:

 

Erstes Kapitel

Ich lebte damals (im Jahre 1835) in Moskau bei einer Tante, der leiblichen Schwester meiner verstorbenen Mutter. Ich war achtzehn Jahre alt und war eben auf der Moskau'schen Universität aus dem zweiten in den dritten Cursus der Facultät der »Literatur« (so wurde sie damals genannt) übergetreten. Meine Tante war eine stille sanfte Frau und Wittwe. Sie bewohnte auf der Ostoshenka ein großes hölzernes Haus, das so warm war, wie man es, glaube ich, nur in Moskau finden kann und hatte fast gar keinen Umgang. Sie saß vom Morgen bis zum Abend mit zwei Gesellschafterinnen im Gastzimmer, trank Blumenthee, legte patience aus, und ließ fortwährend räuchern. Die Gesellschafterinnen liefen in das Vorzimmer; einige Minuten darauf brachte ein alter Livreediener im Frack ein messingenes Becken mit einem Büschel Krausemünze auf einem glühend gemachten Ziegelsteine herein, ging damit eiligen Schrittes über die schmalen Teppichstreifen und begoß sie mit Essig. Weißer Dampf umgab das faltige Gesicht des Alten, er runzelte die Stirn, wendete sich ab und ein Kanarienvogel schmetterte im Speisezimmer, aufgestört durch das Zischen der Räucherung.

Meine Tante liebte mich vater- und mutterlose Waise sehr, und verwöhnte mich. Sie stellte den ganzen Entresol völlig zu meiner Verfügung. Meine Zimmer waren vortrefflich, und gar nicht studentenmäßig eingerichtet; im Schlafzimmer prangten rosenrothe Vorhänge und über dem Bette erhoben sich Mousseline-Gardinen mit blauen Rosetten. Diese blauen Rosetten, ich gestehe es, brachten mich einigermaßen in Verlegenheit: meinen Begriffen nach mußten dergleichen »Zartheiten« mich in den Augen meiner Kameraden vernichten. Ohnehin nannten sie mich das Stiftsfräulein: ich konnte mich durchaus nicht daran gewöhnen, Tabak zu rauchen. Ich arbeitete – wozu sollte ich die Sünde verhehlen – nur wenig, besonders im Anfang des Cursus; ich fuhr viel aus. Meine Tante hatte mir einen breiten Generalsschlitten mit einer Decke von Bärenfell und einem Paar wohlgenährter Wjatka'scher Pferde geschenkt. »Adelige« Häuser besuchte ich selten, aber im Theater war ich ganz zu Hause, und in den Conditoreien verzehrte ich eine Unmasse von Kuchen. Bei alle dem erlaubte ich mir nichts Ungebührliches, und führte mich bescheiden auf » en jeune homme de bonne maison.« Ich hätte meine gute Tante für Nichts in der Welt betrüben mögen; und zudem floß das Blut ziemlich ruhig in meinen Adern.

 

Zweites Capitel

Von der frühesten Jugend an faßte ich eine Leidenschaft für das Schachspiel; von der Theorie verstand ich Nichts, aber ich spielte nicht schlecht. In einem Café hatte ich einmal Gelegenheit, Zeuge eines langen Kampfes auf dem Schachbrette zwischen zwei Spielern zu sein, von denen der Eine ein blonder junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, mir sehr stark darin zu sein schien. Die Partie endigte zu seinen Gunsten; ich schlug ihm vor, sich mit mir zu schlagen. Er willigte ein – und im Verlaufe von einer Stunde hatte er mich drei Mal nach der Reihe niedergeworfen.

Er bemerkte wahrscheinlich, daß meine Eigenliebe darunter litt, und sagte mit höflicher Stimme:

»Sie haben Anlagen zum Schachspiele – aber Sie kennen die Züge nicht. Sie müssen das Büchlein von Allgäuer oder Petroff lesen.«

»Glauben Sie? Wo könnte ich solch ein Büchelchen bekommen?«

»Kommen Sie zu mir; ich werde es Ihnen geben.«

Er nannte sich und sagte mir, wo er wohnte. Am folgenden Tage machte ich mich zu ihm auf den Weg, und eine Woche später waren wir fast unzertrennlich von einander.

 

Drittes Capitel

Meine neue Bekanntschaft nannte sich Alexander Daviditsch Fustoff. Er wohnte bei seiner Mutter, einer Staatsräthin und ziemlich wohlhabenden Frau, in einem besonderen Flügel, in vollkommener Freiheit, gerade wie ich bei meiner Tante. Er zählte sich, wie man in Rußland sagt, im Ministerium des Hofes im Dienste. Ich schloß mich ihm aufrichtig an. In meinem Leben war ich noch keinem »sympathischeren« jungen Manne begegnet. Alles an ihm war freundlich und anziehend: seine schlanke Gestalt, sein Gang, seine Stimme und besonders sein kleines, feines Gesicht mit den goldig blauen Augen, dem kokett modellirten Näschen, dem ungemein freundlichen Lächeln um die rothen Lippen und den leichten lockigen, weichen Haaren über der etwas niedrigen, aber weißen Stirne. Der Charakter Fustoff's zeichnete sich durch eine außerordentliche Gleichmäßigkeit und durch eine eigenthümlich angenehme zurückhaltende Höflichkeit aus; er war niemals nachdenkend, immer mit Allem zufrieden; eben daher aber versetzte ihn Nichts in Begeisterung. Jedes Uebermaß, selbst in einem guten Gefühle, beleidigte ihn: »Das ist wild, wild,« pflegte er in solch einem Falle zu sagen, ein wenig mit den Achseln zuckend und mit den Augen blinzelnd. Und Fustoff hatte wunderbare Augen! Sie drückten beständig Theilnahme, Wohlwollen, und sogar Zuneigung aus. Im Verlaufe der Zeit erst bemerkte ich, daß der Ausdruck seiner Augen allein von ihrer Bildung herrührte, daß er sich auch dann nicht änderte, wenn er seine Suppe aß, oder seine Cigarre anzündete. Seine Ordnungsliebe war bei uns sprichwörtlich geworden. Es ist wahr, seine Großmutter war eine Deutsche. Die Natur hatte ihm vielseitige Fähigkeiten verliehen: Er tanzte ausgezeichnet, ritt stutzerhaft, schwamm vortrefflich; er machte Tischlerarbeit, drechselte, klebte, band Bücher ein, schnitt Silhouetten aus, malte ein Blumenbouquet in Aquarell oder Napoleon im Profil in blauer Uniform, spielte die Zither mit Gefühl, konnte eine Menge Karten- und andere Kunststücke und besaß ziemlich gute Kenntnisse in der Mechanik, der Physik, der Chemie, – aber Alles mit Maß. Nur für Sprachen hatte er kein Talent; selbst im Französischen drückte er sich mittelmäßig aus. Er sprach überhaupt wenig und nahm an unserem Studentenverkehr hauptsächlich nur durch die lebhafte Weichheit seines Blickes und seines Lächelns Antheil. Bei dem weiblichen Geschlechte fand Fustoff unbedingten Beifall; aber über diese, für junge Leute äußerst wichtige Frage, breitete er sich ungern aus, und er verdiente vollkommen den, ihm von den Kameraden verliehenen Beinamen eines »bescheidenen Don Juan.« Ich bewunderte Fustoff nicht; an ihm war Nichts Bewundernswerthes; aber seine Zuneigung war mir werth, obgleich dieselbe sich im Wesentlichen nur darin aussprach, daß er mir zu jeder Zeit Zutritt zu seiner Person gewährte. In meinen Augen war Fustoff der glücklichste Mensch auf der Welt. Sein Leben floß wie geölt dahin. Mutter, Brüder, Schwestern, Tanten, Onkel – Alle beteten ihn an; er lebte mit Allen in ungemein gutem Vernehmen, und genoß den Ruf eines musterhaften Verwandten.

 

Viertes Capitel

Eines Tages begab ich mich ziemlich früh zu ihm, und fand ihn noch in seinem Cabinette. Er rief mich aus dem Nebenzimmer an, aus welchem ein Schnauben und Plätschern an mein Ohr drang. Fustoff begoß sich jeden Morgen mit kaltem Wasser und machte darauf eine Viertelstunde lang gymnastische Uebungen, in denen er eine große Meisterschaft erlangt hatte. Uebertriebene Sorge für die Gesundheit seines Körpers ließ er nicht zu, allein das Nothwendige vergaß er nicht (»Vergiß Dich selbst nicht, rege Dich nicht auf, arbeite mit Maß,« war sein Wahlspruch). Fustoff war noch nicht erschienen, als die Thür des Zimmers, in welchem ich mich befand, sich weit öffnete und ein Mann von ungefähr 50 Jahren in einem Uniformsfrack hereintrat; er war stark, untersetzt, hatte milchigweiße Augen, ein bräunlich-rothes Gesicht und eine förmliche Mütze von grauem, krausem Haare. Dieser Mensch blieb stehen, sah mich an, riß seinen großen Mund weit auf, brach in ein lautes, metallisches Gelächter aus, und schlug sich mit der flachen Hand hinten auf den Schenkel, wobei er den Fuß hoch in die Höhe warf.

»Ivan Demjanitsch?« fragte mein Freund hinter der Thür.

»Er ist es selbst,« antwortete der Hereintretende. »Aber was machen Sie denn da? Beendigen Ihre Toilette? Ist Recht! ist Recht! (Die Stimme des Menschen, welcher Ivan Demjanitsch genannt wurde, hatte einen metallischen Klang, wie sein Lachen.) Ich beabsichtigte zu Ihrem Bruder zu gehen und ihm Stunde zu geben; aber er hat sich erkältet, niest fortwährend. Er kann sich nicht beschäftigen. Da bin ich denn einstweilen zu Ihnen eingekehrt, um mich zu erwärmen.«

Ivan Demjanitsch brach wieder in dasselbe seltsame Lachen aus, klatschte sich wieder laut auf den Schenkel, zog ein quadrirtes Tuch aus der Tasche, schnaubte sich laut, die Augen wild dabei verdrehend und schrie, in das Tuch speiend, aus vollem Halse: Tfu–u–u!

Fustoff trat ins Zimmer und fragte, uns Beiden die Hand reichend, ob wir einander kennen?

»Nein, gar nicht,« donnerte Ivan Demjanitsch sogleich hervor, »der Veteran aus dem Jahre 12 hat nicht die Ehre!«

Fustoff nannte mich zuerst und sagte dann auf den »Veteranen aus dem Jahre 12« zeigend: »Ivan Demjanitsch Ratsch, Lehrer … verschiedener Gegenstände.«

»Ja namentlich, namentlich verschiedener Gegenstände,« unterbrach ihn Herr Ratsch. »Was habe ich, wenn ich darüber nachdenke, nicht schon Alles gelehrt, und was lehre ich nicht Alles noch! Mechanik, Geographie, Statistik, italienische Buchhalterei. Ha–ha–ha–ha! und Musik! Sie zweifeln, geehrter Herr?« warf er sich plötzlich dazwischen. »Fragen Sie Alexander Daviditsch, wie ich mich auf dem Fagott auszeichne? Was wäre ich denn im entgegengesetzten Falle für ein Böhme, Czeche nämlich? Ja, mein Herr, ich bin ein Czeche, und meine Heimath ist – das alte Prag! Apropos, Alexander Daviditsch, wie kommt es, daß Sie sich so lange nicht gezeigt haben? Wir hätten ein Duo zusammen gespielt … Ha – ha! Gewiß.«

»Ich bin vorgestern bei Ihnen gewesen, Ivan Demjanitsch,« antwortete Fustoff.

»Das nenne ich eben selten, Ha–ha!«

Wenn Herr Ratsch lachte, so rollten seine Augen seltsam unruhig hin und her.

»Ich sehe, junger Mensch, daß mein Benehmen Sie in Erstaunen setzt,« wandte er sich wieder zu mir. »Das kommt daher, weil Sie mein Temperament noch nicht kennen. Erkundigen Sie sich bei unserm guten Alexander Daviditsch nach mir. Was wird er Ihnen sagen? Er wird Ihnen sagen daß der alte Ratsch ein Einfaltspinsel ist, ein Russacke dem Geiste, wenn auch nicht der Abstammung nach, ha – ha! Bei der Taufe erhielt ich den Namen Johann Dietrich und werde gerufen – Ivan Demjanoff! Was mir im Sinn ist, habe ich auf der Zunge; das Herz liegt mir, wie man zu sagen pflegt, auf der flachen Hand; alle diese verschiedenen Ceremonien kenne ich nicht, und will nichts von ihnen wissen. Gott mit Ihnen! Kommen Sie einmal gegen Abend zu mir, und Sie werden selbst sehen. Mein Weib – meine Frau, das heißt, ist auch von den Einfachen; sie wird für uns kochen und braten … ich sage Ihnen! Alexander Daviditsch, spreche ich die Wahrheit?«

Fustoff lächelte nur, und ich schwieg.

»Machen Sie nicht den Stolzen, dem Alten gegenüber, kommen Sie zu mir an,« fuhr Herr Ratsch fort. »Und jetzt … (Er zog eine dicke silberne Uhr aus der Tasche und hielt sie vor sein weit aufgerissenes, rechtes Auge) »ich glaube, ich muß fort. Ein anderer Taugenichts erwartet mich … dem lehre ich, weiß der Teufel was … Mythologie, bei Gott! Und wie weit der Erbärmliche wohnt! Beim rothen Thor! Gleichviel: werde es zu Fuß ablaufen, zumal ihr Bruder zu pipsen beliebt und den Fünfzehner im Sacke behielt! Ha–ha! Bitte um Vergebung meine Herren, auf Wiedersehen! Sie aber, junger Herr, sprechen Sie bei mir vor … Nun, was denn? … Wir müssen jedenfalls ein Duo abspielen!« rief Herr Ratsch aus dem Vorzimmer, indem er geräuschvoll seine Galloschen anzog, und zum letzten Male erschallte sein metallisches Lachen.

 

Fünftes Capitel

»Welch ein sonderbarer Mensch?« wandte ich mich an Fustoff, der schon an seiner Drechselbank beschäftigt war. »Ist er wirklich ein Ausländer? Er spricht das Russische so fließend.«

»Er ist ein Ausländer, aber bereits seit 30 Jahren in Rußland ansässig. Ein russischer Fürst brachte ihn, ich glaube gar schon im Jahre 1802, aus dem Auslande … als Secretair … wahrscheinlicher jedoch in der Eigenschaft eines Kammerdieners mit. Er drückt sich wirklich sehr kühn auf Russisch aus.«

»So reißend-schnell, mit solchen Kraftausdrücken und unerwarteten Wendungen,« fügte ich hinzu.

»Nun ja. Aber sehr gesucht. Sie sind Alle so, diese verrußten Deutschen.«

»Er ist ja aber ein Czeche?« '

»Ich weiß es nicht; vielleicht. Mit seiner Frau unterhält er sich auf Deutsch.«

»Aber warum ist er mit dem Namen eines »Veteranen aus dem Jahre 12« beehrt? Hat er denn im Heere gedient?«

»Im Heere? O nein. Er blieb während des Brandes in Moskau, und verlor sein Hab und Gut … Das ist sein ganzer Dienst.«

»Warum blieb er denn in Moskau?«

Fustoff hörte nicht auf zu drechseln.

»Gott weiß es! Es geht das Gerücht, daß er einer von unsern Spionen war; aber das wird wohl falsch sein. Daß ihm aber seine Verluste von der Krone ersetzt worden sind, ist richtig.«

»Er trägt einen Uniformsfrack … er dient also?«

»Ja. Er ist Lehrer in einem Cadettencorps und ist Hofrath.«

»Wen hat er geheirathet?«

»Eine Deutsche von hier, die Tochter eines Wurstmachers oder Fleischers …«

»Und Du gehst oft zu ihm?«

»Ja, ich besuche ihn.«

»Amüsirt man sich bei ihnen?«

»So ziemlich.«

»Hat er Kinder?«

»Ja. Er hat vier Kinder von der Deutschen und einen Sohn und eine Tochter von der ersten Frau.«

»Wie alt ist die älteste Tochter?«

»Sie ist ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt.«

Es kam mir vor, als wenn sich Fustoff tiefer über seine Drehbank beugte und als wenn das Rad unter der rhytmischen Bewegung seines Fußes sich schneller drehte und lauter schnurrte.

»Ist sie hübsch?«

»Je nach dem. Der Geschmack ist verschieden. Sie hat ein bemerkenswertes Gesicht; sie ist überhaupt – eine bemerkenswerte Persönlichkeit.«

Aha, dachte ich. Fustoff arbeitete mit besonderem Eifer fort und beantwortete meine nächste Frage nur mit einem Gebrüll.

Ich muß ihre Bekanntschaft machen, beschloß ich bei mir.

 

Sechstes Capitel

Einige Tage später begab ich mich an einem Abende mit Fustoff zusammen zu Herrn Ratsch. Er lebte in einem hölzernen Hause mit großem Hofe und Garten, in einem krummen Gäßchen an dem Boulevard von Pretschistensky. Er trat in's Vorzimmer zu uns hinaus und empfing uns mit dem ihm eigenthümlichen Lärm und prasselnden Gelächter. Er führte uns sogleich in's Gastzimmer und stellte uns Eleonore Karpowna, seiner Gemahlin, einer wohlbeleibten Dame in einem engen Camelottkleide, vor. Eleonore Karpowna hatte sich wahrscheinlich in ihrer frühesten Jugend durch das ausgezeichnet, was die Franzosen, man weiß nicht weshalb, »die Schönheit des Teufels« nennen, das heißt, durch Frische; als ich sie kennen lernte, erinnerte ihr Anblick unwillkührlich an ein gutes Stück Fleisch, das soeben von dem Fleischer auf einem sauberen, marmornen Tisch ausgestellt worden ist. Nicht ohne Absicht brauchte ich den Ausdruck »sauber«; denn nicht nur die Hausfrau schien ein Muster der Reinlichkeit zu sein, sondern Alles, was sie umgab, Alles im Hause glänzte und glitzerte; Alles war gescheuert, gebügelt, mit Seife gewaschen. Der Samowar auf dem runden Tische brannte wie Feuer; die Vorhänge an den Fenstern und die Servietten krümmten sich förmlich vor Steifigkeit, gleich wie die Kleiderchen und die Chemisetten von Herrn Ratsch's ebenfalls dasitzenden vier Kindern, robusten, wohlgenährten Stöpseln mit grobgebildeten, festen Gesichtern, Wirbeln an den Schläfen und rothen, stumpfen Fingern; sie sahen der Mutter sehr ähnlich. Sie hatten alle vier etwas plattgedrückte Nasen, große, gedrungene Lippen und hellgraue Augen.

»Und hier ist auch meine Garde,« rief Ratsch, seine schwere Hand der Reihe nach auf die Köpfe seiner Kinder legend. »Kolja, Olja, Saschka, Maschka! Dieser ist acht Jahre, diese sieben; dieser vier und dieser ganze zwei Jahre alt! Ha – ha – ha – ha! Wie Sie zu sehen belieben, verlieren wir keine Zeit. He? Eleonore Karpowna?«

»Sie sagen immer so Etwas …« sagte Eleonore Karpowna, und wandte sich ab.

»Und sie hat allen ihren Schreihälsen so russische Namen gegeben!« fuhr Herr Ratsch fort. »Ich fürchte immer, daß sie sie eines schönen Tages griechisch taufen läßt! Bei Gott! Und Slavin ist sie, – daß mich der Teufel hole– obgleich von germanischem Blute! Eleonore Karpowna sind Sie Slavin?«

Eleonore Karpowna wurde böse.

»Ich bin Hofräthin, das bin ich! Folglich bin ich eine russische Dame, und Alles, was Sie jetzt sagen werden …«

»Das heißt, wie sie Rußland liebt – es ist schrecklich!« unterbrach sie Ivan Demjanitsch. Wie ein Erdbeben! Ha – ha!«

»Nun, und was denn?« fuhr Eleonore Karpowna fort, »freilich liebe ich Rußland, denn wo anders hätte ich einen adeligen Titel erhalten können? Selbst meine Kinder sind ja jetzt Adelige. Kolja! sitze ruhig mit den Füßen!«

Ratsch holte mit der Hand gegen sie aus.

»Nun beruhige Dich jetzt, Prinzessin Sumbeko, Du! Und wo ist der »adelige« Fictor? treibt sich wohl wieder irgendwo herum! Er wird noch einmal auf den Inspektor stoßen! Der wird ihn schon durchklopfen! Das ist ein Bummler, der Fictor!«

»Dem Fictor kann ich nicht kommandiren, Iwan Demjanitsch. Sie wissen wohl!« murmelte Eleonore Karpowna.

Ich blickte auf Fustoff mit dem Wunsche, endlich von ihm zu erfahren, was ihn dazu bewegen konnte, solche Leute zu besuchen … in jenem Augenblicke trat ein junges Mädchen von hohem Wuchse, in schwarzem Kleide, in's Zimmer; es war eben jene älteste Tochter des Herrn Ratsch, von welcher Fustoff gesprochen hatte … Ich hatte die Ursache der häufigen Besuche meines Freundes begriffen.

 

Siebentes Capitel

Ich erinnere mich, daß Shakespeare irgendwo von einer »weißen Taube in einem Fluge schwarzer Raben« spricht; einen ähnlichen Eindruck machte mir das hereintretende Mädchen: es war zu wenig Gemeinsames zwischen ihr und der sie umgebenden Welt. Alle Glieder der Familie Ratsch sahen selbstzufrieden, gutmüthig und gesund aus; ihr hübsches, aber bereits verblühendes Gesicht, trug den Stempel der Muthlosigkeit, des Stolzes und des Schmerzes an sich. Jene, offenbare Plebejer, hielten sich ungezwungen, mag sein roh, aber einfach; in ihrem ganzen, unbedingt aristokratischen Wesen sprach sich Kummer und Unsicherheit aus. In ihrer äußeren Erscheinung selbst war Nichts von einer deutschen Abkunft bemerkbar: sie erinnerte eher an die Bewohner des Südens. Außerordentlich starkes schwarzes Haar ohne jeden Glanz, schwarze, ebenfalls glanzlose, aber schöne Augen, eine niedrige, gewölbte Stirn, eine Adlernase, grünliche Blässe der glatten Haut, ein gewisser tragischer Zug um die feinen Lippen und die leicht vertieften Wangen, etwas Scharfes und doch auch wieder Hülfloses in den Bewegungen, Schönheit ohne Grazie … in Italien wäre mir das Alles nicht ungewöhnlich erschienen; aber in Moskau, am Pretschistenskyschen Boulevard: da setzte es mich völlig in Erstaunen! Ich erhob mich bei ihrem Eintritt vom Stuhle: sie warf einen schnellen, unsicheren Blick auf mich, und setzte sich, ihre schwarzen Wimpern senkend, zum Fenster »wie Tatjana.« (Pushkin's »Onegin« war damals frisch in unser Aller Gedächtniß.) Ich blickte auf Fustoff, allein mein Freund stand mit dem Rücken zu mir, und empfing eben eine Tasse Thee aus Eleonore Karpowna's weichen Händen. Ich bemerkte ferner, daß das eingetretene junge Mädchen eine leichte Welle physischer Kälte mitgebracht hatte … »Welch' eine Statue!« dachte ich bei mir.

 

Achtes Capitel

»Peter Gavrilitsch!« donnerte Herr Ratsch, sich zu mir wendend, »erlauben Sie mir, Sie mit meiner … mit meinem … meinem Nr. 1 bekannt zu machen. Ha – ha – ha! Susanne Ivanowna.«

Ich verbeugte mich stumm und dachte sogleich: »Also paßt auch ihr Name nicht zu allem Uebrigen.« Susanne aber erhob sich ein wenig, ohne zu lächeln oder ihre fest zusammengepreßten Hände zu trennen.

»Und wie steht es mit unserem Duo?« fuhr Ivan Demjanitsch fort. »Alexander Daviditsch? Eh, Wohlthäter? Ihre Zither ist bei uns geblieben und mein Fagott habe ich schon aus dem Futteral gezogen. Lassen Sie uns die Ohren der ehrbaren Gesellschaft ergötzen!« (Herr Ratsch liebte es, seine russische Rede mit ungewöhnlichen Ausdrücken zu spicken: es entrissen sich ihm fortwährend Ausdrücke, gleich denen, welche die ultravolksthümlichen Poesien des Fürsten Wjasemsky schmücken.)

»Also? Kommt er?« rief Ivan Demjanitsch, als er sah, daß Fustoff nichts erwiderte. »Kolja, marsch in das Cabinet, trage die Notenpulte herbei! Olja, schleppe die Zither her! Und Du, meine Rechtgläubige, geruhe Lichte für die Notenpulte zu genehmigen! (Herr Ratsch drehte sich wie ein Kreisel im Zimmer umher.) Lieben Sie die Musik, Peter Gavrilitsch? Wie? Wenn nicht, so machen Sie Conversation, aber: Pst! unter der Sordine! Ha – ha – ha! Wo mag doch dieser Narr von Fictor hingekommen sein! Könnte doch auch zuhören! Sie haben ihn sehr verwöhnt, Eleonore Karpowna.«

Eleonore Karpowna brauste auf.

»Aber was kann ich denn, Ivan Demjanitsch …«

»Nun, gut, gut, lasse mich zufrieden! Bleibe ruhig, hast verstanden? Alexander Daviditsch, wenn's gefällig ist.«

Die Kinder führten den Befehl des Vaters augenblicklich aus, die Notenpulte wurden aufgestellt und die Musik begann. Ich habe schon gesagt, daß Fustoff ausgezeichnet die Zither spielte, allein dieses Instrument macht immer den allerbedrückendsten Eindruck auf mich. Mir war immer, und ist bis jetzt, als wenn die Seele eines Wucherjuden in der Zither eingeschlossen sei, und als wenn diese Seele näselnd wehklagte und weinte über den unbarmherzigen Virtuosen, welcher sie zwingt, Töne herauszugeben. Ratsch's Spiel konnte mir auch kein Vergnügen gewähren, zudem hatte sein plötzlich blau-roth gewordenes Gesicht mit den bösen, weißen, rollenden Augen einen Unglück verheißenden Ausdruck angenommen: es war, als wenn er mit seinem Fagott Jemand ermorden wollte, und im Voraus schon drohte und schimpfte, indem er heisere, erstickte, grobe Töne einzeln herausstieß. Ich näherte mich Susannen, und die erste, augenblickliche Pause wahrnehmend, fragte ich, ob auch sie, gleich ihrem Vater, die Musik liebe?

Sie machte eine Bewegung als hätte ich sie gestoßen und sagte kurz: »Wer?«

»Ihr Vater,« wiederholte ich. »Herr Ratsch.«

»Herr Ratsch ist nicht mein Vater.«

»Nicht Ihr Vater? Vergeben Sie mir … So habe ich wohl falsch verstanden … Mir scheint aber, Alexander Daviditsch …«

Susanne sah mich scheu und unverwandt an.

»Sie haben Herrn Fustoff nicht verstanden, Herr Ratsch ist mein Stiefvater.«

Ich schwieg.

»Und Sie lieben die Musik nicht?« fing ich wieder an.

Susanne sah mich wieder seltsam an. In ihrem Blicke war entschieden etwas Menschenscheues. Sie erwartete und wünschte die Fortsetzung unseres Gespräches offenbar nicht.

»Das habe ich Ihnen nicht gesagt,« brachte sie langsam hervor.

»Tru – tu – tu – – tu – u – u …« ertönte plötzlich das Fagott mit einer wahren Wuth, die Schlußpassage ausführend. Ich wandte mich um, und sah den rothen, aufgeblasenen Hals Herrn Ratsch's unter seinen abstehenden Ohren und er kam mir sehr widerwärtig vor.

»Aber … dieses Instrument lieben Sie gewiß nicht,« sagte ich halblaut.

»Nein … ich liebe es nicht,« sagte sie, wie wenn sie meine versteckte Hindeutung verstanden hätte.

Also! dachte ich, und mir war, als wenn ich mich über Etwas freute.

»Susanne Ivanowna,« sagte hierauf Eleonore Karpowna in ihrer russisch-deutschen Sprache, »liebt die Musik sehr und spielt selbst vortrefflich Klavier, sie will aber niemals spielen, wenn man sie sehr darum bittet.«

Susanne antwortete Nichts – sie sah Eleonore Karpowna nicht einmal an, und wandte nur leicht unter den gesenkten Lidern die Augen nach ihrer Seite hin. Aus dieser Bewegung, der Bewegung ihrer Pupille allein, konnte ich entnehmen, welche Gefühle Susanne für die Frau ihres Stiefvaters hegte, und ich freute mich wieder.

Unterdessen war das Duo beendigt. Fustoff stand auf, näherte sich unsicheren Schrittes dem Fenster, an welchem ich mit Susanne saß, und fragte sie, ob sie von Lenhold die Noten erhalten habe, die er ihr aus Petersburg zu verschreiben versprochen hatte.

»Ein Potpourri aus »Robert der Teufel,« fügte er hinzu, sich zu mir wendend, »jener neuen Oper, über die jetzt so viel geschrieen wird.«

»Nein, ich habe sie nicht erhalten,« antwortete Susanne und, das Gesicht zum Fenster wendend, flüsterte sie hastig: »Ich bitte, Alexander Daviditsch, – ich bitte sehr, veranlassen Sie mich heute nicht zu spielen; ich bin gar nicht dazu aufgelegt.«

»Was? Robert der Teufel von Meyerbeer!« rief Ivan Demjanitsch, zu uns herantretend, aus, »ich wette, daß das Ding ausgezeichnet ist! Er ist ein Jude, und alle Juden, sowie auch alle Czechen sind ausgezeichnete Musikanten! Besonders die Juden! Nicht wahr, Susanne Ivanowna? Wie? Ha – ha – ha –ha!«

Die letzten Worte Herrn Ratsch's und sein Lachen selbst enthielt diesmal mehr als seinen gewöhnlichen Scherz – sie enthielten die Absicht, zu verletzen. So kam es mir wenigstens vor, und so verstand sie auch Susanne. Sie erbebte unwillkürlich, erröthete und biß sich in die Unterlippe. Ein heller Punkt, dem Glanze einer Thräne ähnlich, blitzte an ihrer Wimper; sich rasch erhebend ging sie aus dem Zimmer.

»Wohin, Susanne Ivanowna?« rief Herr Ratsch ihr nach.

»Lassen Sie sie zufrieden, Ivan Demjanitsch,« mischte sich Eleonore Karpowna hinein. »Wenn sie so Etwas im Kopfe hat …«

»Eine nervöse Natur,« sagte Ratsch, sich auf dem Absatz herumdrehend, und versetzte sich einen Schlag aus den Schenkel; – »die am plexus solaris leidet. Ah, sehen Sie mich nicht so an, Peter Gavrilitsch! Ich habe mich auch mit Anatomie beschäftigt, ha – ha! Ich verstehe mich auch auf die Heilkunst! Fragen Sie Eleonore Karpowna hier … ich behandle sie in allen ihren Krankheiten! Solche Mittel habe ich!«

»Sie müssen immer Scherze machen, Ivan Demjanitsch,« sagte diese unwillig, während Fustoff lächelnd und sich beifällig schaukelnd die beiden Ehegatten betrachtete.

»Und warum denn nicht scherzen, mein Mütterchen!« nahm Ivan Demjanitsch das Wort. »Das Leben ist uns zum Nutzen und noch mehr zur Zierde verliehen, wie ein bekannter Dichter sagt. Kolja! wische Deine Nase ab! Stachelschwein!«

 

Neuntes Capitel

»Ich war heute durch Deine Schuld in einer höchst ungeschickten Lage,« sagte ich an demselben Abende zu Fustoff, als wir zusammen nach Hause gingen.

»Du hast mir gesagt, daß diese … wie heißt sie doch wieder? Susanne – die Tochter des Herrn Ratsch ist, sie ist aber seine Stieftochter.«

»Freilich! Und ich habe Dir gesagt, daß sie eine Tochter von ihm ist? Uebrigens … ist es nicht einerlei?«

»Dieser Ratsch,« fuhr ich fort … – »Ach Alexander! Wie sehr hat er mir mißfallen! Hast Du bemerkt, mit welch einem besonderen Hohne er heute von den Juden zu ihr sprach? Ist sie denn … Israelitin?«

Fustoff schritt vorwärts, die Arme hin und her schwingend; es war kalt, der Schnee knisterte wie Salz unter den Füßen.

»Ja, ich erinnere mich, so etwas gehört zu haben,« sagte er endlich … – »Ihre Mutter war, glaube ich, von hebräischer Abkunft.«

»Also hat Herr Ratsch zuerst eine Wittwe geheirathet?«

»Wahrscheinlich.«

»Hm! … Ist jener Fictor, der heute Abend nicht nach Hause gekommen war, auch sein Stiefsohn?«

»Nein … Der ist sein leiblicher Sohn. Uebrigens mische ich mich, wie Du weißt, nicht in fremde Angelegenheiten, und liebe nicht, die Leute auszuforschen. Ich bin nicht neugierig.«

Ich biß mir in die Zunge. Fustoff eilte vorwärts. Als wir zum Hause herankamen, holte ich ihn ein, und sah ihm in's Gesicht.

»Sage mir doch,« fragte ich – »ist Susanne wirklich eine gute Klavierspielerin?«

»Ja, sie spielt gut das Klavier,« murmelte er zwischen den Zähnen. – »Aber sie ist sehr schüchtern, darauf bereite ich Dich vor!« setzte er mit einer kleinen Grimasse hinzu. Es war wirklich, als wenn er es bereute, mich mit ihr bekannt gemacht zu haben.

Ich schwieg, und wir trennten uns.

 

Zehntes Capitel

Am folgenden Morgen begab ich mich wieder zu Fustoff. Es war mir Bedürfniß geworden, des Morgens bei ihm zu sitzen. Er empfing mich eben so freundlich wie gewöhnlich; aber über unsern gestrigen Besuch – kein Wort. Stumm, als wenn er den Mund voll Wasser hätte! Ich nahm und durchblätterte die letzte Nummer des »Teleskop«.

Eine neue Persönlichkeit trat in's Zimmer. Er erwies sich als ein Sohn des Herrn Ratsch, und derselbe Fictor, über dessen Abwesenheit der Vater am Abend vorher so ungehalten gewesen war.

Das war ein junger Mensch von ungefähr 18 Jahren, aber schon dem Trunke ergeben und krank, mit einem süßlich-frechen Lächeln auf dem unreinen Gesichte und dem Ausdrucke der Ermüdung in den entzündeten, kleinen Augen. Er glich seinem Vater, doch waren seine Züge nicht ohne Annehmlichkeit; aber in dieser Annehmlichkeit selbst war etwas Häßliches. Seine Kleidung war unreinlich, am Uniformsrock fehlte ein Knopf, der eine Stiefel war geplatzt und es wehte von ihm ein starker Tabaksgeruch.

»Guten Morgen,« sagte er mit heiserer Stimme und mit jenem eigenthümlichen Hinaufziehen des Kopfes und der Schultern, welches ich stets an verzärtelten und selbstzufriedenen jungen Leuten bemerkt habe.

»Ich wollte in die Universität gehen, und gerieth hieher. Die Brust ist mir zugeschnürt. Geben Sie mir eine Cigarre.« – Er ging über das ganze Zimmer, die Füße welk nachschleppend, ohne die Hände aus den Hosentaschen zu ziehen, und warf sich schwerfällig auf das Sopha.

»Haben Sie sich erkältet?« fragte Fustoff, indem er uns miteinander bekannt machte. Wir waren Beide Studenten, aber in verschieden Facultäten.

»Nein … ah nein! Gestern, aufrichtig gesagt … (Hier lachte Herr Ratsch junior über das ganze Gesicht, wieder nicht ohne Anmuth, zeigte aber dabei sehr schlechte Zähne) … hatte ich zuviel getrunken, hatte einen starken Rausch. Ja.« – Er rauchte seine Cigarre an und hustete. – »Wir haben Obichodoff das Geleit gegeben.«

»Wohin reist er?«

»In den Kaukasus, und schleppt seine Geliebte mit fort. Sie wissen, die Schwarzäugige, mit den Sommersprossen. Dummkopf!«

»Ihr Vater fragte gestern nach Ihnen,« bemerkte Fustoff.

Fictor spie auf die Seite.

»Ja, ich habe es gehört. Sie haben sich gestern in unser Lager verirrt. Nun, wie war es? Wurde musicirt?«

»Wie gewöhnlich.«

»Und sie … hat wohl vor dem neuen Gaste (hier wies er mit dem Kopfe nach mir hin) grimassirt? Hat wohl nicht gespielt?«

»Von wem sprechen Sie?« fragte Fustoff.

»Von der verehrungswürdigen Susanne Ivanowna, natürlich!«

Fictor streckte sich noch bequemer aus, reckte seinen Arm in graciöser Rundung über seinen Kopf, sah in seine flache Hand und schnaubte dumpf.

Ich blickte auf Fustoff hin. Er zuckte nur mit den Achseln, als wollte er mir zu verstehen geben, daß man von solch einem Menschen Nichts erwarten könne.

 

Elftes Capitel

Fictor fing an, langsam, näselnd und zur Decke hinaufsehend, vom Theater, von zwei ihm bekannten Schauspielern, von einer gewissen Serafine Serafinowna, die ihn »angeführt« hatte, von dem neuen Professor R. zu sprechen, den er ein Vieh nannte. »Stellen Sie sich vor, was das Ungeheuer sich ausgedacht hat? Er fängt jede Vorlesung mit einem Abrufen der Namen an! Und dieser zählt sich noch zu den Liberalen!« Sich endlich mit dem Gesicht und dem ganzen Körper zu Fustoff wendend, sagte er, mit halb klagender und halb spöttelnder Stimme:

»Ich wollte Sie um Etwas bitten, Alexander Daviditsch … Können Sie meinen Alten nicht irgend wie zur Vernunft bringen … Sie spielen ja Duo's mit ihm … Er giebt mir fünf blaue Zettel monatlich … Was nützt mir das? Das reicht ja nicht einmal für den Tabak aus. Und da redet er noch: mache keine Schulden! Ich möchte ihn einmal an meine Stelle setzen, und dann zusehen! Ich erhalte ja gar keine Pensionen, nicht so wie Andere (Fictor hob dieses Wort mit besonderer Betonung hervor). Und er hat viel Geld, ich weiß es. Mir gegenüber den Lazarus spielen hilft Nichts; mich führt man nicht an! Possen! Hat sich schon die Finger verbrannt … nur 'gewandt!«

Fustoff warf einen Seitenblick auf Fictor.

»Wenn Sie wollen,« fing er an – ich will es Ihrem Vater sagen. Sonst kann ich auch – unterdessen … eine kleine Summe …«

»Nein, wozu? Erweichen Sie lieber den Alten … Uebrigens,« fügte Fictor hinzu, sich mit allen fünf Fingern die Nase kratzend – »geben Sie mir, wenn Sie können, 25 Rbl. Sbr … Wieviel bin ich Ihnen eigentlich schuldig?«

»Sie haben 85 Rbl. Sbr. von mir geborgt.«

»Ja … Also macht das – in Allem 110 Rbl. Sbr. Ich werde Ihnen Alles zusammen abgeben.«

Fustoff trat in's Nebenzimmer, brachte einen Zettel von 25 Rbl. Sbr. heraus und reichte ihn Fictor schweigend. Dieser nahm ihn, gähnte laut, ohne den Mund zu schließen und brummte ein »Danke«! Sich wie ein Igel zusammenrollend und wieder reckend, erhob er sich vom Sopha.

»Fu! Allein … ich langweile mich,« murmelte er, »ich sollte eigentlich nach Italien.«

Er begab sich zur Thür.

Fustoff sah ihm nach. Es war, als wenn er mit sich kämpfte.

»Welcher Pension erwähnten Sie so eben, Fictor Ivanowitsch?« fragte er endlich.

Fictor blieb auf der Schwelle stehen und setzte seine Mütze auf.

»Sie wissen das nicht? Von Susanne Ivanowna's Pension sprach ich … Sie empfängt dieselbe. Eine äußerst merkwürdige Anecdote, das kann ich Ihnen sagen! Ich will Ihnen das einmal erzählen. Geschäfte, mein Herr, Geschäfte! – Aber meinen Alten! vergessen Sie meinen Alten nicht, ich bitte. Er hat freilich eine dicke, deutsche Haut, noch dazu mit russischer Bearbeitung; allein, man kann dennoch durchdringen. Aber, – daß Eleonorchen, meine Stiefmutter, nur nicht dabei ist! Papachen fürchtet sich vor ihr, sie wiederholt immer das Ihre. Nun! Sie sind ja selbst Diplomat! Leben Sie wohl!«

»Ist das aber ein elender Knabe!« rief Fustoff, sobald er die Thür hinter sich zugeschlagen hatte.

Sein Gesicht brannte wie Feuer, und er wandte sich von mir ab. Ich mochte keine weiteren Fragen stellen und entfernte mich bald.

 

Zwölftes Capitel

Ich brachte jenen ganzen Tag in Gedanken über Fustoff, Susanne und ihre Verwandten zu. Mir schwebte dunkel etwas wie ein Familiendrama vor. So viel ich urtheilen konnte, war Susanne meinem Freunde nicht gleichgültig. Aber sie? Liebte sie ihn? Warum war sie so unglücklich? Was war sie überhaupt für ein Geschöpf? Diese Fragen kamen mir immer wieder in den Sinn. Ein dunkles aber deutliches Gefühl sagte mir, daß ich mich nicht an Fustoff zu wenden habe, um ihre Lösung zu erlangen. Das Ende davon war, daß ich mich am folgenden Tage in das Haus des Herrn Ratsch begab.

Sobald ich mich in dem kleinen dunklen Vorzimmer befand, schlug mir des Gewissen und ich war verlegen. Sie wird sich am Ende nicht einmal zeigen, blitzte es mir durch den Kopf, und ich werde mit jenem abscheulichen »Veteranen« und seiner Frau – Köchin sitzen müssen …, und endlich, selbst wenn sie erscheint … was dann? Sie wird sich nicht einmal mit mir unterhalten … Sie hat mich neulich zu unfreundlich behandelt! Warum bin ich hergekommen? Während ich Alles dieses dachte, war der kleine Kosake hineingelaufen, um mich anzumelden, und, nach einigen fragenden »Wer da? Wer, sagst Du?« wurden schwere, schlurrende Pantoffel hörbar, die Thür wurde ein wenig geöffnet, und in der Spalte, zwischen den beiden Flügeln derselben, erschien das Gesicht Ivan Demjanitsch's, ein verzerrtes, finsteres Gesicht. Er sah mich unverwandt an und veränderte seinen Ausdruck nicht sogleich … Herr Ratsch hatte mich offenbar nicht gleich erkannt; aber plötzlich rundeten sich seine Wangen, die Augen verengten sich, und aus dem geöffneten Munde platzte, mit einem Gelächter zugleich, der Ausruf: »Ach, mein verehrter Herr! Sie sind es? Seien Sie mir willkommen!«

Ich folgte ihm um so weniger gerne, als es mir vorkam, daß der heitere, zuvorkommende Herr Ratsch mich in seinem Innern zum Teufel sandte. Allein jetzt war nichts mehr zu ändern. Er führte mich in's Gastzimmer, und dort – im Gastzimmer saß Susanne an einem Tische vor dem Einnahme- und Ausgabebuch. Sie sah mich mit ihren dämmerigen Augen an, und biß ein ganz klein wenig die Nägel ihrer linken Hand … dies war ihre Gewohnheit, die Gewohnheit vieler nervöser Menschen, wie ich bemerkt habe. Außer ihr war Niemand im Zimmer.

»Sehen Sie hier,« fing Herr Ratsch an, und gab sich einen Schlag aufs den Schenkel, – bei welcher Beschäftigung Sie Susanne Ivanowna und mich finden: Wir sehen Rechnungen durch. Meine Frau ist nicht sehr stark in der »Arithmetik«, und ich, aufrichtig gestanden, schone meine Augen. Ohne Brille kann ich gar Nichts sehen, was wollen Sie machen? So mag denn die Jugend arbeiten. Ha – Ha! Die Ordnung verlangt es. Uebrigens, die Arbeit hat keine Eile …«

Susanne machte das Buch zu und wollte sich entfernen. – »Warte doch, warte,« sagte Herr Ratsch. – »Was thut es denn, daß Du nicht in Toilette bist …« (Susanne hatte ein sehr altes Kleidchen, fast ein Kinderkleid mit kurzen Aermelchen, an.) »Unser theurer Gast wird es uns nicht übel nehmen, und, wenn ich nur die Rechnung für die verflossene Woche aufräumen könnte … Sie erlauben?« wandte er sich zu mir. – »Wir stehen ja nicht auf so ceremoniellem Fuße miteinander!«

»Seien Sie so gut, beunruhigen Sie sich deshalb nicht,« rief ich aus.

»Also! verehrtester Herr; Sie wissen selbst: der in Gott ruhende Kaiser Alexis Michailowitsch Romanow pflegte zu sagen: »Der Arbeit – die Zeit; dem Vergnügen – der Augenblick!« Wir aber wollen der Arbeit selbst blos eine Minute weihen … Ha – ha! Was sind denn dies für 13 Rubel 30 Kopeken Silber?« fügte er halblaut hinzu, indem er mir den Rücken zuwandte.

»Fictor hat dieselben von Eleonore Karpowna genommen; er sagt, Sie hätten sie ihm bewilligt,« antwortete Susanne ebenfalls halblaut.

»Er hat gesagt … gesagt … bewilligt …« murmelte Ivan Demjanitsch. – »Mir scheint, ich bin persönlich hier zugegen. Hättet mich fragen sollen. Aber wer hat denn diese 17 Rubel Silber erhalten?«

»Der Möbelhändler.«

»Der Möbelhändler … Wofür denn?«

»Auf Abrechnung.«

»Auf Abrechnung. Zeige her!« – riß Susannen das Buch aus der Hand, setzte eine runde Brille in silberner Fassung auf die Nase und fuhr mit dem Finger die Zeilen entlang. – »Dem Möbelhändler … dem Möbelhändler … Wenn Ihr nur das Geld aus dem Hause bringen könnt! Dann seid ihr glücklich! … Wie die Kroaten! … Auf Abrechnung! Uebrigens,« fügte er laut hinzu, die Brille von der Nase ziehend und sich mir wiederzuwendend –, »was thue ich denn eigentlich da? Dieses langweilige Zeug kann auch später vorgenommen werden. Susanne Ivanowna, schleppen Sie diese Buchhalterei an ihren Platz zurück, und kommen Sie dann wieder her, ich bitte, und entzücken Sie das Ohr dieses unseres liebenswürdigen Gastes durch Ihr musikalisches Werkzeug, nämlich durch Ihr Clavierspiel … Eh?« –

Susanne wandte den Kopf ab.

»Ich wäre sehr glücklich,« sagte ich schnell, – »es wäre mir außerordentlich angenehm, Susanne Ivanowna spielen zu hören. Aber ich möchte Sie um Nichts in der Welt belästigen.«

»Was, belästigen! Wie das? Nun Susanne Ivanowna, eins, zwei, drei!«

Susanne antwortete nicht, und ging hinaus.

 

Dreizehntes Capitel

Ich erwartete nicht, daß sie zurückkehren würde; aber sie erschien bald wieder. Sie hatte ihren Anzug nicht gewechselt, setzte sich in einen Winkel, und sah mich ein paar Mal aufmerksam an. Fühlte sie nun in meiner Art sie zu behandeln, jene unwillkürliche, mir selbst unerklärliche Hochachtung durch, welche sie in mir erweckte, denn es war mehr als Neugierde, mehr sogar als Theilnahme, oder war sie heute weicher gestimmt, – genug, sie trat plötzlich zum Clavier. Die Hände unsicher auf die Tasten legend, und den Kopf ein wenig über die Schulter zu mir wendend, fragte sie mich, was sie mir vorspielen solle? Allein, ehe ich noch Zeit gehabt hatte zu antworten, hatte sie sich schon gesetzt, hatte ein Notenheft genommen, dasselbe aufgeschlagen und bereits angefangen zu spielen. Ich liebte die Musik von Kindheit auf; zu jener Zeit verstand ich sie aber noch wenig und kannte nur launige Schöpfungen der großen Meister, und wenn Herr Ratsch nicht mit einigem Unwillen gebrummt hätte: »Aha! wieder dieser Beethoven!« so hätte ich nicht gewußt, worauf Susannens Wahl gefallen war. Sie spielte, wie ich später erfuhr, die berühmte F-moll-Sonate, Op. 57. Susannens Spiel ergriff mich unaussprechlich: ich hatte diese Kraft, dieses Feuer, diesen kühnen Schwung gar nicht erwartet. Von den allerersten Tacten des hinreißend leidenschaftlichen Allegro, dem Anfange der Sonate, an empfand ich jenes Erstarren, jene Kälte und süßen Schauer des Entzückens, welche augenblicklich unsere Seele erfassen, wenn die Schönheit, in ihrem Fluge, unerwartet in dieselbe eindringt. Ich bewegte bis zum Ende kein Glied; ich wollte immer athmen, und wagte es nicht. Es fügte sich, daß ich hinter Susanne saß; ich konnte ihr Gesicht nicht sehen; ich sah nur, wie ihre langen, schwarzen Haare zuweilen sprangen und an ihre Schultern schlugen, wie ihre Gestallt sich ruckweise wiegte und wie ihre feinen Hände und entblößten Ellenbogen sich rasch und etwas eckig bewegten. Die letzten Klänge verhallten. Ich athmete endlich auf. Susanne blieb noch am Clavier sitzen.

»Ja, ja,« bemerkte Herr Ratsch, welcher übrigens auch aufmerksam zugehört hatte, – »romantische Musik! Das ist jetzt Mode. Aber warum unrein spielen? Eh? Zwei Noten zugleich mit den Fingerchen anschlagen? – Warum? Eh? Das ist es; wir wollen immer schneller. Das giebt mehr Feuer. Eh? – Heiße Pfann–kuchen!!« dröhnte Herr Ratsch plötzlich, wie ein Verkäufer.

Susanne hatte sich ein wenig zu Herrn Ratsch gewandt; ich sah ihr Gesicht im Profil. Die feinen Augenbrauen waren hoch hinaufgezogen über dem gesenkten Lide, ein ungleiches Roth übergoß ihre Wange, das kleine Ohr brannte unter den zurückgeworfenen Locken.

»Ich habe alle die besten Virtuosen persönlich gehört,« fuhr Herr Ratsch, plötzlich die Stirne runzelnd, fort, – »und alle sind sie im Vergleich mit dem verstorbenen Field – Tfu! – Null! Zero!! Das war ein Kerl! Und ein so reines Spiel! Und auch seine Compositionen – sind die allerschönsten. Aber alle diese neuen »tlu – tu – tu« und »tra – ta ta«, die sind, glaube ich, mehr für Schüler geschrieben. Da braucht man keine Delicatesse! Da kann man auf die Tasten schlagen, gleichviel auf welche Weise … es thut nichts! Kommt immer Etwas heraus! Janitscharen-Musik! Pcha! (Ivan Demjanitsch wischte sich die Stirn mit seinem Tuche.) Uebrigens habe ich das nicht in Bezug auf Sie gesagt, Susanne Ivanowna; Sie haben gut gespielt, und meine Bemerkungen dürfen Sie nicht beleidigen.«

»Ein Jeder hat seinen eigenen Geschmack,« sagte Susanne mit leiser Stimme, und ihre Lippen bebten; – »und was Ihre Bemerkungen anbetrifft, Ivan Demjanitsch, so wissen Sie wohl, daß mich dieselben nicht beleidigen können.«

»Ah, freilich! Denken Sie nur nicht,« wandte sich Ratsch zu mir, – »denken Sie nur ja nicht, geehrtester Herr, daß dieses aus übergroßer Herzensgute und aus Demuth der Seele geschieht; wir dünken uns vielmehr so hoch gestiegen, daß – uh – uh! – die Mütze uns vom Kopfe fällt, wie man auf Russisch sagt, und keine Kritik sich bis zu uns versteigen kann. Eigenliebe, mein werther Herr, Eigenliebe reitet uns, ja, ja!«

Nicht ohne Bestürzung hörte ich Herrn Ratsch an. Galle, giftige Galle kochte in jedem seiner Worte … Sie hatte sich lange angesammelt, sie erstickte ihn. Er versuchte seine Tirade mit dem gewöhnlichen Lachen zu schließen, und – hustete nur krampfhaft und heiser. Susanne hatte ihm nicht ein einziges Wort geantwortet; sie schüttelte nur den Kopf, erhob das Gesicht, faßte sich mit beiden Händen an den Ellenbogen, und fixirte ihn scharf. In der Tiefe ihrer unbeweglichen, erweiterten Augen glimmte altgewohnter Haß mit dunklem, unauslöschlichem Feuer.

»Sie gehören zu zwei verschiedenen musikalischen Geschlechtern,« fing ich mit möglichster Ungezwungenheit an, indem ich durch diese Ungezwungenheit zu verstehen geben wollte, daß ich nichts bemerkt habe; – »darum ist nicht zu verwundern, daß Sie in Ihren Ansichten nicht übereinstimmen … Aber, Ivan Demjanitsch, Sie werden mir gestatten, mich auf die Seite des jüngeren Geschlechtes zu stellen. Ich bin freilich nur Laie; aber ich gestehe, daß noch Nichts in der Musik einen solchen Eindruck aus mich gemacht hat, wie … wie das, was Susanne Ivanowna uns soeben vorgespielt hat.

Ratsch warf sich mir plötzlich auf.

»Und warum glauben Sie,« schrie er, noch ganz roth vom Husten, – »daß wir Sie für unser Lager zu werben wünschen? (Er sagte das Wort Lager auf Deutsch.) Wir bedürfen dessen durchaus nicht. Dem Freien seinen Willen: dem Gefangenen – Rettung! Aber, was die beiden musikalischen Geschlechter anbetrifft, so ist das richtig; uns Alten ist es überhaupt schwer, mit der Jugend zu leben, sehr schwer! Unsere Ansichten stimmen in gar Nichts überein; weder in der Kunst, noch im Leben, nicht einmal in der Moral. Nicht wahr, Susanne Ivanowna?

Susanne lächelte mit verächtlicher Ironie.

»Wie Sie sagen,« antwortete sie; – »besonders in Bezug auf die Moral stimmen unsere Ansichten nicht, und können nicht zusammen stimmen,« und etwas Finsteres lief über ihre Züge hin, und ihre Lippen bebten leise.

»Freilich, freilich!« unterbrach sie Ratsch, – »ich bin kein Philosoph! Ich verstehe nicht … mich so hoch zu stellen! Ich bin ein einfacher Mensch, ein Sclave der Vorurtheile.«

Susanne lächelte wieder.

»Mir scheint, Ivan Demjanitsch, daß auch Sie es einst verstanden haben, sich über das zu stellen, was man Vorurtheile nennt.«

»Wie so? Wie meinen Sie das? Ich verstehe Sie nicht.«

»Sie verstehen mich nicht? Sind Sie so vergeßsam?«

»Ich … ich …« stammelte er. – »Ich …«

»Ja, Sie, Herr Ratsch.«

Es folgte ein kurzes Stillschweigen.

»Erlauben Sie mir aber doch, erlauben Sie mir,« fing Herr Ratsch an, – »wie können Sie es wagen …«

Susanne richtete sich plötzlich in ihrer ganzen Höhe auf und fuhr mit den Fingern über ihre Ellenbogen hin, ohne die Hände von denselben wegzunehmen; sie preßte sie fest an sich und blieb vor Ratsch stehen. Sie ging auf ihn zu, als wenn sie ihn zum Kampfe aufforderte. Ihr Gesicht war verwandelt, plötzlich, in einem Augenblicke, war es hübsch und schrecklich zugleich geworden; ihre dunklen Augen erglänzten in einem frohen, kalten, stählernen Glanze; die soeben noch bebenden Lippen waren in eine gerade, unerbittlich strenge Linie zusammengepreßt. Susanne hatte Ratsch zum Kampfe aufgerufen, dieser aber sah sich in sie fest, wie man zu sagen pflegt, verstummte und fiel zusammen wie ein Sack; sein Kopf versank zwischen den Schultern, und er zog sogar die Füße ein. Der »Veteran« aus dem Jahre 12 war in Furcht gejagt, darüber konnte kein Zweifel obwalten.

Susanne blickte langsam von ihm zu mir auf, als wollte sie mich zum Zeugen ihres Sieges und der Erniedrigung ihres Feindes machen, und ging, zum letzten Male spöttisch lächelnd, zum Zimmer hinaus.

Der Veteran blieb einige Zeit unbeweglich in seinem Sessel; dann stand er auf, als sei ihm die vergessene Rolle wieder eingefallen, gab mir einen Schlag auf die Schulter und brach in eines seiner schallendsten Gelächter aus.

»Schauen Sie einmal! Ha – ha – ha! – Das ist doch nicht das erste Jahrzehnt, welches ich mit diesem Fräulein verlebe, und sie kann noch nicht unterscheiden, wann ich einen Spaß mache, und wann ich im Ernste rede! Und auch Sie, mein Verehrtester, scheinen zu zweifeln … Ha – ha – ha! Das beweist mir, daß Sie den alten Ratsch noch nicht kennen!«

Nein … jetzt kenne ich Dich, dachte ich, nicht ohne Schrecken und Abscheu.

»Sie kennen den Alten nicht, kennen ihn nicht!« wiederholte er, sich den Leib streichelnd und mich in's Vorzimmer begleitend. – »Ich bin ein schwerfälliger, geschlagener Mann, ha – ha! Aber ein guter Mensch! Bei Gott!«

Ich stürzte Hals über Kopf von der Treppe auf die Straße, um so schnell wie möglich von diesem »guten Menschen« fortzukommen.

 

Vierzehntes Capitel

»Daß diese Beiden einander hassen, ist klar,« dachte ich, während ich nach Hause ging, – »und es unterliegt auch keinem Zweifel, daß er ein schändlicher Mensch und sie ein braves Mädchen ist. Aber, was ist zwischen ihnen vorgefallen? Was ist die Ursache dieser fortwährenden Erbitterung? Was ist der Sinn dieser versteckten Anspielungen? Wie unerwartet das losbrach! Und durch welch unbedeutende Veranlassung!«

Am Tage darauf begab ich mich mit Fustoff in's Theater, um Schtschepkin in »Kummer durch Verstand«, jenem Schauspiel Gribojedoff's zu sehen, welches damals eben erst die Censur passirt hatte, nachdem es zuvor durch dieselbe beschnitten und verstümmelt worden war. Wir klatschten Famussoff und Skalosuboff lebhaften Beifall zu. Ich weiß nicht mehr, wer die Rolle Tschatzky's spielte; aber ich erinnere mich noch sehr gut, daß der Schauspieler unaussprechlich schlecht war; er erschien zuerst in einem ungarischen Rocke und Stiefeln mit Quasten, und dann in einem Fracke von der damals modischen Farbe » flamm de punch«, und dieser Frack paßte ihm, wie unserem alten Haushofmeister. Ich erinnere mich, daß der Ball im dritten Acte uns in Entzücken versetzte. Obgleich wahrscheinlich Niemand jemals solche Pas macht, so war das doch so angenommen, und wird, glaube ich, bis jetzt noch in derselben Weise ausgeführt. Einer der Gäste sprang besonders hoch, wobei seine Perrücke nach allen Seiten auseinander geweht und das Publikum in helles Lachen versetzt wurde. Im Hinausgehen aus dem Theater stießen wir im Corridor auf Fictor.

»Sie waren im Theater!« rief er, die Hände zusammenschlagend. – »Wie kommt es, daß ich Sie nicht gesehen habe? Es freut mich sehr, Ihnen begegnet zu sein. Sie müssen jedenfalls mit mir soupiren. Kommen Sie. Ich halte Sie frei!«

Der junge Ratsch schien in einem aufgeregten, fast entzückten Zustande zu sein. Seine kleinen Augen blickten unstät umher, er lächelte und rothe Flecken waren auf seinem Gesicht hervorgetreten.

»Ist Ihnen eine Freude begegnet? fragte ihn Fustoff.

»Eine Freude? Wollen Sie Ihre Neugierde befriedigen?«

Fictor führte uns ein wenig auf die Seite, zog einen ganzen Packen von den damaligen rothen und blauen Banknoten aus der Hosentasche und ließ sie in der Luft flattern.

Fustoff verwunderte sich.

»Ist Ihr Vater so freigebig gewesen?«

Fictor lachte auf.

»Da haben Sie gut gerathen! Freilich! Der hält seine Tasche gut … Auf Ihre Vermittelung hoffend, bat ich ihn heute um Geld. Was glauben Sie, was mir der Knicker antwortete? Ich will Dir Deine Schulden meinetwegen zahlen inclusive 25 Rbl. Sbr.! Hören Sie, inclusive! – Nein, meine werthen Herren, dieses Geld hat mir Verlassenem Gott gesandt! Der Zufall hat es mir in die Hände gespielt.«

»So haben Sie Jemand beraubt?« sagte Fustoff unachtsam.

Fictor runzelte die Stirn.

»Ach was, beraubt! Gewonnen habe ich es, gewonnen von einem Gardeofficier. Er war gestern erst aus Petersburg angekommen. Und welch' ein Zusammenfluß von Umständen! Es ist der Mühe Werth, Ihnen das zu erzählen … aber hier geht es nicht. Kommen Sie zu Jar, es sind nur zwei Schritte. Ich habe es gesagt: ich halte Sie frei!«

Wir hätten vielleicht absagen sollen; aber wir gingen, ohne Etwas dagegen einzuwenden.

 

Fünfzehntes Kapitel

Bei Jar führte man uns in ein besonderes Zimmer; man trug ein Nachtessen und Champagner auf. Fictor erzählte uns mit allen Einzelnheiten, wie er in einem angenehmen Hause jenem Gardeofficier, einem lieben Menschen aus guter Familie, aber mit wenig Verstand im Kopfe, begegnet sei; wie sie mit einander bekannt geworden seien, wie er, d. h. der Officier, darauf gekommen sei, ihm, Fictor, zum Scherze vorzuschlagen, mit alten Karten Duratschki zu spielen, unter der Bedingung, daß der Officier auf das Glück »Wilhelminens«, Fictor aber auf sein eigenes Glück spielen solle; und wie es zuletzt zum Wetten kam.

»Und ich, und ich,« schrie Fictor, aufspringend und in die Hände klatschend, – »habe nicht mehr als 6 Rbl. Sbr. in der Tasche! Stellen Sie sich vor! Anfangs verspielte ich immer … Wie gefällt Ihnen meine Lage?! Allein plötzlich, ich weiß nicht auf wessen Gebete, lächelte mir Fortuna. Der Andere wurde heftig, zeigte alle Karten … und im Nu hatte er 750 Rbl. Sbr. verspielt! Er bat mich, weiter zu spielen. Nun? mich führt man aber nicht an; ich dachte: »Nein, solch ein Segen soll nicht mißbraucht werden,« griff nach meiner Mütze, und, marsch fort! Und jetzt brauche ich mich vor meinem Alten nicht zu bücken und kann meine Kameraden bewirthen … Eh! Kellner! Noch eine Flasche! Wollen wir anstoßen, meine Herren!«

Wir stießen mit Fictor an und fuhren fort, zu trinken und zu lachen, obgleich seine Erzählung uns gar nicht gefallen hatte, und seine Gesellschaft überhaupt uns wenig Vergnügen machte. Er fing an, den Liebenswürdigen zu spielen, Possen zu reißen, auszufallen, mit einem Worte, und wurde uns noch widerwärtiger. Fictor bemerkte endlich, welch einen Eindruck er auf uns hervorbrachte, und wurde mürrisch. Seine Reden wurden abgebrochener, seine Blicke finsterer. Er fing an zu gähnen, erklärte, daß er schläfrig sei, schalt den dienstthuenden Kellner mit der ihm eigenen Grobheit, eines schlecht gereinigten Pfeifenrohres wegen, und wandte sich plötzlich, mit einem herausfordernden Ausdruck in den verzerrten Zügen, mit der Frage an Fustoff:

»Hören Sie, Alexander Daviditsch,« sprach er, – »sagen Sie mir doch, ich bitte, weshalb Sie mich verachten?«

»Wie so?« antwortete mein Freund zögernd.

»Eben! … ich fühle und weiß sehr gut, daß Sie mich verachten, und dieser Herr (er zeigte mit seinem Finger auf mich) gleichfalls. Und wenn Sie sich noch selbst durch übergroße Sittlichkeit auszeichneten! Aber Sie sind ein Sünder, gerade wie wir Anderen Alle. Aerger noch. Im stillen Wasser … Kennen Sie das Sprüchwort?«

Fustoff erröthete.

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte er.

»Daß ich noch nicht blind bin und sehr gut sehe, was vor meinen Augen geschieht. Ich sehe Ihr Liebäugeln mit meiner Schwester sehr wohl … Ich habe gar Nichts dagegen einzuwenden; denn, erstens wäre das gegen meine Grundsätze, und zweitens ist meine Schwester selbst über alle Stränge gesprungen … Weshalb aber verachten Sie mich denn?«

»Sie wissen selbst nicht, was Sie da lallen! Sie haben einen Rausch,« sagte Fustoff, seinen Paletot von der Wand herablangend. – »Er hat wohl irgend einem Dummkopfe das Geld abgenommen, und lügt jetzt, weiß der Teufel was!«

Fictor blieb auf dem Sopha liegen und bewegte nur die Füße, welche unter der Lehne hinabhingen.

»Abgewonnen! Warum haben Sie denn Wein getrunken? Er war ja mit dem gewonnenen Gelde gekauft. Und zu lügen giebt es hier Nichts. Ich bin nicht Schuld daran, daß Susanne Ivanowna in ihrer Vergangenheit …

»Schweigen Sie,« unterbrach ihn Fustoff. – »Schweigen Sie« … oder …«

»Oder was?«

»Sie werden es erfahren. Peter, komm!«

»Aha!« fuhr Fictor fort – »unser großmüthiger Ritter wendet sich zur Flucht. Er will wohl nicht die Wahrheit hören. Sie sticht, die Wahrheit!«

»So komme doch, Peter,« wiederholte Fustoff, der endlich seine gewohnte Kaltblütigkeit und Selbstbeherrschung gänzlich verloren hatte. – »Wir wollen diesen elenden Knaben allein lassen!«

»Dieser Knabe fürchtet Sie nicht, hören Sie!« schrie Fictor hinter uns drein, – »dieser Knabe verachtet Sie, – ver–ach–tet, hören Sie?«

Fustoff ging so schnell auf der Straße, daß ich ihm mit Mühe nur folgen konnte. Plötzlich blieb er stehen und wandte sich jäh zurück.

»Wohin?« fragte ich.

»Ich muß erfahren, was dieser Dummkopf … Wer weiß, was er im Rausche … Gehe Du aber nicht mit … Wir sehen uns morgen, lebe wohl!«

Mir eilig die Hand drückend, wandte sich Fustoff noch einmal Jar's Gasthause zu.

Am folgenden Tage sah ich Fustoff nicht. Als ich am übernächsten Tage zu ihm ging, hörte ich in seiner Wohnung, daß er die Stadt verlassen habe und zu seinem Onkel auf dessen Landgut außerhalb Moskau gezogen war. Ich fragte erstaunt, ob er nicht einen Brief für mich zurückgelassen habe, allein, es fand sich Nichts. Darauf fragte ich den Diener, ob er wisse, wie lange Alexander Daviditsch auf dem Lande zu bleiben beabsichtige. »Wahrscheinlich 2 bis 3 Wochen,« war die Antwort des Dieners. Ich nahm für alle Fälle Fustoff's genaue Adresse und ging, in Nachdenken versunken, nach Hause. Diese unerwartete Abreise von Moskau im Winter versetzte mich in das größte Erstaunen.

Meine gute Tante fragte mich bei Tische, was ich erwarte und warum ich die Kohlpastete ansehe, als sähe ich so Etwas zum ersten Male im Leben. »Pierre, vous n'êtes pas amoureux?« rief sie endlich aus, nachdem sie ihre Gesellschafterinnen zuvor entfernt hatte. Aber ich beruhigte sie: nein ich war nicht verliebt.

 

Sechszehntes Kapitel

Drei Tage vergingen. Es trieb mich, zu Ratsch zu gehen; mir däuchte, daß ich in seinem Hause die Lösung von Allem, was mich beschäftigte, was ich nicht verstand, finden müsse … Aber ich hätte dem »Veteranen« wieder begegnen müssen … Dieser Gedanke hielt mich davon zurück.

An einem schauerlichen Abend – draußen wüthete und heulte ein Februarsturm, trockener Schnee schlug ruckweise an das Fenster, als würfe eine starke Hand Sand an die Scheiben, – saß ich in meinem Zimmer und versuchte zu lesen. Mein Diener trat herein und meldete mir geheimnißvoll, daß eine Dame mich zu sprechen wünsche. Ich verwunderte mich; ich pflegte keinen Damenbesuch zu erhalten, am wenigsten zu einer so späten Stunde; indessen, ich ließ sie hineinführen. Die Thür öffnete sich und es trat eine, ganz in einen leichten sommerlichen Ueberwurf und in einen gelben Shawl gehüllte Frau mit raschen Schritten herein. Sie warf mit einem Rucke den mit Schnee bedeckten Ueberwurf ab und, vor mir stand – Susanne. Ich war dermaßen bestürzt, daß ich kein Wort hervorbringen konnte, sie aber näherte sich dem Fenster, lehnte sich mit der Schulter an die Wand und blieb regungslos stehen; nur ihre Brust hob sich krampfhaft, der Blick irrte umher, und der Athem entriß sich ihren todtenbleichen Lippen mit einem leisen Aechzen. Ich begriff, daß kein gewöhnliches Unglück sie zu mir geführt hatte; ich begriff, trotz meiner Jugend und meines Leichtsinns, daß sich in diesem Augenblick hier, vor mir, das Schicksal eines Lebens vollbrachte – ein bitteres, schweres Schicksal.

»Susanne Ivanowna,« fing ich an: »wie …«

Sie ergriff plötzlich meine Hand mit ihren kalten Fingern, aber die Stimme versagte ihr. Sie seufzte unruhig und brach zusammen. Ihre schweren schwarzen Haarflechten fielen über ihr Gesicht … es lag noch Schnee auf denselben.

»Ich bitte, beruhigen Sie sich; setzen Sie sich,« fing ich wieder an, »setzen Sie sich hier auf das Sopha. Was ist vorgefallen? Setzen Sie sich, ich bitte Sie.«

»Nein,« sagte sie, kaum hörbar und ließ sich auf das Fensterbrett nieder. »Es ist gut … lassen Sie … Sie konnten nicht voraussetzen … aber wenn Sie wüßten … wenn ich könnte, … wenn ich …«

Sie wollte sich bezwingen; aber mit erschütternder Gewalt stürzten ihr die Thränen aus den Augen und Schluchzen, lautes, heftiges Schluchzen erfüllte das Zimmer.

Ich hatte Susannen nur zwei Mal gesehen; ich hatte wohl errathen, daß sie ein schweres Leiden trug; aber ich hatte sie für ein stolzes Mädchen mit einem festen Charakter gehalten und jetzt diese unaufhaltsamen, verzweifelten Thränen … Herr Gott! so weint man nur im Angesicht des Todes!

Ich stand selbst da, wie ein zum Tode Verurtheilter.

»Vergeben Sie mir,« sagte sie endlich mehrere Mal, indem sie, fast zornig, ein Auge nach dem anderen abwischte. »Das wird gleich vorübergehen. Ich bin zu Ihnen gekommen …« Sie schluchzte noch, aber ohne Thränen. »Ich bin gekommen … Sie wissen ja wohl, daß Alexander Daviditsch abgereist ist?«

In dieser einen Frage hatte Susanne Alles gestanden, und sie warf dabei einen Blick auf mich, welcher deutlich sagte: »Du wirst begreifen, Du wirst mich schonen, nicht wahr?« Die Unglückliche! Ihr war also kein anderer Ausweg mehr geblieben!

Ich wußte nicht, was ich ihr antworten sollte …

»Er ist abgereist, er ist abgereist … er hat ihm geglaubt!« sagte während dem Susanne. »Er hat mich nicht einmal fragen wollen; er glaubte, ich würde ihm nicht die Wahrheit sagen! Er konnte das von mir glauben! Als hätte ich ihn jemals hintergangen!«

Sie biß sich in die Unterlippe und fing an, sich Etwas herabbeugend, die Eisblumen, welche die Scheiben bedeckten, mit dem Nagel zu kratzen. Ich ging eilig in's Nebenzimmer, schickte meinen Diener fort, kam unverzüglich wieder und zündete ein zweites Licht an. Ich wußte selbst nicht recht, weshalb ich das Alles that … Ich war vollkommen verwirrt.

Susanne saß noch immer am Fenster und ich bemerkte jetzt erst, wie leicht sie gekleidet war. Ein graues Kleid mit weißen Knöpfen und einem breiten Ledergurt – das war Alles. Ich näherte mich ihr, allein sie beachtete es nicht.

»Er hat es geglaubt … er hat es geglaubt,« flüsterte sie, von einer Seite zur Anderen schwankend. »Er hat nicht gezaudert, und hat mir diesen letzten Schlag … diesen letzten Schlag!« Plötzlich sich zu mir wendend, fragte sie: »Kennen Sie seine Adresse?«

»Ja, Susanne Ivanowna … ich habe sie von seinen Dienstboten … in seinem Hause erfahren. Er selbst hat mir Nichts von seiner Absicht gesagt; ich hatte ihn zwei Tage nicht gesehen, ging zu ihm und fand, daß er Moskau verlassen hatte.«

»Kennen Sie seine Adresse?« wiederholte sie. »Nun, so schreiben Sie ihm, daß er mich getödtet hat. Sie sind ein guter Mensch, ich weiß es. Er hat Ihnen gewiß nicht von mir gesprochen; mir aber hat er von Ihnen erzählt. Schreiben Sie … ach, schreiben Sie ihm, daß er sofort zurückkommen möchte, wenn er mich noch unter den Lebenden finden will! … Doch nein! Er wird mich nicht mehr finden!«

Susannens Stimme wurde mit jedem Worte leiser und sie wurde endlich ganz stille. Allein diese Ruhe erschien mir noch fürchterlicher als ihr früheres Schluchzen.

»Er hat ihm geglaubt,« … sagte sie noch einmal und stützte das Kinn auf die gefalteten Hände.

Ein plötzlicher, heftiger Windstoß warf mit einem schrillen Pfeifen Schnee an das Fenster und eine kalte Luftwelle zog durch das Zimmer … Die Flammen der Lichter wurden geweht … Susanne erzitterte.

Ich bat sie noch einmal sich auf das Sopha zu setzen.

»Nein, nein, lassen Sie mich,« sagte sie; »hier ist es gut … ich bitte!« Sie drückte sich an die gefrorene Scheibe, als hätte sie in der Fenstervertiefung eine Zufluchtsstätte gefunden, und wiederholte: »ich bitte!«

»Aber Sie beben, Sie sind erstarrt,« rief ich aus. »Sehen Sie, Ihre Stiefel sind durchnäßt.«

»Lassen Sie – ich bitte …« flüsterte sie leise und schloß die Augen.

Mich erfaßte namenlose Angst.

»Susanne Ivanowna!« schrie ich fast, »kommen Sie zu sich, ich bitte Sie! Was ist Ihnen? Warum die Verzweiflung? Sie werden sehen, Alles wird sich aufklären, irgend ein Mißverständniß … Ein unerwarteter Vorfall … Sie werden sehen, er kehrt bald wieder zurück. Ich werde ihm zu wissen geben, werde ihm heute noch schreiben … Aber ich werde ihm Ihre Worte nicht wiederholen … Wie wäre das möglich!«

»Er wird mich nicht mehr finden,« wiederholte Susanne mit derselben leisen Stimme. »Wäre ich denn hierher zu Ihnen, zu einem fremden Menschen gegangen, wenn ich nicht wüßte, daß ich nicht leben bleibe? Ach, mein Letztes ist unwiederbringlich verloren! Da wollte ich denn nicht sterben, allein und stumm, ohne Jemand zugerufen zu haben: ›Ich habe Alles verloren … Ich sterbe … Seht!‹«

Sie zog sich wieder in ihr kaltes Nest zurück …

Nie im Leben werde ich jenen Kopf, die unbeweglichen Augen mit ihrem tiefen, erloschenen Blicke, diese dunklen, aufgelösten Haare vor der weißgefrorenen Fensterscheibe, und selbst jenes enge, graue Kleid vergessen. Unter jeder Falte desselben schlug noch so heißes, junges Leben!

Ich schlug unwillkürlich die Hände zusammen.

»Sie, Sie sollten sterben, Susanne Ivanowna? Ihnen steht das Leben bevor! … Sie müssen leben!«

Sie sah mich an … meine Worte schienen sie zu verwundern.

»Ach, Sie wissen nicht,« fing sie an, und ließ beide Hände langsam hinabsinken. »Ich kann nicht leben. Zuviel, zuviel habe ich ertragen müssen, zu viel! … Ich hab's getragen … ich habe gehofft … aber jetzt … wo auch das zusammengebrochen ist, … wo …«

Sie hob den Blick zur Decke empor und versank in Nachdenken. Der tragische Zug, den ich einst um ihre Lippen bemerkt hatte, war jetzt weit deutlicher hervorgetreten und hatte sich über das ganze Gesicht verbreitet. Es war, als wenn ein unerbittlicher Finger ihn eingegraben, und dieses arme Geschöpf damit unrettbar dem Verderben geweiht hätte.

Sie schwieg immer.

»Susanne Ivanowna,« sagte ich, nur um dieses scheue Stillschweigen zu brechen: »Er wird zurückkehren, ich versichere Sie.«

Susanne sah mich wieder an.

»Was sagten Sie?« brachte sie mit sichtbarer Anstrengung hervor.

»Er wird wiederkehren, Susanne Ivanowna, Alexander wird zurückkommen!«

»Er wird zurückkommen?« wiederholte sie. »Aber selbst wenn er zurückkommt, kann ich ihm diese Erniedrigung nicht vergeben, sein Mißtrauen …«

Sie faßte sich an den Kopf.

»Ah, Gott! Ah, Gott! Was rede ich? Warum bin ich hier? Was ist das? Warum … oh, warum wollte ich bitten? … und wen? Ah, ich werde wahnsinnig! …«

Ihre Augen wurden starr.

»Sie wollten mich bitten, an Alexander zu schreiben,« eilte ich, ihr zu sagen.

Sie raffte sich auf.

»Ja. Schreiben Sie … Schreiben Sie, was Sie wollen … Dieses aber …« Sie suchte hastig in ihrer Tasche und zog ein kleines Heftchen heraus. »Dieses hatte ich für ihn niedergeschrieben … vor seiner Flucht … Aber er hat ja geglaubt … Jenem geglaubt!«

Ich begriff, daß von Fictor die Rede war; Susanne wollte ihn nicht nennen, wollte den verhaßten Namen nicht aussprechen.

»Doch, erlauben Sie, Susanne Ivanowna,« fing ich an, »woraus entnehmen Sie, daß Alexander Daviditsch eine Unterredung mit … mit jenem Menschen gehabt hat?« –

»Woher? … woher … Aber, der kam ja selbst zu mir und hat mir Alles erzählt, und er brüstete sich damit und … lachte gerade wie sein Vater! Hier, hier, nehmen Sie,« fuhr sie fort, mir ein Heft in die Hand drückend, »lesen Sie es, – schicken Sie es ihm, werfen Sie es fort, machen Sie, was Sie wollen und wie Sie wollen … Aber, man kann ja doch nicht so sterben, daß Niemand es weiß … Jetzt aber ist es Zeit … ich muß gehen.«

Sie erhob sich von dem Fensterbrett … ich hielt sie auf.

»Wohin, Susanne Ivanowna? Um Gottes Willen! Hören Sie den Schneesturm! Sie sind so leicht gekleidet … und Ihr Haus ist so weit von hier entfernt! Erlauben Sie, daß ich wenigstens nach einem Wagen schicke oder nach einen Schlitten …«

»Es ist nicht nöthig, gar Nichts nöthig,« sprach sie, es mit Bestimmtheit ablehnend und nach ihrem Ueberwurf und Shawl greifend. »Halten Sie mich um Gottes Willen nicht auf, sonst … Ich stehe für Nichts! Ich fühle, daß mir der Kopf schwindelt! Ich sehe einen Abgrund, einen dunklen Abgrund zu meinen Füßen!« – Mit fieberhafter Hast warf sie Mantel und Shawl um … »Leben Sie wohl … Leben Sie wohl! … Oh, mein armes, armes Volk, Du ewig wanderndes! Es liegt ein Fluch auf Dir! Mich hat ja Niemand geliebt, wie sollte er denn …« Sie verstummte plötzlich. »Nein! es hat Einen gegeben, der mich liebte,« fing sie wieder an, die Hände ringend, »aber überall Tod, unvermeidlicher, unvermeidlicher Tod! Jetzt ist die Reihe an mir … Folgen Sie mir nicht,« rief sie mit durchdringender Stimme. »Kommen Sie nicht! – Kommen Sie nicht!«

Ich stand wie versteinert da. Sie stürzte hinaus und einen Augenblick später hörte ich unten die schwere Thür zur Straße zufallen und die Fensterrahmen unter dem Andrange des Sturmes erbeben.

Es dauerte lange, bis ich wieder zu mir kommen konnte. Ich fing damals eben erst an zu leben, hatte weder Kummer noch Leidenschaften erfahren, und war nur selten Zeuge dessen gewesen, wie diese heftigen Gefühle sich bei Andern äußerten … Aber die Wahrheit dieses Schmerzes und dieser Leidenschaft erschütterte mich. Hätte ich das Heft nicht in Händen gehalten, ich hätte wahrlich meinen können, Alles sei nur ein Traum gewesen, so ungewöhnlich war das Alles! und es war vorübergezogen, schnell, wie ein Gewitterschauer! Ich las bis Mitternacht in dem Hefte. Es bestand aus einigen Bogen Postpapier, die, fast ganz ohne durchgestrichene Stellen, in einer großen, unregelmäßigen Handschrift beschrieben waren. Keine einzige Zeile lief gerade hin, und in einer jeden derselben glaubte man das Zittern der Hand zu fühlen, welche die Feder geführt hatte. Es stand Folgendes in dem Hefte (ich habe es bis jetzt aufbewahrt):

 

Siebzehntes Capitel.
Meine Geschichte

»Ich werde achtundzwanzig Jahre alt. Meine ersten Erinnerungen sind: Ich lebe im Tamboffschen Gouvernement bei einem reichen Gutsbesitzer Ivan Matveitsch Koltowsko, in einem kleinen Zimmer des zweiten Stockes seines Landhauses. Mit mir zusammen lebt meine Mutter, eine Hebräerin, die Tochter eines verstorbenen Malers, der aus dem Auslande mitgebracht worden war; sie war eine kränkliche, ungemein hübsche Frau mit einem wachsbleichen Gesichte und so schwermüthigen Augen, daß ich, wenn sie lange auf mich sah, den traurigen Blick dieser Augen zu fühlen pflegte, selbst ohne sie anzusehen; ich fing dann unwillkürlich an zu weinen und warf mich in ihre Arme. Es kamen Lehrer angefahren, man nennt mich Fräulein, und ich nehme Musikstunden. Ich speise mit meiner Mutter zusammen am herrschaftlichen Tische. Herr Koltowsko ist ein hoher, stattlicher Greis mit einer majestätischen Haltung; er ist immer von Ambra-Duft umgeben. Ich habe tödtliche Furcht vor ihm, obgleich er mich »Suzon« nennt und mir gestattet, seine sehnige, dürre Hand durch die Spitzenmanschette hindurch zu küssen. Meiner Mutter begegnet er ausgesucht höflich; aber auch mit ihr unterhält er sich wenig; er pflegt ihr wohl hier und da einige wohlwollende Worte zu sagen, auf welche sie sich gleich zu antworten beeilt, und wieder verstummt; er sitzt da, sich würdevoll umschauend und langsam eine Prise spanischen Tabaks, aus einer runden, goldenen Dose, mit dem Namenszug der Kaiserin Catharina, nehmend.

»Das neunte Jahr meines Lebens ist mir für immer erinnerlich geblieben … Da erfuhr ich von den Stubenmädchen im Mägdezimmer, daß Ivan Matveitsch Koltowsko mein Vater sei, und fast an demselben Tage heirathete meine Mutter auf seinen Befehl Herrn Ratsch, der bei ihm die Stelle eines Geschäftsführers einnahm. Ich konnte nicht verstehen, wie das möglich war. Ich grübelte, mein Kopf war angegriffen, ich erkrankte beinahe und hatte ganz die Fassung verloren. »ist es wahr, ist es wahr, Mama,« fragte ich sie, – »daß der wohlriechende »Knecht Ruprecht« (so nannte ich Ivan Matveitsch) mein Vater ist?« Meine Mutter erschrack sehr und hielt mir den Mund zu …

»Niemals, niemals sprich davon, hörst Du, Susanne, hörst Du? – nicht ein Wort!« wiederholte sie mit bebender Stimme, meinen Kopf fest an ihre Brust drückend … Und ich habe wirklich Niemand davon gesagt … Diesen Befehl meiner Mutter konnte ich verstehen … Ich begriff, daß ich schweigen mußte, daß meine Mutter mich um Vergebung bat!

»Damals fing mein Unglück an. Herr Ratsch liebte meine Mutter nicht, ebensowenig wie sie ihn liebte. Er heirathete sie nur um ihres Geldes willen, und sie mußte gehorchen. Herr Koltowsko fand wahrscheinlich, daß sich auf diese Weise Alles am besten ordnen ließ – » la position était régularisée.« Ich erinnere mich, daß meine Mutter und ich – am Tage vor der Hochzeit – engumschlungen, den ganzen Morgen durch weinten, – wir weinten bittere, stumme Thränen. War es zu verwundern, daß sie schwieg … Was konnte sie mir sagen? Und, daß ich sie nicht ausfragte, beweist, daß unglückliche Kinder früher klug werden, als glückliche Kinder … und das ist zu ihrem eigenen Schaden.

»Herr Koltowsko fuhr fort, sich mit meiner Erziehung zu beschäftigen, und näherte mich sogar allmälig mehr und mehr seiner Person. Er unterhielt sich nie mit mir … aber Morgens und Abends, wenn er mit zwei Fingern die Tabaksstäubchen von seinem Jabot geschüttelt hatte, klopfte er mir mit diesen selben eiskalten zwei Fingern auf die Wange, und gab mir von einer besonderen Art dunkler Bonbons, die auch nach Ambra rochen, und die ich niemals aß. Mit meinem zwölften Jahre wurde ich seine Vorleserin, » sa petite lectrice.« Ich las französische Werke des vorigen Jahrhunderts, die Memoiren von Saint-Simon, Mably, Reynier, Helvetius, den Briefwechsel Voltaire's, die Encyclopädisten, natürlich immer ohne irgend etwas zu verstehen, selbst wenn er lächelnd und mit den Augen blinzelnd mir befahl: » de relire ce dernière paragraphe, qui est bien remarquable!« Ivan Matveitsch war ein vollständiger Franzose. Er hatte bis zu der Revolution in Paris gelebt, erinnerte sich Marie Antoinettes und hatte von ihr Einladungen nach Trianon erhalten. Er hatte auch Mirabeau gesehen, welcher seiner Beschreibung nach, sehr große Knöpfe trug – » exagéré en tout!« – und überhaupt ein Mann von schlechtem Ton war – en dépit de sa naissance!« Uebrigens erzählte Ivan Matveitsch selten etwas aus jener Zeit; aber zwei bis drei Mal im Jahre sagte er, sich an einen schiefen Greis, einen Emigranten, wendend, dem er die Kost gab und den er, Gott weiß weßhalb, »Monsieur le Commandeur« nannte, mir seiner langsamen, näselnden Stimme ein Impromtu her, das er einst in einer Soiree bei der Herzogin von Polignac vorgetragen hatte. Ich kann mich nur noch auf die zwei ersten Strophen desselben besinnen … (es handelte sich darin um eine Parallele zwischen den Russen und den Franzosen:)

»L'aigle se plait aux regions austères,
Où le ramier ne saurait habiter
 …«

» Digne de Mr. de Saint Aulaire!« rief Mr. le Commandeur dann jedesmal aus.

»Ivan Matveitsch sah bis zu seinem Tode jugendlich aus. Seine Wangen waren roth, seine Zähne weiß, die Augenbrauen stark und unbeweglich, die Augen angenehm und ausdrucksvoll, glänzende, schwarze Augen, wie Achat. Er war gar nicht eigensinnig und ging mit Allen, selbst mit den Dienern höflich um … Aber, ach Gott! wie gedrückt fühlte ich mich bei ihm, mit welcher Freude ging ich jedesmal von ihm, welch schlechte Gedanken beunruhigten mich in seiner Gegenwart! … Ich bin nicht schuld an dem, was sie aus mir gemacht haben! …

»Herrn Ratsch wurde nach seiner Hochzeit ein Flügel unweit des herrschaftlichen Hauses angewiesen. Dort lebte ich mit meiner Mutter. Ich war auch dort nicht glücklich. Ihr wurde bald ein Sohn geboren, eben jener Fictor, den ich berechtigt bin, meinen Feind zu nennen, und ihn als solchen zu betrachten. Von seiner Geburt an erholte sich meine Mutter, deren Gesundheit immer schwach gewesen, nicht mehr. Herr Ratsch hielt es damals nicht für angemessen, jene Heiterkeit herauszukehren, welcher er sich jetzt ergiebt. Er hatte stets ein strenges Aussehen und bemühte sich, für einen Geschäftsmann zu gelten. Gegen mich war er hart und roh. Ich empfand Freude, wenn ich von Ivan Matveitsch fortging; aber auch das eigene Haus verließ ich gerne … Ach, meine unglückliche Jugend! Stets von einem Ufer zum andern getrieben – nirgends landen mögend! Zuweilen lief ich mit Freuden fort, über den Hof, im Winter im leichten Kleide durch den tiefen Schnee, zu Ivan Matveitsch, um ihm vorzulesen … und wenn ich hinkam und diese großen, traurigen Zimmer sah, diese Damast-Möbel, diesen höflichen, seelenlosen Greis in der aufgeknöpften seidenen »douillette«, im weißen Jabot, weißem Halstuch und Spitzenmanschetten über die Finger und einem »Soupçon« von Puder (wie sein Kammerdiener sich ausdrückte) auf den zurückgekämmten Haaren, – da benahm mir der erstickende Ambra-Geruch den Athem und das Herz stockte mir. Ivan Matveitsch saß gewöhnlich in einem breiten Voltaire an der Wand; über seinem Kopfe hing ein Bild, das eine junge Frau mit einem heiteren, kühnen Gesichtsausdrucke darstellte. Sie trug ein reiches israelitisches Kostüm und war völlig bedeckt mit Perlen und kostbaren Edelsteinen … Ich pflegte mich oft in dieses Bild hineinzusehen, aber in der Folge erst erfuhr ich, daß es das Bild meiner Mutter war, und von ihrem Vater, auf Bestellung für Ivan Matveitsch, gemalt worden war. Wie hatte sie sich seit der Zeit verändert! Wie war es ihm gelungen, sie zu zerbrechen und zu vernichten! »Und sie hat ihn geliebt! Hat diesen Greis geliebt!« dachte ich … Wie ist das möglich? Ihn lieben … Und doch, wenn ich mich einiger Blicke, einiger Bemerkungen, einiger unwillkürlicher Bewegungen meiner Mutter erinnerte, – so mußte ich mir mit Schrecken gestehen … »Ja, ja, sie liebte ihn!« … Ach, bewahre Gott Jeden vor ähnlichen Empfindungen und Erfahrungen.

»Jeden Tag las ich Ivan Matveitsch vor, und oft drei bis vier Stunden lang, ohne Unterbrechung … Es schadete mir, so viel und so laut zu lesen. Unser Arzt fürchtete für meine Brust und wagte es sogar einmal, es Ivan Matveitsch zu sagen. Allein dieser lächelte nur (das heißt: nein; er lächelte niemals, sondern spitzte nur die vorgeschobenen Lippen) und sagte ihm: »Vous ne savez pas ce qu'il-y-a de ressources dans cette jeunesse.« – »In früheren Jahren jedoch« bemerkte ferner der Doctor, »hat Monsieur le Commandeur …« »Vous rêvez, mon cher,« unterbrach er ihn. – »Le Commandeur n'a plus de dents et il crache à chaque mot. J'aime les voix jeunes

»Und ich fuhr fort zu lesen, obgleich ich des Morgens und in der Nacht viel hustete.

»Zuweilen ließ mich Ivan Matveitsch ihm auf dem Claviere vorspielen. Allein die Musik wirkte einschläfernd auf seine Nerven. Seine Augen schlossen sich gleich, der Kopf senkte sich langsam, und von Zeit zu Zeit wurde nur ein: »C'est du Steibelt, n'est-ce pas?« hörbar, oder: »Jouez moi du Steibelt!« Ivan Matveitsch hielt Steibelt für einen großen Genius, der es verstanden hatte, in seinen Compositionen »la grossière lourdeur des Allemands« zu überwinden, und warf ihm nur das Eine vor: »Trop de fougue! trop d'imagination!« Wenn Ivan Matveitsch bemerkte, daß ich am Clavier ermüdete, bot er mir »du Cachou de Bologne« an. So ging ein Tag nach dem andern dahin.

»Und in einer Nacht – einer unvergeßlichen Nacht! brach ein fürchterliches Unglück über mich herein. Meine Mutter starb ganz plötzlich! Ich war eben erst 15 Jahre alt geworden. Ach, was das für ein Schmerz war, der mich wie ein Wirbelwind erfaßte! Wie erschreckte mich, wie verschüchterte mich diese erste Begegnung des Todes für immer! Meine arme, arme Mutter! Seltsam waren unsere Beziehungen zu einander gewesen. Wir Beide liebten einander leidenschaftlich … leidenschaftlich und hoffnungslos. Es war, als wenn wir Beide unser gemeinsames Geheimniß sorgfältig vor einander behüteten und bewahrten; wir schwiegen Beide hartnäckig, obgleich wir wußten, Alles wußten, was im tiefsten Herzen des Andern vorging! Selbst über ihre Vergangenheit, über ihre frühe Jugend sprach meine Mutter nie mit mir. Sie klagte nie mit Worten, obgleich ihr ganzes Wesen eine einzige stumme Klage war! Wir wichen jedem etwas ernsteren Gespräche aus. Ach! Ich hoffte immer, daß endlich eine Stunde schlagen würde, wo sie sich aussagen, und wo auch ich mich aussprechen, und wir uns erleichtert fühlen würden. Aber die täglichen Sorgen, ihr unentschlossener, schüchterner Charakter, Krankheiten, die Gegenwart des Herrn Ratsch, hauptsächlich aber die ewige Frage »Warum?« und das nicht festzuhaltende, unaufhaltsame Fliehen der Zeit, des Lebens … Ein Donnerschlag machte Allem ein Ende, und ich hörte von meiner Mutter nicht einmal jenes gewöhnliche »Lebewohl« auf dem Sterbebette – wie viel weniger also jene Worte, die unser Geheimniß hätten lösen können! Das Einzige, was mir in der Erinnerung geblieben, ist Herrn Ratsch's Ausruf: »Susanne Ivanowna! Kommen Sie, ich bitte, Ihre Mutter möchte Sie segnen!« und dann die bleiche Hand, welche unter der schweren Decke hervorkam, der schwere Athem, das gebrochene Auge … Ach! genug! genug! …

»Mit welchem Entsetzen, mit welchem Unwillen, mit welcher ängstlichen Neugierde blickte ich am folgenden Tage und am Tage der Beerdigung in das Angesicht meines Vaters … ja! meines Vaters! In der Schatulle fanden sich seine Briefe. Mir war, als wenn er erblaßte und etwas erwachte … übrigens, nein! Nichts regte sich in dieser steinernen Seele. Gerade wie sonst ließ er mich 8 Tage darauf in sein Cabinet rufen; ganz mit derselben Stimme bat er mich zu lesen: »Si vous le voulez bien, les observations sur l'histoire de France de Mably, à la page 74 … là, ou nous avons été interrompus.« Er hatte nicht einmal Befehl gegeben, das Bild meiner Mutter hinauszutragen! Freilich, … als er mich entließ, rief er mich an seine Seite, und sagte, nachdem er mir zweimal die Hand zum Kusse gereicht hatte: »Susanne, la mort de votre mère vous a privée de votre appui naturel; mais vous pourrez toujours compter sur ma protection,« und, mich mit der andern Hand ein wenig an der Schulter fassend und wegschiebend, setzte er mit seinem gewöhnlichen Zuspitzen der Lippen sogleich hinzu: »Allez mon enfant!« – Ich hätte schreien mögen: »Du bist ja mein Vater!« aber ich sagte Nichts, und ging hinaus.

»Am andern Morgen in der Frühe ging ich auf das Grab meiner Mutter. Der Maimonat prangte in der ganzen Schönheit seiner Blüthen und Blätter, und ich saß lange auf dem frischaufgeworfenen Grabhügel. Ich weinte nicht, ich trauerte nicht; der eine Gedanke nur wirbelte mir im Kopfe: »Hörst Du, Mutter? Er will mir seinen Schutz angedeihen lassen!« Und es schien mir, als wenn der Hohn, der um meine Lippen spielte, sie nicht beleidigen dürfe.

»Zuweilen fragte ich mich, was mich denn bewog, so beharrlich zu verlangen und zu streben – nicht nach Anerkennung … o nein! aber nach einem warmen, verwandtschaftlichen Worte von Ivan Matveitsch? Wußte ich ja doch, welch ein Mensch er war, und wie wenig er dem glich, was mir in meinen Träumen als … Vater vorschwebte? … Aber, ich war so einsam, so einsam auf der Welt! Und dann … der eine unabweisbare Gedanke gab mir keine Ruhe: »Sie hat ihn ja geliebt! Es muß doch etwas da gewesen sein, weshalb sie ihn liebte!«

»Noch drei Jahre vergingen. In unserem einförmigen, vorausberechneten und gemessenen Leben hatte sich nichts verändert. Fictor wuchs heran. Ich war acht Jahre älter als er, und hätte mich gerne mit ihm beschäftigt, allein Herr Ratsch widersetzte sich dem. Er stellte eine Wärterin für ihn an, welche streng darüber zu wachen hatte, daß das Kind nicht »verwöhnt,« das heißt, ich nicht zu ihm gelassen würde. Fictor selbst wurde mir fremd. Eines Tages trat Herr Ratsch verstört, aufgeregt und zornig in mein Zimmer. Am Tage vorher waren böse Gerüchte über meinen Stiefvater zu meinen Ohren gelangt; es hieß, er sei überführt, von einem Kaufmanne bestochen zu sein, und eine bedeutende Summe Geldes verheimlicht zu haben.

»Sie können mir helfen,« fing er an, ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch klopfend. »Gehen Sie zu Ivan Matveitsch und bitten Sie für mich.«

»Bitten? Weshalb? Warum?«

»Verwenden Sie sich für mich … ich bin Ihnen ja doch kein Fremder. Ich werde beschuldigt … Nun, mit einem Worte, ich kann mein Brod verlieren, und Sie mit mir.«

»Wie soll ich zu ihm gehen? Ihn belästigen?«

»Warum nicht gar? Sie haben ein Recht, ihn zu belästigen.«

»Und welch' ein Recht, Ivan Demjanitsch?«

»Nun, machen Sie doch nicht Miene … Ihnen kann er doch aus verschiedenen Ursachen nichts abschlagen. Ist es denn möglich, daß Sie mich nicht verstehen?«

»Er sah mir frech in die Augen, und ich fühlte, wie meine Wangen erglühten. Haß und Verachtung stiegen plötzlich in mir auf; sie erhoben sich wie eine Welle und überflutheten mich.

»Ja, ich verstehe Sie, Ivan Demjanitsch,« antwortete ich endlich. Meine Stimme kam mir selbst fremd vor, »und ich werde nicht zu Ivan Matveitsch gehen, und ihn nicht bitten. Und sollten wir um unser tägliches Brod kommen, so mag es so sein!«

»Herr Ratsch erbebte, preßte die Lippen zusammen und ballte die Fäuste.

»Nun, so warte denn Du, Prinzessin Melikitrize!« flüsterte er heiser, »Ich werde Dir das nicht vergessen!«

»An diesem selben Tage ließ Ivan Matveitsch ihn zu sich kommen und man sagt, er habe ihm mit seinem spanischen Rohre gedroht, demselben Rohrstock, den er einst mit dem Herzoge von Larochefoucault getauscht, und habe geschrien: »Sie sind ein gewinnsüchtiger, niederträchtiger Mensch! Ich werde Sie an die Luft setzen!« Ivan Matveitsch sprach fast gar kein Russisch und verachtete unsere »grobe Mundart«, ce jargon vulgaire et rude. Jemand sagte einmal in seiner Gegenwart: »Das versteht sich von selbst.« Das erfüllte Ivan Matveitsch mit Unwillen, und seitdem führte er diesen Satz oft als Beispiel für die Sinnlosigkeit und Abgeschmacktheit der russischen Sprache an. »Was heißt das »versteht sich von selbst?« fragte er auf Russisch, jedes Wort besonders betonend. »Warum nicht einfach: versteht sich? und warum: von selbst?!«

»Ivan Matveitsch verjagte Herrn Ratsch indessen nicht, er nahm ihm nicht einmal seine Anstellung. Mir aber hat mein Stiefvater sein Wort gehalten: er hat es mir nicht vergessen.

»Es wurde eine Veränderung an Ivan Matveitsch bemerkbar. Er fing an sich zu grämen, wurde schwermüthig, seine Gesundheit war erschüttert. Eine gelbe Farbe trat an die Stelle des früheren frischen Rothes; sein Gesicht schrumpfte zusammen und er verlor einen Vorderzahn. Er hörte auf auszufahren und gab die eingeführten Empfangstage mit Bewirthung der Bauern, ohne die Betheiligung der Geistlichkeit »sans le Concours du clergé« – ganz auf. An solchen Tagen pflegte Ivan Matveitsch mit einer Rose im Knopfloch in den Saal oder auf den Balkon zu den Bauern hinauszutreten, und, einen silbernen Becher mit Branntwein leicht mit seinen Lippen berührend, hielt er ihnen eine Rede, etwa wie folgt: »Ihr seid zufrieden mit meinen Handlungen, gleich wie ich mit Euren Bemühungen zufrieden bin; das freut mich aufrichtig, Wir sind Alle Brüder; die Geburt selbst macht uns gleich: ich trinke auf Euer Wohl!« Er grüßte sie dann, und die Bauern verbeugten sich tief vor ihm, aber nicht bis zur Erde, das war streng verboten. Und die Bewirthung dauerte fort; Ivan Manveitsch jedoch zeigte sich seinen Unterthanen nicht mehr. Zuweilen unterbrach er mein Lesen durch den Ausruf: »La machine se détraque! Cela se gate!« Seine Augen selbst, diese hellen, steinernen Augen wurden matt und schienen sich zu verkleinern; er schlummerte öfter als sonst ein, und seufzte schwer im Schlafe. Seine Art mich zu behandeln blieb allein unverändert, es sei denn, daß sich ihr ein Schatten von ritterlicher Höflichkeit beigesellte. Wie schwer es ihm werden mochte, er stand jedesmal von seinem Lehnstuhle auf, wenn ich hereintrat, und geleitete mich auch wieder bis zur Thür, indem er meinen Ellnbogen mit seiner Hand stützte, auch fing er an, mich anstatt Suzon »ma chère demoiselle« oder »mon Antigone« zu nennen. Mr. le Commandeur war zwei Jahre später als meine Mutter gestorben, und sein Tod hatte Ivan Matveitsch scheinbar weit tiefer erschüttert. Ein Zeitgenosse von ihm war dahin: das war es, was ihn erschreckte. Das Verdienst des Herrn Commandeurs hatte in der letzten Zeit nur darin bestanden, daß er jedesmal: »Bien joué, mal réussi!« ausrief, wenn Ivan Matveitsch mit Herrn Ratsch Billard spielend, einen Fehlstoß that oder nicht traf, oder, wenn Ivan Matveitsch sich bei Tisch mit einer Frage, wie etwa die folgende, an ihn wandte: »N'est-ce pas, Mr. le Commandeur, c'est Montesquieu, qut a dit cela dans ses lettres persanes?« – so antwortete jener scharfsinnig, indem er einen Löffel Suppe auf sein Vorhemd fallen ließ: » Ah, Mr. de Montesquieu? Un grand écrivain, monsieur, un grand écrivain!« Als einmal Ivan Matveitsch ihm sagte: » Les théophilantropes ont eu pourtant du bon!« – rief der Greis mit bewegter Stimme aus: » Monsieur de Kolontouskoy!« (er hatte in 25 Jahren nicht gelernt, den Namen seines Schutzherrn richtig auszusprechen) » Monsieur de Kolontouskoy! Leur fondateur, l'instigateur de cette secte, ce La Reveillière Lepeaux, était un bonnet rouge!« – » Non, non,« sagte Ivan Matveitsch lächelnd und eine Prise Tabak nehmend; – » des fleurs, des jeunes vierges, le culte de la nature … ils ont eu du bon, ils ont eu du bon! …« Ich habe mich stets darüber verwundert, wie viel Kenntnisse Ivan Matveitsch besaß und wie, unnütz diese Kenntnisse für ihn selbst waren.

»Ivan Matveitsch's Kräfte ließen sichtbar nach, allein er widerstand noch immer. Eines Tages, ungefähr drei Wochen vor seinem Tode, hatte er gleich nach Tisch einen heftigen Anfall von Schwindel. Er wurde nachdenkend und sagte: » C'est la fin,« und, sobald er wieder zu sich gekommen war und ausgeruht hatte, schrieb er an seinen einzigen Bruder und Erben in St. Petersburg, mit welchem er seit 20 Jahren nicht mehr verkehrt hatte. Ein benachbarter Deutscher, ein Katholik und einst berühmter Arzt, der nun auf seinem Gütchen im Ruhestande lebte, besuchte Ivan Matveitsch, als er von dessen Krankheit hörte. Er zeigte sich äußerst selten nur bei Ivan Matveitsch; dieser empfing ihn aber stets mit ganz besonderer Aufmerksamkeit und achtete ihn hoch. Er war vielleicht der Einzige auf der Welt, den Ivan Matveitsch achtete. Der Greis rieth Ivan Matveitsch nach einem Geistlichen zu schicken, aber Ivan Matveitsch antwortete ihm: »Ces messieurs et moi, nous n'avons rien à nous dire« und bat ihn, von etwas Anderem zu sprechen, und als der Nachbar weggefahren war, gab er seinem Kammerdiener Befehl, Niemand mehr anzunehmen. Hierauf ließ er mich rufen. Ich erschrak als ich ihn sah: Unter seinen Augen hatten sich blaue Flecke gebildet, das Gesicht war lang und hölzern geworden und der Kinnbacken hing schlaff herunter. » Vous voila grande, Suzon,« sprach er, mit Anstrengung die Consonanten hervorbringend, aber immer noch ein Lächeln versuchend (ich war damals schon im neunzehnten Jahre,) – »vous allez peut-être bientôt rester seule. Soyez toujours sage et vertueuse. C'est la dernière recommandation d'un ….« er hustete … » d'un viellard qui vous veut du bien. Je vous ai recommandé à mon frère, et je ne doute pas qu'il ne respecte mes volontés … « er hustete wieder und befühlte ängstlich seine Brust. » Du reste, j'espère encore pouvoir faire quelque chose pour vous … dans mon testament." Dieser letzte Satz schnitt mir wie ein Dolch in's Herz. Ach! das war zu Viel! zu verächtlich und beleidigend! Ivan Matveitsch schrieb wahrscheinlich das, was sich aus meinem Gesichte aussprach, einem anderen Gefühle, dem Gefühle der Trauer oder der Dankbarkeit zu, denn er klopfte mir liebreich auf die Schulter, als wollte er mich trösten und, mich dabei sanft abwehrend, wie gewöhnlich, sagte er: » Voyons, mon enfant, du courage! Nous sommes tous mortels. Et puis, il n'y pas encore de danger Ce n'est qu'une précaution que jai cru devoir prendre …, Allez!« – Wie damals, als er mich nach dem Tode meiner Mutter zu sich rufen ließ, hätte ich wieder aufschreien mögen: »Ich bin ja Tochter! Ihre Tochter!« Aber mir fiel ein, daß er in diesen Worten, in diesem Wehrufe meines Herzens nur den Wunsch heraus hören würde, meine Rechte geltend zu machen, meins Rechte auf die Erbschaft, auf sein Geld … Und oh! für Nichts in der Welt würde ich diesem Menschen etwas sagen, der mir nicht ein einziges Mal den Namen meiner Mutter genannt hatte, in dessen Augen ich so wenig bedeutete, daß er sich nicht einmal die Mühe gegeben hatte, zu erfahren, ob mir meine Herkunft bekannt sei! Vielleicht vermuthete er es aber, vielleicht wußte er es und wollte nur kein Aufsehen erregen, wollte nicht einer guten Vorleserin mit einer jungen Stimme entsagen! Nein! nein! Mag er ebenso strafbar an seiner Tochter werden, als er es an ihrer Mutter war! Mag er diese Doppelschuld mit in's Grab nehmen! Ich schwöre! ich schwöre! er soll jenes Wort, das ja in eines jeden Menschen Ohren einen süßen, heiligen Klang haben muß, nicht aus meinem Munde hören! Ich werde ihm nicht »Vater!« sagen, ihm nicht vergeben, für Mutter und mich! Er fühlt kein Bedürfniß nach dieser Vergebung, nach diesem Namen … Es kann nicht sein, es kann nicht sein, daß er ihrer nicht bedarf! Aber er soll keine Vergebung erhalten, er soll sie nicht haben; Nein!

»Gott weiß, ob ich meinen Schwur gehalten hätte, ob mein Herz sich nicht erweicht hätte, und ich Scheu und Scham und Stolz nicht überwunden hätte … aber es geschah mit Ivan Matveitsch wie es mit meiner Mutter geschehen war. Der Tod ereilte auch ihn eben so plötzlich, und auch in der Nacht. Und wieder war es Herr Ratsch, der mich weckte, und wir liefen zusammen in das Herrenhaus, in das Schlafzimmer Ivan Matveitsch's … Aber hier kam ich zu spät, selbst für diese letzten Bewegungen, welche sich an dem Sterbebette meiner Mutter mit so unverlöschlichen Zügen in meinem Gedächtniß eingegraben hatten. In den mit Spitzen besetzten Kissen lag eine dürre, dunkelfarbene Puppe mit spitzer Nase und struppigen Augenbrauen … Ich schrie auf in Furcht und Entsetzen, stürzte hinaus und stieß in der Thür auf bärtige Männer in Armjak's und festlichen, rothen Leibbinden und weiß nicht mehr, auf welche Weise ich an die frische Luft hinauskam …

»Es wurde später erzählt, der Kammerdiener habe Ivan Matveitsch, als er auf das heftige Schellen desselben in das Schlafzimmer gestürzt war, nicht im Bette, sondern zwei Schritte von demselben gefunden; daß er zusammengekauert auf dem Boden gesessen und zweimal nach einander ausgerufen hätte: »Das also, Großmutter, ist der Georgentag!« Und dies sollen seine letzten Worte gewesen sein. Aber ich kann das nicht glauben. Warum sollte er in solch einem Augenblicke Russisch gesprochen haben, und das in solchen Ausdrücken!

»Zwei volle Wochen erwarteten wir dann die Ankunft des neuen Herrn, Simeon Matveitsch Koltovskoy's Es kam der Befehl, bis zu seiner persönlichen Besichtigung Nichts anzurühren und Nichts zu verändern. Alle Thüren Möbel, Schiebladen, Tische – Alles wurde verschlossen und versiegelt. Alle Leute waren verzagt und in banger Erwartung. Ich wurde plötzlich eine wichtige Person, fast die Hauptperson im Hause. Man hatte mich auch sonst ›Fräulein‹ genannt; jetzt aber schien dieses Wort einen neuen Sinn erhalten zu haben und wurde mit besonderer Betonung ausgesprochen. Man flüsterte sich zu: »Der alte Herr ist plötzlich verschieden, so daß nicht einmal Zeit war, den Priester zu rufen und er war lange, lange nicht zur Beichte gegangen; aber es braucht ja nicht lange Zeit, um ein Testament zu machen.« Auch Herr Ratsch hielt es für rathsam, seine Handlungsweise zu ändern. Er stellte sich nicht gut und liebreich an: er wußte wohl, daß er mich nicht hinter's Licht führen konnte; aber sein Gesicht drückte finstere Demuth aus: »Siehst Du, ich unterwerfe mich!« Alle suchten eine Stütze in mir, bemühten sich, mir gefällig zu sein … ich aber wußte nicht, was ich thun, wie ich mich benehmen sollte, und wunderte mich nur, daß diese Menschen nicht begriffen, daß sie mich beleidigten. Endlich kam Simeon Matveitsch an.

»Simeon Matveitsch war zehn Jahre jünger als sein Bruder und war sein ganzes Leben hindurch einen ganz anderen Weg gegangen. Er stand in St. Petersburg im Staatsdienste und nahm eine einflußreiche Stellung ein; er war verheirathet gewesen, früh Wittwer geworden und hatte einen einzigen Sohn. In den Zügen glich Simeon Matveitsch seinem älteren Bruder; aber er war kleiner und stärker von Wuchs, hatte einen runden, kahlen Kopf, eben solche helle, schwarze aber sehr bewegliche Augen und starke Lippen. Im Gegensatze zu seinem Bruder, den er nach seinem Tode bis zu einem französischen Philosophen erhob, zuweilen aber einfach einen Sonderling nannte, sprach Simeon Matveitsch fast immer russisch; er sprach laut und deutlich und lachte beständig, wobei er stets die Augen schloß und auf eine unangenehme Weise den ganzen Körper bewegte, als wenn ihn Bosheit schüttelte. Er nahm sofort die Geschäfte in seine strenge Hand, ging selbst in Alles ein und verlangte von Jedem detaillirte Rechenschaft. Am Tage seiner Ankunft selbst ließ er die ganze Geistlichkeit einladen, ein Te Deum mit Wasserweihe abhalten und alle Zimmer, das ganze Haus, vom Speicher bis zu den Gewölben, mit Weihwasser besprengen, um, wie er sich ausdrückte, den »Jakobinischen und Voltair'schen Geist radikaliter auszutreiben.« In der ersten Woche schon flogen einige von Ivan Matveitsch's Lieblingen von ihren Stellen; Einer wurde in die Ansiedelungen verschickt, Andere erlitten körperliche Strafen; selbst der alte Kammerdiener – er war ein Türke von Geburt, und sprach Französisch, Ivan Matveitsch hatte ihn von dem verstorbenen Feldmarschall Kamensky zum Geschenk erhalten – selbst dieser Kammerdiener erhielt, die Freiheit freilich, zugleich aber auch den Befehl, in 24 Stunden abzureisen, »damit Anderen kein Aergerniß gegeben würde.« Simeon Matveitsch erwies sich als ein strenger Herr; Viele trauerten jetzt um den Verstorbenen. »Zur Zeit unseres Vaters Ivan Matveitsch,« hörte ich in meiner Gegenwart einen alten, hinfälligen Haushofmeister bekümmert sagen, »hatten wir nur die eine Sorge, daß ihm seine Wäsche sauber zugestellt wurde, daß die Zimmer dufteten und die Stimmen der Dienerschaft im Vorzimmer nicht hörbar wurden – das durfte um Alles in der Welt nicht sein! Aber sonst mochte überall Gras wachsen. Keine Fliege hat der Selige jemals beleidigt! Welch ein Elend jetzt! Wir sind am Tode!« Eben so schnell änderte sich meine Stellung, d. h. die Stellung, in welche ich ohne meinen Willen für einige Tage versetzt worden war … In Ivan Matveitsch's Papieren fand sich kein Testament vor, keine einzige geschriebene Zeile zu meinen Gunsten … Ich spreche gar nicht von Herrn Ratsch; aber auch die anderen Alle ärgerten sich über mich und bemühten sich, mir ihren Unwillen zu zeigen, als hätte ich sie betrogen. Alles wandte sich von mir ab … An einem Sonntage nach der Messe, welcher er immer am Altare beiwohnte, ließ Simeon Matveitsch mich zu sich kommen. Ich hatte ihn bis dahin nur im Vorübergehen gesehen und er hatte Miene gemacht, mich nicht zu bemerken. Er empfing mich in seinem Cabinet, am Fenster stehend, und trug die Viceuniform mit zwei Sternen. Ich blieb an der Thür stehen und mein Herz klopfte heftig in Furcht und einem anderen, unbestimmten, aber sehr bedrückenden Gefühle. »Ich habe Sie zu sehen gewünscht, junge Dame,« fing Simeon Matveitsch an, indem er mir zuerst auf die Füße und dann plötzlich in's Gesicht sah – es war, als wenn mir dieser Blick einen Stoß versetzt hätte. »Ich habe Sie zu sehen gewünscht, um Sie von meinem Entschlüsse in Kenntniß zu setzen und Ihnen zu versichern, daß ich unbedingt geneigt bin, Ihnen nützlich zu sein.« Er erhöhte die Stimme. »Rechte haben Sie natürlich gar keine; aber … als … Lectrice meines Bruders … können Sie stets auf meine … auf meine Theilnahme rechnen. Ich … ich bin vollkommen überzeugt von Ihrer Einsicht und Ihren guten Grundsätzen. Herr Ratsch, Ihr Stiefvater, hat schon die nöthigen Instructionen von mir erhalten. Uebrigens muß ich Ihnen sagen, daß Ihre glückliche äußere Erscheinung mir Bürge Ihrer edlen Gefühle ist.« Hier brach Simeon Matveitsch plötzlich in ein feines Lachen aus, und ich … ich fühlte mich nicht beleidigt … aber ich hatte Mitleid mit mir selbst und fühlte jetzt erst ganz, wie vollkommen verwaist ich in der Welt dastand. Simeon Matveitsch trat mit kurzen, festen Schritten an den Tisch, nahm einen Packen Banknoten aus der Schieblade und drückte ihn mir in die Hand, indem er hinzufügte: »Hier ist eine kleine Summe von mir, als Nadelgeld. Ich werde Sie auch in Zukunft nicht vergessen, meine Liebe, und jetzt leben Sie wohl und bleiben Sie brav.« Ich nahm mechanisch den Packen; ich hätte alles genommen, was er mir gegeben hätte, – kehrte in mein Zimmer zurück und weinte lange, lange, auf meinem Bette sitzend. Ich bemerkte nicht, daß ich den Packen hatte fallen lassen. Herr Ratsch fand ihn, hob ihn auf, fragte mich, was ich damit zu thun beabsichtige, und behielt das Geld.

»Um diese Zeit erlitt sein Schicksal eine große Veränderung. In Folge einiger Unterredungen mit Simeon Matveitsch stand er bei demselben hoch in Gnaden und erhielt bald daraus die Stelle des Haupt-Verwalters. Zu jener Zeit zeigte er zuerst seine Heiterkeit; damals fing dieses immerwährende Lachen an; anfangs wollte er seinen Patron copiren, später wurde das Alles bei ihm zur Gewohnheit. Zu derselben Zeit wurde er russischer Patriot. Simeon Matveitsch hielt an allem Nationalen fest, nannte sich selbst einen Russaken und lachte über die deutsche Kleidung, die er indessen trug. Einen Koch, für dessen Erziehung Ivan Matveitsch viel Geld gezahlt hatte, verschickte er auf ein entferntes Gut, – und das blos, weil er eine russische Nationalspeise nicht zuzubereiten verstand. In der Kirche accompagnirte er dem Vorsänger, und wenn man die Mädchen im Dorfe zum Gesänge und Reihentanze trieb, stimmte er die Lieder an, stampfte mit dem Fuße zu ihrem Tanze und kneipte sie in die Wangen … Uebrigens reiste er bald nach Petersburg und ließ meinen Stiefvater als unumschränkten Beherrscher der Besitzung zurück.

»Jetzt kamen bittere Zeiten für mich … Mein einziger Trost war die Musik und ich ergab mich ihr mit voller Seele. Zum Glück war Herr Ratsch sehr beschäftigt; aber bei jeder Gelegenheit ließ er mich seine Feindseligkeit fühlen; seinem Versprechen gemäß »vergaß« er mir meine Weigerung nicht. Er schickte mich hin und her, ließ mich seine langen lügenhaften Berichte an Simeon Matveitsch abschreiben und die orthographischen Fehler in denselben berichtigen; ich mußte mich ihm unbedingt unterwerfen, und ich that es. Er erklärte, daß er mich zähmen, mich seidenweich machen würde. »Was haben Sie für aufrührerische Augen?« schrie er einmal bei Tische, nachdem er Bier getrunken hatte, und schlug dabei mit der flachen Hand auf den Tisch. »Sie denken vielleicht, ich bin stumm wie ein Lamm, also habe ich Recht … Nein! Belieben Sie, mich auch anzusehen wie ein Lamm!« Meine Stellung wurde empörend, unerträglich … mein Herz fing an, sich zu verhärten. Es stieg immer öfter und öfter Gefährliches in mir auf; ich brachte die Nächte ohne Schlaf und ohne Feuer zu, und dachte, dachte immer, und in dieser äußeren Finsterniß und inneren Dunkelheit reifte in mir ein fürchterlicher Entschluß. Die Ankunft Simeon Matveitsch's gab meinen Gedanken eine andere Richtung.

»Niemand erwartete ihn; der Herbst war längst hereingebrochen. Es erwies sich, daß er Unannehmlichkeiten im Dienste gehabt und seinen Abschied genommen hatte: er hoffte, das Alexander-Band zu erhalten, und – man hatte ihm eine Tabaksdose gegeben. Unzufrieden mit der Regierung, welche seine Vorzüge nicht zu schätzen gewußt hatte, mit der Petersburger Gesellschaft, welche ihm wenig Theilnahme gezeigt und seinen Unwillen nicht getheilt hatte, faßte er den Entschluß, sich auf dem Lande niederzulassen und sich der Landwirthschaft zu widmen. Er kam allein. Sein Sohn, Michael Simeonitsch, kam erst später, zum neuen Jahre. Mein Stiefvater brachte fast seine ganze Zeit im Cabinette Simeon Matveitsch's zu, er stand noch höher in Gnaden. Mich ließ er in Ruhe; er hatte jetzt keine Zeit für mich … Simeon Matveitsch hatte den Einfall, eine Baumwoll-Fabrik einzurichten. Mein Stiefvater verstand Nichts vom Manufacturgeschäft, und Simeon Matveitsch wußte, daß er Nichts davon verstand; aber mein Stiefvater war sein »Vollstrecker« (damals ein Lieblingsausdruck!) »Araktschejeff!« Simeon Matveitsch nannte ihn namentlich: »Mein Araktschejeff!« – »Eifer,« versicherte er, »ist Alles was ich brauche; die Richtung werde ich selbst geben.« Trotz seiner vielfältigen Geschäfte mit der Fabrik, der Besitzung, der Einführung von Kanzlei-Ordnung und neuer Aemter und Stellen, fand Simeon Matveitsch dennoch Zeit, auch mir seine Aufmerksamkeit zuzuwenden. Eines Abends wurde ich in's Gastzimmer gerufen und gebeten, Klavier zu spielen. Simeon Matveitsch liebte die Musik noch weniger als der Verstorbene, indessen dankte er mir und ermuthigte mich und am folgenden Tage erhielt ich eine Einladung zum Mittagsessen. Nach Tische unterhielt sich Simeon Matveitsch ziemlich lange mit mir, fragte mich über Vieles aus, lachte über einige meiner Antworten, obgleich sie Nichts Lächerliches enthielten, und sah mich so seltsam an … Es verwirrte mich. Ich liebte seine Augen nicht; ich liebte ihren offenen, hellen Blick nicht … es war mir immer, als wenn diese Offenheit selbst etwas Schlechtes deckte, als wenn ihr heller Glanz eine dunkle Seele barg. »Ich werde Sie nicht zu meiner Lectrice machen« erklärte mir endlich Simeon Matveitsch, sich in widerwärtiger Weise putzend und zurechtzupfend, »ich bin Gottlob noch nicht erblindet und kann selbst lesen; aber der Kaffee wird mir aus Ihren Händchen wohlschmeckender erscheinen und Ihr Klavierspiel werde ich immer mit Vergnügen hören« Von diesem Tage an ging ich jeden Tag in's Herrenhaus zu Tische und blieb zuweilen bis zum Abende im Gastzimmer. Auch ich war, gleich meinem Stiefvater, zu Gnaden gekommen; es gereichte mir nicht zur Freude. Ich muß gestehen, daß Simeon Matveitsch mir Achtung erwies; aber in diesem Menschen war Etwas, ich fühlte es, was mich abstieß und erschreckte. Und »Etwas« sprach sich nicht in Worten aus, aber in seinen Augen … in diesen schlechten Augen und in seinem Lachen. Er sprach nie mit mir über meinen Vater, seinen Bruder, und mir schien, als wenn er nicht bloß deshalb diesem Gespräche auswich, um in mir keine ehrgeizigen Gedanken und Uebergriffe zu wecken, sondern aus einer andern Ursache, die ich mir damals nicht deutlich vorstellen konnte, die aber Zweifel in mir erregte und mich erröthen machte … Zum Feste der heiligen drei Könige kam sein Sohn Michael Simeonitsch an.

»Ach, ich fühle, daß ich nicht fortfahren kann, wie ich begonnen habe; diese Erinnerungen sind zu bitter! Und jetzt zumal bin ich nicht im Stande, ruhig zu erzählen … Und warum sollte ich es verhehlen? … Ich liebte Michael und er liebte mich wieder.

»Wie das zuging, kann ich auch nicht erzählen. Ich erinnere mich, wie er an jenem Abende in's Gastzimmer trat (ich saß am Klavier und spielte eine Sonate von Weber), wie er, schlank und schön, im sammetnen Leibpelz und Filzstiefeln, gerade wie er aus der Kälte kam, in's Zimmer trat, den Schnee von seiner Zobelmütze schüttelte, ehe er seinen Vater begrüßte, und einen schnellen, verwunderten Blick auf mich warf. Ich weiß, daß ich von jenem Abende an ihn nicht vergessen konnte, dieses junge Gesicht nicht mehr vergessen konnte. Er fing an zu sprechen, und es war, als wenn sich seine Stimme um mein Herz legte … eine männliche sanfte Stimme, und in jedem Tone derselben so eine ehrliche, ehrliche Seele! Simeon Matveitsch freute sich über die Ankunft seines Sohnes, umarmte ihn und fragte sogleich: »Auf zwei Wochen? Eh? Auf Urlaub? Eh?« – und entließ mich. Ich saß lange am Fenster meines Zimmers und sah zu den Lichtern hinüber, die im Herrenhause durch die Zimmer liefen. Ich folgte ihnen und horchte auf die neuen, unbekannten Stimmen. Diese ungewohnte, lebendige Unruhe gefiel mir, und etwas Neues, Unbekanntes, Lichtes zog durch meine Seele.

»Am folgenden Tage vor Tische hatte ich die erste Unterredung mit ihm. Er kam im Auftrag Simeon Matveitsch's zu meinem Stiefvater und traf mich in unserem kleinen Gastzimmer. Ich wollte weggehen, aber er hielt mich zurück. Er war sehr lebhaft und frei in seinen Reden und Bewegungen; aber von dem Stolze und der Frechheit, von dem verächtlichen Tone der Hauptstadt war keine Spur in ihm, auch nichts Militärisches von der Garde … Im Gegentheil, in der Ungezwungenheit seines Umganges selbst war etwas Schüchternes, als wenn er um Vergebung bäte. Es giebt Menschen, deren Augen niemals lachen, selbst im Momente des Lachens nicht; bei ihm veränderte sich der hübsche Zug um den Mund nie, seine Augen aber lachten beständig. So unterhielten wir uns wohl eine Stunde lang … worüber? ich weiß es nicht; ich erinnere mich nur, daß ich ihm die ganze Zeit über in die Augen sah und daß mir so wohl mit ihm war! Am Abend spielte ich Klavier. Er liebte die Musik sehr, setzte sich in einen Lehnstuhl, stützte den Krauskopf in die Hand und hörte aufmerksam zu. Er lobte mich kein einziges Mal, aber ich verstand, daß mein Spiel ihm gefiel und ich spielte mit Begeisterung. Simeon Matveitsch saß neben dem Sohne und betrachtete Pläne; plötzlich runzelte er die Stirne: »Nun mein Fräulein,« sagte er, sich wie gewöhnlich putzend und zuknöpfend, – »jetzt ist es genug. Sie schmettern ja wie ein Kanarienvogel! So kann man ja Kopfweh bekommen. Für einen alten Mann wie ich bin, würden Sie sich nicht diese Mühe geben,«  … fügte er halblaut hinzu und schickte mich wieder fort. Michel begleitete mich mit den Augen bis zur Thür und stand auf. »Wohin? Wohin?« schrie Simeon Matveitsch, lachte plötzlich auf und sagte noch Etwas … Ich konnte seine Worte nicht verstehen; aber Herr Ratsch, der sich in einem Winkel des Gastzimmers befand (er war überall »zugegen« und diesmal hatte er die Pläne gebracht) lachte in ähnlicher Weise und sein Lachen erreichte mein Ohr … Dasselbe oder doch fast dasselbe wiederholte sich am folgenden Abende. Simeon Matveitsch veränderte plötzlich sein Benehmen gegen mich und erklärte mich in die Acht.

»Vier Tage darauf begegnete ich Michel in dem Corridor, welcher das Herrenhaus in zwei Hälften theilte. Er faßte mich bei der Hand und führte mich in ein Zimmer neben dem Speisesaal, welches das Portraitzimmer hieß. Ich folgte ihm nicht ohne Aufregung, aber mit vollem Vertrauen. Ich glaube, daß ich ihm schon damals bis an's Ende der Welt gefolgt wäre, obgleich ich noch nicht ahnte, was er mir bereits war. Ach! Ich hatte mich ihm mit aller Leidenschaft und mit aller Verzweiflung eines jungen Wesens angeschlossen, das nicht allein Niemand auf der Welt zu lieben hat, sondern sich einen ungebetenen, lästigen Gast unter fremden, feindlichen Menschen fühlt! …

»Michel sagte mir … und seltsam! Ich blickte ihm gerade und kühn in's Gesicht – er aber sah mich nicht an und erröthete leicht, – er sagte mir, daß er meine Lage verstünde, daß er mit mir fühle, und bat mich, seinem Vater zu vergeben … »Was mich anbetrifft,« fügte er hinzu, »so bitte ich Sie, meiner stets versichert zu sein und nicht zu vergessen, daß Sie für mich eine Schwester, ja eine Schwester sind.« Hier drückte er mir fest die Hand. Ich verwirrte mich, und jetzt sah ich zur Erde; es war, als hätte ich etwas Anderes, ein anderes Wort zu hören erwartet. Indessen, ich fing an ihm zu danken. »Nein, ich bitte Sie,« unterbrach er mich, »sprechen Sie nicht so … aber vergessen Sie nicht, daß die Pflicht eines Bruders ist, sich seiner Schwester anzunehmen – und wenn Sie jemals des Schutzes bedürfen, gegen wen es auch sei – so verlassen Sie sich auf mich. Ich bin erst kurze Zeit hier, aber ich habe bereits Vieles begriffen … und unter Anderem habe ich Ihren Stiefvater begriffen.« Er drückte mir wieder die Hand und ging.

»Ich erfuhr in der Folge, daß Michel von seiner ersten Begegnung an einen Widerwillen gegen Herrn Ratsch gefaßt hatte. Herr Ratsch versuchte, sich auch bei ihm einzuschmeicheln; sobald er sich indessen von der Nutzlosigkeit seiner Bestrebungen überzeugt, stellte er sich ihm selbst feindlich gegenüber, und er suchte die feindlichen Beziehungen nicht etwa vor Simeon Matveitsch zu verbergen, er kehrte sie vielmehr heraus und sprach dabei sein Bedauern aus, daß es ihm bei dem jungen Erben nicht geglückt war. Herr Ratsch hatte den Charakter Simeon Matveitsch's gut studirt; seine Berechnung traf ein. »Die Ergebenheit dieses Menschen unterliegt schon deshalb keinem Zweifel, weil er nach mir verloren ist; mein Erbe kann ihn nicht leiden …« Dieser Gedanke setzte sich in dem Kopfe des alten Mannes fest. Man sagt, daß alle Männer sich, wenn sie alt werden, auf diesen Leim begeben, den Leim einer ausschließlichen, persönlichen Anhänglichkeit …

»Nicht umsonst nannte Simeon Matveitsch Herrn Ratsch seinen Araktschejesf … Er hätte ihm auch einen anderen Namen geben können. »Du bist mir nicht verantwortlich,« pflegte er ihm zu sagen. Er hatte gleich bei seiner Ankunft angefangen ihn zu dutzen, und mein Stiefvater blickte ihm lieblich auf den Mund, neigte den Kopf ergeben auf die Seite, als wollte er sagen: »Hier bin ich! Ganz der Ihre!« … Ach, ich fühle, daß meine Hand zittert, und mein Herz stößt an den Rand des Tisches, an dem ich eben schreibe … Mir graut vor der Erinnerung jener Tage, und mein Blut kocht … Aber ich werde Alles bis zum Ende erzählen … bis zum Ende!

»Meine Beziehungen zu Herrn Ratsch nahmen während der Zeit meiner kurzen »faveur« eine andere Schattirung an. Er wurde gefällig, vertraulich, achtungsvoll, wie wenn ich vernünftiger geworden und ihm dadurch näher gerückt wäre. »Haben das Grimassiren aufgegeben,« sagte er einst, als er aus dem Hauptgebäude in das Nebengebäude zurückging. »Lobenswerth! Alle diese Tugenden und Gefühle – diese »Chrestomathie« mit einem Worte, – ist nicht unsere Sache, die Sache armer Schlucker!« Als ich aber in Ungnade fiel und Michel es nicht mehr für nöthig hielt, seine Verachtung für Herrn Ratsch und seine Theilnahme für mich geheim zu halten, da verdoppelte Herr Ratsch sofort seine Strenge. Er verfolgte mich überall, als wenn ich der größten Verbrechen fähig wäre und mit stacheligen Handschuhen gehalten werden müßte. »Nehmen Sie sich in Acht!« schrie er, ohne anzuklopfen in schmutzigen Stiefeln und den Hut auf dem Kopfe in mein Zimmer hineindringend: »Ich werde nichts dergleichen ertragen! Rümpfen Sie nicht die Nase! Mich führen Sie nicht an. ich aber werde Ihren Hochmuth schon brechen!« Und an einem Morgen erklärte er mir, Simeon Matveitsch habe Befehl gegeben, daß ich nicht mehr ohne Einladung bei Tische erscheinen dürfe … Ich weiß nicht, welch eine Wendung Alles dies genommen hätte, wenn nicht ein besonderes Ereigniß damals mein Schicksal entschieden hätte …

»Michel war ein großer Pferdeliebhaber. Er hatte den Einfall, einen jungen Traber selbst einzufahren. Dieser ging durch, fing an auszuschlagen, und schleuderte ihn aus dem Schlitten hinaus … Er wurde mit einer verrenkten Hand und mit verletzter Brust besinnungslos in's Haus getragen. Der Alte erschrak heftig und verschrieb die besten Aerzte aus der Stadt. Sie heilten Michel; aber er mußte einen Monat lang das Bett hüten. Karten spielte er nicht, das Sprechen hatte ihm der Arzt verboten, und lesen konnte er nicht, da es ihm zu unbequem war, das Buch immer nur mit einer Hand zu halten. Es endigte damit, daß mich Simeon Matveitsch, in Erinnerung alter Zeiten, endlich selbst in der Eigenschaft einer Lectrice zu seinem Sohne schickte. Und jetzt folgten unvergeßliche Stunden! Ich pflegte gleich nach Tische zu Michel zu gehen, und setzte mich an einen kleinen, runden Tisch am halb verhängten Fenster. Er lag an der hinteren Wand eines kleinen Zimmers neben dem Gastzimmer, auf einem breiten Ledersopha im Geschmacke des Kaiserreichs; ein goldenes Basrelief auf der hohen, geraden Lehne stellte eine hochzeitliche Procession der Alten dar. Der bleiche, etwas eingesunkene Kopf drehte sich dann sogleich auf seinem Kissen und wandte sich zu mir; sein ganzes Gesicht erhellte sich, er warf die weichen, feuchten Haare zurück und sagte mir mit leiser Stimme: »Guten Tag, meine Liebe, meine Gute!« Ich nahm das Buch zur Hand, – die Romane von Walter Scott waren damals gerade bekannt geworden, und Ivanhoe ist mir besonders in der Erinnerung geblieben; – und wie schallte und bebte meine Stimme unwillkührlich, wenn ich die Reden Rebekka's wiedergab! … Floß nicht auch in mir hebräisches Blut, und glich mein Schicksal nicht ihrem Schicksal? Pflegte ich nicht auch, wie sie, einen kranken, lieben Menschen? … Jedesmal, wenn ich meine Augen von dem Buche losriß und zu ihm erhob, begegnete ich seinen Augen und dem immer gleich ruhigen, hellen, lächelnden Ausdruck seines Gesichtes. Wir sprachen sehr wenig; denn die Thür in das Gastzimmer, in welchem stets Jemand anwesend war, stand immer offen. Aber sobald es dort still wurde, hörte ich, ich weiß selbst nicht weßhalb, zu lesen auf; ich ließ dann das Buch auf die Kniee sinken und sah unverwandt auf Michel, und er sah auf mich, und uns Beiden war so wohl, so freudig, so beschämt zu Muthe, und Alles, Alles sprachen wir damals aus, ohne Worte, ohne Bewegung! Ach! Unsere Herzen drängten sich einander entgegen, und fanden sich, gleich wie unterirdische Quellen unsichtbar, unhörbar, und … ungehindert in einander fließen!

»Verstehen Sie Schach oder Dame zu spielen?« fragte er mich einst.

»Ich verstehe etwas vom Schachspiel«, antwortete ich.

»Nun, das ist ja herrlich! Lassen Sie sich ein Schachbrett bringen und rücken Sie das Tischchen heran.«

»Ich setzte mich an das Sopha, und das Herz erstarrte mir in süßer Befangenheit; ich wagte Michel nicht anzusehen … Und vom Fenster aus, über das ganze Zimmer hinweg … wie frei hatte ich ihn da anschauen können.

»Ich fing an die Schachfiguren aufzustellen … meine Finger zitterten.

»Ich habe das gewollt … nicht um mit Ihnen zu spielen« … sagte Michel halblaut, – »aber, damit Sie mir näher wären.«

»Ich antwortete nichts, und schob, ohne zu fragen, wer anfing, einen Bauer vor … Michel that keinen Zug … Ich blickte zu ihm auf. Ganz bleich, den Kopf etwas vorgebeugt, wies er mit flehendem Blicke auf meine Hand …

»Verstand ich ihn – ich weiß es nicht; aber Etwas wie ein Wirbelwind erfaßte mich, und drehte sich mir im Kopfe … In meiner Verwirrung, kaum athmend, nahm ich die Königin und schob sie irgend wohin, über das Schachbrett. Michel bückte sich schnell, drückte meine Hand mit seinen Lippen an das Schachbrett und küßte sie stumm und unersättlich … Ich konnte und wollte sie nicht zurückziehen, verbarg mein Gesicht mit der andern Hand, und Thränen – ich fühle sie noch – kalte aber selige … ach, wie selige Thränen! … fielen in einzelnen Tropfen auf das Tischchen. Ach! Ich wußte, ich fühlte es mit dem ganzen Herzen, in wessen Gewalt meine Hand war! … Ich wußte, daß sie kein Knabe hielt, der sich von dem Drange des Augenblicks hinreißen ließ, daß es kein Don Juan, kein militairischer Lovelace war, sondern der Edelste, der Beste der Menschen … und er liebte mich!

»Ach meine Susanne!« hörte ich Michels flüsternde Stimme, »Du sollst niemals andere Thränen um mich weinen …«

»Er hat sich geirrt … Ich habe andere Thränen um ihn geweint!

»Aber warum bei solchen Erinnerungen verweilen … jetzt, besonders jetzt!

»Michel und ich, wir gelobten, einander anzugehören. Er wußte, daß ihm sein Vater nie erlauben würde, mich zu heirathen, und verhehlte es mir nicht, und es freute mich, nicht so sehr, daß er mich nicht hintergehen konnte, als daß er sich selbst darüber nicht zu täuschen suchte. Ich selbst verlangte Nichts und wäre ihm gefolgt wie und wohin er wollte. »Du wirst mein Weib,« wiederholte er mir, »ich bin nicht Ivanhoe; ich weiß, daß das Glück nicht bei der Lady R. ist.« Michel genas bald. Ich konnte nicht mehr zu ihm gehen, allein wir hatten bereits Alles mit einander ausgemacht. Ich lebte schon ganz in der Zukunft; ich sah Nichts um mich herum, mir war, als wenn ich von Nebeln umgeben in einem schönen, glattenreißenden Strome schwamm. Aber wir wurden beobachtet und bewacht. Zuweilen bemerkte ich die bösen Augen meines Stiefvaters, hörte sein widerwärtiges Lachen … allein es war, als wenn diese Augen und dieses Lachen nur auf einen Augenblick aus jenem Nebel heraustraten … Ich erbebte und vergaß sogleich wieder und ließ mich von dem schönen, reißenden Strome weiter treiben.

»Am Vorabende des Tages, welcher für Michels Abreise festgesetzt war (er sollte heimlich von der Reise zurückkehren und mich mitnehmen), erhielt ich durch seinen vertrauten Kammerdiener einen Brief von ihm, in welchem er mir um halb 10 Uhr Abends eine Zusammenkunft im Billardzimmer bestimmte; dies war ein großes, niedriges, an der Gartenseite angebautes Zimmer. Er schrieb, daß er sich mit mir zu besprechen und endgültige Bestimmungen zu treffen wünschte. Ich hatte Michel schon zweimal in diesem Billardzimmer gesehen … und besaß den Schlüssel zu der äußeren Thür. Sobald es halb 10 schlug, warf ich meine Duschagreika über die Schultern, verließ leise das Nebengebäude und gelangte glücklich über den knisternden Schnee in das Billardzimmer. Der Mond, von Dünsten umzogen, stand wie ein matter Punkt über dem Giebel des Daches und der Wind pfiff klagend um die Ecke der Mauer. Es überlief mich ein Schauer, indessen legte ich den Schlüssel in's Schloß. Ich trat in's Zimmer, lehnte die Thür hinter mir zu und drehte mich um … Eine dunkle Figur löste sich von einer der Zwischenwände los, machte ein paar Schritte, und blieb stehen …

»Michel?« flüsterte ich.

»Michel befindet sich auf meinen Befehl hinter Schloß und Riegel, und das bin ich!« antwortete mir eine Stimme, die mein Herzblut stocken machte.

»Simeon Matveitsch stand vor mir!

Ich wollte fliehen; aber er ergriff meine Hand.

»Wohin? elende Dirne!« zischte er. – »Verstehst Du es, zu einer Zusammenkunft mit einem jungen Narren zu gehen, so verstehe mir jetzt auch Rede und Antwort zu geben.«

Ich erstarrte vor Schreck und drängte immer zur Thür … Vergebens! Die Finger Simeon Matveitsch's drangen gleich eisernen Haken in mich hinein.

»Lassen Sie mich, lassen Sie mich!« flehte ich endlich.

»Man sagt es Ihnen, nicht von der Stelle!«

»Simeon Matveitsch ließ mich niedersitzen. Im Halbdunkel konnte ich sein Gesicht nicht unterscheiden, zudem wandte ich mich von ihm ab; aber ich hörte, daß er schwer athmete und mit den Zähnen knirschte. Ich fühlte weder Furcht noch Verzweiflung, aber so Etwas wie gedankenloses Erstaunen … So muß ein gefangener Vogel unter den Krallen des Geiers erstarren und die Hand Simeon Matveitsch's, die mich immer noch ebenso fest hielt, drückte mich wie eine eiserne Klammer …

»Aha!« wiederholte er, »aha! So also! … Dahin also ist es gekommen … Nun warte nur!«

»Ich wollte mich erheben, aber er schüttelte mich mit solch einer Kraft, daß ich fast aufschrie vor Schmerz, und Scheltworte, Beleidigungen, Drohungen ergossen sich in einem Strome über mich hin …

»Michel, Michel! Wo bist Du, rette mich,« stöhnte ich.

Simeon Matveitsch schüttelte mich noch einmal … Und diesmal konnte ich es nicht mehr ertragen … ich schrie auf.

Dieses schien einigen Eindruck auf ihn zu machen. Er wurde etwas ruhiger, ließ meine Hand los, blieb aber zwei Schritte von mir, zwischen mir und der Thür, stehen.

Es vergingen einige Minuten … Ich regte mich nicht; er athmete schwer, wie früher.

»Sitzen Sie ruhig,« fing er endlich an, »und antworten Sie mir. Beweisen Sie mir, daß ihre Moralität noch nicht ganz verloren ist und daß Sie im Stande sind, die Stimme der Vernunft zu vernehmen. Wenn Sie sich hinreißen ließen – das kann ich noch vergeben; aber eingewurzelte Halsstarrigkeit – nie! Mein Sohn …« – Hier athmete er schwer – »Michael Simeonitsch hat Ihnen versprochen Sie zu heirathen? Nicht wahr? So antworten Sie doch! Hat er es Ihnen versprochen, Eh?«

Ich antwortete natürlich Nichts. Simeon Matveitsch war nahe daran, wieder aufzubrausen.

»Ich nehme Ihr Schweigen als eine bejahende Antwort an,« fuhr er nach einer kleinen Weile fort. »Sie haben sich also einfallen lassen, meine Schwiegertochter werden zu wollen? Vortrefflich! Aber, ich will gar nicht einmal davon sprechen, daß Sie ja kein vierzehnjähriges Kind mehr sind und wohl wissen müssen, daß alle jungen Gelbschnäbel freigiebig genug mit den einfältigsten Versprechungen sind, um nur zu ihrem Ziele zu gelangen … ich will, wie gesagt, davon gar nicht sprechen … aber haben Sie denn wirklich hoffen können, daß ich, ich, Simeon Matveitsch Koltovskoy, Edelmann des ersten Ranges, jemals meine Einwilligung zu einer solchen Heirath geben würde? Oder haben Sie sich ohne den väterlichen Segen behelfen wollen? Haben Sie fliehen, sich heimlich trauen lassen wollen, um dann zurückzukehren, Komödie zu spielen, sich zu meinen Füßen hinwerfen zu wollen, in der Hoffnung, daß der Alte sich wohl würde erweichen lassen? So antworten Sie doch! Daß Sie der Teufel hole!«

Ich senkte blos den Kopf. Er konnte mich tödten: aber mich sprechen machen … das überstieg seine Macht.

Er ging eine kleine Weile auf und nieder.

»Nun, hören Sie,« fing er endlich mit ruhigerer Stimme an. »Denken Sie nicht … bilden Sie sich nicht ein … – ich sehe, mit Ihnen muß man anders reden. Hören Sie: ich verstehe Ihre Lage vollkommen. Sie sind erschreckt, verwirrt … Kommen Sie zu sich. In diesem Augenblicke muß ich Ihnen ein Ungeheuer, ein Tyrann erscheinen … Allein gehen Sie auch in meine Lage ein: Wie sollte ich hier nicht unwillig werden? nicht zu viel sagen? Doch ich habe Ihnen schon bewiesen, daß ich kein Ungeheuer bin, daß ich ein Herz habe. Denken Sie daran, wie ich Sie nach meiner Ankunft auf dem Lande behandelt habe, und dann, bis … bis in die letzte Zeit … bis zur Krankheit meines Sohnes. Ich will mich nicht mit meinen Wohlthaten brüsten, allein mir scheint, daß Dankbarkeit schon Sie hätte abhalten sollen von dem schlüpfrigen Pfade, den Sie sich zu betreten entschlossen! …« Simeon Matveitsch ging wieder auf und nieder, blieb dann stehen und schüttelte leicht die Hand, dieselbe Hand, welche mir noch schmerzte von seiner Gewaltthätigkeit, und an welcher ich lange nachher noch die blauen Zeichen derselben trug …

»Das ist es eben …« fing er wieder an. »Unser Kopf, unser Kopf ist zu warm! Wir wollen nicht die Mühe nehmen, nachzudenken, wollen uns nicht Rechenschaft darüber geben, worin unser Vortheil besteht und wo wir denselben zu suchen haben. Sie werden mich fragen: Wo liegt dieser Vortheil? … Er ist vielleicht unter Ihrer Hand … Da bin ich zum Beispiel. – Als Vater, als Haupt, mußte ich Sie natürlich zur Rechenschaft ziehen … Das war meine Pflicht. Aber ich bin auch Mensch zugleich; und Sie wissen es. Ich bin ein praktischer Mensch, und es versteht sich, daß ich keine Art Abgeschmacktheit zugeben kann: unerfüllbare Hoffnungen müssen natürlich aus Ihrem Kopfe vertrieben werden, denn, was haben Sie für einen Sinn? Ich spreche gar nicht einmal von der Unsittlichkeit der Handlung selbst … Das Alles werden Sie selbst einsehen, sobald Sie wieder zu sich selbst gekommen sein werden. Und, ohne damit groß zu thun, will ich Ihnen sagen, daß ich mich nicht darauf beschränken würde, was ich schon für Sie gethan. Ich beabsichtigte stets – und bin auch jetzt noch bereit, Ihren Wohlstand zu gründen und zu befestigen, Sie vollkommen sorglos hinzustellen, denn ich kenne Ihren Werth, ich lasse Ihren Talenten, Ihrem Geiste Gerechtigkeit widerfahren, und endlich … (hier bog sich Simeon Matveitsch zu mir herab) … haben Sie Aeuglein, die … ich gestehe … Ich bin ein alter Mann … aber Sie vollkommen gleichgültig anzusehen … ich begreife … daß es schwer ist, wirklich schwer ist.«

»Es überlief mich eiskalt bei diesen Worten. Ich konnte meinen Ohren nicht trauen. Im ersten Augenblicke hatte es mir geschienen, daß Simeon Matveitsch mein Lossagen von Michel erkaufen, mir einen »Rückzug« gestatten wollte … Aber diese Worte!! Meine Augen fingen an, sich an die Finsterniß zu gewöhnen und ich konnte das Gesicht Simeon Matveitsch's unterscheiden. Es lächelte, das alte Gesicht; er ging mit kleinen Schritten auf und nieder und blieb dann vor mir stehen, ungeduldig die Füße bewegend …

»Nun also?« fragte er endlich, »gefällt Ihnen mein Antrag?«

»Antrag?« … wiederholte ich unwillkürlich … ich verstand ihn nicht.

Simeon Matveitsch lachte auf … er lachte in der That … mit seinem widerwärtigen, feinen Lachen.

»Freilich!« rief er aus. »Ihr Mädchen alle …« – er verbesserte – »Fräulein … Fräulein … Ihr habt nur immer das Eine im Kopfe: Ihr müßt immer Jugend haben! – Ohne Liebe könnt Ihr nicht leben! Natürlich. Was ist dagegen einzuwenden? Die Jugend ist eine schöne Sache! Aber verstehen denn nur junge Leute zu lieben? … So mancher Greis hat ein noch heißeres Herz, und wenn ein alter Mann einmal Jemand liebt, nun – dann ist es ein steinerner Fels! Das ist für die Ewigkeit! Nicht wie bei diesen bartlosen Himmelstürmern, durch deren Köpfe nur Wind weht! Ja, ja; vor alten Männern hat man sich nicht zu ekeln! Sie können Vieles thun, Vieles! Man muß sie nur zu behandeln verstehen! Ja … ja! Und auch das Liebkosen verstehen die Alten, hi – hi …« – und Simeon Matveitsch lächle wieder. – »Sehen Sie, erlauben Sie mir Ihr Händchen … zur Probe … nur so … zur Probe …«

Ich sprang vom Stuhle und gab ihm mit aller Macht einen Stoß in die Brust. Er schwankte, gab einen hinfälligen, erschreckten Laut von sich, und wäre beinahe gefallen. Die menschliche Sprache hat keine Worte, um auszudrücken, bis zu welch einem Grade er mir verabscheuungswürdig, niedrig und verächtlich erschien. Jede Spur von Furcht hatte mich verlassen.

»Hinweg! verächtlicher Greis,« entriß sich meiner Brust. »Hinweg, Herr Koltovskoy, Edelmann des ersten Ranges! Auch in meinen Adern fließt Ihr Blut, das Blut der Koltovskoy's und ich verfluche den Tag und die Stunde, wo es in meine Adern floß!«

»Wie? … Was sagst Du? … Was?« lallte erstickend Simeon Matveitsch. »Du wagst es … und in demselben Augenblick, wo ich Dich ertappte … wie Du zu Mischka gingst … Wie? wie? wie? …«

Ich konnte mich nicht mehr halten … Etwas wie schonungslose Verzweiflung war in mir erwacht.

»Und Sie, Sie, der Bruder … Bruder Ihres Bruders, Sie wagten … Sie konnten sich entschließen … Aber für wen hielten Sie mich denn? Und sind Sie denn wirklich so blind, daß Sie nicht längst schon den Abscheu bemerkten, den Sie in mir erregen? Sie haben sich erfrecht das Wort Antrag zu gebrauchen! … Lassen Sie mich sogleich in diesem Augenblicke hinaus.«

Ich ging auf die Thür zu.

»Ach, so also! So hast Du jetzt die Sprache wiedergefunden!« pfiff Simeon Matveitsch in stumpfem Zorne, offenbar aber nicht wagend, zu mir heranzutreten … »So warte denn Du! Herr Ratsch! Ivan Demjanitsch! Kommen Sie!«

Eine Thür im Billardzimmer, derjenigen, auf welche ich zuging, gegenüber, öffnete sich weit und mein Stiefvater erschien mit einem brennenden Armleuchter in jeder Hand. Sein rundes, rothes, von beiden Seiten durch die Lichter scharf beleuchtetes Gesicht erglänzte in dem Triumphe befriedigter Rache und einer lakaienhaften Freude über eine gelungene Dienstleistung … Oh, diese widerwärtigen, weißlichen Augen! Wann werde ich aufhören sie zu sehen!

»Haben Sie die Güte, sofort dieses Mädchen zu ergreifen,« rief Simeon Matveitsch aus, sich zu meinem Stiefvater wendend und mit zitternder Hand gebieterisch auf mich weisend. »Führen Sie dasselbe ab in Ihr Haus und schließen Sie es ein, unter Schloß und Riegel … daß es … keinen Finger rühren kann und keine Fliege zu ihm hinein kann! … Bis auf weiteren Befehl! Die Fenster vernagelt, wenn es nöthig ist! Du stehst mir für sie mit Deinem Kopfe!«

»Herr Ratsch stellte die Armleuchter auf das Billard, verbeugte sich tief gegen Simeon Matveitsch, und kam, sich leicht wiegend und schadenfroh lächelnd, auf mich zu. So muß ein Kater auf eine Maus losgehen, die sich nirgendhin retten kann. All' mein Muth hatte mich verlassen. Ich wußte, dieser Mensch war im Stande … mich zu schlagen. Ich zitterte; ja, oh Schmach! oh Schande … ich zitterte.

»Nun, mein Fräulein,« sagte Herr Ratsch. »Geruhen Sie zu kommen.«

»Er faßte mich langsam über dem Ellenbogen am Arme … Er begriff, daß ich mich nicht widersetzen würde. Ich ging selbst zur Thür; in diesem Augenblicke hatte ich nur den einen Gedanken, wie ich mich am schnellsten von der Gegenwart Simeon Matveitsch's befreien konnte.

»Aber der widerwärtige Greis sprang uns nach, und Ratsch hielt mich auf und kehrte mich mit dem Gesicht zu seinem Patrone.

»Aha!« schrie er und ballte seine Faust. »Aha! so bin ich also der Bruder … meines Bruders! Bande des Blutes, wie? Eh? Aber den Vetter kann man heirathen? Das ist möglich? Eh? – Führe sie ab, Du!« wandte er sich zu meinem Stiefvater. »Lasse es Dir gesagt sein: halte das Ohr spitz! Für den geringsten Verkehr mit ihr – soll keine Strafe groß genug sein – – Führe sie ab!«

»Herr Ratsch brachte mich in mein Zimmer. Während wir über den Hof gingen, sprach er kein Wort zu mir und lachte nur tonlos vor sich hin. Er schloß die Fensterladen, die Thüren und dann, sich vor mir verbeugend, wie vor Simeon Matveitsch, platzte er in ein unaufhaltsames, triumphirendes Gelächter aus. »Gute Nacht, Prinzessin Melikitrice,« stöhnte er athemlos. »Hast den Zarewitsch Mitrofan nicht fangen können! Schade! Die Idee war in ihrer Art gar nicht dumm! Hieraus ist für die Zukunft die Lehre zu ziehen: Man soll keinen Briefwechsel beginnen. Ha – ha ha! Wie gut sich übrigens das Alles abgewickelt hat!« Er ging hinaus, steckte den Kopf aber noch einmal zur Thür hinein: »Nun? Ich habe es Ihnen nicht »vergessen«? Wie? Habe mein Wort gehalten? Ho – ho – ho!« Der Schlüssel drehte sich im Schlosse. Ich athmete frei. Ich hatte gefürchtet, daß er mir die Hände binden würde, … allein, sie waren mein, – sie waren frei! Ich riß augenblicklich eine seidene Schnur aus meinem Schlafrocke, machte eine Schlinge und näherte sie dem Halse, warf die Schnur aber sofort wieder von mir. »Ich will Euch nicht die Freude machen,« sagte ich laut. »Und in der That! Welch ein Wahnsinn! Kann ich denn ohne Michel's Wissen über mein Leben verfügen, mein Leben, das ihm gehört, ein freies Geschenk von mir selbst? Nein, Ihr Bösewichte! Nein! Eure Sache ist noch nicht gewonnen! Er wird mich retten, er wird mich aus dieser Hölle herausreißen, er … oh, mein Michel!«

Und dann fiel mir ein, daß ja auch er, gleich mir, eingeschlossen war, – und ich warf mich mit dem Gesichte auf mein Bett und schluchzte, schluchzte … und nur der Gedanke, daß mein Peiniger vielleicht hinter der Thür stand und triumphirte, dieser Gedanke allein machte es mir möglich, meine Thränen zu verschlucken …

Ich bin erschöpft. Ich schreibe vom Morgen an, und jetzt ist es Abend; wenn ich einmal mich von dem Papier losreiße, werde ich nicht mehr im Stande sein, die Feder von Neuem zu ergreifen … Also schnell, schnell zum Ende! Mich bei all dem Häßlichen aufzuhalten, was auf jenen fürchterlichen Tag folgte, übersteigt übrigens auch meine Kräfte!

Vierundzwanzig Stunden später wurde ich in einem verdeckten Schlitten in ein, zum Hofe gehöriges Bauernhaus übergeführt, und mit Wache haltenden Mushik's umgeben; dort blieb ich sechs volle Wochen eingeschlossen! ich war nicht einen Augenblick allein … Ich habe in der Folge erfahren, daß mein Stiefvater von Michels Ankunft an mich und ihn mit Spionen umgeben und den Diener, der mir Michels Brief zustellte, erkauft hatte. Ich habe auch erfahren, daß zwischen Vater und Sohn am folgenden Morgen eine fürchterliche, empörende Scene vorgefallen war … Der Vater verfluchte ihn. Michel schwor, das väterliche Haus mit keinem Fuße mehr zu betreten und reiste nach Petersburg. Aber der Schlag, den mein Stiefvater auf mich, geführt hatte, traf ihn selbst; Simeon Matveitsch erklärte ihm, daß er nicht mehr auf dem Lande bleiben und die Besitzung nicht mehr verwalten könne. Es mag wohl schwer sein, ungeschickten Eifer zu vergeben, und der daraus entstandene Scandal mußte doch an Jemand gerügt werden. Uebrigens wurde Herr Ratsch freigebig von Simeon Matveitsch belohnt. Er gab ihm die Mittel, nach Moskau überzusiedeln und sich dort niederzulassen. Vor unserer Abreise nach Moskau wurde ich in unseren Flügel zurückgebracht, aber wie früher, unter strenger Aussicht behalten. Der Verlust des »warmen Plätzchens«, das er »durch meine Güte verloren«, vermehrte noch die Erbitterung meines Stiefvaters gegen mich.

»Und, wen haben Sie da verwunden wollen?« pflegte er, vor Wuth schnaubend, zu sagen. – »Der Alte mußte freilich heftig werden, sich übereilen, und nun sitzt er drin. Jetzt freilich hat seine Eigenliebe gelitten, und das Uebel ist nicht mehr wieder gut zu machen. Er hätte nur einige Tage zu warten gebraucht und Alles wäre wie Butter geflossen. Sie würden jetzt nicht bei trockenem Brote sitzen, und ich wäre geblieben, was ich war! Das ist es eben: Lang ist der Frauen Haar … aber kurz ihr Verstand! Nun, schon gut! Von Ihnen werde ich schon nehmen was mir zukommt, und jenes Täubchen (er meinte Michel) wird auch an mich denken!

»Ich mußte natürlich alle diese Beleidigungen stillschweigend ertragen. Simeon Matveitsch habe ich nie wieder gesehen. Die Trennung von seinem Sohne hatte ihn sehr erschüttert. Fühlte er nun Reue, oder – wohl wahrscheinlicher – wünschte er mich für immer an sein Haus, meine Familie – Familie!! – zu ketten; genug, er bestimmte mir eine Pension, die mein Stiefvater empfangen und mir auszahlen sollte, bis ich heirathen würde … Dieses erniedrigende Almosen erhalte ich bis jetzt, das heißt, er erhält sie, statt meiner …

Wir ließen uns in Moskau nieder. Ich schwöre bei dem Andenken meiner armen Mutter, daß ich, nach unserer Ankunft in der Stadt, nicht einen Tag, nicht zwei Stunden bei meinem Stiefvater geblieben wäre … Ich wäre davon gelaufen, ich weiß nicht wohin – in die Polizei – ich hätte mich dem General-Gouverneur, den Senatoren zu Füßen geworfen – ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn es nicht in dem Augenblick unserer Abreise vom Lande einer gewesenen Stubenmagd von mir gelungen wäre, mir einen Brief von Michel zuzustellen. Ach, dieser Brief! Wie viele Male habe ich jede Zeile desselben gelesen, wie viele Male ihn mit Küssen bedeckt! Michel beschwor mich, den Muth nicht zu verlieren, zu hoffen, und seiner treuen Liebe gewiß zu sein. Er schwor, Niemand anders anzugehören als mir; er nannte mich sein Weib; er versprach, alle Hindernisse aus dem Wege zu räumen, malte mir das Bild unserer Zukunft aus und bat mich nur um das Eine: zu dulden und zu warten … und ich war entschlossen zu dulden und zu warten. Ach! worin hätte ich nicht gewilligt, was hätte ich nicht getragen, um nur seinen Willen zu erfüllen! Dieser Brief wurde mein Heiligthum, mein Leitstern, mein Anker. Oft, wenn mein Stiefvater mir Vorwürfe machte, mich beleidigte, legte ich still meine Hand auf die Brust (ich trug seinen Brief, in ein Säckchen eingenäht, immer bei mir) und lächelte nur, und jemehr er wüthete und schalt, desto leichter und süßer wurde mir zu Muthe … Zuletzt sah ich ihm an den Augen an, daß er zu glauben anfing, daß ich wahnsinnig würde. – Auf jenen ersten Brief folgte ein zweiter; er war noch glücklicher, noch mehr voll Hoffnung … er sprach von einem baldigen Wiedersehen.

Ach, statt dieses Wiedersehens kam ein Morgen … Und ich sah wieder Herrn Ratsch hereintreten – und wieder war Triumph, schadenfroher Triumph auf seinem Gesicht – in seiner Hand eine Nummer des »Invaliden« und darin die Nachricht von dem Tode des Rittmeisters von der Garde Michael Koltovskoy – aus dem Namensregister gestrichen.

Was kann ich noch hinzufügen? Ich blieb leben und fuhr fort bei Herrn Ratsch zu wohnen. Er haßte mich ärger als je – er hatte seine schwarze Seele zu sehr vor mir blosgestellt und konnte mir das nicht vergeben. Aber mir war Alles gleichgültig. Ich wurde ganz gefühllos; mein eigenes Schicksal hatte kein Interesse mehr für mich. An ihn, an ihn zu denken war meine einzige Beschäftigung, meine einzige Freude. Mein armer Michel war mit meinem Namen auf den Lippen gestorben … das erfuhr ich von einem ihm ergebenen Diener, der ihn auf's Land begleitet hatte. In demselben Jahre heirathete mein Stiefvater Eleonore Karlowna. Bald darauf starb auch Simeon Matveitsch, nachdem er in seinem Testamente die mir bewilligte Pension bestätigt und vergrößert hatte … Im Falle meines Todes geht sie auf Herrn Ratsch über.

Zwei, drei Jahre vergingen … sechs, sieben Jahre vergingen … das Leben floß und floh dahin … und ich schaute nur zu wie es dahin floß. So pflegen Kinder am Ufer des Flusses zu spielen, Fischkasten und Dämme aus Sand aufzubauen, und auf jede Weise zu versuchen, daß das Wasser nicht durchsickert und durchbricht … aber endlich bricht es denn doch durch, und sie geben alle ihre Mühe auf, und sehen fröhlich zu, wie alle aufgespeicherte Herrlichkeit bis auf das letzte Körnchen weggebracht ist …

So lebte, so vegetirte ich, bis endlich ein neuer unverhoffter Strahl von Wärme und Licht …

Bei diesem Worte brach die Handschrift ab; die übrigen Blätter waren abgerissen und ein Paar Zeilen, welche den begonnenen Satz beendigten, waren durchstrichen und mit Dinte geschwärzt.

 

Achtzehntes Kapitel

Das Durchlesen dieses Heftchens regte mich so auf, der Besuch Susannens hatte mir einen so tiefen Eindruck hinterlassen, daß ich die ganze Nacht schlaflos zubrachte. Früh am Morgen schickte ich per Estafette einen Brief an Fustoff ab, in welchem ich ihn beschwor, so schnell wie möglich nach Moskau zurückzukehren, da seine Abwesenheit die schwersten Folgen haben könne. Ich deutete ihm auch meine Zusammenkunft mit Susanne an und erwähnte des Heftes, das sie in meinen Händen zurückgelassen hatte. Nachdem ich diesen Brief abgeschickt, ging ich den ganzen Tag über nicht aus dem Hause und grübelte fortwährend darüber, was wohl jetzt bei Ratsch's vorging. Ich konnte mich nicht entschließen, selbst dahin zu gehen. Unterdessen befand sich meine Tante, wie ich nicht umhin konnte zu bemerken, in immerwährender Aufregung, sie ließ alle Augenblicke räuchern und legte den »Wanderer«, eine Gattung Patience, aus, welche sich dadurch auszeichnet, daß sie niemals gelingt! Der Besuch einer ihr unbekannten Dame, und das zu einer so späten Stunde, blieb ihr kein Geheimniß. Ihre Phantasie spiegelte ihr sofort einen gähnenden Abgrund vor, an dessen Rande ich stand; sie seufzte und ächzte fortwährend, und sagte leise vor sich hin französische Sentenzen her, die sie aus einem geschriebenen Büchelchen, unter dem Titel »Extraits de lecture« geschöpft hatte. Am Abende fand ich auf meinem Nachttischchen ein Werk von De Gerandeau; es war aufgeschlagen bei dem Capitel: »Ueber den Nachtheil der Leidenschaften.« Diese Schrift war auf Befehl meiner Tante durch die ältere ihrer Gesellschafterinnen in mein Zimmer hingelegt worden; sie wurde im Hause Amischka genannt, in Folge ihrer Aehnlichkeit mit einem kleinen Pudel desselben Namens, und war ein sehr sentimentales, sogar romantisches, aber überreifes Mädchen. Der ganze folgende Tag verging in sehnsüchtiger Erwartung von Fustoff's Ankunft, einem Briefe von ihm, oder Nachrichten aus dem Hause Ratsch, – obgleich ich wohl nicht wußte, wie sie dazu kommen sollten, zu mir zu schicken. Susanne konnte eher voraussetzen, daß ich sie besuchen würde … aber ich konnte mich nicht entschließen, sie wiederzusehen, ehe ich Fustoff gesprochen hatte. Ich suchte mir alle Ausdrücke meines Briefes in's Gedächtniß zurückzurufen … und ich hoffte, sie seien stark genug gewesen. Endlich spät am Abend erschien er.

 

Neunzehntes Kapitel

Er trat mit seinem gewöhnlichen, raschen, aber nicht hastigen Schritte zu mir in's Zimmer. Er sah bleich und angegriffen von der Reise aus; sein Gesicht drückte Zweifel, Neugierde, Unzufriedenheit aus – Gefühle, die ihm sonst wenig bekannt waren. Ich stürzte auf ihn zu, umarmte ihn und dankte ihm auf das Wärmste, daß er mir gefolgt war. Ich theilte ihm mit einigen Worten meine Unterredung mit Susanne mit – und händigte ihm das Heftchen ein. Ohne mir ein Wort zu antworten, trat er an's Fenster, an dasselbe Fenster, an welchem Susanne zwei Tage früher gesessen hatte, und fing an zu lesen. Ich zog mich sogleich in die entfernteste Ecke des Zimmers zurück und nahm zum Schein ein Buch in die Hand. Aber ich gestehe, daß ich die ganze Zeit über verstohlen über den Rand des Einbandes zu Fustoff hinüberblickte. Anfangs las er ziemlich ruhig und zupfte dabei immer die Härchen über seiner Lippe; dann ließ er die Hand sinken, beugte sich nach vorn und regte sich nicht mehr. Seine Augen liefen förmlich über die Zeilen hin, der Mund war leicht geöffnet. Und dann beendigte er das Heft, wandte es um und um, betrachtete es von allen Seiten und verfiel in Nachdenken. Dann fing er von neuem wieder an und las es von Anfang bis zu Ende noch einmal durch. Hierauf stand er auf, that das Heft in die Tasche, wandte sich zur Thür, kehrte aber um und blieb mitten im Zimmer stehen.

»Und was denkst Du davon,« fragte ich, ohne abzuwarten, was er sagen würde.

»Ich habe ihr Unrecht gethan,« sprach Fustoff dumpf. – »Ich habe … unüberlegt, unverantwortlich, roh gehandelt. Ich habe diesem – Fictor geglaubt.«

»Wie?« rief ich aus; – »diesem selben Fictor, den Du so sehr verachtest? Was hat er Dir denn sagen können?«

Fustoff kreuzte die Arme und wandte sich seitwärts. Er war verlegen, ich sah es deutlich.

»Erinnerst Du Dich,« sagte er nicht ohne einige Anstrengung, – »wie dieser … Fictor einer … Pension erwähnte? Dieses unglückliche Wort setzte sich in mir fest. Dieses Wort ist an Allem schuld. Ich fing an, ihn auszufragen … und er …«

»Nun? Und er …

»Er sagte mir, daß dieser alte Mann … wie heißt er denn … Koltovskoy – Susannen diese Pension auszahle, weil … weil … nun mit einem Worte, – als Entschädigung.«

Ich schlug die Hände zusammen.

»Und Du hast ihm geglaubt?«

Fustoff nickte mit dem Kopfe.

»Ja ich habe ihm geglaubt … Er sagte mir, daß auch mit dem Jungen … Mit einem Worte, meine Handlung ist nicht zu rechtfertigen.«

»Und Du entferntest Dich, um Alles abzubrechen?«

»Ja; das ist in … solchen Fällen das beste Mittel. Ich habe roh, roh gehandelt,« fügte er hinzu.

Wir schwiegen Beide. Jeder von uns fühlte, daß der Andere sich schämte; mir aber war es leichter, denn ich schämte mich nicht für mich.

 

Zwanzigstes Kapitel

»Ich würde jetzt diesem Fictor alle Knochen zerbrechen,« fuhr Fustoff zu reden fort, »wenn ich mich nicht auch selbst schuldig fühlte. Jetzt verstehe ich, worauf diese ganze Sache angelegt war: mit Susannens Heirath verloren sie ihre Pension … die niederträchtigen Menschen!«

Ich faßte seine Hand.

»Alexander,« fragte ich, »warst Du bei ihr?«

»Nein; ich kam gerade von der Reise zu Dir. Ich will morgen hin … morgen früh. Das kann nicht so bleiben. Unmöglich!«

»Du … Du liebst sie, Alexander?«

Es war, als wenn sich Fustoff beleidigt fühlte.

»Freilich liebe ich sie. Ich bin ihr sehr zugethan.«

»Sie ist ein herrliches, ehrliches Mädchen!« rief ich aus.

Fustoff stampfte ungeduldig mit dem Fuße.

»Was bildest Du Dir denn ein? Ich war bereit sie zu heirathen und bin auch jetzt noch bereit dazu. Ich habe mir das schon überlegt, obgleich sie älter ist, als ich.«

In diesem Augenblicke schien es mir, als säße eine bleiche, weibliche Figur, sich auf ihre Hände stützend, auf dem Fensterbrett. Die Lichte waren niedergebrannt; es dunkelte im Zimmer. Ich erbebte und sah unverwandt auf den Punkt hin. Es war natürlich Nichts, aber – ein seltsames Gefühl, ein Gemisch von Schreck, Trauer und Mitleid erfüllte mich.

»Alexander!« sprach ich, von einem unwillkürlichen Drange getrieben: »Ich bitte, ich beschwöre Dich, gehe sofort zu Ratsch hin, schiebe es nicht bis morgen auf! Eine innere Stimme sagt mir, daß Du Susanne heut noch sehen mußt.«

Fustoff zuckte die Achseln.

»Ich bitte Dich, was fällt Dir ein? Die Uhr geht bereits auf elf und dort im Hause schläft wahrscheinlich Alles schon.«

»Gleichviel … Gehe hin, um Gottes Willen! Ich habe eine böse Ahnung … Bitte, folge mir! Gehe gleich, nimm einen Schlitten …«

»Was ist das für dummes Zeug!« antwortete kaltblütig Fustoff: »Unter welchem Vorwande sollte ich denn jetzt hingehen? Morgen in der Frühe will ich hingehen, und dann wird sich Alles aufklären.«

»Aber, Alexander, erinnere Dich, sie sprach von ihrem Tode, und daß Du sie nicht mehr am Leben finden würdest … Und wenn Du ihr Gesicht gesehen hättest! Bedenke doch, stelle Dir vor, was es sie kosten mußte, um … zu mir zu kommen …«

»Sie ist ein phantastischer Kopf,« sagte Fustoff, welcher seine Selbstbeherrschung vollkommen wieder erhalten hatte. »Alle jungen Mädchen sind so … in der Jugend. Ich wiederhole Dir, morgen wird Alles in Ordnung kommen. Bis dahin Lebewohl! Ich bin müde und auch Du scheinst schläfrig zu sein.«

Er nahm seine Mütze und ging aus dem Zimmer.

»Aber, Du versprichst mir doch gleich nachher zu mir zu kommen?« rief ich ihm noch nach.

»Ich verspreche es … Lebewohl.«

Ich legte mich zu Bette, aber mein Herz war voll Unruhe und ich ärgerte mich über meinen Freund. Spät erst schlief ich ein und mir träumte, daß ich mit Susanne in feuchten, unterirdischen Gängen umherstreifte, enge, steile Treppen auf- und abstieg und wir immer tiefer und tiefer hinunterkamen, obgleich wir uns durchaus hinauf an die Luft hindurcharbeiten wollten, und eine klagende, einförmige Stimme uns fortwährend rief.

 

Einundzwanzigstes Kapitel

Eine Hand legte sich auf meine Schulter und schüttelte mich ein paar Mal … Ich öffnete die Augen und sah bei dem schwachen Scheine eines einzigen Lichtes Fustoff vor mir stehen. Sein Anblick erschreckte mich. Er schwankte auf den Füßen; seine Gesichtsfarbe war gelb, fast wie die Farbe seiner Haare; seine Mundwinkel hingen herab und die trüben Augen sahen gedankenlos auf die Seite … Wo war sein freundlicher, immer wohlwollender Blick geblieben? Ich hatte einen Vetter, den die Epilepsie zum Idioten gemacht hatte … Diesem glich Fustoff jetzt …

Ich erhob mich in Eile.

»Was ist? Mein Gott, was ist mit Dir geschehen?«

Er antwortete nicht.

»Was ist geschehen? Fustoff! So sprich doch! Susanne? …«

Fustoff erbebte leicht.

»Sie,« fing er mit heiserer Stimme an und verstummte.

»Was ist mit ihr? Hast Du sie gesehen?«

Er fixirte mich.

»Sie ist nicht mehr.«

»Wie das?«

»Sie ist nicht mehr. Sie ist todt.«

Ich sprang vom Bette auf.

»Wie todt? Susanne? Gestorben?«

Fustoff sah wieder von mir weg.

»Ja todt; um Mitternacht.«

»Er hat den Verstand verloren!« blitzte mir durch den Kopf.

»Um Mitternacht! Was ist denn jetzt die Uhr?«

»Jetzt ist es acht Uhr früh. Man hat zu mir geschickt, um es mir anzuzeigen. Morgen wird sie bestattet.«

Ich ergriff seine Hand.

»Alexander, redest Du nicht irre? Bist Du ganz bei Sinnen?«

»Ich bin bei voller Besinnung,« antwortete er. »Sobald ich es erfuhr, begab ich mich hierher.«

Mein Herz erstarrte schmerzlich, wie das immer geschieht, wenn uns die Gewißheit eines unwiderbringlich erfüllten Unglücks erfaßt.

»Ah, Gott! Ah, Gott! Gestorben!« wiederholte ich. »Wie ist das möglich? So plötzlich! Oder hat sie sich vielleicht selbst das Leben genommen?«

»Ich weiß es nicht,« wiederholte Fustoff. »Ich weiß gar Nichts. Man hat mir blos sagen lassen: sie sei um Mitternacht verschieden und würde morgen bestattet.«

»Um Mitternacht,« dachte ich … »Sie lebte also gestern noch, als sie mir auf dem Fensterbrett erschien, als ich ihn beschwor zu ihr zu eilen.

»Sie war noch am Leben, als Du mich gestern zu Ivan Demjanitsch sandtest,« sagte Fustoff, als hätte er meine Gedanken errathen.

»Wie wenig er sie doch gekannt hat,« dachte ich weiter. »Wie wenig wir Beide sie kannten. Einen phantastischen Kopf nannte er sie – alle jungen Mädchen seien so … Und um dieselbe Minute vielleicht hat sie die Schaale an ihre Lippen … Ist es denn möglich, daß man Jemand lieben, und sich so grob in ihm täuschen kann?«

Fustoff stand unbeweglich an meinem Bette … die Hände waren ihm hinabgesunken … er glich einem Verbrecher.

 

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Ich kleidete mich eilig an.

»Und was denkst Du jetzt zu thun, Alexander?« fragte ich.

Er sah mich fragend an, als wundere er sich über die einfältige Frage. Und in der That, was konnte er thun?

»Du mußt aber doch hingehen,« fing ich wieder an. »Du mußt erfahren, wie das zugegangen ist. Darunter ist vielleicht ein Verbrechen verborgen. Von diesem Menschen kann man Alles erwarten … Das muß Alles aufgeklärt werden. Denke daran, was in ihrem Heftchen steht: die Pension hört mit ihrer Heirath auf; mit ihrem Tode aber geht sie an Ratsch über. In jedem Fall mußt Du wenigstens die letzte Pflicht erfüllen, und Dich vor ihrer sterblichen Hülle beugen.«

Ich sprach wie ein Mentor, wie ein älterer Bruder zu Fustoff. Inmitten all des Schreckes, des Schmerzes und des Erstaunens, stieg plötzlich und unwillkürlich ein Gefühl der Ueberlegenheit in mir auf … War es, weil ich ihn bedrückt, verwirrt und vernichtet sah von dem Bewußtsein seiner Schuld; oder war es, weil das Unglück, wenn es einen Menschen trifft, denselben fast immer in der Meinung seiner Mitmenschen umwirft und erniedrigt; »es ist also schwach mit Dir bestellt, da Du Dich nicht herauszuwinden verstandest!« Gott allein weiß es! Fustoff kam mir vor wie ein Kind, ich fühlte Mitleid mit ihm, und fühlte doch auch die Nothwendigkeit der Strenge. Ich reichte ihm meine Hand von oben herab. Das Mitleid der Frauen allein kommt nicht von oben herab!

Allein Fustoff fuhr fort stumpf und wild auf mich zu sehen. Meine Autorität machte offenbar gar keinen Eindruck auf ihn – und auf meine wiederholte Frage: »Du wirst doch zu ihnen gehen?« antwortete er: »Nein! ich werde nicht hingehen.«

»Um Gottes Willen! Wie ist das möglich? Du wirst doch selbst wissen und anfragen wollen: Wie? und Was? Vielleicht hat sie einen Brief zurückgelassen … irgend ein Dokument … Um Gottes Willen!«

Fustoff schüttelte den Kopf.

»Ich kann nicht dorthin gehen,« sagte er. »Ich bin deshalb zu Dir gekommen, um Dich zu bitten … statt meiner … denn ich kann nicht … kann nicht …«

Und Fustoff setzte sich plötzlich an den Tisch, barg sein Gesicht in beide Hände und brach in bitteres Schluchzen aus.

»Ach, Ach!« wiederholte er durch seine Thränen hindurch. »Ach, die Arme … die Aermste … Ich … ich liebte sie … Ach, Ach!«

»Ich stand neben ihm und muß gestehen, daß diese unstreitig aufrichtigen Thränen gar keine Theilnahme in mir erweckten; ich wunderte mich nur darüber, daß Fustoff so weinen konnte, und mir war, als begriffe ich erst jetzt, wie klein der Mensch war, und wie ganz anders ich an seiner Stelle gehandelt hätte. Da sehe Einer! Wenn Fustoff vollkommen ruhig geblieben wäre, ich hätte ihn vielleicht gehaßt, hätte Abscheu vor ihm empfunden, aber er wäre nicht so in meiner Meinung gefallen … sein Prestige wäre ihm geblieben, der Don Juan wäre Don Juan nach wie vor! Sehr spät im Leben erst – und das nach vielen Prüfungen – lernt der Mensch, bei dem wirklichen Falle oder der Schwäche eines Mitbruders, ihm ohne den Selbstgenuß der eignen Tugend und Kraft, mit jeglicher Demuth und dem vollen Verständniß des Natürlichen und fast Unvermeidlichen der Schuld, zu helfen, und mit ihm zu fühlen!

 

Dreiundzwanzigstes Capitel

Ich hatte Fustoff sehr entschieden und muthig überredet zu Ratsch's hinzugehen, aber als ich mich gegen zwölf Uhr selbst dorthin begab (Fustoff konnte sich durchaus nicht entschließen, mich zu begleiten und bat mich nur ihm die umständlichsten Mittheilungen zu machen) und das Haus mich bei der Wendung einer Straße aus der Ferne ansah mit dem mattgelben Flecken einer Todtenkerze in dem einen Fenster, da schnürte mir eine unsagbare Furcht den Athem zu, und ich wäre gern umgekehrt … Ich beherrschte mich indessen, und trat in's Vorzimmer. Weihrauch und Kerzengeruch schlug mir aus demselben entgegen; der Deckel eines rosenrothen, mit silbernen Borten beschlagenen Sarges stand in einer Ecke, an die Wand gelehnt. Aus einem Nebenzimmer, dem Speisezimmer, tönte das einförmige Murmeln des Diaconus, dem Summen einer hineingeflogenen Hummel gleich. Das verschlafene Gesicht einer Dienstmagd blickte aus dem Gastzimmer heraus. Sie fragte halblaut: »Sie sind gekommen, um Ihre Verbeugung zu machen« und wies auf die Thür des Speisezimmers. Ich trat hinein. Der Sarg stand mit dem Kopfende zur Thüre. Susannen's schwarzes Haar mit dem weißen Kranze auf der etwas gehobenen Franze des Kissens, bot sich zuerst den Augen dar. Ich trat an die Seite hin, bekreuzte mich, beugte mich bis zur Erde und sah hin … Ach Gott! welch ein schmerzlicher Anblick! Die Unglückliche! Der Tod selbst hatte kein Mitleid mit ihr gehabt, er hatte ihr – ich will gar nicht von Schönheit sprechen – er hatte ihr selbst jene Ruhe, jene rührende, unbeschreibliche Ruhe versagt, die uns oft in den Zügen der Entschlafenen begegnet. Das kleine, dunkle, beinahe braune Gesicht Susannens erinnerte an die Gesichter auf den allerältesten Heiligenbildern, und welch einen Ausdruck trug dieses Gesicht! Es war, als wenn sie eben einen verzweifelten Schrei hätte ausstoßen wollen, und so erstarrt wäre, ehe sie einen Ton hervorgebracht … kein Fältchen zwischen den Augenbrauen war ausgeglättet und die Finger an den Händen waren verdreht und zusammengepreßt. Ich wendete den Blick unwillkürlich ab; eine kleine Weile darauf zwang ich mich aber, wieder hinzusehen, sie lange und aufmerksam zu betrachten. Mitleid, – und nicht dieses Gefühl allein, erfüllte meine Seele. »Dieses Mädchen ist eines gewaltsamen Todes gestorben,« das stand unzweifelhaft bei mir fest. Während ich da stand und die Leiche betrachtete, verfiel der Diaconus, der bei meinem Eintritt die Stimme erhöht und einige Silben deutlich gesprochen hatte, wieder in den summenden Ton und gähnte mehrmals. Ich beugte mich noch einmal bis zur Erde und trat in's Vorzimmer hinaus. An der Schwelle des Gastzimmers erwartete mich schon Herr Ratsch. Er trug einen bunten Bochare-Schlafrock, winkte mir mit der Hand und führte mich in sein Cabinet, – ich hätte beinahe gesagt in sein Loch. Dieses Cabinet, finster, eng und ganz gesättigt mit einem säuern Gerüche von Wichse erweckte in mir stets Vergleiche mit der Höhle eines Wolfes oder eines Fuchses.

 

Vierundzwanzigstes Capitel

»Eine Verletzung! eine Zerreißung jener Hüllen … Oberhäutchen … Sie wissen … Oberhäutchen!« sagte Herr Ratsch, sobald er die Thür geschlossen hatte. – »Solch ein Unglück! Gestern noch konnte man nichts bemerken und auf einmal r–r–ras–s! krach! entzwei! und aus! – Da kann man wohl sagen: »Heute rodt, und morgen todt. Erwarten konnte man es freilich; ich habe es immer erwartet. In Tambow hat ein Regimentsarzt Galimbovsky, Vincenz Kasimirowitsch … Sie haben gewiß von ihm gehört … ein ausgezeichneter Praktikus, Specialist!«

»Ich höre zum ersten Male seinen Namen,« bemerkte ich.

»Nun, gleichviel; Dieser also,« fuhr Herr Ratsch zuerst mit leiser Stimme, dann immer lauter, und zu meiner Verwunderung mit einem sehr bemerklichen deutschen Accente fort, »dieser also hat mich immer gewarnt: Eh! Ivan Demjanitsch! Eh! mein Freund! nehmen Sie sich in Acht! Ihre Stieftochter hat einen organischen Herzfehler Hypertrophia cordialis! Das Geringste – und das Unglück ist da! Heftige Gemüthsbewegungen müssen vor Allem vermieden werden …« Ich bitte Sie, wie ist das wohl möglich bei einem jungen Mädchen! … Auf die Vernunft wirken? Ha – h …ha …«

Herr Ratsch war im Begriffe seiner alten Gewohnheit gemäß in Lachen auszubrechen, besann sich aber noch zur rechten Zeit und verwandelte den begonnenen Laut in ein Husten.

Und das konnte Herr Ratsch sagen! Nach Allem, was ich über ihn wußte … Ich erachtete es für meine Pflicht ihn zu fragen: ob ein Arzt gerufen worden war?

Herr Ratsch sprang auf.

»Freilich ist ein Arzt da gewesen … Zwei Aerzte wurden gerufen; aber es war schon Alles aus – abgemacht! Und stellen Sie sich vor: Beide begegneten sich darin: »eine Zerreißung! Zerreißung des Herzens!« riefen sie Beide wie aus einem Munde. Sie schlugen Anatomie vor; aber … Sie begreifen … ich habe mich nicht dazu entschlossen.

»Und die Beerdigung ist morgen?«

»Ja, ja morgen; morgen wollen wir unser Täubchen beerdigen. Präcis um elf Uhr früh wird die Leiche aus dem Hause hinaus getragen … von hier in die Kirche Nicolai auf Hühnerfüßen … Kennen Sie sie? Seltsame Namen haben Ihre russischen Kirchen! Und dann zur letzten Ruhestätte unserer Tochter in feuchter Mutter Erde! Sie kommen doch? Wir kennen uns zwar kurze Zeit; aber ich wage zu behaupten, daß die Liebenswürdigkeit Ihres Charakters, das Edele Ihrer Empfindungen …«

Ich beeilte mich eine bejahende Verbeugung zu machen.

»Ja, ja, ja!« seufzte Herr Ratsch. »Das ist wahrhaftig ein Donnerschlag, wie man zu sagen pflegt, – ein Blitz vom heiteren Himmel!«

»Hat Susanne Ivanowna Nichts gesagt vor dem Tode? Hat sie keine Bestimmung hinterlassen?«

»Durchaus gar Nichts! Kein Pulverkörnchen! Kein einziges Papierfetzchen! Ich bitte Sie! Als man mich zu ihr rief, als man mich weckte, so war sie – stellen Sie sich vor – schon kalt und starr! Das war mir äußerst schmerzlich! Sie hat uns Alle in tiefes Leid versetzt! Alexander Daviditsch wird es auch bedauern, wenn er es hört … man sagt, er sei nicht in Moskau anwesend?«

»Er reiste in der That für einige Tage …« fing ich an.

»Fictor Ivanitsch beklagt sich darüber, daß es so lange dauert mit dem Anspannen des Schlittens,« unterbrach mich ein eintretendes Dienstmädchen, dasselbe, welches ich im Vorzimmer gesehen hatte. Ihr noch immer verschlafenes Gesicht frappirte mich diesmal durch jenen Ausdruck grober Frechheit, den man an Dienern wahrnimmt, welche wissen, daß die Herrschaft in ihrer Hand ist, und sie weder zu schelten noch zur Rechenschaft zu ziehen wagen darf.

»Gleich, gleich,« stampfte Ivan Demjanitsch mit dem Fuße. Eleonore Karpowna, kommen Sie her. Leonore! Lenchen!«

Schwerfällig nahte Etwas der Thür und in demselben Augenblicke wurde Fictors befehlende Stimme hörbar: »Warum wird das Pferd denn nicht angespannt? Ich kann mich doch nicht zu Fuße auf die Polizei schleppen?«

»Gleich, gleich!« wiederholte Ivan Demjanitsch. – »Eleonore Karpowna, so kommen Sie doch her!«

»Aber Ivan Demjanitsch,« wurde ihre Stimme hörbar, »ich habe ja keine Toilette gemacht!«

»Macht Nichts! Komm herein!«

Eleonore Karpowna trat herein, mit zwei Fingern ein Tuch über ihrem bloßen Halse zusammenhaltend. Sie trug einen offenen Morgenrock und ihre Haare waren ungekämmt. Ivan Demjanitsch sprang sogleich auf sie zu.

»Sie hören, Fictor verlangt die Equipage,« sagte er, hastig mit dem Finger bald auf die Thür, bald auf das Fenster zeigend. »So treffen Sie Anordnungen und schnell! Der Kerl schreit so!«

»Der Fictor schreit immer, Ivan Demjanitsch, Sie wissen es wohl!« antwortete Eleonore Karpowna: »Ich habe es dem Kutscher selbst befohlen; aber er hatte dem Pferde Hafer vorgeworfen. Welch ein plötzliches Unglück,« fügte sie, sich zu mir wendend, hinzu; »und wer hätte das von Susanne Ivanowna gedacht?«

»Ich habe es immer erwartet, immer!« schrie Ratsch, und hob die Hände hoch empor, wobei der Bochare-Schlafrock vorne auseinanderging und ein Paar höchst widerwärtige untere Unaussprechliche aus sämischem Leder mit einer messingenen Schnalle an der Gurte, zu Tage förderte. »Eine Zerreißung des Herzens! das Oberhäutchen »Hypertrophia!«

»Nun ja,« sprach Eleonore Karpowna ihm nach. »Hypo … Nun, das thut mir jetzt sehr, sehr leid, und ich sage noch einmal … und ihr grobgeformtes Gesicht verzerrte sich allmälig, die Augenbrauen hoben sich im Dreieck und ein kleines Thränchen rollte über die runden und wie bei einer Puppe glänzenden Wangen … »Es thut mir wirklich sehr leid, daß eine so junge Person, welche hätte leben und Alles hätte genießen sollen … Alles … Und auf einmal diese Verzweiflung.«

»Na, gut, gut! … Geh! Alte!« unterbrach sie Herr Ratsch.

»Geh' schon, geh' schon!« murmelte Eleonore Karpowna und ging hinaus, immer noch das Tuch mit zwei Fingern haltend, und Thränen vergießend.

Ich folgte ihr. Im Vorzimmer stand Fictor im Studentenmantel mit einem Biberkragen und die Mütze auf einer Seite. Er sah mich kaum etwas über die Schulter an, schüttelte seinen Kragen und grüßte mich nicht, wofür ich ihm im Herzen dankte.

Ich kehrte zu Fustoff zurück.

 

Fünfundzwanzigstes Capitel

Ich fand meinen Freund in einem Winkel seines Cabinettes sitzend; sein Kopf war gesenkt, seine Arme über der Brust gekreuzt. Es war eine Stumpfheit über ihn gekommen, er blickte mit langsamem Erstaunen um sich, wie ein Mensch, der sehr fest geschlafen hat und eben erst geweckt worden ist. Ich erzählte ihm von meinem Besuche bei Ratsch, wiederholte ihm die Reden des »Veteranen,« die Worte seiner Frau und theilte ihm meine Ueberzeugung mit, daß das unglückliche Mädchen sich selbst das Leben genommen habe … Fustoff hörte mich an, ohne den Ausdruck seines Gesichtes zu verändern und blickte immer erstaunt um sich.

»Hast Du sie gesehen?« fragte er endlich.

»Ich habe sie gesehen.«

»Im Sarge?«

Es war, als wenn Fustoff noch immer daran zweifelte, daß Susanne wirklich todt war.

»Im Sarge.«

Fustoff senkte die Augen und rieb sich leicht die Hände.«

»Ist Dir kalt?« fragte ich.

»Ja, Bruder, mich friert,« antwortete er zögernd und schüttelte gedankenlos den Kopf.

Ich fing an, ihm zu beweisen, daß Susanne sich unzweifelhaft vergiftet hätte, oder vergiftet worden sei und daß man diese Sache nicht ruhen lassen dürfe …

Fustoff sah mich unverwandt an.

»Was kann man denn dabei thun?« fragte er, langsam und weit mit den Augen blinzelnd. »Es wäre ja noch schlimmer, wenn es bekannt würde … Man würde sie nicht beerdigen wollen. Man muß die Sache … so … sein lassen.«

Dieser übrigens sehr nahe liegende Gedanke war mir nicht in den Sinn gekommen. Der praktische Verstand meines Freundes verließ ihn nicht.

»Wann … wird sie beerdigt?« fuhr er fort.

»Morgen.«

»Wirst Du hingehen?«

»Ja«

»In's Haus, oder grade in die Kirche?«

»In's Haus; von da in die Kirche und dann auf den Gottesacker.«

»Ich werde nicht hingehen … Ich kann nicht … Ich kann nicht,« flüsterte Fustoff und brach in Schluchzen aus. Am Morgen hatte er bei diesen selben Worten angefangen zu weinen. Ich habe bemerkt, daß das oft bei Weinenden vorkommt; daß es gewissen Worten – meist unbedeutenden – aber gerade diesen und nicht andern Worten gegeben ist, die Thränendrüsen des Menschen zu öffnen, ihn zu erschüttern und das Gefühl des Mitleids für sich und Andere in ihm zu wecken … Ich erinnere mich einer Bäuerin, welche mir von dem plötzlichen Tode ihrer Tochter während des Mittagessens erzählte, und in Thränen zerfloß und niemals die angefangene Erzählung fortsetzen konnte, so wie sie folgenden Satz aussprach: »Ich sage ihr: Thekla?« und sie mir: »Muter, wohin hast Du das Salz … das Salz … Sa..alz.« – Das Wort: Salz vernichtete sie. Gleich wie am Morgen, rührten mich Fustoff's Thränen auch jetzt nicht viel. Ich begriff wie es möglich war, daß er mich nicht fragte, ob Susanne Nichts für ihn hinterlassen hatte? Ueberhaupt war ihre gegenseitige Liebe mir ein Räthsel, und sie ist mir ein Räthsel geblieben.

Nachdem er wohl zehn Minuten geweint hatte, stand Fustoff auf, legte sich auf das Sopha, wandte sich mit dem Gesichte zur Wand, und blieb unbeweglich liegen. Ich wartete Etwas. Als ich aber sah, daß er sich nicht regte, und meine Fragen nicht beantwortete, beschloß ich, mich zu entfernen. Ich beschuldige ihn vielleicht ungerechter Weise; aber ich glaube gar, er war eingeschlafen. Das hatte übrigens noch nicht bewiesen, daß er keinen Schmerz empfand … seine Natur war so angelegt, daß sie traurige Eindrücke nicht lange ertragen konnte … Seine Natur war eine allzu normale Natur!«

 

Sechsundzwanzigstes Capitel

Am andern Morgen präzis um elf Uhr war ich zur Stelle. Es schneite fein vom niedrig hängenden Himmel, die Kälte war nicht groß, ein Thauwetter war im Anzuge, aber ein scharfer, unangenehmer Wind strich durch die Luft … Es war die Zeit der großen Fasten und recht ein Wetter, um sich eine Erkältung zuzuziehen. Ich traf Herrn Ratsch auf der Treppe seines Hauses. Im schwarzen Frack mit Pleureusen und ohne Hut war er dort unnütz geschäftig, fuhr mit den Händen in der Luft herum, schlug sich auf den Schenkel, schrie bald ins Haus hinein, bald auf die Straße hinaus nach der Richtung hin, wo der Leichenwagen mit weißem Katafalk und zwei Miethwagen standen, neben welchen vier Garnisonssoldaten mit Trauermänteln über ihren alten Uniformen und Trauerhüten über den runzligen Gesichtern, nachdenklich standen, und ihre unangezündeten Fackeln in den lockeren Schnee steckten. Das mützenartige, graue Haar Herrn Ratsch's hob sich förmlich über dem rothen Gesichte und seine Stimme, diese eherne Stimme, brach vor Anstrengung. »Nun, und der Grünstrauch! Grünstrauch! hierher! Tannenzweige! schrie er: »der Sarg soll gleich hinausgetragen werden! Grünstrauch! Werft den Grünstrauch aus! Rasch!« rief er noch einmal, und sprang in's Haus hinein. Es erwies sich, daß ich zu spät gekommen war, trotz meiner Pünktlichkeit. Herr Ratsch hatte für nöthig erachtet, die Todtenmesse früher abhalten zu lassen und sie war bereits zu Ende. Die Priester, von denen der Eine ein Wirbelkäppchen trug, der Andere, Jüngere sein Haar sehr sorgfältig gekämmt und geölt hatte, traten zusammen, von dem Kirchendiener gefolgt, auf die Treppe hinaus. Bald erschien auch der Sarg. Er wurde von dem Kutscher, dem Wasserträger und zwei Hausknechten getragen.

Hinter demselben ging Herr Ratsch her, den Deckel des Sarges mit seinen Fingerspitzen berührend und immer rufend: »Vorsichtig! Vorsichtig! Vorsichtig!« Ihm nach watschelte Eleonora Karpowna, in einem schwarzen Kleide mit Pleureusen, umgeben von ihrer ganzen Familie, und hinter Allen schritt Fictor in einer neuen Uniform und mit einem Flor über dem Degengriff einher. Aechzend und sich streitend stellten die Träger den Sarg auf den Todtenwagen; die Garnisonssoldaten zündeten ihre Fackeln an, die sofort anfingen zu knistern und zu dampfen, ein herangeschlichenes Bettelweib weinte laut, die Diakonen stimmten ihren Gesang an, der Schnee fiel in dichteren Flocken und wirbelte, weißen Fliegen gleich, in der Luft herum, Herr Ratsch rief: »Mit Gott! Vorwärts!« und der Zug setzte sich in Bewegung. Außer der Familie Ratsch folgten nur noch fünf Personen dem Sarge: ein verabschiedeter, sehr abgetragener Officier der Wassercommunication mit einem verblichenen Stanislausbande um den Hals, der Gehülfe des Aufsehers im Stadtviertel, ein kleiner Mann mit einem sanften Gesichte und gierigen Augen; ein alter Mann in einem kamlottenen Rocke; ein starker Fischhändler in seiner blauen Kaufmannstracht, der nach seiner Waare roch – und ich. Die Abwesenheit des weiblichen Geschlechtes (denn es war unmöglich, zwei Tanten von Eleonora Karpowna, die Schwestern des Wurstmachers und ein verwachsenes Mädchen mit einer blauen Brille auf der blauen Nase, dahin zu rechnen), die Abwesenheit von Freundinnen und Bekannten setzte mich anfangs in Erstaunen; als ich aber darüber nachdachte, fand ich, daß Susanne mit ihrem Charakter, ihrer Erziehung und ihren Erinnerungen in dem Kreise, in welchem sie lebte, keine Freundinnen haben konnte. Es hatten sich viele Menschen in der Kirche eingefunden, mehr Unbekannte als Bekannte, wie man an dem Ausdrucke ihrer Gesichter sah. Das Todtenamt dauerte nicht lange. Ich sah mit Verwunderung, daß Herr Ratsch sich sehr eifrig und ganz wie ein Rechtgläubiger bekreuzigte und beinahe mit einzelnen Noten in den Gesang der Diakonen mit einstimmte. Als die Zeit da war, von der Entschlafenen Abschied zu nehmen, verbeugte ich mich tief vor ihr, gab ihr aber nicht den letzten Kuß. Herr Ratsch hingegen erfüllte sehr ungezwungen diesen fürchterlichen Gebrauch, lud dann den Officier mit höflicher Verbeugung ein, an den Sarg heranzutreten, als wolle er ihn bewirthen und hob seine Kinder der Reihe nach, ihnen mit einem Schwünge unter die Arme greifend, hoch empor zur Leiche. Als Eleonora Karpowna von Susannen Abschied nahm, schallte ihr heftiges Weinen durch die ganze Kirche; sie beruhigte sich indessen bald wieder und fragte fortwährend in einem aufgeregten Flüstern: »Wo ist mein Ridicül?« Fictor hielt sich zur Seite und schien durch seine ganze Haltung zu verstehen zu geben, wie weit entfernt er von allen ähnlichen Gebräuchen sei und wie er nur eine Pflicht hergebrachter Schicklichkeit erfüllte. Der alte Mann im kamlottenen Rocke zeigte am meisten Theilnahme. Er war vor 50 Jahren Feldmesser im Tamboff'schen Gouvernement gewesen und hatte Ratsch seitdem nicht gesehen. Susanne hatte er gar nicht gekannt; er hatte aber schon Zeit gefunden, zwei Gläschen Schnaps im Buffet auszutrinken. Meine Tante war auch in die Kirche gekommen. Ich weiß nicht, wo sie erfahren hatte, daß die Verstorbene eben jenes junge Mädchen war, welches mich besucht hatte, und diese Nachricht hatte sie in unbeschreibliche Aufregung versetzt! Sie konnte sich nicht entschließen, mich einer schlechten Handlung zu beschuldigen; ebenso wenig konnte sie sich aber diese seltsamen zusammentreffenden Umstände erklären … Ich glaube, sie bildete sich ein, daß Susanne sich aus Liebe zu mir das Leben genommen hätte. In die dunkelsten Gewänder gehüllt, lag sie auf den Knieen und betete mit zerknirschtem Herzen und mit Thränen für die Seelenruhe der Verstorbenen und stiftete ein rubeliges Licht vor das Bild der Schmerzensstillerin … Auch »Amischka« war mit ihr gekommen und betete, wobei sie aber mehr und mit Entsetzen auf mich sah … Denn o weh! … ich war diesem alten Fräulein nicht gleichgültig! Als wir aus der Kirche traten, theilte meine Tante all ihr Geld – etwa 12 – Silberrubel an die Armen aus.

Der Abschied war endlich vorüber. Man fing an, den Sarg zu schließen. Während des ganzen Gottesdienstes hatte ich nicht den Muth gehabt, dem armen Mädchen geradem das entstellte Gesicht zu sehen, und jedes Mal wenn meine Augen über dasselbe hinglitten, schien es zu sagen: »Er ist nicht gekommen! Er ist nicht gekommen!« Man legte den Deckel auf den Sarg … Ich hielt mich nicht länger und warf einen raschen Blick auf die Verstorbene: »Warum hast Du das gethan?« fragte ich sie unwillkürlich – und: »Er ist nicht gekommen!« hörte ich zum letzten Male …

Der Hammer fiel auf die Nägel und Alles war zu Ende.

 

Siebenundzwanzigstes Capitel

Wir geleiteten den Sarg auf den Friedhof. Wir waren ohngefähr 40 Personen in Allem, eine wesentlich verschiedenartige müßige Menge. Der ermüdende Gang dauerte über eine Stunde. Das Wetter wurde immer schlechter. Fictor setzte sich auf halbem Wege in den Wagen. Ratsch schritt rüstig durch den Hauenden Schnee; ebenso mag er damals, nach jener verhängnißvollen Zusammenkunft mit Simeon Matveitsch, über den Schnee dahingeschritten sein, als er das arme, für immer gebrochene Mädchen triumphirend in sein Haus abführte! Die Haare des »Veteranen« sowie seine Augenbrauen verbrämten sich mit Schnee; bald keuchte und krächzte er, bald rundete er, alle Kräfte zusammennehmend, seine festen runden Wangen … es sah beinahe aus, als lachte er. Und wieder fielen mir Susannens Worte in jenem Heftchen ein: »Nach meinem Tode geht die Pension auf Ivan Demjanitsch über.« Endlich kamen wir auf dem Friedhofe an und arbeiteten uns bis zu dem frischen Grabe durch. Die letzten Ceremonien wurden schnell vollbracht: Ein Jeder war erstarrt vor Kälte und beeilte sich. Der Sarg wurde mit Seilen in die gähnende Grube hinabgelassen und man fing an, das Grab mit Erde zuzuschütten. Auch hierbei zeigte Herr Ratsch seine Lebhaftigkeit; in unternehmender Stellung, den einen Fuß vorgestreckt, warf er die Erdschollen schnell und kraftvoll und mit kühnem Schwunge auf den Sargdeckel; er konnte nicht energischer handeln, wenn er seinen grausamsten Feind zu steinigen gehabt hätte. Fictor hielt sich, wie früher, zur Seite, wickelte sich in feinen Mantel ein und rieb sein Kinn an dem Biberkragen desselben. Die übrigen Kinder des Herrn Ratsch ahmten ihrem Vater eifrig nach. Sand und Erde umherzuschleudern, machte ihnen große Freude, was übrigens sehr natürlich war. An der Stelle der Grube erhob sich allmälig ein Hügel und wir bereiteten uns schon auseinander zu gehen, als Herr Ratsch in militairischer Weise links um machte, sich auf den Schenkel schlug und uns Allen erklärte, daß er »die Herren« so wie die »ehrwürdige Geistlichkeit« zu einem »Gedächtnißmahle für die Verstorbene« einlade, welches in geringer Entfernung von dem Friedhofe, in dem großen Saale eines sehr anständigen Gasthauses hergerichtet war, und zwar durch die Bemühungen »unseres liebenswürdigen Sigismund Sigismundovitsch …« Bei diesen Worten wies er auf den Gehülfen des Aufsehers im Stadtviertel und fügte hinzu, daß er, Ivan Demjanitsch, trotz seines Schmerzes und seiner lutherischen Religion, als echter Russe dennoch die echt russischen Gebräuche werth hielte. »Meine Gemahlin,« rief er aus, »und die Damen, welche mit ihr gekommen sind, mögen nach Hause fahren, wir aber, meine Herren, wollen bei einem bescheidenen Mahle uns der Entschlafenen erinnern und ihr Gedächtnißfeiern!« Der Vorschlag des Herrn Ratsch wurde mit aufrichtiger Zustimmung aufgenommen; die »ehrwürdige« Geistlichkeit wechselte bedeutungsvolle Blicke und der Officier der Wassercommunication faßte Ivan Demjanitsch bei der Schulter und nannte ihn einen Patrioten und die Seele der Gesellschaft.

Wir begaben uns Alle zusammen in das Gasthaus. Dort standen in dem langen, breiten, übrigens ganz leeren Zimmer des zweiten Stockes zwei Tische mit Flaschen, Gedecken und Speisen bedeckt und von Stühlen umgeben. Die vereinigten Gerüche von frischer Stuccatur, von Schnaps und Fastenöl drangen in die Nase und beengten den Athem. Der Gehülfe des Aufsehers führte, in seiner Eigenschaft eines Festordners, die Geistlichkeit an den Ehrenplatz, wo vorzugsweise Fastenspeisen aufgestellt waren; auch die übrigen Gäste nahmen Platz. Das Festmahl begann. Ich möchte nicht das Wort »Festmahl« brauchen; aber kein anderes Wort würde dem wirklichen Thatbestande entsprechen. Anfangs ging Alles ziemlich still, nicht ohne einen Anstrich von Langerweile her. Es wurde gekaut, die Gläser wurden geleert, aber es wurden auch Seufzer hörbar – sei es nun, daß sie aus dem Magen oder aus einem mitfühlenden Herzen kamen; man gedachte des Todes, der Sinn war auf die Kürze des menschlichen Lebens, auf die Vergänglichkeit irdischer Hoffnungen gelenkt; der Officier der Wassercommunication erzählte eine, freilich militairische, aber doch belehrende Anekdote; der Geistliche mit dem Wirbelkäppchen billigte sie und erzählte selbst einen Zug aus dem Leben des hochehrwürdigen Ivan Woin; der Priester mit dem schöngekämmten Haar brachte auch eine erbauliche Bemerkung über die jungfräuliche Untadelhaftigkeit vor, wobei er jedoch stets seine Hauptaufmerksamkeit den Speisen zuwandte – bald aber veränderte sich die Scene. Die Gesichter rötheten sich, die Stimmen wurden lauter und das Gelächter trat wieder in seine Rechte ein. Es wurden abgerissene Rufe, liebkosende Ausdrücke, als z. B. »geliebter Bruder,« »Du mein Seelchen,« »mein Klötzchen« laut; mit einem Worte es wurde Alles umhergestreut, womit die Seele der Russen so freigebig ist, wenn sie sich, wie man zu sagen pflegt – aufgeknöpft hat. Und als endlich die Champagnerkorken knallten, wurde es vollends lärmend. Einer krähte wie ein Hahn und ein anderer Gast schlug sogar vor, das Glas, aus welchem er soeben getrunken hatte, mit den Zähnen zu zerbeißen und zu verschlucken. Herr Ratsch, der nicht mehr roth, sondern jetzt bläulich im Gesichte war, und schon viel gelärmt und gelacht hatte, stand jetzt plötzlich von seinem Platze auf und bat um die Erlaubnis eine Anrede zu halten. »Reden Sie! Reden Sie!« riefen Alle zusammen; der Alte im kamlottenen Rocke, der übrigens schon auf dem Boden saß … rief sogar »Bravo!« und klatschte in die Hände. Herr Ratsch hob sein Glas hoch empor und erklärte seine Absicht, in kurzen aber »eindrücklichen« Ausdrücken auf die Verdienste jener Seele hinzuweisen, welche »ihre irdische Hülle hinieden zurücklassend, zum Himmel emporgeschwebt war …« »Sie versenkte …« Herr Ratsch korrigirte: »sie versank …« und berichtigte noch einmal: »Sie versenkte …«

»Vater Diaconus! Verehrungswürdige Seele,« hörte man leise, aber bittend flüstern, – »Du sollst eine höllische Kehle haben, thue uns den Gefallen und donnere einmal: »Wir leben mitten in den Feldern!«

»St! St! … Stille doch! Was soll das heißen?« riefen die Gäste.

»... Versenkte ihre ganze ergebene Familie,« fuhr Herr Ratsch fort, einen strengen Blick zu den Musikfreunden hinüberwerfend, – »versetzte ihre Familie in ganz untröstlichen Kummer! Ja!« rief Ivan Demjanitsch – »Mit Recht sagt ein russisches Sprichwort: Das Schicksal beugt nicht, es bricht …«

»Halt! Meine Herren!« schrie plötzlich eine heisere Stimme am anderen Ende des Tisches auf – »man hat mir soeben meinen Geldbeutel gestohlen! …«

»Ah, Du Spitzbube!« pfiff eine andere Stimme, und – batz, fiel eine Ohrfeige.

Herr Gott! Was nun geschah! Es war, als wenn ein wildes Thier, welches sich bis dahin nur zuweilen in uns bewegt und geknurrt hatte, sich nun plötzlich von der Kette losgerissen und sich in seiner ganzen Ungestalt mit struppiger Mähne bäumte. Es war, als wenn Jeder im Stillem einen »Scandal« als natürlichen Zubehör und Ausgang des Mahles erwartet hatte, so plötzlich griffen ihn Alle auf und stürzten sich hinein … Teller, Gläser klirrten und rollten umher; Stühle wurden umgeworfen, schreiende Stimmen erhoben sich immer lauter, Hände bewegten sich in der Lust, die Stöcke flogen und es entspann sich eine Prügelei!

»Haut ihn! haut ihn!« brüllte mein Nachbar, der Fischhändler, der mir bis jetzt der sanfteste Mensch auf der Welt geschienen hatte, wie ein Besessener, er hatte aber freilich in aller Stille zehn Glas Wein ausgetrunken. – »Haut ihn!«

Wer »gehaut« werden sollte und wofür? dafür hatte er keinen Begriff; aber er brüllte fürchterlich.

Der Gehülfe des Polizeiinspectors, der Officier der Wassercommunication und selbst Herr Ratsch, der wohl nicht erwartet hatte, daß seiner Beredtsamkeit ein so schnelles Ende gemacht werde, versuchten, die Ruhe wiederherzustellen … aber ihre Bemühungen blieben fruchtlos. Mein Nachbar, der Fischhändler, stürzte sogar mit den Worten auf Herrn Ratsch los:

»Umgebracht hat er das Mädchen, der drei Mal verfluchte Deutsche,« schrie er und drohte ihm mit den Fäusten. – »Die Polizei hat er erkauft und jetzt wagt er, sich ein Ansehen zu geben!?«

Hier liefen die Aufwärter des Gasthauses herbei.

Was weites geschah, weiß ich nicht; ich griff eilig nach meinem Hute und machte mich auf die Beine! Ich erinnere mich nur, daß ich Etwas krachen hörte, daß ich eine Häringsgräte in den Haaren des Alten im kamlottenen Rocke sah, daß der Hut des Priesters über das ganze Zimmer hinflog, daß ich Fictors bleiches Gesicht in einem Winkel und Jemandes rothen Bart in eines Anderen muskulöser Faust sah .. Das waren die letzten Eindrücke, die ich von diesem »Gedächtnißmahle der Verstorbenen« davontrug, welches der liebenswürdige Sigismund Sigismundovitsch zu Ehren der armen Susanne veranstaltet hatte.

Nachdem ich mich etwas ausgeruht, begab ich mich zu Fustoff und erzählte ihm Alles, wovon ich im Laufe dieser Tage Zeuge gewesen war. Er hörte mich sitzend, mit gesenktem Kopfe, beide Hände unter die Füße gelegt, an und sagte wieder: »Ach, meine arme, arme Susanne!« Dann legte er sich auf das Sopha und kehrte mir den Rücken zu.

Eine Woche darauf hatte er sich vollkommen erholt und lebte ganz wie früher fort. Ich bat ihn, mir Susannens Heftchen zum Andenken zu geben und er händigte es mir ohne jeden Einwand ein.

 

Achtundzwanzigstes Capitel

Einige Jahre vergingen. Meine Tante starb und ich siedelte aus Moskau nach Petersburg über. Auch Fustoff zog nach Petersburg. Er trat in das Finanzministerium ein; ich sah ihn selten nur und fand nichts Besonderes mehr an ihm. Er war ein Beamter, wie sie Alle sind, und weiter Nichts. Wenn er noch lebt und unverheirathet ist, so wird er sich wohl auch nicht verändert haben, wird auch jetzt noch gymnastische Uebungen machen, Herzen verschlingen, wie sonst, und Napoleon in blauer Uniform in die Stammbücher seiner Freundinnen zeichnen. Ich mußte einmal in Geschäften nach Moskau. Dort erfuhr ich zu meinem nicht geringen Erstaunen, daß die Verhältnisse meines früheren Bekannten, des Herrn Ratsch, eine traurige Wendung genommen hatten. Seine Gemahlin hatte ihm freilich noch Zwillinge, zwei Knaben, geschenkt, welche der »Ur-Russe« Brjatscheslaw und Viatscheslaw genannt hatte; aber sein Haus war ihm abgebrannt, er hatte seinen Abschied nehmen müssen und sein ältester Sohn Fictor kam gar nicht mehr aus dem Schuldthurme heraus. Während meiner Anwesenheit in Moskau hörte ich in einer Gesellschaft Susannens in der allerbeleidigsten unvortheilhaftesten Weise erwähnen. Ich vertheidigte das Andenken des unglücklichen Mädchens so gut als möglich, – das Schicksal versagte ihr also selbst das Almosen der Vergessenheit! Allein meine Beweise brachten keinen großen Eindruck hervor. Einer von ihnen jedoch, ein poetischer Student, wurde erschüttert. Ich erhielt am folgenden Tage von ihm ein Gedicht zugeschickt, das ich vergessen habe, das aber mit folgenden Zeilen schloß:

»Doch selbst am Rand des still gewordnen Grabes
»Ruht der Verläumdung Schlangenzunge nicht.
»Ihr gift'ger Hauch trübt selbst das reine Gold,
»Mit dem Erinnerung den Ort verkläret,
»Und sengt die Blumen, die hier blühen möchten.«

Ich las dieses Gedicht und verfiel in tiefes Sinnen. Susannens Bild stieg wieder in mir auf und wieder sah ich jenes gefrorene Fenster in meinem Zimmer; ich gedachte jener Windstöße des Schneesturmes, ihrer Worte, ihrer Thränen … ich grübelte darüber, womit Susannes Liebe zu Fustoff erklärt werden könne, und warum sie sich so schnell, so unaufhaltsam der Verzweiflung hingegeben hatte, sobald sie sich verlassen sah. Warum hatte sie nicht abwarten, die bittere Wahrheit nicht aus den Lippen des geliebten Mannes selbst hören, ihm endlich nicht schreiben wollen? Wie war es möglich, sich sofort Kopf über in einen Abgrund zu werfen? »Weil sie Fustoff leidenschaftlich liebte,« wird man mir sagen; – »weil sie nicht den geringsten Zweifel in seine Ergebenheit, in seine Achtung ertragen konnte.« Vielleicht; vielleicht liebte sie Fustoff auch gar nicht so leidenschaftlich, vielleicht täuschte sie sich auch gar nicht in ihm, hatte aber ihre letzten Hoffnungen auf ihn gesetzt und konnte den Gedanken nicht ertragen, daß auch dieser Mensch sich sogleich, auf das erste Wort eines Verläumders hin von ihr abwenden konnte! Wer sagt es, was ihr den Tod gebracht: die gekränkte Eigenliebe, Gram über das Hoffnungslose ihrer Lage, oder die Erinnerung an jenes erste, edle, gerechte Wesen, dem sie sich am Morgen ihres Leben so freudig hingegeben, das so fest an sie glaubte und sie so hoch achtete? Wer weiß es, ob in jenem Augenblicke, wo es mir vorkam, als schwebe der Ausruf: »Er ist nicht gekommen!« über ihren todesstarren Lippen, ihre Seele sich nicht schon freute und zu ihm, zu ihrem Michel emporgeschwebt war? Die Geheimnisse des Menschenlebens sind groß, und das unzugänglichste aller Geheimnisse ist die Liebe! … Jedesmal aber, wenn Susannens Bild vor mir ersteht, kann ich Mitleid und einen Vorwurf gegen das Schicksal nicht in mir unterdrücken und meine Lippen flüstern unwillkürlich: »Die Unglückliche! Die Unglückliche!«

 

Ende

 


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