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Achtes Kapitel

Beim Frühstück ging es nicht sehr munter zu. Tante Sally sah alt und müde aus; sie ließ die Kinder unter einander zanken und streiten ohne ihnen zu wehren, wie sie es sonst immer that. Tom und ich waren so voller Gedanken, daß wir gar nicht sprachen und Benny mochte wohl die ganze Nacht kein Auge zugethan haben. So oft sie den Kopf ein wenig hob und nach ihrem Vater hinschaute, mußte sie mit den Thränen kämpfen. Der Alte ließ das Essen auf seinem Teller kalt werden, er rührte keinen Bissen an, redete kein Wort, sondern sann und sann nur immer vor sich hin.

Als die Stille am allerdrückendsten war, steckte der Neger wieder den Kopf durch die Thür und sagte, Massa Brace hätte schrecklich Angst um seinen Bruder Jupiter, der noch immer nicht heimgekommen wäre. Massa Silas sollte doch so gut sein und – –

Das Wort erstarb ihm auf den Lippen, denn Onkel Silas hatte sich plötzlich aufgerichtet. Er sah den Neger an und zitterte dabei so, daß er sich am Tisch festhalten mußte. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt; erst nach einer Weile stammelte er mühsam:

»Er glaubt wohl – er glaubt wohl – was denkt er sich eigentlich? – Sag' ihm – sag' ihm –« kraftlos sank er wieder in seinen Stuhl zurück. »Geh fort – geh fort!« murmelte er so leise, daß man es kaum verstehen konnte.

Der Neger machte sich erschrocken aus dem Staube, während Onkel Silas die Hände rang und seine Augen verdrehte, als läge er im Sterben; es war ein schrecklicher Anblick. Wir saßen alle da, wie festgebannt, nur Benny erhob sich leise, Thränen liefen ihr die Wangen herunter, sie trat neben den Stuhl ihres Vaters, bettete sein graues Haupt an ihrer Brust und streichelte ihn sanft und liebevoll. Dann winkte sie uns, wir sollten fortgehen, und wir verließen das Zimmer so still, als läge ein Toter darin.

In furchtbar ernster Stimmung schlugen Tom und ich den Weg nach dem Walde ein. Wie ganz anders war es doch hier bei unserm Besuch letzten Sommer gewesen: alles so glücklich und friedevoll, Onkel Silas so heiter, so wunderlich und voll kindlicher Einfalt und dabei so hochgeachtet von jedermann. Jetzt hatte er entweder den Verstand schon verloren, oder man mußte doch jeden Augenblick fürchten, daß er von Sinnen käme.

Es war ein sonniger, herrlicher Tag; weiter und weiter gingen wir über die Hügel nach der Ebene zu und konnten uns nicht satt sehen an den Bäumen und Blumen ringsum. Daß es in dieser schönen Welt auch Unglück gab, schien uns ganz unbegreiflich. Traurig zu sein, kam uns wie ein Unrecht vor.

Auf einmal fühlte ich, daß mir der Atem stockte; ich hielt Tom am Arm fest und mein Herz pochte wie ein Schmiedehammer.

»Da ist es!« rief ich; wir sprangen hinter einen Busch und Tom flüsterte:

»St! – Mach' keinen Lärm.«

Es saß gerade am Ende der kleinen Waldwiese auf einem Holzblock und stützte den Kopf in die Hand. Vergebens bemühte ich mich, Tom zur Flucht zu überreden; er rührte sich nicht vom Fleck, denn er meinte, vielleicht würde er sein Lebtag keine so günstige Gelegenheit mehr haben, ein Gespenst zu sehen, deshalb wollte er dieses nach Herzenslust betrachten und wenn es sein Tod wäre. So blieb ich denn auch da und riß die Augen auf, obgleich mir's gar nicht wohl dabei zu Mute war.

»Der arme Jack,« raunte mir Tom zu, denn schweigen konnte er nicht; »alle seine Sachen hat er an, wie er's uns vorausgesagt hat. Auch das Haar hat er sich kurz geschoren. Daß ein Gespenst so natürlich aussehen könnte, hätte ich nie gedacht.«

»Ich auch nicht; man würde es überall wiedererkennen.«

»Ganz wie bei Lebzeiten. Und am meisten wundert mich noch, daß es bei Tage umgeht. Die andern kommen immer erst nach Mitternacht zum Vorschein. Du, Huck, mit dem ist's nicht ganz richtig; es hat kein Recht, sich jetzt hier herumzutreiben, das kannst du mir glauben. Jack wollte sich taubstumm stellen, weil ihn die Nachbarn sonst an der Stimme erkannt hätten. Meinst du, das Gespenst würde das auch thun, wenn ich's jetzt anriefe?«

»Tom, ums Himmels willen, du wirst doch so was nicht wagen!«

»Sei nur ganz ruhig, ich denke nicht dran. Aber, was ist das – jetzt kratzt es sich am Kopf – ein Gespenst kann's doch nicht jucken, das ist ja aus lauter Dunst! Wahrhaftig, Huck, ich glaube, es ist gar kein wirkliches Gespenst, es müßte doch sonst –«

»Was denn, Tom?«

» Durchsichtig sein, so daß man die Büsche dahinter sehen könnte.«

»Du hast recht, sein Körper ist so fest wie der einer Kuh. Weißt du, ich fange an zu glauben –«

»Jetzt nimmt es den Mund voll Tabak und fängt an zu kauen – das ist ja unmöglich, es hat doch keine Zähne. Höre, Huck!«

»So sprich doch!«

»Es ist gar kein Gespenst, sondern Jack Dunlap wie er leibt und lebt! – Haben wir etwa eine Leiche im Ahornwäldchen gefunden?«

»Nein, keine Spur.«

»Weißt du auch warum? – Weil nie eine da war.«

»Aber Tom, wir haben doch das Geschrei gehört!«

»Ist das etwa ein Beweis, daß jemand umgebracht worden ist? – Erst sahen wir vier Männer laufen und dann kam dieser aus dem Wald gegangen. Wir hielten ihn für einen Geist, aber es war so wenig ein Geist wie du einer bist. Es war Jack Dunlap selbst und der sitzt jetzt dort drüben und spielt den Fremden und Taubstummen, ganz wie er's mit uns verabredet hatte. Der – ein Gespenst! Nein, Fleisch und Bein ist er, da wett' ich alles drauf.«

Ich sah nun auch unsern Irrtum ein, und wir waren beide herzlich froh, daß Jack nicht umgebracht worden war. Was sollten wir aber jetzt thun? Ihn anreden oder vorgeben, ihn nicht zu kennen? Tom hielt es für das beste, ihn selber zu fragen, wie er es haben wolle. Also ging er geradeswegs auf ihn zu, während ich mich etwas im Hintergrund hielt, für den Fall, daß es doch ein Gespenst wäre.

Als Tom ganz nahe bei ihm war sagte er: »Guten Tag! Wir freuen uns sehr, Euch wiederzusehen, Huck und ich. Fürchtet nur nicht, daß wir Euch verraten. Wenn Ihr es für besser haltet wollen wir thun, als hätten wir Euch nie gekannt. Sagt nur, ob Euch das recht ist. Ihr könnt Euch dann fest auf uns verlassen; wir würden uns eher die Hand abhacken als Euch Schaden thun.«

Zuerst zeigte er sich sehr überrascht uns zu sehen und keineswegs erfreut; aber bei Toms Rede erhellte sich sein Gesicht und zuletzt lächelte er, nickte mehrmals mit dem Kopf, machte allerlei Zeichen mit den Händen und sagte: »Goo – goo – goo – goo,« ganz wie ein Taubstummer.

Indessen sahen wir ein paar von Steffen Nickersons Angehörigen, die jenseits der Wiese wohnten, daherkommen. »Ihr macht Eure Sache ganz ausgezeichnet,« sagte Tom, »natürlich müßt Ihr Euch üben so viel Ihr könnt, an uns so gut wie an den andern, damit Ihr auf Eurer Hut seid und niemals aus der Rolle fallt. Wir wollen Euch auch so wenig wie möglich in den Weg kommen und keiner Seele verraten, daß wir Euch kennen. Laßt es uns aber ja wissen, wenn Ihr einmal Hilfe braucht.«

Als wir den Nickersons begegneten, hielten sie uns natürlich an und wollten wissen, wer der Fremde dort drüben sei, wie er heiße, woher er komme, ob er Baptist oder Methodist, liberal oder konservativ wäre und was dergleichen Fragen mehr sind, die wir Amerikaner bei jeder neuen Erscheinung gleich auf der Zunge haben. Tom erwiderte jedoch, er hätte aus den Zeichen des Taubstummen und seinen Naturlauten nicht klug werden können. Mit großer Spannung beobachteten wir nun von ferne, wie sie Jack auszuforschen begannen. Erst als wir ihn seine Zeichen machen sahen und wußten, daß alles gut ablaufen würde, beruhigten wir uns wieder und machten, daß wir weiter kamen, weil wir gern während der Zwischenstunde beim Schulhaus sein wollten.

Es war recht ärgerlich, daß uns Jack nicht erzählen konnte, was sich in dem Ahornwäldchen zugetragen hatte und ob er fast umgebracht worden wäre; aber Tom bemerkte ganz richtig, daß ein Mensch in Jacks Lage nicht vorsichtig genug sein könne und am besten thäte still zu schweigen, um sich keiner Gefahr auszusetzen.

In der Zwischenstunde ging es sehr lustig zu, alle Knaben und Mädchen freuten sich, uns wiederzusehen. Die beiden Hendersons waren auf ihrem Schulweg dem Taubstummen begegnet und wurden deshalb von den übrigen sehr beneidet, da alle vor Neugier brannten, ihn zu sehen, und von gar nichts anderm reden mochten.

Es kostete Tom keine kleine Ueberwindung, nichts zu verraten. Hätten wir alles erzählen dürfen, wie würde man uns bewundert haben! Aber viel heldenhafter war es doch noch, Stillschweigen zu bewahren. Unter Millionen Jungen hätte man nicht zwei finden können, die das fertig brachten. Davon war Tom wenigstens überzeugt und schließlich mußte er es doch am besten wissen.


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