Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
»Puh – ihr macht ja alle so wichtige Gesichter, was gibt's denn bloß?« ein allerliebstes Mädchen von etwa dreizehn Jahren steckte den braunen Krauskopf zur Tür hinein. Die munteren Augen gingen neugierig vom Vater zur Mutter, und von der Mutter zur Tante.
»Willst du nicht erst Tante Marianne begrüßen, Jungfer Fürwitz?« meinte die Mutter mit leisem Vorwurf.
Das junge Mädchen errötete und holte das Versäumte schnell nach, war doch Tante Marianne die Lieblingstante sämtlicher Nichten und Neffen.
»Und das Wurm willst du nun mitnehmen!« Vater schüttelte seinen Kopf.
»Wie – wa–as?« Ursel blieb der frische, rote Mund halb offen vor Staunen und Aufregung.
»Tante Marianne will gern eine ihrer jungen Nichten zur Begleitung mit auf die Reise nehmen, um Gesellschaft und jugendliche Anregung zu haben«, begann die Mutter. Sie schien nicht recht erbaut von der Absicht ihrer Schwägerin.
»Himmlisch – famos – ach, ich will dich ja so anregen, Tante Marianne, Tag und Nacht –« beteuerte Ursel mit glühenden Backen.
»Nee, danke, danke vielmals – nachts brauche ich meine Ruhe«, lachte die Tante amüsiert über den Pflichteifer ihrer in Aussicht genommenen Reisebegleitern.
»Du bist uns noch zu jung und vor allem zu fürwitzig, Kind. Vater und ich, wir sind mehr dafür, daß die Tante Cousine Ella auffordert, das ist ein ruhiges, verständiges Mädel.«
»Ach, Ella – die ist doch so tranig, bei der hat Tante Marianne nicht mal am Tage Anregung«, es zuckte enttäuscht um den jungen Mund.
»Jungfer Fürwitz!« drohte der Vater.
»Wann reist du denn, Tante Marianne? Doch erst im Sommer, nicht? Bis dahin bin ich ja schon schrecklich alt, dreizehneinhalb, gar nicht mehr viel jünger als Ella!« Ursel führte ihre Sache so beredt wie ein Advokat.
»Die wird inzwischen doch auch älter«, Tante Marianne belustigte sich köstlich. »Aber es handelt sich um den Winter, Ursel, ich will diesmal eine Weihnachtsreise machen.«
»Hurra – – –« Ursel vollführte, trotzdem sie bald »schrecklich alt« war, einen stuhlhohen Luftsprung.
»Na, habe ich denn nun nicht recht, daß das Kücken noch zu unverständig ist, um ohne Vater und Mutter die Nase in die Welt hineinzustecken!« Vater betrachtete sein Mädel lächelnd.
»Tante Marianne ist ebensogut wie Vater und Mutter zusammen, Tante ist doch ganz furchtbar verständig, gleich für mich mit – bitte, bitte, erlaubt es doch!« Ursel sprang bettelnd vom Vater zur Mutter und von dort wieder zurück, unermüdlich wie ein Uhrpendel.
»Danke für die gute Meinung, will zusehen, daß ich sie auch rechtfertige«, lachte Tante Marianne trocken. »Aber ich weiß ja noch gar nicht, ob du auch wirklich Lust hast, Ursel, es geht nämlich in die Winterberge, nach Brückenberg, in des Herrn Rübezahls Reich!«
»Ach, Tante Marianne,« jetzt mußte sich die Tante eine ungestüme Umarmung gefallen lassen, »das ist ja ganz famos! Da rodelt man und läuft Schie – –«
»Sag' ich's nicht?« unterbrach sie die Mutter ganz bekümmert, »Jungfer Fürwitz denkt gleich zuerst an den halsbrecherischen Sport. Ist es da ein Wunder, wenn man sein einziges Kind nicht von sich lassen will, noch dazu, wo sie erst vor kurzem vom Scharlachfieber genesen ist?«
»Mütterchen, liebes Mütterchen, ich will ja auch ganz gewiß nicht rodeln und nicht Schie laufen und nicht den Hals brechen!« beteuerte Ursel gerührt.
»Versprich nicht zuviel – ich meine, was das Rodeln und Schielaufen anbetrifft«, mahnte die Tante lächelnd. Es wird dem Kinde gerade nach der überstandenen Krankheit gut tun«, beruhigte Tante Marianne das ängstliche Mutterherz. »Paß auf, wie frisch und rotwangig ich sie euch wieder heimbringe!«
»Gott geb's!« Ein tiefer Seufzer begleitete diese Worte der Mutter. Sie konnte sich nun mal mit dem Gedanken einer Winterreise nicht recht befreunden.
»Also mach dich zur nächsten Woche bereit, in acht Tagen gibt's Ferien, dann geht's los, die Erlaubnis von deinen Eltern hatte ich schon, bevor du kamst«, die Tante nickte ihrem Nichtchen aufmunternd zu.
»Du bist die aller – allerbeste Tante der Welt!« Ursel zerdrückte die arme Tante fast mit ihren Dankesbezeigungen.
»Und was wird aus deinem Lernen, Mädel?« wandte die Mutter noch einmal ein. »Du weißt, daß du von deiner Krankheit noch Versäumtes nachzuholen hast.«
»Ach Mütterchen, das kann ich doch auch in Brückenberg, und es sind doch Weihnachtsferien und – Himmel, da werde ich am Heiligabend ja gar nicht hier bei euch sein!«
»Ja, fehlen wird uns die Krabbe am Weihnachtsabend – aber noch kannst du zurück, Ursel«, neckte der Vater.
»Nein, nein, das ist ja gerade mein schönstes Weihnachtsgeschenk.« Die kleine Wolke war bereits vorübergezogen. Ursel lachte der Himmel wieder in ungetrübter Bläue.
»Mehr gibt's denn auch nicht, verstanden, wer nicht da ist, kriegt auch nichts geschenkt.« Aber das Töchterchen wußte, wie der Vater es meinte.
»Allenfalls noch die Ausrüstung von mir schon im voraus, ich besorge alles Notwendige für das Mädel, und gut wird es dem Blaßschnabel sicher tun.« Damit nahm Tante Marianne Abschied.
Das Wort »Ausrüstung« fiel der Mutter wieder schwer auf die Seele. Eine richtige Ausrüstung brauchte man dazu? Herrgott, ihr armes Kind! Wie würde es da oben in den verschneiten Bergen frieren! Denn wenn man schon von Sommerfrische im Gebirge spricht, wie mag die Winterfrische erst dort sein! Und die Mutter nahm sich vor, noch besonders für warme Woll- und Pelzsachen Sorge zu tragen. Sie hatte doch bloß die eine! Noch dazu solche Jungfer Fürwitz, die selbst an nichts dachte und alles auf die leichte Schulter nahm.
Die acht Tage bis zur Reise schienen Ursel zu kriechen. Sie konnte die Zeit gar nicht mehr erwarten. Selbst in der Schule dachte sie an nichts anderes.
Tante Marianne ging mit ihr einkaufen. Jubelnd berichtete Ursel den Schulfreundinnen und den Eltern daheim von ihrer neuen Ausrüstung. Von den benagelten Bergstiefeln, den Wickelgamaschen, von Sweater, Rodelmütze, Schal und gestrickter Reformwäsche. Letztere war Balsam für das ängstliche Mutterherz.
So kamen die Weihnachtsferien heran.
Ein nebelgrauer, naßkalter Regentag brach an, Ursels heißersehnter Reisetag. Man mußte morgens früh Licht brennen, um überhaupt etwas sehen zu können. Die Sachen lagen wohlgeordnet im Koffer, und Mutters Ermahnungen ebenso wohlgeordnet in Ursulas Seele.
Das Töchterchen stand aufgeregt am Fenster. Wenn Tante Marianne nur nicht des Wetters wegen aufschob!
»Ihr werdet in Brückenberg Kahn fahren müssen.« Der Vater hatte gern seinen Spaß mit dem Töchterchen.
Ein Wagen rollte vors Haus. Gleich darauf steckte Tante Marianne ihren weißen Kopf zur Tür hinein.
»Guten Morgen – na, fertig, Ursel, dann kann's losgehen!« Ursel küßte die Mutter zärtlich, versprach alles, ohne eigentlich recht zu wissen was, und wandte sich dann zum Vater. Hier war der Abschied zwar ebenso herzlich, aber ungleich kürzer.
»Vergiß nicht, daß du nicht zu deinem Vergnügen allein, sondern in erster Linie zu Tante Mariannes Gesellschaft dort bist.«
»Und sei nur nicht fürwitzig, Ursel!« Beide Eltern riefen es ihr wie aus einem Munde noch auf der Treppe nach.
Dann rollte der Wagen mit dem winkenden Töchterchen davon.
Ursel saß seelenvergnügt in dem mollig durchheizten, dem Gebirge zueilenden Eisenbahnzuge, und ihr Plappermäulchen stand kaum eine Minute still. Sie erfüllte ihr Amt, Tante Marianne anzuregen, höchst pflichtgetreu.
Draußen war alles grau in grau. Kahle Felder, kahles, frierendes Geäst, ab und zu schemenhaft aus flatternden Nebelfetzen auftauchend ein Haus. Hart schlug der Regen gegen die tropfenden Scheiben.
Drinnen aber schien die Sonne. Sie lachte aus Ursels jungen Augen und spiegelte sich in den alten, jungen Augen der Tante wider.
»Vom Gebirge wirst du heute auf der Eisenbahnfahrt wenig sehen, Kind.« Tante spähte hinter Liegnitz durch das wasserbeperlte Fensterglas. »Aber ich denke, du wirst heute noch Schlitten fahren können.«
»Wa–as?« Ursel lachte herzlich, Tante war auch zu spaßig. »Vater meinte, wir könnten Kahn fahren.«
»Lach' nur, wer zuletzt lacht, lacht am besten. Der häßliche, graue Regen, der hier unten fällt, ist fast immer droben in den Bergen leuchtend weißer Schnee – also abwarten!«
Ursel blickte die Tante ungläubig an, sie wußte nicht recht, ob es ernsthaft gemeint war. Der Gedanke, bei der Überschwemmung draußen Schlitten zu fahren, wirkte auch zu komisch!
Aber schon auf dem Hirschberger Bahnhof, wo man umsteigen mußte, um von hier aus die Gebirgsbahn zu benutzen, wurde sie schwankend. Hier unten regnete es zwar immer noch, aber wahrhaftig – schlohweiß lag die Riesengebirgskette in leuchtendem Neuschnee vor Ursels begeisterten Blicken. Doch jetzt war keine Zeit zum Gucken und Staunen. Tante zog ihr Nichtchen mit sich fort, dem Menschenstrome nach. Die Bahn wartete nicht.
Auf der einen Seite stiegen die Schreiberhauer ein, auf der andern die Krummhübler – Brückenberger. überall lachende, frohe Gesichter, Rodelschlitten und lange, spitze Schneeschuhe. – Mutter hätte das sehen müssen! Mutter, die heute morgen gesagt, so verdreht würde kein anderer Mensch sein, bei dem Hundewetter ins Gebirge zu fahren.
Die Abteile waren bis auf den letzten Platz besetzt.
»Das gibt eine feine Rodelbahn jetzt nach dem Neuschnee«, sagte ein älterer Herr in Ursels Abteil.
»Wir fahren Bob«, antwortete ein anderer.
»Ich will mich diesmal dem edlen Schiesport weihen«, mischte sich ein Dritter hinein.
»Na, und das kleine Fräulein hier?« Der erste Herr wandte sich an Ursel. Er hatte wohl das Aufleuchten in ihren Augen bei der Unterhaltung gesehen.
»Ich rodele und fahre Bob und laufe Schie – alles!« rief Jungfer Fürwitz begeistert.
»Sieh mal an, Kind, du nimmst es dir ja gut vor, und ich kann mich wohl inzwischen ins Bett legen, damit ich dich durch meine Gesellschaft nicht zu sehr in deinem Sportvergnügen störe«, meinte die Tante mit seinem Lächeln.
»Tante Marianne!« rief Ursel ebenso erschrocken wie beschämt. Da hatte sie doch gleich im Anfang Vaters Mahnung, zuerst an die Tante zu denken, und dann an das eigene Vergnügen, außer acht gelassen.
Aber Tante war nicht böse. Die wies mit der Hand lachenden Auges aus dem Fenster.
Herrje – es schneite!
In großen, glitzernden Silbersternchen wirbelten die Flocken hernieder – ein tolles, lustiges Durcheinander.
»Glaubst du nun, daß wir heute noch Schlitten fahren werden, Ursel?« Tante nickte ihrem Nichtchen zu.
Dieses bejahte strahlend.
Und richtig – als man auf dem Bahnhof des malerischen Krummhübels aus der Bahn stieg, hielten allenthalben offene Schlitten mit luftig bimmelnden Glöckchen. Der Brückenberger Hotelschlitten nahm die beiden auf, eine große warme Decke schlug der Kutscher noch sorglich um die Insassen, und »klinglingling« ging es los.
Nun war man mittendrin in dem übermütigen Schneeflockentanz. Sie hingen sich an Ursels Näschen, die lustigen weißen Gesellen, an die langen, dunklen Augenwimpern, sie überpuderten ihr braunes, ebenso fürwitzig wie sie selbst, unter der Mütze herauslugendes Kraushaar, daß sie wie eine kleine Rokokodame aussah, und sie küßten ganz dreist ihr frisches, rotes Mäulchen.
Aber selbst Jungfer Fürwitz war es schließlich zufrieden, als man am Ziele war, einem vornehmen, eleganten Hotel, aus welchem dem Gaste Behagen, Wärme und Geborgensein entgegenströmte.
Zwei wunderhübsche, von Zentralheizung durchwärmte Zimmer, welche die Tante schon im voraus bestellt, standen bereit. Eine Tür verband sie miteinander.
»Ein Balkon – ach, ein Balkon!« jubelte Ursel los, als sie ihr Zimmer betrat, und hast du nicht gesehen war sie auch schon wieder zur Balkontür hinaus.
»Du willst wohl den Nachmittagskaffee draußen einnehmen, Mädel, wirst du wohl reinkommen und die Tür schließen, die ganze Stubenwärme geht ja heidi«, schalt Tante lachend.
Aber als Ursel jetzt den Worten Folge leistete, konnte sich Tante Marianne doch nicht eines etwas vorwurfsvollen »aber Jungfer Fürwitz!« erwehren.
Der schöne Teppich – in großen schwarzen Seen taute es von Ursels Stiefeln, denn sie hatte eine ganze Fuhre Schnee vom Balkon mit hereingeschleppt.
Etwas betreten sah das Nichtchen auf sein Werk.
»Ach, das schadet nichts, wir sind ja hier im Hotel«, tröstete es sich dann rasch.
»Nein, Ursel,« zum erstenmal machte Tante ein ernstes Gesteht, »man muß das Eigentum anderer genau so achten wie das eigene, ja noch mehr!«
»Ich will's nicht wieder vergessen, Tante Marianne«, versprach Ursel errötend.
In der blumengeschmückten Veranda, die trotz der Glasfenster ebenso warm war wie die übrigen Räume des Hotels, nahm man den Kaffee ein.
Durch die Glasfenster hatte man den Blick auf das weite Schneegelände, wo die Schieläufer sich in unnachahmlicher Grazie in den Anfangsgründen der schweren Kunst versuchten.
»Nach dem Kaffee darf ich doch auch hinaus, nicht, Tante Marianne?«
»Nein, Kind, du sollst mir beim Auspacken und Einräumen unserer Sachen behilflich sein. Eher fühlt man sich nicht zu Hause, als bis auch jedem Stück, das zu uns gehört, sein Quartier angewiesen ist!«
Wieder hatte Jungfer Fürwitz Gelegenheit, sich heimlich ein wenig zu schämen. Himmel, war das schwer, nicht als erstes stets an das eigene Vergnügen zu denken, sondern an andere!
Auch die von Mutter sehnlichst erwartete Karte wäre wohl ohne Erinnern der Tante ungeschrieben geblieben. Dabei gab es doch so Wichtiges für Ursel zu melden. Nicht nur die gute Ankunft, sondern vor allem, daß der graue Regen im Tal oben im Gebirge herrlicher Schnee ist.
Heute ging es nicht mehr hinaus. Es dunkelte schon früh.
Aber am andern Morgen, als Ursel die Augen aufschlug, schloß sie dieselben im ersten Augenblick wieder geblendet. Durch die unverhangene Balkontür flutete ein Lichtmeer von goldenem Sonnenschein und weckte auf schneeigen Bergriesen flimmernde Reflexe. Dann aber war die junge Langschläferin mit einem Satz am Fenster. Das Hirschberger Tal mit seinen Dörfchen und Weilern verhüllten noch sonnendurchleuchtete Nebelschwaden. Aber nach den Bergen zu endlose schneeige Weiten, übersät mit Milliarden von Brillanten. In stolzem, fleckenlosem Weiß ragten die Berggipfel, umbrämt von dem Goldorange der Morgensonne. Und da, von Sonnenglut feurig umloht, die Koppe – »die Schneekoppe!« Ursel jubelte es so laut, daß Tante nicht mehr im Ungewissen darüber war, ob ihr Nichtchen schon erwacht sei.
Tante Marianne war bereits fix und fertig. Nun machte auch Ursel schleunigst Toilette. Die war heute gar nicht so einfach. Sie kam mit der »Ausrüstung« nicht gleich zurecht, wußte nicht, was drüber, was drunter gezogen wurde, und ohne Tantes Rat und Hilfe wäre das junge Fräulein vielleicht in kuriosem Aufzuge im Frühstücksraum erschienen. So aber faßte Tante Marianne, als Ursel nun in dem neuen weißen Sweater, die Rodelmütze keck auf das braune Kraushaar gedrückt, vor ihr stand, das Nichtchen unter das Kinn und gab ihr einen Kuß. Sie konnte sich nicht helfen, das Mädel sah zu niedlich aus.
Mit leuchtenden Augen standen die beiden jetzt auf der breiten zur Höhe ziehenden Schneestraße.
»Siehst du die Koppenhäuser, Ursel, ganz deutlich dort, schau nur und – – –«
»Achtung – Bahn – Vorsicht –« ein, zwei, drei, vier Rodel auf einmal, von allen Seiten kommt es den Berg herabgesaust wie die wilde Jagd. Gerade auf die beiden in die Schönheit der Winterberge Versunkenen los.
Lachend flüchtete Ursel zur Tante, da gellte eine durchdringende Signalpfeife und »Achtung – Bahn – Achtung –« erschallte es aufs neue.
»Tante, in ›Achtung‹ rufen besteht die ganze Rodelkunst, ach, Tante Marianne, laß mich doch auch rodeln!«
»Gleich heute den ersten Tag, Kind?« Tante schüttelte bedenklich den Kopf. »Du bist mir noch zu unbedacht und zu fürwitzig, es gehört doch wohl noch etwas mehr zum Rodeln, als nur das Achtungrufen.«
»Ja, ein Rodelschlitten – liebe, liebe Tante, laß mich doch!«
»Sie können es ruhig wagen, gnädige Frau.« Der ältere Herr, der gestern mit ihnen im Zuge gesessen und in demselben Hotel abgestiegen, hatte die Bitten des niedlichen Mädels mit angehört. »Der Neuschnee ist heute tadellos für Abc-Künste, das gibt nicht mal blaue Flecke, wenn man seine nähere Bekanntschaft macht. Wir Alten werden die Zuschauer spielen, Sie gestatten doch, gnädige Frau – Regierungsrat Böhm aus Breslau.« Der liebenswürdige Herr stellte sich der Tante vor.
»Es ist anvertrautes Gut, Herr Regierungsrat«, meinte die Tante noch ein klein wenig zögernd.
»Es kann heute beim besten Willen nichts passieren, kommen Sie, Fräuleinchen, wir suchen einen passenden Rodelschlitten für Sie aus. Rodeln Sie nur ruhig ein Stündchen, um die Frau Tante brauchen Sie nicht zu sorgen, der werde ich gern Gesellschaft leisten.« Damit ging der nette Herr mit ihnen ins Hotel zurück, um einen Schlitten zu leihen.
Ursel fiel es trotz aller Freude auf das bevorstehende Vergnügen, schwer aufs Herz. Mit seinem Gedanken hatte sie sich darum gesorgt, daß die Tante allein blieb, wenn sie rodelte. Ein Fremder mußte sie erst daran erinnern. Aber nun hatte Tante Marianne ja Gesellschaft, und sie einen Rodelschlitten – hurra – da waren die unbequemen Gedanken im Nu verjagt.
Wie einen Hund zog Ursel ihren Rodelschlitten hinter sich an der Leine das sanft ansteigende Berggelände hinauf.
Ein wenig klopfte das Herz Jungfer Fürwitz doch jetzt, als sie, oben angelangt, zum erstenmal auf dem Schlitten Platz nahm. Aber kaum saß sie drauf, so wurde das Ungetüm unter ihr lebendig. Es setzte sich in Trab und raste mit ihr los. Jungfer Fürwitz hatte vergessen, die Füße als Bremse auf den Boden zu setzen. Willenlos ihrem hölzernen Pferdchen ausgeliefert, mußte die arme Reiterin mit, und ginge es auch geradeswegs in die Hölle.
Das Fegefeuer schien es nun allerdings nicht zu sein, wo Ursel sich nach einigen Sekunden wiederfand, dazu war das Lager ein wenig zu kühl. Sie lag weich gebettet in der hohen Schneeböschung, welche die Rodelbahn umsäumte.
Lachend rieb sie sich den Schnee aus den Augen und stellte sorgsam fest, daß sich Arm, Bein und Genick in vorläufig noch ungebrochenem Zustand befände. Herrgott – was Mutter wohl zu ihren Rodelkünsten gesagt hätte!
Aber Ursel hatte jetzt keine Zeit, sich mit Heimatsgedanken abzugeben. Sie mußte sich nach ihrem durchgegangenen Gaul umsehen. Der war, nachdem er sie abgeworfen, auf eigene Faust weitergejagt. Harmlos, als ob gar nichts geschehen sei, harrte er ihrer am Fuß des Berges neben der sie mit Neckereien empfangenden Tante.
»Na, Ursel, Schiffbruch erlitten, nun hast du wohl genug vom Rodeln?«
»I wo – es ist famos, wenn man auch auf der Nase liegt«, damit zog sie ihren Schlitten wieder bergauf. Die Abfahrt begann von neuem.
Schade, daß Ursel und ihr Rodelschlitten nie derselben Meinung waren, sondern stets entgegengesetzte Wünsche zeigten. Er wollte nie dahin, wo sie hin wollte, sie aber mußte mit, wohin er gerade Lust hatte, denn der Schlitten war der Stärkere von den beiden. Leider ging seine »Neigung« immer seitwärts, wo der Schnee gerade am tiefsten war. Wieviele Male Ursel schon solch eine kühle Rutschpartie gemacht, das wußte sie schließlich selbst nicht mehr.
»Sie müssen steuern, Fräuleinchen«, rief ihr der Regierungsrat, der mit Tante Marianne den Berg emporkeuchte und schmunzelnd ihren verschiedenen Niederlagen zuschaute, wohlwollend zu.
Ursel krabbelte sich aus dem Schnee heraus und versuchte zu steuern.
»Rechten Fuß aufsetzen, wenn man nach rechts will – Rodel – Heil!« und »Rodel – Heil!« rief auch die Tante, mit dem Taschentuch winkend.
Aber Ursel sah nichts mehr davon, die lag längst schon wieder irgendwo in der Unterwelt.
Sie steuerte rechts, sie steuerte links. Sie setzte den rechten Fuß auf, sie setzte den linken Fuß auf. Aber soviel sie auch steuerte und bremste, es ging unfehlbar in den Schnee hinein.
Und ach – dabei gab es in Brückenberg noch Leute, welche die Keckheit hatten, einer Anfängerin in der schweren Rodelkunst entgegenzukommen.
»Rechts ausweichen!« Mit großen Lettern hatte Ursel es auf einer Tafel zu Beginn der Sportbahn prangen sehen. Sie wollte ausweichen, wirklich, sie hatte die beste Absicht. Aber ihr Schlitten war weniger friedlich als seine »Besitzerin«, höhnisch fuhr er mit ihr gerade auf den armen, ahnungslos zu Berg ziehenden Wanderer los.
»Achtung – Bahn frei –« rief Jungfer Fürwitz mit gepreßter Stimme, wie sie es von den andern vernommen.
Zu spät – schon lag Ursel rechts, und ihr Opfer links im Kühlen.
»Herrgott, warum paßt du denn nicht auf, steuere doch!« rief eine jugendliche Stimme ärgerlich, und ein schlankes Mädchen in Ursels Alter mit rotem Sweater und roter Mütze tauchte aus dem unfreiwilligen Schneebade hervor.
»Ja, gern, wenn ich bloß könnte!« kam Ursels Antwort ziemlich kleinlaut aus dem jenseitigen Schneewall.
Aber als die beiden sich jetzt gegenüberstanden, beide wie zwei Schneemänner anzuschauen, da brachen sie wie auf Verabredung in ein helles Lachen aus.
»Sei mir nicht böse, aber mein Schlitten hat mehr Schuld als ich – ich rodele nämlich heute zum erstenmal«, bat Ursel mit der ihr eigenen herzgewinnenden Liebenswürdigkeit.
Die erste Empörung des roten Sweaters war längst verflogen. Die Fremde lächelte Ursel freundlich an.
»Mir ist es das erstemal nicht viel besser gegangen,« gestand sie, »aber wenn du erlaubst, spiele ich ein wenig die Lehrmeisterin. Jeder denkt, das Rodeln sei so kinderleicht, daß man sich bloß auf den Schlitten zu setzen braucht, und dann wundert man sich, wenn nachher ein Unglück passiert. Das Rodeln will eben, wie jeder andere Sport, auch erlernt und geübt sein.«
Ursel strahlte. Das Rodeln machte ihr jetzt in Gesellschaft der jungen Gefährtin noch tausendmal mehr Spaß. Die gab sich redlich Mühe, ihrer Schülerin die Anfangsgründe beizubringen.
»Nicht so tollkühn – bremse doch mit den Füßen bei starkem Gefälle – Himmel, bist du fürwitzig!« schalt die junge Lehrerin lachend hinter Ursel drein, die wieder mal drauflosfuhr, ohne die Mahnungen zu beherzigen, und natürlich auch wieder kunstgerecht umwarf.
Jungfer Fürwitz errötete beschämt. Nun hatte das fremde Mädchen, das vielleicht ein Jahr älter sein mochte als sie selbst, auch schon ihren Hauptfehler entdeckt.
Unter tiefblauem Winterhimmel erblühten Frühlingsrosen auf den Wangen der sich lustig Tummelnden. Eine Stunde nach der andern verging unter Lachen und Jubel.
»Ich muß jetzt ins Hotel zurück, es ist Zeit zum Mittagessen«, erschreckt sah Ursels Gefährtin nach der Uhr.
Auch Jungfer Fürwitz bekam einen Schreck. Der Tausend – schon Mittag! Und sie hatte sich die ganzen Stunden über nicht um Tante Marianne gekümmert, die sie doch zu ihrer Gesellschaft mitgenommen. Das Gewissen schlug ihr heftig.
Es stellte sich heraus, daß die beiden Rodelgefährtinnen in demselben Hotel wohnten. Aber Ursel konnte sich jetzt nicht so recht darüber freuen, es drängte sie, zur Tante zu kommen.
»Ich heiße Leonis von Herrnburg«, sagte das fremde Mädchen beim Abschied.
»Und ich Ursel Neubert« – damit flog Jungfer Fürwitz auch schon wie ein Gummiball die Treppe hinauf.
»Ei, Ursel, schon?« Tante machte ein ganz freundliches Gesicht.
Das Nichtchen sah sie etwas unsicher an.
»Verzeih', Tantchen, ich mache mir solche Vorwürfe, daß ich dich gleich den ersten Tag solange allein gelassen habe, aber ich vergaß über dem Rodeln ganz die Zeit – sei nicht böse!« treuherzig sahen die braunen Mädchenaugen die Tante an.
Die drohte lächelnd.
»Die Zeit und die alte Tante dazu – na warte, du Sausewind, eigentlich wollte ich dich als Revanche ebenfalls vergessen, nämlich beim Mittagessen, aber weil du mir so schöne rote Backen mit nach Hause gebracht hast, soll dir verziehen sein.«
Man speiste an gemeinsamer Tafel, Ursel saß zum erstenmal in ihrem Leben an einer Hoteltafel, zwischen Tante Marianne und dem alten Regierungsrat. Gegenüber aber hatte ein glücklicher Zufall Leonie von Herrnburg den Platz angewiesen.
Ursel und Leonie erneuerten ihre Bekanntschaft, und auch deren Eltern, Baron von Herrnburg und seine Gattin, machten sich mit Tante Marianne bekannt. Tante war erfreut, daß ihr Nichtchen eine Altersgenossin gefunden.
»Ich nehme einen Schiekursus, heute nach Tisch habe ich wieder Unterricht, willst du dich nicht beteiligen?« forderte das Baroneßchen Ursel, an der es ebenfalls Gefallen gefunden, auf.
»Au ja, fein!« rief Jungfer Fürwitz begeistert, setzte dann aber ein wenig kleinlauter hinzu: »Das heißt, wenn ich darf.« Sie schielte zur Tante hin, was die wohl für ein Gesicht dazu mache.
Tante Marianne unterhielt sich mit ihrem Nachbar, als ob sie gar nichts von den neuen Sportplänen ihrer jungen Nichte vernommen habe.
Ursel hatte Zeit, über die für den Nachmittag in Aussicht stehenden Freuden nachzudenken. Merkwürdig, je länger sie daran dachte, um so mehr schwand die Freude, und nur das Gefühl blieb, daß sie schon wieder selbstsüchtig gewesen und ihre Pflichten als Tante Mariannes Reisebegleiterin wiederum vernachlässigen wollte.
»Na, wie ist's, kommst du mit?« fragte Baroneß Leonie noch einmal, als sie nach Beendigung der Mahlzeit die rote Mütze in das Blondhaar drückte.
Ursel schüttelte ein wenig betrübt den braunen Krauskopf.
»Ich möchte meine Tante nicht schon wieder allein lassen«, sagte sie und kam sich dabei wie eine Märtyrerin vor.
»Das ist auch meine Meinung, mein Mädel«, mischte sich Tante Marianne jetzt zum erstenmal in das Gespräch. »Wir wollen beide einen tüchtigen Marsch zu einer der Bauden unternehmen und dort Kaffee trinken, was, Ursel?« Tante griff in ihrer rüstigen Frische sogleich nach der grauen Strickjacke und Mütze.
Ursels Augen blickten noch immer nicht heller. Sie hatte geglaubt, die Tante würde ihr Opfer nicht annehmen, und nun schien sie dasselbe nicht einmal zu würdigen.
Einsilbig zog sie an der Seite der tüchtig Ausschreitenden zu den schneeglänzenden Höhen.
Kein Laut, nur der Schnee knirscht unter dem Fuße. Jetzt nimmt der verschneite Bergwald, der Winterwald, die Wandernden auf. Der Wald – o nein – eine gläserne Zauberstadt ist es, die sie durchschreiten, der vereiste Bergforst ist zum Märchen erstarrt. Seltsame Spukgestalten kauern unter schwerer Schneewucht zu Seiten. Kleine Gnomen mit lustiger Zipfelmütze lugen allenthalben hervor, gewaltige Riesen drohen mit geschwungener Schneekeule, flatternde Feenschleier wehen von weißen, spitzenumfangenen Föhren. Feinsten Silberfiligran hat der Rauhreif um das Gewirr der Äste gesponnen. Kein Laut – auch im schneeverschütteten Forst geht der liebe Gott durch den Wald, durch seinen kristallenen Dom.
Ursel wagte kaum zu atmen. Das sonst so mitteilsame Mädel fand in dieser erhabenen Winterwaldeinsamkeit kein Wort der Bewunderung. Nur die vor kurzem noch so unlustig dreinblickenden Braunaugen erstrahlten mit den flirrenden Sonnenfunken um die Wette. Durstig trank ihr junges Auge die nie geschaute stille Schönheit des weißen Schneereiches.
Aber als die erstarrten, alten Bergfichten wieder den Weg in unabsehbare Schneefernen freigaben, da wich der Zauber, der Ursels Plappermäulchen in seinen Bann geschlagen.
»War das schön, war das einzig schön!« Tief aufatmend fiel sie Tante Marianne um den Hals.
Tante nickte nur. Alte Augen finden nicht so schnell in die Wirklichkeit zurück, alte Lippen nicht sogleich das erlösende Wort.
Als sie dann aber in der mollig durchheizten Hampelbaude Platz genommen, nachdem sie im Vorraum den Schnee mit einem großen Reisigbesen von Stiefeln und Kleidern gekehrt, taute auch Tante Marianne auf.
Ein runzliger, graubärtiger Mann mit hohen Schaftstiefeln trat an den Tisch, die Ohrenklappenmütze zwischen den Fingern drehend.
Es wär' nun so weit, sagte er, und wenn die Damen aufbrechen wollten, er und sein Kollege sei zur Stelle.
Ursels Lippen vergaßen sich vor Staunen wieder mal zu schließen, was hatte denn das zu bedeuten?
Sie sollte nicht lange im Unklaren bleiben.
Draußen vor der Baude harrten zwei zitronengelbe Hörnerschlitten ihrer.
Hurra – Tante Marianne hatte sich, während Ursel die Aussicht bewunderte, mit den Führern in Verbindung gesetzt. Wie ein Kreisel wirbelte das kleine Fräulein vor Freude umher und – da lag sie wieder mal zur Abwechselung, denn der vereiste Vorraum einer Baude ist kein Tanzboden.
»Nu, jo, jo, denn steigen Se ooch ein, Fräuleinchen, mer kummen schon sicher zu Tal«, der Mann schmunzelte über Ursels ursprünglichen Jubel.
In einem der Schlitten nahm, warm in Decken verpackt, Tante Marianne Platz. In dem andern das Nichtchen. Nur Ursels rosenrote Nasenspitze sah aus der Wollvermummung heraus.
Die Führer zogen den stuhlartigen Schlitten ein Endchen an den gebogenen Hörnern, bis der Weg fiel, dann saßen sie vorn auf, und in sausender Fahrt ging es nun talwärts.
Heiliger Bimbam – selbst Jungfer Fürwitz verging Hören und Sehen dabei, ängstlich klammerte sie sich an die Seitenlehnen. Der schwere Schlitten hopste wie ein Gummiball über die Unebenheiten des Weges, aber sicher steuerte der Führer mit seinem Stiefelabsatz durch alle Fährnisse.
Den vereisten Winterwald, in dem die Kristallföhren jetzt kupferrot im Abschiedskusse der ersterbenden Sonne aufflammten, durchflog man in wenigen Sekunden. Ehe Ursel noch recht zur Besinnung gekommen, hielten die Hörnerschlitten schon vor ihrem Brückenberger Gasthaus.
Droben im Balkonzimmer aber mußte die Tante sich stürmische Dankesbezeigungen gefallen lassen, daß sich ihre Lebensgeister nach der eisig scharfen Fahrt rasch wieder erwärmten.
»Ich will jetzt überhaupt nur noch alles gemeinsam mit dir unternehmen, Tante Marianne, heute war der schönste Tag in meinem Leben!«
Tante lächelte über die jugendliche Begeisterung und über Jungfer Fürwitz' vorschnelles Versprechen.
Man zog die nasse Kleidung ab und machte es sich auf ein Stündchen bequem. Die lauten »Achtung«-Rufe draußen verstummten allmählich, alles kroch bei einbrechender Dunkelheit aufs Zimmer, um den versäumten Nachmittagsschlaf, ein wenig verspätet, nachzuholen.
»Bist du müde, Ursel?«
»I wo«, die braunen Augen blitzten die Tante nur so an.
»Dann hole dir deine Bücher, Kind, ich habe mir gedacht, daß du jeden Tag die Zeit bis zum Abendessen zum Arbeiten benutzen sollst, damit du das während deiner Krankheit Versäumte nachholst.«
Ursel begann plötzlich herzbrechend zu gähnen.
»Dazu bin ich doch wohl zu abgespannt, Tante!«
Tante Marianne drohte. »Warte, du kleine Schauspielerin, dann wollen wir morgen solider leben, nicht rodeln und keine Bergtouren machen, wenn dich das so sehr anstrengt.«
Aber noch ehe sie ausgesprochen, hatte Ursel schon ihr Geschichtsbuch aufgeschlagen und schnurrte die Regierungszeiten der Gegenkaiser herunter. Auch Französisch wurde noch wiederholt, und »weißt du, Tantchen, wenn man den ganzen Tag in der frischen Luft gewesen, ist der Kopf viel aufnahmefähiger«, stellte sie befriedigt fest.
Den schönen Tag schloß ein schöner Abend. Mit dem Abendessen schlug die Verwandlungsstunde. Die täppischen Eisbären wurden wieder zu graziösen Prinzessinnen. Die Wollvermummungen hatten hellen, farbenfreudigen Kleidern Platz gemacht.
Ursel und Leonie tauschten ihre Nachmittagserlebnisse aus. Nach dem Essen aber wurden gemeinsame Gesellschaftsspiele arrangiert. Das gab ein Lachen und ein Juchhei. Selbst der würdige Herr Regierungsrat mußte zum Jubel der andern mit den Zähnen einen Ring aus einem Mehlberg hervorgraben.
Um neun Uhr blies Tante zum Aufbruch. Trotz Ursels Bitten, doch nur noch ein ganz, ganz klein bißchen zu verweilen, blieb sie diesmal unerbittlich. Jugend braucht Schlaf, auch wenn sie es nicht immer einsieht.
Ehe sie aber ihre Zimmer aufsuchten, trat die Tante noch einen Augenblick vor die Tür. Da draußen strickte der Vollmond sein lichtmaschiges Netz über die verschlafene Schneelandschaft, wie flutendes Silber spülte sein Glanz um die weißen Riesenleiber der Berge, und die Sterne funkelten in nie geschauter Pracht.
Erst als sie im Bette lag, merkte Ursel, daß sie eigentlich todmüde war. Aber ach – an Schlaf war noch nicht zu denken. Denn kaum schloß sie die Augen, so begann auch schon das Bett mit ihr zu rodeln, es rodelte – rodelte – rodelte – und plötzlich fiel sie, immer tiefer und tiefer – – – selbst im Schlaf mußte der Neuling der Rodelkunst noch seinen Tribut zahlen.
Aber frisch und ausgeschlafen erwachte Ursel am andern Morgen. Nur war es ihr, als ob sie einer im Schlaf tüchtig verprügelt hätte, alle Knochen taten ihr weh. Das kam von der ungewohnten Anstrengung des Wintersports.
»Das beste Heilmittel ist, nicht drum kümmern«, lachte das blonde Baroneßchen, als Ursel, steifbeinig wie ein alter, pensionierter Oberst, den Frühstücksraum betrat.
»Heute wird nicht gerodelt, heute bleibe ich bei dir, Tante Marianne«, verkündete Ursel tugendhaft und sah der mit ihrer Rodel zu Berg ziehenden Leonie sehnsüchtigen Blickes nach.
»Schön«, nickte Tante Marianne, als ob das ganz selbstverständlich sei. Ursel sollte sich daran gewöhnen, ihr liebes Ich nicht als Mittelpunkt aller Dinge zu betrachten, sondern zuerst an ihre Umgebung zu denken.
So kam Heiligabend heran.
Eine rege Geschäftigkeit zeigte das Brückenberger Gasthaus. Da duftete es nach frischen Weihnachtsstollen und Marzipan. Die Hausknechte schleppten zwei prächtige Edeltannen herbei und die Gäste halfen beim Schmücken derselben. Das machte Ursel und Leonie besonders viel Spaß.
Auch eine regelrechte Bescherung sollte stattfinden. Die Gäste, die sich hier zusammengefunden, wollten sich gegenseitig allerlei Scherzsachen mit Versen verehren. Ursel hatte von ihrem Taschengeld einen allerliebsten kleinen Rodelschlitten aus Schokolade für ihre neue Freundin Leonie erstanden. Dazu hatte sie ein drolliges Gedicht verfaßt, das ihre erste Bekanntschaft im Schnee besang. Auch für Tante Marianne lag die heimlich verfertigte Handarbeit bereits fertig da. An die Eltern daheim war die Weihnachtskiste abgegangen, und nun stand Ursel am Fenster und hielt angelegentlich nach dem Postboten Ausschau, der das Heimatspaket von Vater und Mutter bringen mußte.
Zum erstenmal empfand sie heute ein wenig Sehnsucht nach Haus. War es doch auch das erstemal, daß Ursel den Heiligabend nicht gemeinsam mit den Eltern beging. Wie würden sie heute an ihr Töchterchen denken, wie mochte es ihnen am Weihnachtsabend fehlen.
Tante Marianne, die mit Briefschreiben beschäftigt war, hatte schon ein ganzes Weilchen das heute so schweigsame Plappermäulchen beobachtet. Sie ahnte, was in der jungen Seele vorging.
»Ei, Ursel, wie wär's, wenn du mit deiner Freundin Leonie einen hübschen Spaziergang machtest?« schlug sie in der Absicht vor, das Nichtchen von ihrem Heimweh abzulenken. »Ich habe noch wichtige Briefe zu schreiben, sonst würde ich euch begleiten. Aber geht ja nicht zu weit und seid pünktlich zum Kaffee wieder zurück.«
Ursel griff den Vorschlag freudig auf. Leider jedoch hatte Leonie noch mit ihren Weihnachtsvorbereitungen zu tun und konnte nicht mitkommen.
So entschloß sich Jungfer Fürwitz allein, nur in Gesellschaft ihres Rodelschlittens, loszuziehen. Nach den Barberhäusern wollte sie, wo sie schon einmal gewesen war. Die Mahnung der Tante, in der Nähe zu bleiben, war vergessen.
Ursels trübselige Gedanken hielten in der festtäglich weißen Bergwelt nicht lange stand. War es doch, als ob der liebe Herrgott da draußen seine weiße Weihnachtstafel für die Menschen gedeckt hätte. Die verschneiten Riesentannen glitzerten heute ganz besonders prächtig, und die Sonnenstrahlen hingen goldene Lamettafäden in ihr Geäst.
War das schön am Heiligabend in der freien Gottesnatur! So still und feierlich.
Bergauf, bergab ging's, wo der Weg fiel, saß Ursel flugs auf ihrem Schlitten auf und sauste hinab. Schließlich kam ihr der Marsch doch länger vor als neulich. Sie blickte um sich. In der verschneiten Einöde ließ sich nirgends eine Wegmarkierung entdecken, und doch hatte Ursel bei Beginn ihrer Wanderung deutlich das grüne Zeichen an einem Baum gesehen.
Ob sie falsch gegangen war?
I bewahre, der Weg war ja so breit und ausgefahren, der mußte richtig sein. Im Gespräch neulich war ihr natürlich die Zeit schneller vergangen.
Jungfer Fürwitz stapfte weiter. Sie überlegte nicht, daß das Gebirge jetzt allenthalben im Winter von breiten Schneebahnen durchzogen ist, auf denen die Holzfäller die geschlagenen Bäume zu Tal fahren.
Als sie wieder eine Weile marschiert war und die weiße Wildnis immer dichter wurde, statt sich zu lichten, zog sie unentschlossen die Uhr, die sie zum letzten Geburtstag erhalten.
Ach, erst drei, also hatte sie noch eine ganze Stunde Zeit bis zum Kaffee! Ursel bemerkte nicht, daß die Uhr stehen geblieben war. Nun konnte es doch ganz gewiß nicht mehr weit sein. Wenn Jungfer Fürwitz sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, ging sie so leicht nicht davon ab. Zurück kam sie ja auch bedeutend schneller, da konnte sie ihren Schlitten öfters benutzen.
Also weiter!
Plötzlich wurde es Ursel ängstlich zumute.
Standen die Bäume hier so dicht oder hatte sich der Himmel bezogen? Es wurde ja mit einem Male so dunkel!
Nein, da machte sie doch lieber kehrt. In rasender Eile ging es zurück. Die Einsamkeit des toten Waldes legte sich jetzt beklemmend auf die sonst so unternehmungslustige, fürwitzige Ursel, Herrgott, raschelte es da nicht? Knackten dort nicht Zweige – und was war das denn für ein merkwürdiges Ächzen und Brausen in den vereisten Baumkronen?
Nirgends ein Mensch, nirgends ein Haus – Himmel, und da gabelte sich der Weg noch obendrein, welches war nun der richtige?
Sie schlug den oberen ein, aber nachdem sie ein Stück auf demselben entlang gejagt war, ohne daß das endlose Weiß eine Veränderung zeigte, war sie sicher, daß sie hätte den unteren gehen müssen. Also aufgesessen und bis zu der Wegkreuzung wieder zurückgerodelt.
Das Wetter kam mit Macht, dickes Schwarz sah drohend durch das weiße Gezweig. Abenddunkel konnte es doch noch nicht sein – ach wo – Ursel zog die Uhr.
Barmherziger – harmlos wies der kleine, goldene Zeiger noch immer auf drei, wie er es schon vor mindestens einer Stunde getan – die Uhr stand!
Die Berge mit ihrer gewaltigen Wucht schienen sich plötzlich auf die Seele des verirrten Mädchens zu wälzen. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es sein mochte, wie würde Tante Marianne sich um ihr Ausbleiben sorgen!
Dabei lief sie immer weiter und weiter, ihr Gesicht glühte, der Atem flog, Angstschweiß perlte ihr auf der Stirn. Wenn dieser verzwickte Wald nur erst ein Ende nehmen wollte!
Tiefer sank ihr Fuß in den Schnee, der ausgefahrene Weg hörte plötzlich auf. Jungfer Fürwitz sah es mit Entsetzen.
Wohin nun?
Fast dunkel war es, nur der Schnee leuchtete noch ein wenig. Zwischen den schemenhaft weißen Baumstämmen kroch es grau hervor, der Nebel, der Bergnebel, der Vorbote des Unwetters.
Bis zu den Knien versank Ursel jetzt bei jedem Schritt auf weglosem Pfad, ein großes, graues Nebelmeer umfing sie. Sie sah keinen Baum mehr, sie fühlte ihn nur, wenn sie dagegen anlief.
Da tat Jungfer Fürwitz das Unvernünftigste, was sie tun konnte, sie setzte sich auf ihren Rodelschlitten und begann bitterlich zu weinen.
Aber nicht lange. Da merkte sie plötzlich, wie sich ihre heißen Tränen mit seltsam kühlem Naß vermischten. Große, weiße Flocken waren es. Es schneite. Nicht wie Ursel es von der Stadt her kannte, langsam und gemächlich, nein, ein tolles, wüstes Schneetreiben hatte eingesetzt. Im wilden Wirbel fuhr es daher, es benahm ihr den Atem, es schloß ihr die Augen.
Aber gewaltsam riß sie dieselben wieder auf.
Sie mußte vorwärts, nach Haus!
Doch nun hatte sie die Richtung völlig verloren, jeder Schritt konnte sie tiefer in den Wald hineinführen. Immer schneidender wurde der Wind, immer wilder heulte es in den Lüften. Gleich scharfen Eisnadeln peitschten ihr die Schneeflocken das Gesicht.
Weiter – weiter!
Ein Gedanke durchzuckte Ursels erregtes, phantastisches Köpfchen. War er's etwa selbst, der Herr des Riesengebirges, Rübezahl, der im wilden Schneesturm daherfuhr, um sie für ihren Fürwitz zu strafen?
Angstvoll weiteten sich ihre Augen und spähten zwischen den geisterhaften Stämmen.
Dort wogte es in grauen Nebelfetzen – wehte da nicht sein flatternder Mantel, kicherte es nicht dicht hinter ihr?
Alle Rübezahlmärchen und ‑sagen wurden wieder in ihr lebendig, wie er den reichen Bäcker gefoppt, wie er den Glaser genarrt und der armen Frau die schwere Last in Gold verwandelt.
»Hilf, Rübezahl, hilf!« Sie rief es fast gellend und erschrak vor ihrer eigenen Stimme.
Doch der Herr der Berge schien kein Erbarmen zu kennen. Immer mühsamer wurde das Fortkommen. Ursel vermochte sich kaum noch vorwärts zu schleppen, sie war bis auf die Haut durchnäßt und begann trotz der glühenden Erregung vor Kälte und Nässe zu zittern.
Da sank sie schließlich gänzlich ermattet von neuem auf ihren Rodelschlitten. Apathisch lehnte sie den Kopf gegen einen Baumstamm. Ihr war jetzt alles gleich. Tantes Angst und Sorge, das eigene Leben!
Sie wußte sehr wohl, daß es todbringend war, im Schnee niederzusitzen, aber sie konnte nicht weiter. Sie war wie gelähmt, die Glieder erstarrt.
So saß sie und kämpfte mit dem gefährlichen Schlaf. Wild wie das Schneegetriebe um sie, kreisten die Gedanken in ihrem Hirn. Als wären sie losgelöst vom Körper und wüßten nichts von der schweren, bleiernen Müdigkeit der Glieder.
So jung war sie noch und da sollte alles schon zu Ende sein? Gerade am Heiligabend, auf den sie sich so sehr gefreut! Wenn das Heimatspaket eintraf, dann war sie wohl schon längst im Schnee erfroren – das Heimats . . . Vater, Mutter . . . dieser Gedanke peitschte Ursel wieder in die Höhe.
»Mutter . . .« Sie rief es klagend wie ein kleines Kind, das die Mutterhand im Gewühl verloren.
»Muttchen – Mutterchen – – –!« Nein, sie durfte der Mutter, die sie ständig mit ihrer Liebe und Sorge umhegt, nicht diesen furchtbaren Schmerz machen! Hatte sie nicht erst kürzlich gerade genug Angst durch Ursels Krankheit ausgestanden? Um der Eltern, um Tante Mariannes willen mußte sie sich zusammenraffen!
Mit dem Wunsch zum Leben kehrte auch ein Teil ihrer Kräfte zurück. Sie griff in den Schnee und rieb sich das Gesicht damit. Dann versuchte sie Umschau zu halten, nach einem Weg, einem Zeichen, einem Licht.
Aber in dem frischgefallenen Weiß ließ sich weder Weg noch Steg erkennen. Entmutigt faltete Ursel die klammen Hände. Sie wandte sich nicht mehr an den Herrn der Berge, sondern an den Herrn, der über Berg und Tal in den Wolken thront.
Ursel betete.
Innig bat sie den lieben Gott, sie aus der Irre heimzuführen.
Da – Glockenton, hell und klar, ganz in der Nähe – Ursel hielt im Beten inne und lauschte herzklopfend.
Aber sie vernahm nur wieder das Pfeifen des Sturmes, der mit erneuter Kraft einsetzte.
Hatte sie sich getäuscht?
Nein, nein – aufs neue Glockenhall, das war keine Täuschung, ein Kirchlein mußte es sein, das den heiligen Abend einläutete. Wo eine Kirche war, da gab's auch ein Dorf, Menschen . . . das zitternde Mädchen lauschte gespannt.
Dann stampfte Ursel, die erschöpften Glieder bis aufs äußerste anstrengend, durch den unwegsamen Schnee den rettenden Glockentönen nach.
Heller wurde es. Der dichte Wald lichtete sich. Ursel trat heraus auf einen freien Platz. Vor ihr lag im schneeigen Feiertagskleide die Bergkirche, die Kirche Wang, deren eherne Zungen die Verirrte aus der Schneenacht zurückgerufen. Daneben, weich in Neuschnee gebettet, das Pfarrhaus, die Schule und das Kantorhaus. Traulicher Christbaumschein schimmerte aus den Fenstern.
Ursel hatte unbewußt die Richtung nach Brückenberg eingeschlagen, keine Viertelstunde war sie von ihrem Gasthaus entfernt.
Aber nun ging es auch nicht weiter. Mit dem Gefühl, gerettet zu sein, ließ die Spannkraft nach. Kaum vermochte Ursel noch die Hände zu falten und ein Dankwort zum Himmel emporzusenden. Kaum konnte sie sich bis zu dem nächstgelegenen Häuslein schleppen und dort, Einlaß begehrend, anpochen.
Es war das Lehrerhaus. Die junge Kantorfrau, die gerade ihren Kleinen bescherte, hob erstaunt den blonden Kopf. Hatte es da nicht geklopft?
Ihr Mann lachte sie aus. Wer sollte heute bei diesem Wetter wohl zu Besuch kommen? Am Heiligabend blieb jeder am warmen Ofen daheim.
»Nein, Richard, nein, ich irre mich nicht, ich habe es deutlich gehört – horch, jetzt wieder, bitte, geh' und sieh nach«, bat die Frau.
»Das ist der Sturm, der an den Fensterläden rüttelt«, meinte der Kantor, ging jedoch hinaus, um seine Frau zu beruhigen.
Gleich darauf aber klang seine Stimme aufgeregt hinein: »Schnell, Annele, komm, ein junges Mädel bei diesem furchtbaren Unwetter, komm, ich glaube, das arme Ding ist ohnmächtig und ganz durchweicht.«
Die junge Frau Kantor stand schon hilfsbereit bei ihrem Mann. Sie trugen beide die leichte Last ins warme Zimmer und betteten Ursel voll Menschenfreundlichkeit, ungeachtet ihrer triefenden Kleider, auf das schöne, rote Sofa, den Stolz der jungen Frau.
Da schlug das junge Mädchen, das Erschöpfung und Erregung übermannt, die Augen auf. Es blickte in den brennenden Lichterbaum, auf die neugierig sie umdrängenden Kleinen.
Flehentlich umklammerte sie die Hand der sich um sie mühenden Frau.
»Bitte – ach bitte, senden Sie Nachricht ins Hotel Sanssouci, daß ich hier bin, an Frau Marianne Engelmann, Zimmer 17.« Die Zähne schlugen ihr vor Frost zusammen.
Der Kantor, der die Situation rasch erfaßte, hing sich sein Wettercape um und eilte davon. Die Frau aber ließ ein Bett herrichten und auswärmen, zog dem erstarrten Mädchen die nassen Sachen ab und trockenes Zeug von sich selbst über, und deckte es mütterlich mit dem dicken Federbett zu. Dann brachte sie Ursel heißen Tee zu trinken.
Eine wohltuende Wärme durchströmte bald die frosterstarrten Glieder ihres Findlings. Ursel hielt die Hand, die ihr soviel Gutes tat, fest umschlossen, als könnte sie plötzlich davon losgerissen werden, sich allein irgendwo im Schneesturm draußen wiederfinden. Dann begann sie der freundlichen, jungen Frau zu erzählen. Von ihrem Fürwitz, daß sie nicht auf die Mahnung der Tante gehört, wie sie das Wetter im Walde überrascht, und daß sie ohne die Weihnachtsglocken verloren gewesen wäre. Wie würde die Tante um sie in Sorge vergehen, ach, und wie böse würde sie mit Recht auf sie sein! Wenn sie nur erst da wäre – Ursel sah angstvoll nach der Tür.
Inzwischen eilte der Kantor durch Sturm und Wetter dem lichtglänzenden, großen Hotel zu.
Dort drinnen herrschte begreifliche Aufregung.
Als Ursel um vier Uhr nicht zum Kaffee erschien, glaubte die Tante, ihr Nichtchen vergäße über ihre Rodelkunst wieder einmal Zeit und Pflicht. Als es aber halb fünf wurde, ohne daß das unpünktliche Fräulein zu kommen geruhte, klopfte Tante Marianne bei Barons an. Sicher steckte sie bei Leonie.
Auch dort wußte man nichts von ihr. Nur daß sie allein spazierengegangen. Himmlischer Vater – das Kind war ihr doch anvertraut, sie hatte für dasselbe einzustehen. Wenn die fürwitzige Ursel nur nicht zu tollkühn gerodelt war und sich irgendeinen Unfall zugezogen hatte!
Tante Marianne eilte hinaus, um auf den Rodelbahnen, auf welchen Ursel zu üben pflegte, nach ihr zu sehen. Leonie jagte gefällig nach der entgegengesetzten Seite.
Als sich die beiden von ihrer resultatlosen Nachforschung wieder im Hotel trafen, war es nach fünf.
Ursel war noch nicht zurück.
Draußen aber hatte sich der Himmel verfinstert, von den Höhen her jagten die Nebel, das Unwetter zog mit einer Schnelligkeit auf, wie es nur im Gebirge der Fall ist.
Tante rang die Hände. Um Gottes willen – wo war Ursel? Irgend etwas mußte passiert sein, davon war Tante Marianne überzeugt. Ursel hatte sie, trotz allem Fürwitz, viel zu lieb, um sie derartig in Angst zu stürzen.
Die Hotelgäste standen flüsternd und mutmaßend auf der Diele zusammen. Man hatte das lustige Dingelchen allgemein gern. Die Freunde sprachen der erregten Frau Mut zu. Der Regierungsrat meinte, das kleine Fräulein werde in Krummhübel von dem Unwetter überrascht worden und irgendwo in einem der Hotels untergekrochen sein. Trotz des tobenden Schneetreibens lief der Regierungsrat nach Krummhübel hinunter. Er war fest davon überzeugt, daß er Ursel im Triumph zurückbringen würde.
Um so kleinlauter kehrte er von seiner erfolglosen Exkursion zurück. Aber er zeigte es der Tante nicht.
»Dann hat das kleine Fräulein eben in irgendeinem andern Dorf einen Unterschlupf gefunden, passen Sie auf, bald ist sie wieder da und lacht uns alle zusammen aus«, tröstete er.
»Oder aber das Unwetter hat sie im Walde, vielleicht irgendwo oben im Gebirge überrascht, mein Gott, dann ist das Kind verloren!« stieß die Tante verzweifelt hervor.
Wie sollte sie den Eltern jemals wieder vor Augen treten, da sie so schlecht für ihr kostbarstes Gut gesorgt!
Auch Leonie machte sich Vorwürfe. Wenn sie mitgegangen, wäre es nicht dazu gekommen.
Tante Marianne sprang plötzlich auf.
»Ich halte die Unruhe und das Warten nicht länger aus, ich gehe hinaus und suche sie!«
»Jetzt bei dem Schneegetriebe, nein, gnädige Frau, Sie sollen uns nicht etwa auch noch krank werden. Sie müssen auch hier sein, wenn Ihre Nichte inzwischen kommt – ich habe bereits die Rettungskolonne alarmiert, wir Herren, auch der Wirt, gehen mit. Sie dürfen davon überzeugt sein, gnädige Frau, daß wir alles zur Herbeischaffung Ihrer Nichte tun werden!« sagte der Baron mit höflicher Bestimmtheit.
»Ja, wenn es zu spät ist, wenn das arme Kind vielleicht irgendwo bereits im Schnee erfroren ist!« Tante Marianne schlug die Hände vor das Gesicht. Sie sah im Geiste bereits die Rettungskolonne mit der auf einer Tragbahre ruhenden Ursel zurückkehren.
Der Wirt trat heran und meldete, daß die Männer bereit seien. Trotz des Weihnachtsabends blieb keiner zurück. Keiner dachte an die Bescherung.
Wie ein Zug Glühwürmchen zog die mit Laternen bewaffnete Rettungskolonne nebst den befreundeten Herren in die Dunkelheit hinaus. Starren Auges blickte Tante Marianne hinter ihnen drein. Sie hörte den Zuspruch der Frau Baronin und Leonies überhaupt nicht.
Da schien plötzlich eine Stockung in die zu Berg ziehende Kolonne zu kommen. Tante Marianne sah durch das Fenster, wie die Lichter einen Kreis bildeten. Barmherziger, hatte man Ursel schon verunglückt aufgefunden?
Etwas kam zum Hotel zurückgejagt. Es war der Regierungsrat. Der treue Freund war ganz atemlos.
»Viktoria« – schrie er, das heißt, er pustete es mehr, »sie ist bereits da, die kleine Durchgängerin, ganz munter und wohlbehalten. Im Lehrerhaus Wang hat sie Unterkunft gefunden, wir trafen oben den Kantor, der die Botschaft brachte. Kopf hoch, gnädige Frau, und rein in den Schlitten, der Wirt hat bereits anspannen lassen!«
Die Damen brachten Tante Marianne ihre Sachen, legten vorsorglich Decken und Tücher zurecht und bald jagte der Schlitten durch die Weihnachtsnacht dem Lehrerhause zu.
Als Ursel Schellengeläut und Peitschenknall draußen vernahm, preßte sie die Hände auf das ängstlich klopfende Herz. Gleich darauf aber öffnete sie ihre Arme weit. Da stand Tante Marianne auf der Schwelle, soviel Liebe und ausgestandene Angst in den guten Augen, daß Ursel in Tränen ausbrach.
»Tantchen, liebe Tante Marianne, verzeih' mir, ich will dir auch nie wieder solchen Kummer machen, ich habe meinen Fürwitz schwer gebüßt!«
Tante Marianne sprach kein Wort. Stumm streichelte sie das feuchte Haar, die brennenden Wangen und die Hände der Wiedergefundenen, als müßte sie sich immer aufs neue davon überzeugen, daß Ursel unversehrt sei.
Die junge Frau Kantor hatte die beiden taktvoll allein gelassen. Da beichtete Ursel. Von all dem Mühsal und der ausgestandenen Not, und wie der liebe Gott ihr Gebet erhört und sie durch seine Weihnachtsglocken aus der Irre heimgeleitet.
Tante hatte keinen Vorwurf für sie. Die resolute Frau war selbst bis auf den Grund erschüttert.
Nur als Ursel flehentlich bat: »Schicke mich nicht nach Haus, Tante Marianne, behalte mich da, vertraue mir bloß dies eine Mal noch, du sollst nie wieder über meinen Fürwitz zu klagen haben!« sagte sie in ihrem alten Ton: »Das wird sich alles finden!« Damit mußte sich Ursel vorläufig zufriedengeben.
Sie fühlte sich jetzt so weit erfrischt, daß sie aufstehen konnte, um mit der Tante ins Hotel zu fahren. Frau Kantor half freundlich mit ihren Sachen aus. Mit innigem Dankeswort nahm Ursel und Tante Marianne Abschied von den guten Menschen, die sich der Verirrten so getreulich angenommen.
Im Hotel hatte man der Wiedergefundenen einen feierlichen Empfang bereitet. Die Weihnachtsbäume brannten und die Gäste hatten in der Diele Posto gefaßt, um Frau Engelmann zu beglückwünschen und sich von des Nichtchens Wohlsein zu überzeugen. Allen voran das Baroneßchen, das die Freundin mit hellem Hurra empfing.
Aber sie taten Ursel keinen Gefallen mit dieser Ehrung. Sie glaubte vor Scham in die Erde sinken zu müssen. Alle die fremden Leute, die ganzen Gäste, die wußten es, wie fürwitzig und ungehorsam sie sich benommen! Kaum daß sie Rede und Antwort stehen mochte, der Boden brannte ihr förmlich unter den Füßen.
Unter den vielen neugierig teilnahmsvollen Augen büßte Jungfer Fürwitz heute zum zweitenmal ihren Fehler.
Tante Marianne packte sie sogleich ins Bett und ließ sie schwitzen.
»Das ist das beste Vorbeugungsmittel gegen jede Krankheit«, sagte sie. »Eigentlich müßte ich dich ans Bett anbinden, daß du mir nicht wieder davonläufst!«
Ach, Ursel war recht wenig zum Davonlaufen zumute. Sie dachte weder an die Bescherung, um die sie sich gebracht, noch an den Weihnachtsabend daheim. Nur wenig schlief sie in der Nacht. Die ausgestandene Angst überfiel sie wieder im Halbschlaf, sie hatte die Empfindung, daß sich der Schnee auf sie herabsenke, dichter und dichter, schwerer und schwerer, sie vermeinte nicht mehr atmen zu können. Da fuhr sie mit einem Schrei empor.
An ihrem Bett stand Tante Marianne, sprach beruhigende Worte und fühlte die heiße Mädchenstirn: »Werde mir nur nicht wieder krank, Liebling, werde nur nicht krank!«
Auch Ursel dachte das gleiche: »Lieber Gott, nur nicht krank werden!«
Sie wagte es sich kaum selbst einzugestehen, daß sie heftiges Stechen im Halse hatte.
Jungfer Fürwitz kam noch gut davon. Nur einen tüchtigen Schnupfen hatte sie sich geholt, aber Tante Marianne ließ sie nicht aus dem Bett. Sie blieb unerbittlich, soviel Ursel auch beteuerte, daß sie ganz gesund und überhaupt nur neunmal geniest habe – es half alles nichts. Heute hieß es für Ursel »kuschen«.
Trübselig schaute sie in den sonnenhellen Feiertag. Trübselig selbst auf die Weihnachtsliste aus der Heimat, die Elternliebe für das ferne Töchterchen voll Zärtlichkeit gepackt. Von draußen klangen helle Stimmen, übermütiges Lachen zu ihr herein, ach – wer doch auch dabei sein könnte! Noch nie hatte sie solch ein langweiliges Weihnachtsfest verlebt – daß sie sich das selbst zuzuschreiben hatte, daran dachte Ursel nicht.
Aber als sich Ursels Jammermiene gar nicht aufklären wollte, nahm Tante Marianne sich das unvernünftige Mädel vor.
Mit ernstem Wort setzte sie ihr auseinander, wie undankbar sie wäre. Erstens zum lieben Gott, der sie errettet und für ihren Fürwitz nicht härter als durch einen Schnupfen gestraft hatte. Dann aber gegen sie selbst.
»Wenn heute nicht Weihnachten wäre, Kind, so hätte ich dich sicher nach Hause geschickt. Die Verantwortung ist mir zu groß. Solche Stunden wie die gestrigen mag ich nicht zum zweitenmal durchleben.«
Wie immer, wenn Tante Marianne so ernst zu ihr sprach, machten die Worte tiefen Eindruck auf Ursel.
»Du sollst es nicht zu bereuen haben, Tante Marianne, daß du mich hier behältst,« versprach sie, »ich werde dir nie wieder Sorge machen.«
Diesmal hielt Ursel Wort – sie war auf immer von ihrem Fürwitz geheilt.