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13. Kapitel. Nesthäkchen ist Braut.

Vera wartete heute vergeblich auf die Freundin. Zweimal hatte sie schon telephonisch angeläutet, um zu hören, wo Annemarie denn stecke.

Frau Doktor Braun ging vom Balkon zum Erker, und vom Erker zum Balkon, nach ihrem Nesthäkchen ausspähend. Das tobende Unwetter hatte eine starke Unruhe bei ihr ausgelöst. Wenn nur ihre Lotte erst zu Hause wäre!

Minna deckte bereits den Abendbrottisch. Der Vater war gerade im Begriff, am Krankenhaus Westend anzutelephonieren, ob Annemarie noch dort sei, denn so spät war es noch nie geworden. Da erklang Annemaries doppeltes Klingelzeichen.

Hanne öffnete mit bärbeißiger Miene.

»Na – du hast woll ooch nich eher nach Hause finden können, was? Nächstens behalten se dir ooch noch nachts ins Klinik. Viermal hat unsereins das Essen schon wieder aufjewärmt. So'ne Zucht!« so räsonierte Hanne. Sie hatte es doch nicht übers Herz bringen können, ihre furchtbare Drohung, Nesthäkchen nach ihrer Heimkehr »Sie« und »Fräulein« zu nennen, wahrzumachen.

Statt jeder Antwort, die Annemarie sonst stets bereit hatte, fiel sie der verwunderten Köchin wie früher als Kind um den Hals. »Schimpfen Sie nicht, Sie oller Drachen, Sie! So, da haben Sie einen Kuß zur Versöhnung.«

»Puh – du triefst ja wie'n nasser Scheuerlappen! Zieh dir jleich um, Annemiechen, sonst haste deinen Schnuppen wech!« mahnte Hanne vorsorglich.

»Wenn Sie nicht mehr brummen wollen, Hanne, erzähle ich Ihnen nachher was Wunderschönes – Sie können mir gratulieren«, flüsterte Annemarie der treuen Alten ins Ohr.

Die sah sie verständnislos an. Nein – was das Mädel für strahlende Augen hatte.

»Haste wieder 'n Examen jemacht, Annemiechen?«

»Ja – das allerschwerste meines Lebens!« Nesthäkchen lachte wie ein Kobold. Fort war sie, wie ein Wirbelwind ins Eßzimmer hinein.

»Tag, Vaterchen – 'n Abend, meine geliebte Muz! Da bin ich.«

»Das sehen wir. Unpünktlichkeit sind wir von unserer Lotte gewöhnt. Aber heute ist's doch zu reichlich. Mutti vergeht vor Angst. Wo hast du dich denn 'rumgetrieben, du Schlingel?«

»Ach, Vaterchen – es war wundervoll im Charlottenburger Schloßpark!« Nesthäkchen wurde rot.

»Im Schloßpark bei diesem Unwetter? Aber Lotte, was hattest du denn da bloß zu suchen? Den Tod konntest du dir ja holen«, ereiferte sich die Mutter.

»Den habe ich mir nicht dort geholt, sondern etwas anderes.« Nesthäkchen machte ein durchtriebenes Gesicht. »Was ich im Schloßgarten zu suchen hatte, Muzi?« Das Blut ging und kam in ihre Wangen. »Meinen« – sie schnappte ein paarmal – »meinen – meinen zukünftigen Mann!«

»Wa–as?« wie erstarrt waren die Eltern.

Dann lachte der Vater laut heraus. »Sieh dir bloß den Strick an, Elsbeth! Nichts als Flausen hat das Mädel heute noch im Kopf. Welcher von den römischen Kaisern, die dort im Schloßpark ihre Steinbildnisse haben, hat es dir denn angetan, Lotte?« ging er auf den vermeintlichen Scherz ein.

Nesthäkchen barg den Kopf in Mutters weißem Haar und brach plötzlich ganz grundlos in Tränen aus.

»Keiner von denen – sondern – sondern Rudolf Hartenstein!« Raus war's.

Mutti zog ihr Nesthäkchen fest, ganz fest an ihre Brust. Kein Wort brachte sie in ihrer Erregung hervor. Nur ihre feinädrige Hand strich beruhigend über das feuchte Haar ihrer Lotte.

»Möchtest du dich vielleicht etwas deutlicher erklären?« Der Vater war ernst geworden. »Für einen schlechten Witz finde ich es etwas zu weit getrieben, Annemarie.« Vater sagte nicht »Lotte«, unbedingt war er ärgerlich.

»Warum soll es denn ein Witz sein?« sprudelte Annemarie da los. »Rudi und ich, wir haben uns lieb, lange schon! Aber ich wollte ihn nicht heiraten, weil – ja weil ich dir doch versprochen habe, deine Assistentin zu werden, Vaterchen.« Mutters Kopf wurde losgelassen und Nesthäkchen barg das erglühende Gesicht jetzt zur Abwechselung mal am Hals des Vaters.

Sie sah nicht, wie belustigt es in Vaters Zügen zuckte. »Na, und? Da hat sich doch wohl nichts daran geändert. Vor Zeugen hast du mir dein Wort gegeben, nicht ans Heiraten zu denken, sondern meine Assistentin zu werden. Du willst doch nicht etwa wortbrüchig werden, Lotte?«

»Rudi will sich dir als Vertreter für mich stellen –«, ein wenig kleinlaut kam das heraus. »Der ist sicher viel tüchtiger und zuverlässiger als ich und –« sie hob den Kopf – »Vaterchen, ach, du machst ja nur Spaß!« Jubelnd umschlang sie jetzt aufs neue Vaters Hals.

»Meine Lotte – meine große, dumme Lotte!« Weich und zärtlich klang Vaters Stimme. »Ja, was meinst du, Elsbeth? Können wir unser Nesthäkchen denn wirklich schon aus dem Nest fliegen lassen? Ist es denn überhaupt schon flügge?«

»Zum Heiraten sicher noch nicht!« Frohbewegt schlang die Mutter den Arm um Mann und Kind zugleich. »Da muß sie erst tüchtig bei Hanne in die Lehre gehen und wirtschaften lernen.«

»O bitte sehr, die schwäbischen Gerichte, die der Rudi gern mag, die kann die Hanne gar nicht mal kochen. Leberspätzle, Quarkknödel und Gugelhopf hab' ich bereits bei der Frau Veronika in Tübingen kochen gelernt«, ereiferte sich Annemarie.

»Na, da wissen wir ja, wozu du in Tübingen studiert hast, Lotte«, neckte der Vater. Er schien in bester Laune.

Die Tür ging. Klaus' Krauskopf wurde sichtbar. »Gibt's schon Abendbrot?«

»Nee, Abendbrot nicht – aber was anderes!« Nesthäkchen setzte sich in Positur.

»Was denn? Ihr sitzt ja da, als ob ihr ein lebendes Bild ›Die heilige Familie‹ darstellen wollt.«

»Da kommst du als Esel gerade recht dazu, Klaus.« Trotz ihrer neuen Würde hatte Nesthäkchens loses Mundwerk noch nichts eingebüßt.

Klaus packte sie bei den Ohren. »Wollen mal sehen, wer längere Eselsohren hat.« Eine brüderlich-schwesterliche Balgerei begann.

»Wie die Gören – und das will heiraten!« seufzte die Mutter lächelnd.

»Was wollen wir – habe ganz und gar nicht die Absicht!« Klaus ließ vor Entsetzen Annemaries Ohren los.

»Aber ich!« lachte Nesthäkchen.

»Ja – du!« machte Klaus wegwerfend. »So'n Dummer muß erst noch geboren werden.«

»Du, rede dir kein Duell auf den Hals, Kläuschen. Mein Verlobter könnte dich fordern.«

»Wer ist denn der Unglückliche?«

»Errätst du's nicht, Klaus?«

»Nee – keine blasse Ahnung von 'ner Idee. Kondoliere jedenfalls. Wenn du denkst, mich dumm zu machen, irrst du dich, Annemie. Ich falle nicht drauf rein!«

»Aber das ist doch schrecklich, daß es mir kein Mensch glauben will«, rief Nesthäkchen, halb lachend, halb verzweifelt.

»Was will dir keiner glauben, Annemie?« Hans erschien am Abendbrottisch.

»Daß – daß ich mich vor einer Stunde mit Rudolf Hartenstein verlobt habe.« Es klang, als wenn Nesthäkchen als Kind etwas ausgefressen hatte.

»Kann ich amtlich bezeugen. Mir hat Rudolf seine Liebe schon eher erklärt als dir. Komm her, Nesthäkchen. Das hast du gescheit gemacht!« Der große Bruder zerquetschte das schlanke Ding fast vor freudiger Zärtlichkeit. Wer als Annemarie ihm jetzt neckend ins Ohr flüsterte: »Auf baldige Nachfolge, Hänschen«, schloß er ihr den losen Mund mit einem Kuß.

»Ist's denn wirklich, wahr- und wahrhaftig wahr?« Klaus sah bestürzt von einem zum andern.

»Na, hatte ich vorhin nicht recht mit dem Esel? Der Titel ist noch viel zu zahm für dich. Nicht mal gratulieren kann er, der Klaus. All seine Schlauheit ist in Pommern ge – –.« Annemarie konnte nicht zu Ende sprechen; denn draußen klingelte es.

»Das ist er – das ist der Rudi – ach, und ich bin noch nicht mal umgekleidet –.« Sie stürmte zur Eingangstür.

Hanne, die bereits im Begriff war, zu öffnen, wurde trotz ihrer Vierschrötigkeit beiseitegeschoben.

»Na, biste denn janz und jar nich, Annemiechen!« – Aber wie zweifelte Hanne erst an Annemaries Verstand, als sie sehen mußte, daß sie einem Herrn, den sie im Halbdunkel nicht mal erkannte, in die Arme flog. Ganz ungeniert.

Ja, waren das etwa Studentenmanieren? Hier im Braunschen Haus herrschte Anstand und Sitte! Sie begann Nesthäkchen energisch aus den sie umstrickenden Armen zu ziehen.

»Benimm dir jefälligst, Annemiechen. Laß man deine Frau Mutti kommen, die wird dich die Flötentöne schon beibringen. Das jibt's nich bei uns hier ins Haus, Liebschaften und Herumscharmuzieren. Dafier sorch ich. Det hab' ich die Minna auch jleich jesagt –.« Das lustige Lachen der beiden unterbrach die Moralpredigt der Küchenfee.

»Na, wo steckt er denn, unser Herr Schwiegersohn? Traut er sich nicht näher? Hat auch allen Grund dazu, wenn er uns unser Nesthäkchen wegschnappen will.« Ungeachtet dieser polternden Worte zog jetzt ihr Herr Doktor zu Hannes größter Verblüffung den Besuch selbst in seine Arme.

»Grüß Gott! – Bin ich euch recht, – Vater?« Weiter hörte Hanne nichts mehr. Die Zimmertür schlug hinter den dreien zu.

Hanne aber hatte auch genug gehört. »Schwiejersohn – Vater – ich sag' Ihn'n, Minna, wenn det nich' ne rejelrechte Verlobung mit Heiraten is, denn können Se mir für dämlich erklären. Det sieht ja'n Blinder ohne Brille, det unser Nesthäkchen bis über de Ohren valiebt is. Mir braucht keen Mensch nich erst was zu sagen! Ich mach schnell noch'n paar Spiejeleier zum Sparjel – madig machen tu ich mir nich an'n Verlobungsabend.«

Noch ehe Spargel und Setzeier auf dem Tisch standen, rief der Herr Doktor: »Hanne, kommen Sie doch mal rein und bringen Sie gleich eine Flasche Wein mit. Von dem extraguten, dem staubigen, aus dem untersten Fach. Sie wissen schon!«

Ja, Hanne wußte schon! Wenn Herr Doktor seinen allerbesten Wein spendierte, dann war die Sache richtig. Sie strich sich die steifgestärkte weiße Schürze zurecht und setzte mit vielsagender Miene Wein und Gläser auf den Tisch.

»Na, Hanne, alter Brummbär, wünschen Sie mir denn gar nicht Glück?« Annemarie hielt die wieder steif Hinausgehende zurück.

»Bei mich hat noch keiner nich um dir anjehalten – ich weiß von reine jar nischt, Annemiechen.« Dabei liefen der treuen Seele die Tränen an der Nase entlang.

»Rudi, um's Himmels willen, Hanne versagt ihre Einwilligung. Nun kann nichts aus uns beiden werden«, lachte die unverbesserliche Annemarie.

»Unsere alte Hanne hat dein ganzes Leben lang wie eine Mutter für dich gesorgt, Lotte!« ermahnte Frau Doktor die Übermütige.

»Ich hoff' halt, Hanne, daß für mich auch ein bißle von der Zuneigung, die Sie für meine Annemarie hegen, abfällt. Gelt, Sie sind mir nimmer bös', daß ich sie Ihnen entführen will?« Mit seiner ganzen offenen Liebenswürdigkeit hielt Rudolf der Hanne die Hand hin.

Die schlug tapfer ein.

»Na, denn tu ich ooch villemals jratulieren, und Jlück und Sejen wünsch ich obendrein. Und was an mir liecht, det der Herr Doktor trotz all det dämliche Studieren noch 'ne vaninftige Frau ins Haus kricht, die ooch wat vons Kochen vasteht, det will ich janz jern tun«, versprach sie treuherzig.

»'s ist halt recht, Hanne, – ich verlaß mich auf Sie. Sonst hätt' ich die Annemarie auch nit genommen«, lachte Rudolf.

»Herr Doktor, Sie dürfen die Nebelhöhle wieder vergessen«, neckte Annemarie.

»Aber halt nimmer den Charlottenburger Schloßgarten, Nesthäkchen.« Hanne sah, daß sie bei den beiden jetzt überflüssig war. Ganz öffentlich küßte der Herr Doktor, der soweit doch ein »janz reputierlicher Mensch« zu sein schien, »ihr Kind«. Na, damit konnte er sich doch auch noch ein bißchen Zeit lassen, fand die moralische Hanne.

Noch ehe der elektrische Draht es in die Welt hinausgerufen hatte, daß Nesthäkchen Braut sei, wußte man's schon unten bei Kulickes in der Portierloge.

»Doktors Nesthäkchen ist Braut!« Noch vor der Großmama erfuhr man's im Milchgeschäft, beim Bäcker und Gemüsehändler – die ganze stille Straße hallte bald davon wider: »Doktors Nesthäkchen ist Braut!« Denn Hanne war, trotzdem ihre Füße nicht mehr so recht wollten, schneller als jede elektrische Leitung.

Aber nicht lange dauerte es, da erschien auch schon Großmama und wollte Nesthäkchen gar nicht wieder aus ihren Armen lassen. »Nein, unser Kind, wer hätte das gedacht!«

Dahinter tauchte Tante Albertinchen mit wackelnden Löckchen und viel Rührung auf. Ach Gott, daß sie das noch erlebte, daß aus Doktors Nesthäkchen statt Fräulein Doktor eine Frau Doktor wurde! So war Nesthäkchen doch noch zur Vernunft gekommen! Nun wollte Tante Albertinchen gern sterben. Vorläufig aber sprach sie noch recht munter Wein und Kuchen zu.

Da kamen die Freundinnen in höchster Aufregung. Zuerst Margot Thielen, der Annemarie durch dreimaliges Klopfen an die Balkonwand zu verstehen gegeben, daß eine Sache von ungeheurer Wichtigkeit vorliege. Margot verstand die ehemalige Backfischsprache noch so gut, daß sie zwei Minuten später bereits den braunen Kopf neugierig zur Tür hereinsteckte.

Da wäre Vera am liebsten gleich durchs Telephon zu Annemarie hingeflogen, als ihr diese den Grund ihrer Unpünktlichkeit mitteilte.

»O Annemie, du schlechterr Seele, deine beste Frreundin nichts vorrherr davon zu verrraten. Werr ist es denn, derr dich sein Herrz verrstohlen hat?«

»Komm her, Verachen, und überzeuge dich, daß ich weder eine Schlächterseele bin, noch daß mein Herz verstohlen ist. Wer der Herrlichste von allen ist, wird durchs Telephon nicht verraten!« Nein, Doktors Nesthäkchen war doch noch genau so rangenhaft wie früher, daß es die arme Vera so zappeln ließ.

Marianne Davis kam – mit vielen Küssen, und half Tante Albertinchen bei der Vertilgung des Kuchens.

An die Getreuen im Schwabenland aber ließ das neugebackene Brautpaar folgendes Telegramm los:

»Doktors Neschthäkche ischt Braut –
Wem wird's halt wohl angetraut?
Knackt die Nuß und ratet fein –
Ischt es auch ein ›harter Stein‹!«

»O Gott, der arme Neumann, das überlebt der nicht!« lachte Annemarie und machte Karpfenaugen, die noch melancholischer dreinschauten als die des biederen Schwaben.

»Neschthäkche, wenn'sch halt so garschtig bischt, heirat' i di nimmer!« Rudi kopierte getreu die Sprache des Tübinger Freundes. Annemaries Übermut wirkte ansteckend.

Mit verlegen neugierigen Gesichtern umstanden die Kränzchenschwestern die erste Braut aus ihrem Kreise. Natürlich mußten sie gleich Brüderschaft mit Rudi trinken – anders tat es Nesthäkchen nicht.

Eine kam, vor der Annemarie kein ganz reines Gewissen hatte. Das war Ola. Als sie Annemarie liebevoll in die Arme schloß: »Weil's halt gar so ein lieb' Mädle bist, soll's dir nit nachgetragen sein, daß du mir den Rudi abspenstig machst. Grad jetzt, wo ich endlich eine Wohnung in Lichterfelde erwischt hab'«, da meinte Annemarie kleinlaut, wie das sonst gar nicht ihre Art war: »Ich kann nichts dafür, Ola, ich wollte dir den Rudi nicht nehmen, aber – vielleicht findest du einen Stellvertreter für die Wohnung«, setzte sie gleich wieder mutwillig hinzu.

Ola wurde rot und wandte sich schnell zum Balkon. Rudi jedoch rief: »Wegen der Wohnung laß dir nimmer graue Haare wachsen, Ola. Die übernehmen wir – spätestens im September ist Hochzeit! Denn eigentlich sind wir doch schon ein uraltes Brautpaar.«

»Da erhebe ich als angehender preußischer Assessor kraft meines Amtes ganz energisch Einspruch, um die Rechte des Fräulein Ola Hartenstein zu wahren. Sie hat die Wohnung ausfindig gemacht, sie allein hat das Verfügungsrecht darüber«, verkündete Hans.

»Und ich weiß ja auch gar nicht, ob mich Hanne zum September schon aus der Lehre entläßt«, wandte Annemarie noch lachend ein.

Hanne war es ernst mit dem Versprechen, das sie dem jungen Herrn Doktor gegeben hatte. Sie nahm Nesthäkchen tüchtig heran. Da war kein Stück Braten, das Annemarie nicht selbst aufsetzen, keine Gans und kein Fisch, die sie nicht anatomisch bei Hanne sezieren lernte. Wenn der Küchenlehrling mal vor einer Arbeit scheute und meinte, er kriege es nicht übers Herz, dem Karpfen die Eingeweide herauszunehmen, weil dieser sie gar zu sehr an Freund Neumann erinnere, meinte Hanne kurz angebunden: »Ach wat, hast ja Menschen zerschneiden wollen, da wirste doch mit so'n Biest keine Umstände nich machen.«

Annemarie lernte was. Mit aller Energie ging sie daran, ihre hauswirtschaftlichen Lücken auszufüllen. Denn ein junger Arzt muß eine tüchtige sparsame Frau haben. Der kann sich nicht gleich eine »Perfekte« halten.

Freilich kam es dabei auch vor, daß Hans und Klaus Gesichter schnitten, weil die Kartoffeln angebrannt waren, und daß sie der Schwester rieten, beim Kochen doch lieber eine Eisblase aufs Herz zu legen. Daß die Suppe ständig versalzen war, darin mußte man sich fügen, Annemarie schien den Salzverbrauch als Gradmesser ihrer Liebe zu betrachten. Als aber der erste goldbraungebackene Eierkuchen, den Nesthäkchen kunstgerecht wie Hanne in der Pfanne herumwerfen wollte, statt in die Pfanne, ins Feuer flog, und es selbst dem gerade zur Tür hereinlugenden Rudi an den Hals, da machte Hanne kurzen Prozeß.

»Herrenbesuch kann ich in meine Küche nich jebrauchen. Det is nich Sitte hier bei uns, daß der Schatz in de Küche kommen derf.« Damit komplimentierte sie den jungen Herrn Doktor einfach zur Tür hinaus. Und die Eierkuchen gerieten jetzt.

Minna saß vergraben unter Bergen von Weißzeug. Die Nähmaschine rasselte von morgens bis abends. Denn Frau Doktor vertrat noch den alten Standpunkt, daß selbstgenähte Wäsche besser hält als fertig gekaufte.

Am 30. September sollte die Hochzeit sein. O Gott, was gab es bis dahin noch alles zu besorgen. Nesthäkchen schwirrte der hübsche Kopf, wenn es an all die Handtücher und Servietten, das Glas, Porzellan, Kronen und die Möbelzeichnungen, die Rudi des Abends mit ihr studierte, dachte. Es träumte von Fleischmaschine und Scheuerbürsten und erklärte ihrem Verlobten: »Wenn ich gewußt hätte, daß Heiraten solch eine Wirtschaft macht, hätte ich's mir doch dreimal überlegt.«

Die Berge Wäsche in dem Schrankzimmer bei Doktor Brauns häuften sich. Der 30. September rückte heran. Trotzdem Frau Doktor behauptete, daß sie schon gar nicht mehr wisse, wo ihr der Kopf stehe, und trotzdem ihr Mann in dem Chaos von neuen Wirtschaftsgeräten resigniert zu Annemarie meinte: »Ruhe wird nicht eher, als bis du, Schlingel, aus dem Hause bist«, sahen beide Eltern mit Schrecken einen Tag nach dem andern entschwinden. Und die letzten Tage liefen ganz besonders schnell. Als wollten sie die Eltern gar nicht zur Besinnung kommen lassen, daß ihnen ihr Nesthäkchen genommen werden sollte.

Und schließlich kam doch der Tag, wo Großmama ihr silbergraues Damastkleid aus den Tiefen des Schrankes und der Vergessenheit hervorzog, und Tante Albertinchen das Lilaseidene. Wo Hanne sich die strähnigen Haare mit der Tollschere kreppte, und der Portier Kulicke die roten fadenscheinigen Treppenläufer aus dem vierten Stockwerk zur Bewunderung sämtlicher Kellerkinder der Umgegend durch den Hausflur bis auf den Damm legte.

Die Straße stand kopf. »Doktors Nesthäkchen macht Hochzeit!« – wo zwei sich trafen, wurde dieser wichtige Gesprächsstoff erörtert. Aus den Fenstern lagen sie, auf den Kellertreppen hockten sie, auf dem Balkon klebten sie wie die Spatzen, vor dem Hause hatte sich sogar regelrechtes Spalier gebildet. Alles, was in der Straße geboren war, was der Herr Doktor an Masern und Keuchhusten behandelt hatte, stand da schaulustig und erwartungsvoll, um Doktors Nesthäkchen als Braut zu bewundern. Kulicke wie ein Polizist, die Aufgeregten in Ordnung haltend.

Sie mußten sich lange gedulden, die Zuschauer. Nesthäkchen ließ mal wieder auf sich warten. Der Wagen mit Herrn und Frau Doktor, die so feierlich bewegte Gesichter machten, und den beiden jungen Herren, die ihre Hände in neue weiße Lederhandschuhe einzwängten, war bereits davongerollt. Das Brautauto mit den hellen Polstern stand zur Bewunderung sämtlicher Kinder bereits seit einer Viertelstunde vor der Tür. Der Bräutigam, ein schlanker Herr mit einem Riesenstrauß weißer Rosen, hatte durch das Kreuzfeuer sämtlicher neugierigen Blicke Spießruten laufen müssen.

Wo blieben sie denn bloß? Das Publikum wurde ungeduldig. Doktors Nesthäkchen versäumte sicher seine eigene Trauung.

Da plötzlich kam Leben in die der Haustür am nächsten Stehenden. Man reckte die Köpfe. Kulicke lief aufgeregt und zwecklos hin und her.

Hundegebell – Puck als Vorläufer. Er raste wie besessen einmal über die roten Läufer und wieder zurück. Als wisse er, daß Doktors Nesthäkchen soeben von ihrem weißen Mädchenzimmer droben für immer Abschied genommen.

»Sie kommen!« Von einem zum andern pflanzte es sich fort. Die beiderseitige lebendige Mauer war ganz Spannung, ganz Erwartung. Ob es wohl sehr gerührt war, Doktors Nesthäkchen?

Weiße Seide floß wie Silberwellen über den roten Teppich. Ein liebreizendes, höchst fideles Mädchenantlitz, von Schleiertüll umwogt, ward unter dem sich durch das Goldhaar windenden Myrtengerank sichtbar.

»Hundetöle – willste wohl von meiner Schleppe runter!« Unter diesen an den sich wie sinnlos gebärdenden Puck gerichteten Worten bestieg Doktors Nesthäkchen mit strahlendem Gesicht das Brautauto.

Fort rollte es, der unweit gelegenen Gedächtniskirche zu. Dort war alles längst versammelt – nur das Brautpaar fehlte. Mutters Augen wurden von Minute zu Minute unruhiger, wo denn bloß ihre Lotte blieb. Vater zog die Uhr. Großmama ahnte ein Unglück. Und Tante Albertinchen drehte den Kopf so aufgeregt hin und her, daß all die schöngewickelten Löckchen sie wie eine weiße Löwenmähne umflatterten. Am wenigsten machten sich noch die Brautjungfern über das Ausbleiben des jungen Paares Gedanken. Die Kränzchenschwestern kannten Nesthäkchens Unpünktlichkeit noch von der Schulzeit her.

Aber schließlich begann doch die Orgel brausend zu singen, und Tante Albertinchens echtes Spitzentaschentuch konnte endlich in Aktion treten.

Nein, solch eine vergnügte Braut hatte man doch noch nie gesehen. Nicht einmal beim Ringwechsel hatte sie geweint. Besonders Tante Albertinchen, die in Tränen zerfloß, konnte das gar nicht begreifen.

Wie im Film zog alles an Doktors Nesthäkchen vorüber: Orgelklang, Kerzengeflacker, die Ansprache des Geistlichen, das »Ja«, das sie zu sprechen hatten, und zum Schluß die Flut von Gratulationsküssen.

Das Festmahl fand daheim im Hause statt. Aber die schön geputzte Hanne hatte heute nichts weiter damit zu tun, als nur dann und wann mißtrauische Blicke in ihre Küche zu werfen, damit die weißen Köche, die heute das Zepter in ihrem Reich führten, nicht zuviel auf die Seite brachten.

In denselben Räumen, in denen das kleine Nesthäkchen einst als Kind herumgetollt, feierte man es heute als Braut. Aus allen Himmelsrichtungen waren sie zu Nesthäkchens Ehrentag erschienen. Gut Arnsdorf, wo Nesthäkchen einst so schöne Ferien verlebt, war vollzählig vertreten. Aus Tübingen sah man Professor Bergholz und seine Tochter Anneliese, letztere schon als junge Frau. Marlene und Ilse aus dem Dreimäderlhaus, im Verein mit den drei getreuen Schwaben. Auch ein funkelnagelneues Brautpaar machte Annemarie und Rudolf den Rang streitig: Ola und Hans.

Da gab es eine »Tübinger Universitätszeitung«, in der ein guterhaltener Briefkasten als Sitzgelegenheit gesucht wurde. Für Angelsport jeglicher Art ward das Neptunsbrünnle empfohlen. Da gab es schwäbische Tafellieder, ja sogar einen Wanderzirkus »Nimmer da gewese«, der Nesthäkchens sämtliche Schwabenstreiche verherrlichte.

Bis in Kulickes Portierloge hinunter hörte man die Klänge des Hochzeitsmarsches. Man hörte durch die weitgeöffneten Fenster Festreden, Gläserklingen, Lachen, Singen und Tanzmusik. Die ganze stille Straße nahm teil an der Hochzeit von Doktors Nesthäkchen.


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