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Am 25. August kam die Kibitka mit sinkendem Tage in Sicht von Krasnojarsk an. Die Reise von Tomsk bis hierher hatte acht Tage in Anspruch genommen. Wenn sie trotz aller Bemühungen Michael Strogoff's nicht schneller vor sich ging, kam das daher, daß Nicolaus nur sehr wenig schlief. Daraus ergab' sich die Unmöglichkeit, die Gangart seines Pferdes zu beschleunigen, das unter anderen Händen nur sechzig Stunden zu dieser Strecke gebraucht hätte.
Zum Glück war von den Tartaren noch gar nichts zu spüren. Kein Plänkler ließ sich bis jetzt auf der von der Kibitka verfolgten Straße sehen. Es erschien das ganz unbegreiflich, und offenbar mußte ein sehr gewichtiger Umstand die Truppen des Emirs verhindert haben, ohne Verzug nach Irkutsk zu weiter zu marschiren.
In der That war ein solches Hinderniß eingetreten. Ein neues in aller Eile gesammeltes russisches Corps war aus dem Gouvernement Jeniseïsk auf Tomsk gezogen, um diese Stadt womöglich wieder zu erobern. Freilich erwies es sich der Heeresmacht Feofar-Khan's gegenüber noch zu schwach und hatte sich wieder zurückziehen müssen. Nach Vereinigung seiner eigenen Truppen mit den Soldaten der Khanate von Khokhand und Kunduz verfügte Feofar-Khan über eine Gesammtzahl von 250 000 Mann, denen die russische Regierung noch keine hinreichende Truppenmacht entgegen zu stellen vermochte. So frühzeitig die Invasion zu ersticken schien nicht ausführbar, und jedenfalls konnten die Tartarenhaufen versuchen, nach Irkutsk aufzubrechen.
Am 22. August kam es zu jenem Treffen bei Tomsk, von dem Michael Strogoff zunächst nichts wußte, das aber hinreichend erklärt, warum der Vortrab des Emirs Krasnojarsk noch am 25. unbelästigt gelassen hatte.
Kannte Michael Strogoff auch die jüngsten Ereignisse nicht, so wußte er doch das Eine, daß er den Tartaren um mehrere Tage voraus war und nicht daran zu verzweifeln brauchte, Irkutsk vor ihnen zu erreichen. Die Hauptstadt Ostsibiriens lag jetzt noch 850 Werst (= 900 Kilometer) von ihm entfernt.
Er rechnete übrigens darauf, daß es ihm in Krasnojarsk, einer Stadt von etwa 12 000 Seelen, an Transportmitteln nicht fehlen könne. Da Nicolaus Pigassof in dieser Stadt bleiben wollte, machte sich die Beschaffung eines Führers und eines anderen schnelleren Fuhrwerkes nöthig. Michael Strogoff hoffte, es werde ihm, wenn er sich an den Gouverneur der Stadt wendete, seine Identität und seine Eigenschaft als Courier des Czaaren nachwies, – was ihm nicht schwer fallen konnte, – gewiß gelingen, mit dessen Hilfe Irkutsk in kürzester Zeit zu erreichen. Er hatte dann dem wackeren Nicolaus Pigassof nur noch seinen herzlichen Dank abzustatten und unverzüglich mit Nadia abzureisen, denn diese wollte er nicht eher verlassen, als bis er sie den Händen ihres Vaters übergeben hätte.
Nicolaus' Entschluß, in Krasnojarsk zu bleiben, galt freilich nur »unter der Bedingung, dort Verwendung zu finden«.
Dieses Muster eines Beamten strebte nur darnach, sich, nachdem er seinen Posten in Kolyvan bis zum letzten Augenblick behauptet, der Telegraphen-Verwaltung sofort wieder zur Verfügung zu stellen.
»Wie könnte ich einen Gehalt angreifen, den ich nicht verdient hätte?« wiederholte er mehrfach.
Für den Fall, daß man seiner Dienste auch in Krasnojarsk nicht benöthigte, wollte er, da letztere Stadt mit Irkutsk noch immer in telegraphischer Verbindung stehen mußte, sich entweder nach Udinsk, oder auch nach der Hauptstadt Sibiriens begeben. Dann setzte er aber seine Reise mit dem Bruder und der Schwester fort, und wo hätten diese einen sicherern Führer, einen ergebeneren Freund finden können?
Die Kibitka befand sich jetzt nur noch eine halbe Werst von Krasnojarsk. Rechts und links bemerkte man jene zahlreichen Kreuze, wie sie sich hier an den Straßen in der Nähe der Stadt finden. Es war um sieben Uhr des Abends. An dem klaren Himmel zeichneten sich die Silhouetten der Kirchen und die Profile der an dem steilen Abhange des Jeniseï erbauten Häuser ab. Das Wasser des Flusses erglänzte in den letzten Lichtstrahlen der Atmosphäre.
Die Kibitka hielt an.
»Wo sind wir, Schwester? fragte Michael Strogoff.
»Eine halbe Werst von den ersten Häusern der Stadt,« belehrte ihn Nadia.
»Ist die ganze Stadt eingeschlafen?« fuhr Michael Strogoff fort. »Kein Laut dringt zu meinen Ohren.«
»Und ich sehe auch kein Licht erglänzen, keinen Rauch in die Luft emporsteigen,« fügte Nadia hinzu.
»Eine eigenthümliche Stadt!« sagte Nicolaus. »Hier macht man kein Lärmen und legt sich sehr zeitig nieder!«
In Michael Strogoff stieg eine böse Ahnung auf. Er hatte Nadia noch nicht mitgetheilt, welche Hoffnung er auf Krasnojarsk setzte, wo er die Mittel zur sicheren Fortsetzung ihrer Reise zu erlangen glaubte. Jetzt fürchtete er, seine Hoffnung werde noch einmal getäuscht werden. Aber Nadia hatte seine Gedanken errathen, obgleich sie nicht begriff, warum ihr Gefährte jetzt, nach Verlust des kaiserlichen Handschreibens, so sehr eilte, nach Irkutsk zu kommen. Eines Tages hatte sie mit Bezug hierauf auch einige Worte fallen lassen.
»Ich habe geschworen, nach Irkutsk zu gehen!« Darauf beschränkte sich seine ganze Antwort.
Um jedoch den Zweck seiner Sendung zu erfüllen, mußte er in Krasnojarsk noch ein schnelles Beförderungsmittel finden.
»Nun, Freund,« wandte er sich an Nicolaus, »weshalb fahren wir nicht weiter?«
»Ich befürchte, die Bewohner der Stadt durch das Geräusch unsres Wagens aus dem Schlafe zu stören.«
Durch einen leichten Streich mit der Peitsche setzte Nicolaus sein Pferd wieder in Bewegung. Sersko schlug einige Male an und die Kibitka rollte mäßig schnell die Straße hinab, die nach Krasnojarsk hinein führte.
Zehn Minuten später befand sie sich in der Hauptstraße.
Auch Krasnojarsk war verlassen! Kein Athener belebte »das nordische Athen«, wie Frau von Bourboulon die Stadt genannt hat. Keine jener so prächtig bespannten Equipagen rollte durch die breiten, reinlichen Straßen. Kein Fußgänger wandelte auf den Trottoirs der schönen, in monumentalem Style erbauten Holzhäuser. Keine elegante, nach neuester Pariser Mode gekleidete Sibirerin promenirte in jenem herrlichen Parke, der, in einem Birkenwalde angelegt, sich bis an das Ufer des Jeniseï fortsetzte. Die große Glocke der Kathedrale schwieg, die Glockenspiele der Kirchen blieben stumm, während sonst nur selten der Gesang derselben in den russischen Städten nicht ertönt. Doch hier war Alles erstorben. Kein lebendes Wesen athmete mehr in der sonst so verkehrsreichen Stadt!
Das letzte Telegramm aus dem Cabinet des Czaaren vor Unterbrechung der telegraphischen Verbindung befahl dem Gouverneur, der Garnison, den Einwohnern allen, Krasnojarsk zu verlassen, jeden werthvollen Gegenstand und Alles, was den Tartaren hätte von Nutzen sein können, wegzuschaffen und nach Irkutsk zu flüchten. Dieselbe Verordnung traf die Einwohner aller kleineren Ortschaften der Provinz. Die russische Regierung suchte vor den Schritten der Feinde eine Wüste herzustellen. Solche eines Rostopschin würdige Befehle wurden nicht einen Augenblick lang kritisirt. Man kam ihnen einfach nach, und deshalb blieb auch kein lebendes Wesen in Krasnojarsk zurück.
Michael Strogoff, Nadia und Nicolaus durchwanderten schweigend die Straßen der Stadt. Sie selbst verursachten das einzige Geräusch, das in dieser todten Stadt ertönte. Von den Empfindungen, die ihn marterten, ließ Michael Strogoff zwar äußerlich nichts merken, aber es kochte doch manchmal auf in ihm über das unersättliche Mißgeschick, welches ihn verfolgte und seine Hoffnungen noch einmal so bitter täuschte.
»Großer Gott,« jammerte Nicolaus, »in dieser Wüstenei werde ich meinen Gehalt nimmer ehrlich verdienen können.«
»Guter Freund,« redete ihm Nadia zu, »Sie werden mit uns den Weg nach Irkutsk einschlagen müssen.«
»Freilich muß ich das!« antwortete Nicolaus. »Zwischen Udinsk und Irkutsk muß die Leitung noch im Stande sein und da . . . Wollen wir weiter, Väterchen?«
»Warten wir bis morgen,« erwiderte Michael Strogoff.
»Du hast Recht,« bestätigte Nicolaus. »Wir müssen den Jeniseï passiren und dazu sehen können.«
»Sehen können!« murmelte Nadia mit einem Gedanken an ihren blinden Gefährten.
Nicolaus hatte doch ihre Bemerkung gehört und wendete sich an Michael Strogoff.
»Verzeihe, Väterchen, sagte er. Ach, Nacht und Tag, das ist für Dich ja gleichgiltig!
»Mache Dir keine Vorwürfe, Freund,« beruhigte ihn Michael Strogoff und strich dabei mit der Hand über seine Augen. »Mit Dir als Führer kann ich auch noch etwas nützen. Ruhe jetzt einige Stunden aus. Auch Nadia mag sich durch den Schlummer stärken. Morgen wird es ja wieder Tag.«
Michael Strogoff, Nadia und Nicolaus hatten nicht lange zu suchen, um eine Ruhestätte zu finden« Das erste Haus, dessen Thüre sie öffneten, war ja ebenso leer, wie alle die anderen. Nur einige Haufen Laubwerk fanden sich darin vor. In Ermangelung besseren Futters mußte das Pferd sich mit diesem begnügen. Von dem noch nicht erschöpften Proviant aus der Kibitka erhielt jeder seinen Theil. Nachdem sie dann vor einem bescheidenen, an der Wand hängenden Bilde der Panaghia, welches das letzte Flämmchen einer Lampe beleuchtete, ihre Knie gebeugt, schliefen Nicolaus und das junge Mädchen bald ein, während Michael Strogoff, den der Schlaf noch floh, neben ihnen wachte.
Am folgenden Tage, dem 26. August, fuhr die wieder angeschirrte Kibitka durch den Birkenpark nach dem Ufer des Jeniseï.
Michael Strogoff war sehr besorgt. Auf welche Weise sollte der Fluß überschritten werden, wenn man, wie anzunehmen war, alle Boote und Fähren zerstört hatte, um das Vordringen der Tartaren zu verzögern? Er kannte den Jeniseï, den er schon manchmal passirte, sehr gut, ebenso die beträchtliche Breite desselben, wie die heftigen Stromschnellen zwischen den Inseln in seinem Bette. Unter gewöhnlichen Verhältnissen verlangt die Ueberschreitung des Jeniseï mittels besonderer für den Transport von Reisenden, Wagen und Pferden eingerichteter Fähren eine Zeit von drei Stunden, und dabei erreichen diese Fährboote das rechte Ufer nur unter dem Aufwande der größten Anstrengungen. Wie sollte nun, beim Mangel jedes Transportmittels, die Kibitka von einem Ufer zum andern gelangen?
»Und ich muß doch hinüber kommen!« sagte sich Michael Strogoff wiederholt.
Der Tag begann zu grauen, als die Kibitka an einer dort auslaufenden Allee des Parkes das linke Stromufer erreichte. An dieser Stelle erhebt sich das Uferland etwa hundert Fuß über der Wasserfläche, so daß diese bis auf weite Entfernung hin zu übersehen ist.
»Entdeckt Ihr eine Fähre?« fragte Michael Strogoff, indem er seine Augen, eine Folge früher Gewohnheit, hier- und dorthin wendete, als könne er selbst noch sehen.
»Noch ist es kaum Tag,« antwortete Nadia. »Auf dem Strome liegt ein so dichter Dunst, daß man kaum das Wasser zu sehen vermag.«
»Doch ich höre das Rauschen der Wellen«, setzte Michael Strogoff noch hinzu.
Wirklich drang aus den tieferen Nebelschichten ein Brausen von auf einander treffenden Strömungen und Gegenströmungen herauf. Das zu dieser Jahreszeit sehr angeschwollene Wasser rauschte mit furchtbarer Gewalt dahin. Alle Drei horchten und warteten auf das Verschwinden des Nebelvorhanges. Rasch stieg nun die Sonne über den Horizont empor und ihre ersten warmen Strahlen tranken die angesammelten Dünste weg.
»Nun?« fragte Michael Strogoff.
»Der Nebel beginnt zu weichen, Bruder,« antwortete ihm Nadia; »schon durchdringt ihn allmälig das Licht des Tages.«
»Das Niveau des Flusses siehst Du noch nicht?«
»Bis jetzt noch nicht.«
»Etwas Geduld, Väterchen,« sagte Nicolaus. »Es wird sich Alles machen. Da, es erhebt sich schon ein frischer Wind; er wird die Nebel bald vertreiben. Schon zeigen die hohen Hügel des andern Ufers ihre dichten Baumreihen. Die dienstwilligen Sonnenstrahlen verzehren die angehäuften Wasserdünste. O, wie schön das ist, Du armer Blinder, und welches Unglück für Dich, dies prächtige Schauspiel nicht genießen zu können!«
»Siehst Du ein Fahrzeug?« fragte Michael Strogoff.
»Ich sehe keines,« antwortete Nicolaus.
»Sieh scharf hinaus, Freund, längs dieses Ufers und längs des anderen, soweit Deine Augen reichen. Ein Boot! eine Barke, nur ein Canot aus Baumrinde!«
Nicolaus und Nadia, die sich an den äußersten Birkenstämmen des steilen Ufers anhielten, bogen sich fast bis über den Fluß hinaus. Ihr Gesichtskreis gewann dadurch noch mehr an Ausdehnung. Der Jeniseï ist an dieser Stelle nicht weniger als anderthalb Werst breit und bildet zwei ungleich große Arme, in welchen die Wellen mit erstaunlicher Schnelligkeit dahin schießen. Zwischen diesen Armen liegen mehrere Inseln zerstreut, die mit ihren Erlen, Weiden und Pappeln wie eben so viele im Flusse verankerte Fahrzeuge aussehen. Ueber diesen erheben sich die Hügel des östlichen Ufers, gekrönt mit Wäldern, deren Baumgipfel jetzt in purpurnem Morgenlichte flammten. Stromaufwärts und stromabwärts erstreckte sich der Lauf des Jeniseï bis über Gesichtsweite hinaus. Das ganze wunderbar schöne Panorama entrollte sich in einem Umfange von mindestens fünfzig Werst.
Ein Boot aber zeigte sich weder am rechten noch am linken Ufer, noch auch an dem Rande der Inseln. Schafften die Tartaren also das Material zum Bau einer Schiffbrücke nicht selbst von Süden hierher, so mußte ihr Zug auf Irkutsk durch den schwer überschreitbaren Jeniseï eine nicht unbeträchtliche Verzögerung erfahren.
»Ich erinnere mich,« begann da Michael Strogoff, »eines kleinen Ausschiffungsplatzes, weiter oben, nahe den letzten Häusern von Krasnojarsk. Dort legten die Fähren an. Laß uns den Fluß hinauf ziehen, Freund, und sieh dabei zu, ob nicht eine einzige Barke vergessen worden ist.«
Nicolaus wendete sich nach der angedeuteten Richtung. Nadia ergriff Michael Strogoff's Hand und führte ihn schnellen Schrittes dahin. Eine Barke, nur ein hinreichend großes Boot, um die leichte Kibitka zu tragen, und in Ermangelung dessen, nur ein Kahn, um die Insassen der letzteren überzuführen, – und Michael Strogoff würde keinen Augenblick gezögert haben, die Ueberschreitung des Stromes zu wagen.
Zwanzig Minuten später hatten alle drei die beschränkte Landungsstelle erreicht, einen kleinen Hafen, dessen letzte Häuser bis an das Niveau des Flusses herab reichten, etwa wie ein sich an Krasnojarsk anschließender kleiner Vorort.
Auch hier fand sich jedoch kein Fahrzeug am Ufer, kein Kahn an der Pfahlwand, ja, nicht das Geringste, aus dem sich ein für drei Personen hinreichendes Floß hätte herstellen lassen.
Michael Strogoff befragte Nadia über den Befund, und diese gab leider die wenig trostreiche Antwort, daß ihr unter den gegebenen Verhältnissen eine Ueberschreitung des Flusses schlechterdings unmöglich scheine.
»Wir kommen hinüber«, erklärte Michael Strogoff.
Die Nachsuchungen begannen auf's Neue. Man durchstöberte die an dem Abhange gelegenen Gebäude, welche ebenso verlassen waren, wie die in der eigentlichen Stadt. Höchstens die Thüren hätte man dort ausheben können. Es waren übrigens nur vollkommen leere Hütten ärmerer Leute. Nicolaus sah sich in der einen um, Nadia durchsuchte die andere. Selbst Michael Strogoff trat hier und da ein und tastete nach irgend einem Gegenstande, der ihm jetzt hätte von Nutzen sein können.
Nicolaus und das junge Mädchen hatten sich vergeblich in den Hütten umgesehen und wollten schon jede fernere Nachsuchung aufgeben, als sie ihre Namen rufen hörten.
Beide sahen sich auf dem Abhange um und gewahrten Michael Strogoff auf der Schwelle einer Hausthür.
»Kommt hierher!« rief dieser.
Die Beiden folgten sofort seinem Rufe und traten in das Hüttchen ein.
»Was ist das hier?« fragte Michael Strogoff und berührte mit der Hand verschiedene in einer Art Speisegewölbe liegende Gegenstände.
»Das sind Schläuche,« bedeutete ihm Nicolaus, »wahrhaftig, ein volles halbes Dutzend.«
»Sind sie gefüllt?«
»Ja wohl, mit Kumiß, ein Fund zu sehr gelegener Zeit, um unseren Proviant zu erneuern.«
Der »Kumiß« ist ein aus Stuten- oder Kameelmilch bereitetes stärkendes, sogar berauschendes Getränk, und Nicolaus hatte alle Ursache, sich dieses Fundes zu freuen.
»Leg' einen bei Seite,« sagte Michael Strogoff zu ihm, »aber entleere sofort alle übrigen.«
»Sogleich, Väterchen.«
»Diese sollen uns den Jeniseï überschreiten helfen.«
»Und das Floß?«
»Das stellt die Kibitka selbst vor, welche ja leicht genug ist, um selbst zu schwimmen. Uebrigens werden wir und das Pferd sie vermittels dieser Schläuche halten.«
»Gut ausgedacht, Väterchen,« rief Nicolaus, »und mit Gottes Hilfe werden wir glücklich den Hafen erreichen . . . vielleicht nicht in gerader Linie, denn die Strömung ist sehr stark.«
»Das thut nichts,« versicherte Michael Strogoff. »Laß uns nur erst hinüber kommen, die Straße nach Irkutsk finden wir schon wieder.«
»An's Werk also«, sagte Nicolaus, der sofort daran ging, die Schläuche zu entleeren und sie nach der Kibitka zu schaffen.
Nur ein mit Kumiß gefüllter Schlauch ward reservirt, die andern, mit Luft aufgeblasen und sorgfältig verschlossen, sollten als schwimmende Träger dienen. Zwei derselben band man an die Seiten des Pferdes, um dieses über Wasser zu halten. Zwei andere wurden an dem Sitzkasten der Kibitka zwischen den Rädern angebracht, um diese zu tragen und sie als Floß benutzen zu können.
Diese Arbeit war bald vollendet.
»Du wirst Dich doch nicht fürchten, Nadia?« fragte Michael Strogoff.
»Nein, Bruder,« erwiderte das junge Mädchen.
»Und ich,« rief Nicolaus, »ich erreiche endlich die Erfüllung meiner Träume, gleich in der Kutsche zu schwimmen.«
Das hier sanfter geneigte Ufer begünstigte den Stapellauf (wenn man so sagen darf) der Kibitka. Das Pferd zog sie bis zum Rande des Wassers, und bald schwamm der ganze Apparat sammt dem Pferde auf den Wellen des Flusses. Sersko schwamm dabei munter nebenher.
Die drei in dem Sitzkasten stehenden Passagiere hatten aus Vorsicht die Fußbekleidung abgelegt, doch reichte ihnen, Dank der Tragkraft jener Schläuche, das Wasser kaum bis an die Knöchel.
Michael Strogoff führte die Zügel des Pferdes und lenkte es, nach den Anweisungen, welche ihm Nicolaus gab, schief gegen den Strom, ohne das Thier im vorzeitigen Kampfe gegen das Wasser zu sehr anzustrengen. So lange die Kibitka sich direct mit der Strömung bewegte, ging Alles ganz gut von statten, und schon nach wenigen Minuten hatte sie die Quais von Krasnojarsk passirt. Sie wich dabei nach Norden zu ab, und es lag auf der Hand, daß sie das jenseitige Ufer nur weit stromabwärts von der Stadt erreichen werde. Doch hierauf legte man kein besonderes Gewicht.
Die Fahrt über den Jeniseï wäre nun, trotz der sehr mangelhaften Hilfsmittel, ohne zu große Schwierigkeit ausgeführt worden, wenn sich die Strömung in ihren gewöhnlichen, regelrechten Verhältnissen bewegt hätte. Unglücklicher Weise kreuzten sich aber mehrere Wirbel auf der Oberfläche des schäumenden Wassers, und bald wurde die Kibitka, trotz aller Anstrengungen Michael Strogoff's, sie in einer andern Linie zu erhalten, unwiderstehlich in einen dieser Trichter hineingezogen.
Die Gefahr war groß. Die Kibitka hielt nicht mehr die Richtung nach dem östlichen Ufer ein, sie ging nicht ferner stromab, sondern drehte sich mit ungemeiner Schnelligkeit und nahm eine nach dem Mittelpunkte dieser Bewegung geneigte Stellung an, wie der Reiter auf der Bahn eines engen Circus. Ihre Schnelligkeit wuchs noch mehr. Das Pferd vermochte kaum noch den Kopf über dem Wasser zu halten und lief Gefahr, in dem Wirbel erstickt zu werden. Auch Sersko hatte einen Stützpunkt an der Kibitka suchen müssen.
Michael Strogoff begriff recht wohl, was hier vorging. Er fühlte sich in einer immer enger werdenden Spirale dahin gezogen, der er nicht entgehen konnte. Er sprach kein Wort. Seine Augen schienen die Gefahr sehen zu wollen, um sie leichter zu vermeiden – sie konnten es nicht!
Auch Nadia schwieg. Ihre Hände klammerten sich krampfhaft an das Gerüst des Wagens, und so sicherte sie sich gegen die ungeordneten Bewegungen desselben, als er sich immer mehr dem Depressionscentrum zuneigte.
Begriff auch Nicolaus den ganzen Ernst der Lage? Ueberwog in ihm das Phlegma oder die Verachtung der Gefahr, der Muth oder die Gleichgiltigkeit? Hatte das Leben keinen Werth für ihn und galt es ihm, nach einem Ausdrucke der Orientalen, so viel, »wie eine Hotelwohnung für fünf Tage«, die man wohl oder übel am sechsten Tage räumen muß? Jedenfalls zeigte sein immer lächelndes Gesicht keine Spur einer Veränderung.
Die Kibitka verblieb also in dem reißenden Strudel und das Pferd stand am Ende seiner Kräfte. Plötzlich warf Michael Strogoff alle Kleidungsstücke, die ihm hinderlich sein konnten, ab und stürzte sich in das Wasser; dann ergriff er mit mächtigem Arme den Zügel des halb scheu gewordenen Pferdes und riß es so mächtig fort, daß es sich bis über den anziehenden Kreiswirbel hinaus arbeitete, und sobald die Kibitka wieder in die geordnete Strömung kam, trieb sie mit erneuter Schnelligkeit weiter.
»Hurrah!« rief Nicolaus.
Nur zwei Stunden nach dem Verlassen des Landungsplatzes hatte die Kibitka den größeren Arm des Stromes überschritten und landete, freilich sechs Werst stromab von der Abfahrtsstelle, an dem Ufer einer Insel.
Das Pferd zog nun den Wagen vollends hinauf auf das Land, wo dem wackeren Thiere gern eine Stunde Ruhe gegönnt wurde. Dann fuhr die Kibitka unter dem schützenden Dache prächtiger Birken quer über das ganze Eiland und langte an dem schmäleren Arme des Jeniseï an.
Hier vollzog sich die Ueberfahrt leichter. Kein Wasserwirbel unterbrach den Strom des zweiten Bettes, die Bewegung des Wassers war aber eine so schnelle, daß die Kibitka das rechte Ufer erst fünf Werst stromabwärts erreichte. Im Ganzen war sie also um elf Werst verschlagen worden.
Diese großen Stromadern des sibirischen Gebietes, welche bis jetzt noch nirgends überbrückt sind, bilden überall sehr fühlbare Hindernisse der Communication. Alle erwiesen sich auch Michael Strogoff mehr oder weniger verderblich. Auf dem Irtysch hatten die Tartaren die Fähre, welche ihn und Nadia trug, angefallen. Beim Obi war er, nachdem sein Pferd einer Kugel erlag, nur wie durch ein Wunder den ihn verfolgenden Reitern entkommen. Alles in Allem lief diese Ueberschreitung des Jeniseï noch verhältnißmäßig am glücklichsten ab.
»Das wäre gar nicht so amüsant gewesen,« äußerte Nicolaus, als er, sich die Hände reibend, das rechte Ufer hinaufstieg, »wenn es nicht solche Schwierigkeiten geboten hätte.«
»Und was für uns nur schwer durchzuführen war,« antwortete Michael Strogoff, »das, guter Freund, wird für die Tartaren nahezu unmöglich sein!«