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Diese lange Winternacht führte sich mit einem heftigen Sturme ein. Die Kälte war vielleicht etwas minder lebhaft, aber die Atmosphäre ungemein feucht. Trotz aller Vorsichtsmaßregeln drang Letztere in das Haus ein und jeden Morgen enthielten die Condensatoren einige Pfund Eis.
Draußen wirbelte ein furchtbares Gestöber. Der Schnee fiel nicht mehr vertical, sondern nahezu horizontal. Jasper Hobson mußte das Oeffnen der Thüre vollständig untersagen, da zu befürchten war, daß der Vorraum sich sofort anfüllen möchte. Die Ueberwinterer waren nun in der That Gefangene.
Die Fensterläden wurden möglichst luftdicht verschlossen. Stets waren also die Lampen in Brand und beleuchteten die langen Stunden dieser nicht dem Schlafe gewidmeten Nacht.
Wenn aber auch außerhalb des Hauses Dunkelheit herrschte, so war an die Stelle des Schweigens in dieser hohen Breite das Getöse des Sturmes getreten. Der Wind, welcher zwischen dem Hause und der Ufererhöhung hindurch fegte, erzeugte einen langen, klagenden Ton. Wenn er sich an das Wohnhaus stieß, erzitterte dieses in seinen Grundpfeilern, so daß es ihm ohne die Solidität seiner Construction schwerlich hätte Widerstand leisten können. Zum Glück brach der sich ringsum anhäufende Schnee die Gewalt seiner Stöße. Mac Nap fürchtete nur für die Rauchfänge, deren äußerer aus Kalkziegeln errichteter Theil dem Drucke leicht nachgeben könnte. Indeß auch diese widerstanden, nur mußte man ihre vom Schnee verstopften Mündungen öfter reinigen.
Mitten durch das Pfeifen des Sturmes ließ sich dann und wann auch ein eigenthümliches Krachen hören, über das Mrs. Paulina Barnett sich keine Rechenschaft geben konnte. Dasselbe rührte von dem Sturze von Eisbergen her, dessen Geräusch das Echo vervielfältigte und es dem Donner ähnlich wiedergab. Unaufhörlich drang auch eine Art Knattern, von der Verschiebung des Eisfeldes, welche die Bergstürze veranlaßten, herrührend, an das Ohr. Wohl mußte man an das Wüthen der Elemente in diesen rauhen Klimaten schon gewöhnt sein, um sich dabei nicht bedrückt und geängstigt zu fühlen. Bei Lieutenant Hobson und seinen Leuten war das schon der Fall; Mrs. Paulina Barnett und Madge härteten sich allmälig dagegen ab. Sie hatten bei ihren Reisen auch schon jene furchtbaren Stürme mit erlebt, welche über zwanzig Meilen in der Stunde durchrasen und einen Vierundzwanzigpfünder von der Stelle rücken. Hier am Cap Bathurst aber wurde ein solches Naturereigniß durch die Nacht und den Schnee noch grauenvoller. Wenn dieser Wind das Haus auch nicht zertrümmerte, so begrub er es doch, und die Befürchtung lag nicht fern, daß zwölf Stunden Sturm hinreichen würden, die ganze Ansiedelung unter einer gleichmäßigen Schneedecke einzusargen.
Während dieser Gefangenschaft kam nun das Leben im Inneren in seine Gleise. Alle die wackeren Leute verstanden sich unter einander, und dieses Zusammenleben in so engem Räume gab dennoch zu keiner Belästigung oder Klage Veranlassung. Sie hatten sich ja übrigens von Fort-Reliance und Fort-Entreprise her gewöhnt, unter solchen Verhältnissen zu leben. Mrs. Paulina Barnett verwunderte sich also nicht besonders, zu sehen, wie leicht Alle zu leiten und zu behandeln waren.
Die Arbeit auf der einen, Lectüre und Spiele auf der anderen Seite nahmen jeden Augenblick in Anspruch. Die Arbeit bestand in der Anfertigung und Ausbesserung von Kleidungsstücken, der Instandhaltung der Waffen, der Verfertigung von Schuhwerk, der Abfassung des von Jasper Hobson geführten Tagebuches, welches auch die kleinsten Vorkommnisse des Winteraufenthaltes, aber auch über das Wetter, die Temperatur, die Windrichtung, die Erscheinung der in den Polargegenden so häufigen Meteore u. s. w. berichtete. Sie bestand aber auch in der Instandhaltung des Hauses selbst, der Reinigung der Zimmer, der täglichen Besichtigung der aufgespeicherten Pelzwaaren, denen die Feuchtigkeit Schaden bringen konnte; ferner in der Ueberwachung der Feuer und des Zuges in den Oefen und endlich in der unausgesetzten Jagd nach jeder Spur von Feuchtigkeit, welche sich in den Ecken ansammelte. Einem Jeden war, entsprechend den Vorschriften eines in dem großen Saale angehefteten Reglements, bei dieser Arbeit sein Theil zugewiesen. Ohne über die Maßen angestrengt zu sein, hatten die Bewohner des Forts doch stets Etwas zu thun. Während dieser Zeit zerlegte Thomas Black seine Instrumente und schraubte sie wieder zusammen, oder prüfte seine astronomischen Berechnungen; fast immer in seiner Cabine eingeschlossen, schimpfte er höchstens auf den Sturm, der ihm jede nächtliche Beobachtung raubte. Von den drei verheirateten Frauen hatte Mrs. Mac Nap mit ihrem lustig gedeihenden Säuglinge alle Hände voll zu thun, während Mrs. Joliffe mit Unterstützung der Mrs. Raë und dem unvermeidlichen »Topfgucker« von Corporal die Küchengeschäfte besorgte.
Zu gewissen Stunden, Sonntags aber den ganzen Tag über, erging man sich vereinigt in verschiedenen Zerstreuungen. Diese bestanden vor Allem in Lectüre. Die Bibel und einige Reisewerke bildeten allerdings die ganze Bibliothek des Forts, aber auch dieses Wenige genügte den wackeren Leuten. Für gewöhnlich las Mrs. Paulina Barnett zum großen Vergnügen ihrer Zuhörer vor. Die biblischen Geschichten, so wie die Reiseberichte, gewannen einen ganz besonderen Reiz, wenn sie mit ihrer volltönenden, sicheren Stimme einige Kapitel aus dem heiligen Buche vortrug. Die sinnbildlichen Persönlichkeiten, die Helden der Legende belebten sich und traten überzeugend vor die Augen. Mit großer Befriedigung sahen Alle stets die Stunde heran kommen, in der die liebenswürdige Frau ihr Buch zur Hand nehmen sollte. Sie war wirklich die Seele dieser kleinen Welt, belehrte sich und andere, fragte um Rath und theilte solchen aus und blieb immer und überall zu einem gewünschten Dienste bereit. Sie vereinigte alle Liebe und Güte des Weibes in sich, verband sie aber mit der geistigen Energie des Mannes. Dieses Doppelwesen hatte in den Augen der rauhen Soldaten einen doppelten Werth. Sie waren ganz vernarrt in sie und hätten nicht gezaudert, ihr Leben für sie zu lassen. Es verdient auch Erwähnung, daß Mrs. Paulina Barnett die allgemeine Lebensweise in Allem theilte, sich nicht in ihrer Cabine abschloß, sondern mitten unter ihren Gefährten arbeitete und durch ihre Reden und Fragen Jedermann in die allgemeine Unterhaltung hineinzog. Nichts feierte also in Fort-Esperance, weder Hände, noch Zungen. Man arbeitete, plauderte und, was das Wichtigste ist, man befand sich wohl dabei. Bei guter Laune und vortrefflicher Gesundheit wurde man der Langeweile während dieser Einsperrung Meister.
Der Sturm schien sich gar nicht legen zu wollen. Drei Tage lang waren die Ueberwinternden schon einzig auf das Haus beschränkt, und immer noch währte das Schneetreiben mit unverminderter Heftigkeit fort. Jasper Hobson wurde unruhig. Die mit Kohlensäure überladene Atmosphäre des Hausinneren mußte nothwendig einmal erneuert werden, denn schon brannten die Lampen in der ungesunden Luft nur trübe. Man gedachte also die Luftpumpen in Betrieb zu setzen. Die Rohre fanden sich aber, wie es ja zu erwarten stand, durch Eis verstopft und functionirten nicht; sie waren auch nur für den Gebrauch in dem Falle bestimmt, daß das Haus nicht unter solchen Unmassen von Schnee vergraben lag. Jetzt war guter Rath theuer. Lieutenant Hobson berieth mit Sergeant Long die Sachlage und beschloß, am 23. November eines der Fenster der Vorderseite, welches in dem Vorraume angebracht war, zu öffnen, da der Sturmwind dort noch am wenigsten anschlug.
Es war das keine so leichte Arbeit. Der Fensterflügel schlug zwar bald nach innen auf, der Laden aber, der von hart gewordenen Eisstücken gehalten wurde, trotzte jeder Anstrengung, so daß er endlich aus den Angeln gehoben werden mußte. Hierauf griff man die Schneeschicht mit Schaufeln und Hacken an. Sie war mindestens zehn Fuß dick, machte also die Aushöhlung einer Art Laufgrabens nöthig, durch welchen dann die freie Luft eindringen konnte.
Jasper Hobson, der Sergeant, einige Soldaten und selbst Mrs. Paulina Barnett wagten sich durch diesen Gang, durch welchen der Sturmwind mit ganz absonderlicher Wuth pfiff, nicht ohne große Mühe hinaus.
Welchen Anblick bot ihnen das Cap Bathurst und die nächst liegende Ebene! Es war jetzt zwar Mittagszeit, doch färbte kaum ein schwaches Dämmerlicht den südlichen Horizont. Die Kälte zeigte sich nicht so heftig, als man es hätte glauben sollen, und las man am Thermometer nur 9° unter dem Gefrierpunkte ab.
Das Schneegestöber setzte sich aber noch immer mit ganz unvergleichbarer Heftigkeit fort, und der Lieutenant, seine Leute und die Reisende wären bestimmt umgeworfen worden, hätte ihnen nicht die Schneelage, in welche sie bis zum halben Körper eingesunken waren, gegen das Ungestüm des Windes den nöthigen Halt verliehen. Zu sprechen vermochten sie nicht; ja bei dem Entgegenschlagen der Flocken, das sie halb blind machte, kaum etwas zu sehen. In weniger als einer halben Stunde wären sie wohl vollkommen überschneit gewesen. Alles rings um sie war weiß; die Umplankung überhäufelt; das Dach des Hauses verschwamm mit seinen Mauern unter einer gleichen Oberfläche, und ohne die bläulichen Rauchsäulen, welche aus den beiden Essen hinaufwirbelten, hätte kein Fremder an dieser Stelle das Vorhandensein eines bewohnten Hauses auch nur geahnt.
Unter solchen Umständen war »der Spaziergang« natürlich nur sehr kurz, dennoch hatte sich die Reisende einen schnellen Ueberblick der trostlosen Scene verschafft. Nur halb hatte sie zwar diesen schneegepeitschten Polarhimmel und den arktischen Sturm in seinem ganzen Schrecken sehen können, und dennoch nahm sie bei der Rückkehr in's Haus eine unauslöschliche Erinnerung daran mit.
Die Luft im Hause war schon in wenigen Augenblicken erneuert gewesen, und die schädlichen Dünste verschwanden unter dem Einflusse der reinen belebenden Atmosphäre. Lieutenant Hobson und seine Begleiter beeilten sich, wieder Schutz zu suchen. Das Fenster wurde wieder geschlossen, doch sorgte man im Interesse der Ventilation für die tägliche Reinigung seiner Oeffnung.
Auf diese Weise verfloß die ganze Woche. Glücklicher Weise hatten Rennthiere und Hunde hinreichendes Futter, so daß es unnöthig war, nach ihnen zu sehen. Acht Tage lang blieb die kleine Gesellschaft eingeschlossen. Für Leute, welche an die frische Luft gewöhnt sind, wie für Soldaten und Jäger, ist das eine sehr lange Zeit. Am Ende verlor auch das Vorlesen seinen Reiz, und das »Cribbage«Ein in England sehr verbreitetes Kartenspiel. drohte langweilig zu werden. Immer legte man sich mit der heimlichen Hoffnung nieder, am anderen Tage den Sturm austoben zu hören, immer sah man sich getäuscht. Fortwährend lagerte sich der Schnee vor den Scheiben des Fensters ab und heulte der Wind, fortwährend krachte es mit Donnergepolter in den Eisbergen und schlug der Rauch in die Wohnräume zurück, welche unausgesetzt von Husten wiederhallten – kurz der Sturm legte sich nicht nur nicht, sondern schien sich gar nicht wieder legen zu wollen.
Am 28. November endlich zeigte das in dem großen Saale angebrachte Aneroid-Barometer eine nahe Veränderung in dem Zustande der Atmosphäre an und stieg ganz bemerklich. Zu derselben Zeit fiel das außerhalb angebrachte Thermometer auch plötzlich auf 20°Celsius unter Null. Das waren untrügliche Erscheinungen. Und wirklich konnten die Bewohner von Fort-Esperance am 29. November aus der draußen herrschenden Ruhe das Ende des Unwetters bemerken.
Schnell suchte nun Jedermann hinaus zu gelangen. Die Gefangenschaft hatte lange genug gedauert. Die Thüre war nicht gangbar. Man mußte durch das Fenster klettern und es von den angehäuften Schneewehen reinigen. Jetzt galt es aber keine weiche Schneelage zu durchbrechen; im Gegentheil hatte die strenge Kalte die ganze Masse erhärtet, so daß sie nur durch Spitzhacken beseitigt werden konnte.
Das war das Werk einer halben Stunde, und bald befanden sich alle Wintergenossen, mit Ausnahme der Mrs. Mac Nap, welche noch nicht aufstand, in dem inneren Hofraume.
Die zwar strenge Kälte erschien, da der Wind sich gelegt hatte, ganz erträglich. Dennoch mußte man beim Verlassen einer geheizten Wohnung einigermaßen vorsichtig sein, um sich einem Temperaturunterschiede von vollen dreißig Graden ohne Nachtheil aussetzen zu können.
Es war acht Uhr Morgens. Vom Zenith, in dem der Polarstern leuchtete, bis zum Horizonte hinab glänzten die Sternbilder in prachtvoller Klarheit. Man hätte wohl geglaubt, Millionen zählen zu können, obgleich für das unbewaffnete Auge an der ganzen Himmelskugel nur etwa 5000 deutlich unterscheidbar sind. Thomas Black gab seiner Bewunderung unverhohlen Ausdruck. Er jauchzte nach dem sternenbesäeten Firmament empor, welches kein Dunst, kein Wölkchen verhüllte. Nie breitete sich wohl ein schönerer Himmel vor dem Auge eines Astronomen aus!
Während Thomas Black in Verzückung schwelgte und gegen die Zustände auf der Erde ganz ohne Theilnahme war, begaben sich die Anderen bis nach der befestigten Umwallung hin. Zwar hatte die Schneelage die Festigkeit des Felsens, sie war aber so glatt, daß so Mancher deshalb hinfiel.
Der Hof des Forts war selbstverständlich ganz ausgefüllt. Nur das Dach des Hauses trat etwas über die weiße, vom Winde ganz horizontal abgewetzte Masse hinaus. Von der Palissade ragte nur noch das Ende der Pfähle hervor und in diesem Zustande würde sie auch dem ungelenkigsten Thiere kein Hinderniß gewesen sein. Was war aber dagegen zu thun? An das Wegschaffen einer zehn Fuß dicken und harten Schneelage von einer so großen Fläche war nicht zu denken. Höchstens konnte man versuchen, die äußere Fläche frei zu legen, indem man einen Graben um dieselbe zog, dessen Gegenböschung noch zum weiteren Schutze der Palissade diente. Jetzt war der Winter aber erst im Beginnen und man mußte fürchten, daß ein wiederholter Sturm den Graben in wenigen Stunden zuschütten würde.
Als der Lieutenant die Werke besichtigte, welche dem Hauptgebäude jetzt keine weitere Deckung boten, bis einst der Sonnenstrahl diese Schneekruste schmolz, rief Mrs. Joliffe:
»Und unsere Hunde! Unsere Rennthiere!«
In der That war es nöthig, sich nun einmal um diese Thiere zu bekümmern. Das »Dog-House« und der Stall, beide niedriger als das Wohnhaus, mußten wohl vollständig überweht sein und vielleicht gar der nöthigen Luft entbehrt haben. Man eilte also, die Einen nach dem Hunde-, die Anderen nach dem Rennthierstalle, sah aber bald jede Befürchtung zerstreut. Die Eismauer, welche jetzt die nördliche Ecke des Hauses mit der Uferhöhe verband, hatte die beiden Baulichkeiten so weit geschützt, daß der Schnee um sie her nur vier Fuß hoch lag. Die in den Wänden angebrachten »Lichter« waren also nicht verstopft. Man traf die Thiere ganz munter an, und sobald der Stall geöffnet wurde, sprangen die Hunde freudig bellend im Hofe umher.
Nun wurde die Kälte aber doch empfindlicher, und nach einstündiger Promenade sehnte sich Jeder nach dem wohlthuenden Ofen zurück, der im großen Saale prasselte. Draußen war ja überhaupt Nichts zu thun. Die Fallen, welche sechs Fuß tief unter dem Schnee lagen, konnten für jetzt nicht nachgesehen werden. Man kehrte demnach zurück. Das Fenster ward wieder geschlossen und da die Zeit des Mittagessens heran gekommen war, suchten Alle ihren Platz am Tische.
Natürlich kam das Gespräch auf die plötzliche Kälte, welche die dicke Schneeschicht so schnell fest gemacht hatte. Hierin lag der bedauerliche Umstand, daß die Sicherheit des Forts bis zu einem gewissen Punkte in Frage gestellt war.
»Aber, Herr Hobson,« fragte Mrs. Paulina Barnett, »dürfen wir nicht noch auf einige Tage Thauwetter rechnen, welche dieses ganze Schnee-Eis wieder in Wasser verwandeln?«
»Nein, Madame,« antwortete der Lieutenant. »Thauwetter zu dieser Jahreszeit ist nicht wahrscheinlich. Ich glaube vielmehr, daß die Kälte bald zunehmen wird, und es ist zu bedauern, daß wir diesen Schnee nicht, als er noch weich war, fortschaffen konnten.«
»Wie? Sie glauben, daß die Temperatur noch beträchtlich herabgehen werde?«
»Ohne Zweifel, Madame. Was wollen denn zwanzig Grad unter dem Gefrierpunkte in so hoher Breite bedeuten?«
»Wie würde sich aber das gestalten, wenn wir am Pole selbst wären,« fragte die Reisende.
»Der Pol, Madame, ist höchst wahrscheinlich nicht der kälteste Punkt der Erdkugel, da alle Seefahrer dort ein freies Meer voraussetzen. Die niedrigste Mitteltemperatur scheint vielmehr, in Folge gewisser geographischer und hydrographischer Einflüsse, an einem unter 95° der Länge und 70° nördlicher Breite gelegenen Punkte, das wäre also an der Küste von Nord-Georgia, zu herrschen. Dort soll die Mitteltemperatur des Jahres 19°Celsius unter dem Gefrierpunkte betragen. Es ist dieser Punkt auch unter dem Namen des ›Kältepols‹ allgemein bekannt.«
»Von diesem Punkte, Herr Hobson,« erwiderte die Reisende, »sind wir aber um acht Längengrade entfernt.«
»Gewiß,« antwortete der Lieutenant, »und ich hoffe auch, daß wir am Cap Bathurst nicht ebenso hart daran kommen werden, wie es in Nord-Georgia der Fall sein müßte. Von dem Kältepole spreche ich Ihnen aber, um einer Verwechselung mit dem wirklichen Pole vorzubeugen, wenn es sich um das Herabgehen der Luftwärme handelt. Merken Sie sich übrigens, daß auch an anderen Punkten der Erdkugel oft eine sehr bedeutende Kälte beobachtet worden ist, nur war diese dann nie so anhaltend.«
»Und wo, Herr Hobson?« fragte Mrs. Paulina Barnett. »Ich versichere Ihnen, daß mich gerade jetzt die Kälte ganz besonders interessirt.«
»So weit ich mich entsinne,« antwortete Lieutenant Hobson, »haben Polar-Seefahrer bestätigt, daß die Temperatur auf der Insel Melville bis auf -51° und bis -53°Celsius am Port Felix herabgegangen ist.«
»Liegen diese Insel Melville und der Port Felix nicht unter noch höherer Breite, als Cap Bathurst?«
»Gewiß, Madame, aber bis zu einer gewissen Grenzlinie ist die Breitenlage ohne erheblichen Einfluß. Es genügt schon die Zusammenwirkung gewisser atmosphärischer Verhältnisse, um sehr heftige Kälte zu erzeugen. Trügt mich mein Gedachtniß nicht, so beobachteten wir im Jahre 1845 . . . Sergeant Long, waren Sie jener Zeit nicht in Fort-Reliance?«
»Zu Befehl, Herr Lieutenant,« antwortete Long.
»Nun hatten wir im Januar eben dieses Jahres nicht eine ganz außergewöhnliche Kälte?
»Ja wohl,« bestätigte der Sergeant, »ich erinnere mich mit Bestimmtheit, daß das Thermometer 50,7° unter Null zeigte.«
»Was?« rief Mrs. Paulina Barnett, »über fünfzig Grad Kälte und das bei Fort-Reliance an dem großen Sklaven-See?«
»So ist es, Madame,« fuhr der Lieutenant fort, »und nur bei einer Breite von fünfundsechzig Graden, in derselben Polhöhe, wie etwa Christiania oder St. Petersburg.«
»Dann, Herr Hobson, werden wir auf Alles gefaßt sein müssen.«
»Gewiß, wenn man in diesen arktischen Ländern den Winter zubringt, auf Alles!«
Am 29. und 30. November nahm der Frost nicht ab, und mußte man in den Oefen fortwährend ein tüchtiges Feuer unterhalten, sonst würde sich die Luftfeuchtigkeit in Ecken und Winkeln bald in Form von Eis abgelagert haben. Brennmaterial war jedoch in Ueberfluß vorhanden, und man schonte es deshalb auch nicht. Trotz der strengen Kälte im Freien wurde die Wärme im Inneren stets auf +10°Celsius gehalten.
Ungeachtet der so niedrigen Temperatur wollte Thomas Black, den der klare Himmel verlockte, Sternbeobachtungen vornehmen. Er hoffte von den glänzenden Gestirnen, die um den Zenith kreisten, den oder jenen in zwei aufzulösen; doch mußte er auf jede Beobachtung verzichten. Die Instrumente »brannten« ihm in den Händen.
Brennen ist das einzige Wort, welches die durch einen metallischen und so starker Kälte ausgesetzten Körper hervorgebrachte Empfindung verdeutlichen kann. Im physikalischen Sinne ist die Erscheinung auch ganz die nämliche, der Eindruck ist derselbe, ob ein brennender Körper der Haut plötzlich hohe Wärmegrade zuführt, oder ein eiskalter Körper sie ihr eben so schnell entführt. Der würdige Gelehrte erkannte das recht handgreiflich, als die Haut seiner Finger an dem metallenen Rohre hängen blieb. Sofort stellte er dann seine Beobachtungen ein.
Der Himmel entschädigte ihn aber reichlich durch das unbeschreiblich schöne Schauspiel seiner prachtvollsten Erscheinungen, erst der Paraselene und dann eines glühenden Nordlichtes.
Die Paraselene oder der Mondhof bildet rings um den Mond einen weißen, röthlich-bleich geränderten Kreis. Dieser Lichtabschnitt, welcher von der Brechung der Lichtstrahlen durch kleine, in der Atmosphäre schwebende Eiskrystalle herrührt, zeigte einen Durchmesser von etwa fünfundvierzig Graden. In der Mitte dieses Kranzes leuchtete das Gestirn der Nacht im lebhaftesten Glanze.
Fünfzehn Stunden später flammte über dem nördlichen Horizonte ein prächtiges Nordlicht auf, welches einen Bogen von mehr als hundert geographischen Graden einnahm. Der Gipfel des Bogens schien über dem magnetischen Meridiane zu stehen, auch war das Meteor, wie es dann und wann beobachtet wird, mit allen Farben des Prismas, unter welchen sich die rothe allerdings besonders geltend machte, geschmückt. An gewissen Stellen des Himmels erschienen die Sterne wie in Blut getaucht. Von der Nebelschicht, welche am Horizonte lagerte und den Kern der Erscheinung ausmachte, schossen manchmal Gluthstrahlen aus, die zum Theil den Zenith überschritten und den Mond erbleichen ließen, wenn er unter diese elektrischen Wellen tauchte. Diese Strahlenbündel erzitterten, als ob ein Luftstrom ihre Moleküle bewegte. Keine Beschreibung vermöchte die unerhörte Pracht dieses »Glorienscheines« wieder zu geben, welcher den Nordpol der Erde in vollem Glanze umrahmte. Dann verlöschte nach etwa einer halben Stunde, ohne daß es sich verkleinert oder concentrirt hätte, ja ohne eine auch nur theilweise Verminderung seines Lichtscheines, das glänzende Meteor ganz plötzlich, als habe eine unsichtbare Hand die Elektricitätsquellen, von denen es sich nährte, mit einem Schlage verschlossen.
Für Thomas Black war es die höchste Zeit. Noch kurze fünf Minuten, und der eifrige Astronom wäre auf der Stelle angefroren.