Jules Verne
Zwei Jahre Ferien. Zweiter Band
Jules Verne

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VIII.

Die dermalige Lage. – Vorsichtsmaßregeln. – Verändertes Verhalten. – Der Kuhbaum. – Was zu wissen nöthig war. – Ein Vorschlag Kate's. – Briant von einer Idee eingenommen. – Sein Plan. – Unterredung. – Für Morgen.

———

Die Colonie war also wieder vollzählig – ja sogar um ein Mitglied gewachsen, die gute Kate, welche in Folge eines schrecklichen Trauerspiels auf dem Meere an den Strand der Insel Chairman verschlagen worden war. Von jetzt an sollte auch wieder Einigkeit in French-den herrschen – eine Einigkeit, welche in Zukunft nichts mehr stören sollte. Wenn Doniphan noch einiges Bedauern darüber empfand, nicht das Oberhaupt der kleinen Colonie zu sein, so war er doch zu derselben ganz zurückgekehrt. Ja, die Trennung von zwei bis drei Tagen hatte ihre Früchte getragen. Mehr als einmal schon hatte er, ohne seinen Kameraden etwas davon zu sagen und ohne sein Unrecht eingestehen zu wollen, daß in ihm die Eigenliebe stärker sprach als das wirkliche Interesse, doch eingesehen, zu welcher Thorheit ihn seine Starrsinnigkeit verleitet hatte. Andererseits konnten auch Wilcox, Cross und Webb sich dieser Empfindung nicht entziehen. Nach der Opferwilligkeit, welche Briant jetzt gezeigt hatte, gab Doniphan jedoch seinen besseren Gefühlen nach, welche er auch niemals wieder verlöschen lassen wollte.

Uebrigens drohten French-den, das dem Angriffe von sieben kräftigen und bewaffneten Uebelthätern ausgesetzt war, recht ernstliche Gefahren. Ohne Zweifel lag es zwar in Walston's Interesse, die Insel Chairman so schnell als möglich wieder zu verlassen, hätte er dagegen das Vorhandensein einer kleinen, mit Allem, was ihm fehlte, reichlich ausgestatteten Colonie gemuthmaßt, so würde er vor einem Angriffe gewiß nicht zurückgeschreckt sein, bei dem die Aussicht auf Erfolg ja ganz auf seiner Seite war. Die jungen Colonisten mußten sich also wohl oder übel sehr beschränkenden Vorsichtsmaßregeln fügen, durften sich nicht mehr vom Rio Sealand entfernen und sich nicht ferner in die Umgebung des Family-lake hinauswagen, so lange Walston und seine Bande die Insel nicht verlassen hatten.

Zunächst erschien es von Wichtigkeit zu erfahren, ob Doniphan, Cross, Webb und Wilcox bei ihrer Rückkehr von den Severn-shores nach dem Bear-rock nichts bemerkt hätten, was sie auf die Vermuthung der Anwesenheit der Matrosen des »Severn« geleitet hätte.

»Nichts,« antwortete Doniphan auf eine dahinzielende Frage; »freilich haben wir, um nach der Mündung des East-river zurückzugelangen, nicht denselben Weg wie bei unserer Wanderung nach Norden hin eingeschlagen.«

»Danach erscheint es so gut wie gewiß, daß Walstone in der Richtung nach Osten gezogen ist,« bemerkte Gordon.

»Wohl möglich,« stimmte ihm Doniphan zu; »doch er hat an der Küste hinwandern müssen, während wir geraden Weges durch den Beechs-forest gekommen sind. Nehmt die Karte zur Hand, und Ihr werdet sehen, daß die Insel oberhalb der Deception-Bai einen so starken Bogen macht. Dort liegt ein ausgedehntes Gebiet, in dem die Verbrecher haben Obdach suchen können, ohne sich zu weit von der Stelle, wo ihre Schaluppe gestrandet war, zu entfernen. Doch da fällt mir ein, vielleicht wüßte Kate uns annähernd zu sagen, in welcher Gegend die Insel Chairman überhaupt liegt.«

Auf eine hierüber von Gordon an sie gestellte Frage hatte Kate keine Antwort geben können. Nach dem Brande des »Severn« und nachdem der Steuermann Evans die Schaluppenführung übernommen, war er bestrebt gewesen, das Festland Amerikas, von dem die Insel also nicht gar zu weit entfernt sein konnte, anzulaufen. Uebrigens hatte er niemals den Namen der Insel verlauten lassen, nach welcher der Sturm ihn verschlagen. Da jedoch die zahlreichen Inselgruppen der Küste in einer verhältnißmäßig geringen Entfernung von einander liegen, hatte es einige Wahrscheinlichkeit für sich, daß Walston versuchen würde, diese zu erreichen, und daß er deshalb ein Interesse daran hatte, inzwischen auf dem östlichen Ufer zu verbleiben. Gelang es ihm nämlich, sein Boot wieder in seetüchtigen Zustand zu bringen, so konnte es keine zu große Mühe kosten, es nach irgend einem Lande Südamerikas überzuführen.

»Mindestens,« bemerkte hierzu Briant, »wenn Walston, als er, nach der Mündung des East-river gelangt, nicht Spuren Deines Vorüberkommens, Doniphan, entdeckt und daraufhin beschlossen hat, seine Nachforschungen hier weiter fortzusetzen.«

»Welche Spuren?« antwortete Doniphan. »Ein Häufchen verglommener Asche? . . . Und was könnte er daraus schließen? Etwa, daß die Insel bewohnt sei? Nun, in diesem Falle denk' ich, würden die Schurken nur daran denken, sich zu verbergen . . .«

»Ganz richtig,« erwiderte Briant, »außer wenn sie sich zufällig überzeugen könnten, daß die Bevölkerung der Insel auf eine Handvoll Kinder hinauskommt. Thun wir also ja nichts, was sie davon unterrichten könnte, wer wir sind! Das veranlaßt mich auch, Dich zu fragen, Doniphan, ob Du bei Deiner Rückkehr nach der Deception-Bai etwa einzelne Flintenschüsse abgegeben hast?«

»Nein, ganz ausnahmsweise nicht,« versicherte Doniphan lächelnd, »denn ich verpaffe gern ein wenig Pulver! Seit wir die Küste verließen, waren wir jedoch hinreichend mit eßbarem Wild versehen und kein Knall hat unsere Gegenwart verrathen, kein Krachen eines Schusses hat unsere Anwesenheit kundgeben können. Gestern Nacht hätte zwar Wilcox beinahe auf den Jaguar gefeuert; glücklicher Weise kamst Du aber noch zur rechten Zeit, es zu verhindern, Briant, und – mir das Leben zu retten, indem Du das Deinige auf's Spiel setztest.«

»Ich wiederhole Dir, Doniphan, daß ich nur gethan habe, was Du an meiner Stelle nicht unterlassen hättest. – Und nun in nächster Zukunft keinen Flintenschuß mehr! – Verzichten wir auch auf den Besuch der Traps-woods und leben wir von unseren Vorräthen.«

Selbstverständlich war Briant seit seiner Heimkehr nach French-den jede Pflege zu Theil geworden, welche seine Verwundung, deren Vernarbung übrigens bald vollendet war, erforderte. Er behielt davon nur eine gewisse Behinderung der Beweglichkeit des Armes – doch auch diese verschwand schon nach kurzer Zeit gänzlich.

Inzwischen neigte sich der Monat October seinem Ende zu, ohne daß von Walston in der Umgebung des Rio Sealand etwas zu entdecken gewesen wäre. War er also nach Ausbesserung der Schaluppe wieder abgefahren? Das schien nicht unmöglich, denn, wie Kate sich erinnerte, war er in Besitz einer Axt und konnte sich auch jener starkklingigen Messer bedienen, wie sie die Matrosen stets bei sich führen; an Holz fehlte es in der Nähe der Severn-shores außerdem ja auch nicht.

Bei der Unsicherheit in dieser Beziehung, mußte immer die gewohnte Lebensweise eine Aenderung erfahren und vorzüglich konnten keine weiteren Ausflüge mehr unternommen werden, bis auf den einen, als Doniphan und Baxter auszogen, um den Signalmast niederzulegen, der doch bisher auf dem Gipfel des Auckland-hill sich erhob.

Von diesem Punkte aus betrachtete Doniphan mit dem Fernrohre die grünen Flächen, welche sich nach Osten hin erstreckten. Obwohl sein Blick nicht bis zum jenseitigen Ufer reichte, das ja durch den ganzen Beechs-forest verdeckt wurde, so hätte er es doch wahrnehmen müssen, wenn sich eine Rauchsäule in der Luft erhoben hätte – was dann darauf hinwies, daß Walston und seine Spießgesellen noch auf der Insel verweilten. Nach jener Richtung hin sah Doniphan aber nichts, ebensowenig freilich nach der der Sloughi-Bai, deren Gewässer auch weiter hinaus vollständig verlassen war.

Seit jeder Ausflug nun verboten war und seitdem die Gewehre in Ruhe gelassen werden mußten, hatten sich die Jäger der Colonie genöthigt gesehen, ihre mit Vorliebe gepflegte Thätigkeit einzustellen.

Zum Glück lieferten die in der Nähe von French-den errichteten Fallen und Schlingen eßbares Wild in ausreichender Menge, und außerdem hatten sich die Tinamus und die Trappen im Hühnerhofe so stark vermehrt, daß Service und Garnett sich gezwungen sahen, einen Theil derselben zu opfern. Da man sich ferner einen bedeutenden Vorrath an Blättern des Theebaumes gesichert und große Mengen jenes Ahornsaftes eingesammelt hatte, der sich so leicht in Zucker verwandelt, wurde es nicht nöthig, erst bis zum Dike-creek hinaus zu gehen, um diese Vorräthe zu erneuern. Und selbst wenn der Winter eintrat, bevor die jungen Colonisten ihre Freiheit wieder erlangt hatten, waren sie hinreichend mit Oel für ihre Laternen und mit Fleischspeisen für die Küche versehen. Nur Brennmaterial allein mußte hereingeholt werden, das fand sich aber in den umgestürzten Stämmen der Bog-woods, welche auf kurzem Wege längs des Rio Sealand ohne besondere Gefahr zu erreichen waren.

In jener Zeit trug sogar eine neue Entdeckung zu dem Wohlbefinden in French-den noch weiter bei.

Diese Entdeckung verdankte man nicht Gordon, der übrigens recht umfassende Kenntnisse in der Botanik besaß, sondern Kate war es, welcher das Verdienst für dieselbe zufiel.

Am Rande der Bog-woods stand nämlich eine gewisse Anzahl Bäume, die fünfzig bis sechzig Fuß in der Höhe messen mochten. Wenn diese bisher von der Axt verschont geblieben waren, rührte das daher, daß ihr sehr faseriges Holz die Koch- und Heizöfen der Halle und der Einfriedigung nur sehr unzulänglich erhitzt hätten. Sie trugen längliche, an den Knoten der Zweige wechselständig sitzende Blätter, deren Ende in eine scharfe Spitze auslief.

Gleich das erste Mal – am 25. October – als Kate diese Bäume erblickte, rief sie:

»Ah! . . . Da sind ja Kuhbäume!«

Dole und Costar, welche sie begleiteten, schlugen darüber ein helles Gelächter auf.

»Was, Kuhbäume?« sagte der Eine.

»Fressen die Kühe diese Bäume?« fragte der Andere.

»Nein, Ihr kleinen Papooses, nein,« antwortete Kate, »daß man sie so nennt, kommt daher, weil sie Milch geben, und sogar bessere Milch als Eure Vigogne-Schafe.«

Nach French-den zurückgekehrt, machte Kate Gordon von ihrer Entdeckung Meldung. Gordon rief sofort Service herzu und Beide begaben sich mit Kate noch einmal nach dem Saume der Bog-woods. Nachdem er den Baum aufmerksam betrachtet, meinte Gordon, er müsse zu den »Galactodendrons« gehören, welche in den Wäldern Nordamerikas in großer Menge vorkommen, und er täuschte sich hierin auch nicht.

Eine kostbare Entdeckung! In der That genügte es, einen Einschnitt in die Rinde dieser Galactodendrons zu machen, um einen milchähnlichen Saft ausfließen zu lassen, der den Geschmack und die ernährenden Eigenschaften der Kuhmilch hat. Außerdem bildet dieser Saft, wenn man ihn gerinnen läßt, eine vorzügliche Art Käse und liefert daneben ein sehr reines Wachs, das dem Bienenwachs vergleichbar und zur Anfertigung von sehr schönen Kerzen verwendbar ist.

»Ei nun,« rief Service, »wenn das ein Kuhbaum oder vielmehr eine Baumkuh ist, dann müssen wir sie auch melken!«

Ohne eine Ahnung davon zu haben, gebrauchte der übermüthige Knabe hiermit denselben Ausdruck, dessen sich die Indianer stets bedienen, indem diese gewöhnlich sagen: »Ans Werk, wir wollen den Baum melken!«

Gordon machte also einen Schnitt in die Rinde des Galactodendrons und aus diesem floß ein Saft hervor, von dem Kate reichlich zwei Pinten in einem mitgebrachten Gefäße auffing.

Es war das eine schön weiße, appetitlich aussehende Flüssigkeit, welche die nämlichen Bestandtheile wie die Kuhmilch enthält. Dieselbe ist aber noch nahrhafter, konsistenter und von viel angenehmerem Geruche. Das Gefäß wurde in French-den sehr schnell geleert und Costar befleckte sich damit den Mund wie eine junge Katze. Bei dem Gedanken, was er daraus Alles herzustellen vermochte, verhehlte auch Moko seine ganz besondere Befriedigung nicht. Zu sparen brauchte er hiermit auch nicht, denn jene »Heerde« von Galactodendrons, welche in großer Menge so vorzügliche Pflanzenmilch lieferte, stand ganz in der Nähe.

In der That, und das kann nicht oft genug wiederholt werden, hätte die Insel Chairman auch die Bedürfnisse einer weit größeren Colonie decken können, und jedenfalls war das Leben der Knaben hier auf lange Zeit hinaus völlig gesichert. Außerdem machte das Erscheinen Kate's unter ihnen, die Pflege, welche sie von dieser wohlwollenden Frau erwarten konnten, der sie eine wirklich mütterliche Liebe einflößten, dasselbe nur um so leichter und angenehmer.

Warum mußte nun aber die frühere Sicherheit auf der Insel Chairman so traurig gestört werden! Welch' wichtige Entdeckungen hätten Briant und seine Kameraden ohne Zweifel noch gemacht, wenn sie auch die fast ganz unbekannten östlichen Gebietstheile hätten genauer untersuchen können, ein Vorhaben, auf das sie gegenwärtig natürlich verzichten mußten, und würde es ihnen jemals gestattet sein, ihre Ausflüge wieder aufzunehmen, bei denen sie sich nur gegen die Begegnung mit Raubthieren zu schützen hatten, mit minder gefährlichen Raubthieren, als jene Bestien in Menschengestalt, gegen die sie jetzt Tag und Nacht auf ihrer Hut sein mußten?

Bis zu den ersten Tagen des Novembers wurden indeß keine verdächtigen Spuren in den Umgebungen von French-den aufgefunden. Briant legte sich schon die Frage vor, ob die Matrosen vom »Severn« wirklich noch auf der Insel wären. Doniphan hatte jedoch mit eigenen Augen gesehen, in welch' traurigem Zustande deren Boot sich befand, daß dessen Mast abgebrochen, sein Segel zerrissen und seine Planken durch die Spitzen der Riffe durchlöchert waren. Freilich, und dem Steuermanne Evans konnte das nicht unbekannt sein, wenn die Insel Chairman in der Nähe eines Festlandes oder einer Inselgruppe lag, so konnte die nothdürftig ausgebesserte Schaluppe wohl benützt werden, um eine verhältnißmäßig kurze Ueberfahrt damit zu wagen. Es war also glaublich, daß Walston Alles daran gesetzt haben könne, die Insel zu verlassen . . . Darüber mußte man sich jedoch erst Gewißheit verschaffen, ehe die gewohnte Lebensweise wieder aufgenommen werden konnte.

Mehrmals hatte Briant schon die Absicht gehabt, nach der Gegend im Osten des Family-lake auf Erkundigung auszuziehen. Doniphan, Baxter, Wilcox verlangten nun danach, ihn begleiten zu können. Sich aber der Gefahr auszusetzen, Walston in die Hände zu fallen und diesem damit Aufklärung zu geben, mit wie wenig zu fürchtenden Gegnern er es hier zu thun habe, das hätte leicht die bedauerlichsten Folgen nach sich ziehen können. Deshalb redete es denn Gordon, dessen Rath noch immer williges Gehör fand, Briant aus, sich in die Tiefen des Beechs-forest zu wagen.

Da machte Kate einen Vorschlag, der nichts von diesen Gefahren fürchten ließ.

»Herr Briant,« begann sie eines Abends, als die jungen Colonisten alle in der Halle versammelt waren, »wollen Sie mir gestatten, Sie morgen mit Tagesanbruch zu verlassen?«

»Uns verlassen, Kate?« fragte Briant.

»Ja, Sie können nicht immer in dieser Ungewißheit bleiben, und um zu erfahren, ob Walston noch auf der Insel ist, erbiete ich mich nach der Stelle zu gehen, nach welcher wir durch den Sturm verschlagen wurden. Ist die Schaluppe noch daselbst, so hat Walston nicht wegfahren können . . . Ist sie nicht mehr zur Stelle, so haben Sie nichts mehr von ihm zu fürchten.«

»Was Sie da thun wollen, Kate,« erklärte Doniphan, »ist genau dasselbe, was wir, Briant, Baxter, Wilcox und ich, uns schon selbst vorgenommen hatten.«

»Zugegeben, Herr Doniphan,« erwiderte Kate. »Doch was für Sie sehr gefährlich war, kann es ja für mich nicht sein.«

»Doch, Kate,« ließ Gordon sich vernehmen, »wenn Sie nun Walston wieder in die Hände fallen . . .«

»Nun,« antwortete Kate, »dann befinde ich mich nur in derselben Lage wie vorher, als ich entfloh, das ist Alles.«

»Und wenn der Elende Sie gar umbringt, was ja gar nicht unwahrscheinlich ist? . . .« meinte Briant.

»O, wenn ich ihm das erste Mal entgangen bin,« gab Kate zuversichtlich zur Antwort, »warum sollte mir das nicht ein zweites Mal gelingen, zumal wo ich jetzt den Weg nach French-den kenne? Und wenn es sich nun gar fügte, daß ich mit Evans entfliehen könnte, dem ich Alles, was Sie betrifft, gleich mittheilen würde, wie hilfreich, wie nützlich müßte der wackere Master für Sie Alle werden!«

»Wenn Evans die Möglichkeit zur Flucht geboten wäre,« wandte Doniphan ein, »warum sollte er sie noch nicht benützt haben? . . . Treibt ihn nicht das nämliche Interesse, sich zu retten? . . .«

»Doniphan hat Recht,« sagte Gordon. »Evans kennt das Geheimniß Walston's und seiner Spießgesellen, die sich gar nicht besinnen würden, ihn zu tödten, wenn sie seiner nicht zur Führung der Schaluppe nach dem Festlande Amerikas bedürften. Wenn er sich ihrer Gesellschaft also noch nicht entzogen hat, kann es nur daran liegen, daß er jeden Augenblick scharf überwacht wird . . .«

»Oder daß er einen Fluchtversuch schon mit dem Leben bezahlt hat!« setzte Doniphan hinzu. »Und auch Sie, Kate, wenn Sie wieder gefangen würden . . .«

»Glauben Sie mir,« versicherte Kate, »daß ich alles Mögliche thun werde, mich nicht wieder ergreifen zu lassen.«

»Daran zweifl' ich nicht,« antwortete Briant, »wir werden aber nie zugeben, daß Sie sich dieser Gefahr aussetzen. Nein, es ist doch besser, ein minder gefährliches Mittel zu ersinnen, um zu erfahren, ob Walston sich noch auf der Insel Chairman befindet.«

Da Kate's Vorschlag entschieden zurückgewiesen worden war, galt es nun blos, ohne Begehung einer Unklugheit, auf der Wacht zu sein. War Walston überhaupt in der Lage, die Insel zu verlassen, so that er das gewiß vor Eintritt der schlechten Jahreszeit, um nach einem Lande zu kommen, wo er und die Seinigen einen Empfang fanden, wie man ihn Schiffbrüchigen, diese mögen kommen, woher sie wollen, gewöhnlich zu Theil werden läßt.

Angenommen übrigens, daß Walston noch hier war, so schien er doch kaum die Absicht zu haben, das Innere weiter zu untersuchen. Wiederholt fuhren Doniphan, Briant und Moko in dunklen Nächten mit der Jolle über den Family-lake hin, beobachteten dabei aber niemals, weder am entgegengesetzten Ufer noch unter den den East-river umgebenden Bäumen den Schein eines verdächtigen Feuers.

Immerhin blieb es sehr peinlich, unter diesen Verhältnissen zu leben, ohne den zwischen dem Rio Sealand, dem See, dem Walde und dem Steilufer gelegenen Raum überschreiten zu dürfen. Briant sann deshalb auch unausgesetzt auf ein Mittel, sich wegen der Anwesenheit Walston's Gewißheit zu verschaffen und gleichzeitig auszukundschaften, wo er etwa sein Lager aufgeschlagen habe. Um das zu erreichen, genügte es vielleicht, sich während der Nacht einmal zu einer gewissen Höhe zu erheben.

Daran dachte auch Briant und dieser Gedanke verwandelte sich in ihm allmählich zur fixen Idee. Leider enthielt die Insel Chairman, abgesehen von dem Steilufer, dessen Kamm eine Höhe von zweihundert Fuß auch nirgends überschritt, keine einzige bedeutendere Bodenerhebung. Viele Male hatten sich Doniphan und zwei oder drei Andere nach dem Gipfel des Auckland-hill begeben, konnten von dieser Stelle aus aber nicht einmal das jenseitige Ufer des Family-lake erblicken, also hätte ihnen auch kein Rauch, kein Feuerschein über dem östlichen Horizonte wahrnehmbar werden können. Es war vielmehr nothwendig, sich um einige hundert Fuß höher zu erheben, um einen Gesichtskreis zu gewinnen, der sich bis zu den ersten Felsen der Deception-Bai hinaus erstreckte.

Da erwachte in Briant eine so kühne – man könnte sagen »tollhäuslerische« – Idee, daß er sie anfänglich selbst zurückwies. Sie bemächtigte sich seiner nach und nach aber mit solcher Hartnäckigkeit, daß sie endlich in seinem Gehirne tiefe Wurzeln schlug.

Wie wir wissen, war das Vorhaben mit dem Drachen seinerzeit unterbrochen worden. Nach der Auffindung Kate's und nach deren Meldung, daß die Schiffbrüchigen vom »Severn« noch auf der östlichen Küste weilten, hatte man auf das Project verzichten müssen, einen Apparat in die Luft aufzulassen, der von allen Punkten der Insel sichtbar gewesen wäre.

Doch, wenn dieser Drache nicht mehr als Signal verwendet werden konnte, war es da nicht möglich, ihn zum Zwecke der wegen der Sicherheit der Insel so dringend nöthigen Auskundschaftung zu verwerthen?

Gewiß, und an diesen Gedanken eben klammerte sich Briant. Er erinnerte sich, in einer englischen Zeitschrift gelesen zu haben, daß eine Frau gegen Ende des letzten Jahrhunderts so kühn gewesen sei, an einem eigens für diesen gefährlichen Aufstieg hergestellten Drachen hängend, sich in die Lüfte zu erheben.Was Briant plante, sollte später in Frankreich ausgeführt werden. Wenige Jahre darauf hat wirklich ein solcher Drache von siebenundzwanzig Fuß Länge bei vierundzwanzig Fuß Breite und von achteckiger Gestalt einen Sack mit Erde im Gewichte von siebenzig Kilogramm bequem mit in die Höhe gehoben. Das Gewicht des Apparates betrug übrigens selbst hundertdreizehn Kilogramm, wovon achtundsechzig Kilogramm auf das Gestell und fünfundvierzig Kilogramm auf die Leinwand und das Halteseil kamen.

Was aber eine Frau ausgeführt hatte, sollte das ein kräftiger Knabe nicht auch wagen können? Daß sein Vorhaben mit einiger Gefahr verknüpft war, kümmerte ihn sehr wenig. Das Risico dabei erschien ihm verschwindend gegenüber den Erfolgen, die er zu erzielen hoffte, und wenn alle von der Vorsicht gebotenen Maßregeln ergriffen wurden, war ja nicht wenig Aussicht vorhanden, daß der kühne Versuch vollständig glückte. Deshalb wiederholte sich Briant auch immer, obwohl er nicht im Stande war, mathematisch die Steigkraft, welche ein Apparat dieser Art haben mußte, zu berechnen, daß dieser Apparat doch vorhanden war und es schon hinreichen würde, ihm größere Ausdehnung und mehr Festigkeit zu verleihen. Erhob er sich dann mittels desselben in der Nacht einige hundert Fuß hoch in die Luft, so gelang es ihm vielleicht, den Schein eines Lagerfeuers auf der Insel, und zwar allen Voraussetzungen nach in dem Theile derselben zwischen dem Binnensee und der Deception-Bai, zu entdecken.

Es wäre ein Unrecht, über die Idee des wackeren und zu jedem Wagestücke entschlossenen Knaben die Achseln zu zucken. Unter dem Drucke der ihn beherrschenden Vorstellung war er dahin gelangt, sein Vorhaben nicht allein für ausführbar zu halten – nach dieser Seite konnte ja eigentlich kein Zweifel aufkommen – sondern es auch für gefahrloser anzusehen, als es ihm anfangs selbst vorkam.

Jetzt handelte es sich für ihn also nur noch um die Zustimmung seiner Kameraden, und am Abende des 4., nachdem er Gordon, Doniphan, Wilcox, Webb und Baxter um eine vertrauliche Unterredung ersucht, setzte er diese in Kenntniß, daß er den Drachen zu benützen gedenke.

»Benützen? . . .« fragte Wilcox. »Und wie verstehst Du das? . . . Willst Du ihn jetzt noch aufsteigen lassen?«

»Gewiß,« antwortete Briant, »weil ich voraussetze, wir hätten ihn doch zu diesem Zwecke angefertigt.«

»Während des hellen Tages?« erkundigte sich Baxter weiter.

»Nein, Baxter; da würde er der Wahrnehmung Walston's schwerlich entgehen, während der Nacht dagegen . . .«

»Wenn Du dann eine Laterne daran hängst,« fiel ihm Doniphan ins Wort, »wird er ebenfalls dessen Aufmerksamkeit erregen.«

»So hänge ich eben keine Laterne daran.«

»Wozu soll er dann aber nützen? . . .« fragte Gordon.

»Zur Aufklärung darüber, ob die Mannschaft vom ›Severn‹ noch auf der Insel ist.«

Briant setzte nun sein Vorhaben nicht ohne die Befürchtung, es nur mit wenig ermuthigendem Kopfschütteln aufgenommen zu sehen, in wenigen Worten näher auseinander.

Seinen Kameraden fiel es gar nicht ein, darüber zu lachen. Sie spürten nicht die geringste Veranlassung dazu, und bis auf Gordon, der sich fragte, ob Briant wirklich im Ernste spreche, schienen die Anderen sehr geneigt, ihm völlig beizustimmen. Die jungen Leute hatten sich jetzt thatsächlich so sehr an Gefahren jeder Art gewöhnt, daß eine unter diesen Verhältnissen unternommene nächtliche Auffahrt ihnen ganz ausführbar erschien. Uebrigens galt es ihnen als selbstverständlich, daß dabei jede denkbare Maßregel zur Sicherstellung des Erfolges getroffen werde.

»Wäre aber,« bemerkte Doniphan, »das Gewicht eines Beliebigen von uns nicht zu groß für den Drachen, wie wir diesen hergestellt haben?«

»Gewiß,« antwortete Briant. »Natürlich werden wir ihn vergrößern und sein Gestell verstärken müssen.«

»Ich möchte überhaupt wissen,« sagte Wilcox, »ob der Widerstand eines solchen Drachen je so groß sein könne . . .«

»Das ist wohl nicht zweifelhaft,« fiel ihm Baxter ins Wort.

»Und obendrein durch den Versuch schon bewiesen,« setzte Briant hinzu.

Er berichtete darauf von der obenerwähnten Frau, welche vor wenigen Jahren eine solche Auffahrt mit Erfolg ausgeführt hatte.

Dann fuhr er fort:

»Alles hängt aber dabei von den Größenverhältnissen des Apparates und von der Stärke des Windes beim Aufsteigen ab.«

»Welche Höhe, Briant,« fragte Baxter, »glaubst Du mit Rücksicht auf Deinen Zweck erreichen zu müssen?«

»Wenn man sechs- bis siebenhundert Fuß hinaufkäme,« antwortete Briant, »so müßte wohl von jedem beliebigen Theile der Insel her ein Feuer wahrzunehmen sein.«

»Gut, das ist also auszuführen,« rief Service, der dem Gespräche auch mit gelauscht hatte, »und zwar ohne jedes Zögern! Ich für meinen Theil hab' es herzlich satt, an jeder freien Bewegung gehindert zu sein.«

»Und wir ebenso, jetzt schon so lange unsere Fallen nicht mehr nachsehen zu können,« schloß Wilcox sich diesem an.

»Und ich nicht minder, meine Flinte gar nicht mehr abfeuern zu dürfen,« setzte Doniphan hinzu.

»Auf morgen also!« sagte Briant.

Als er sich dann mit Gordon allein befand, fragte dieser:

»Sage mir, Briant, ist es wirklich Dein Ernst, ein solch' halsbrecherisches Unternehmen zu wagen? . . .«

»Ich will es mindestens versuchen, Gordon.«

»Es ist aber höchst gefährlich!«

»Vielleicht weniger, als wir uns vorstellen.«

»Und wer von uns wird erbötig sein, bei diesem Versuche sein Leben auf's Spiel zu setzen?«

»Du, Gordon, Du selbst wärst sicherlich der Erste, wenn das Los Dich dazu bestimmte!«

»Soll denn darüber eine Losung entscheiden, Briant? . . .«

»Nein, Gordon; wer von uns sich dieser Aufopferung unterzieht, der soll es aus freiem Entschlusse thun.«

»Deine Wahl ist wohl schon getroffen, Briant? . . .«

»Vielleicht!«

Und Briant drückte warm die Hände Gordon's.

 


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