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Einleitung

Das Sujet dieses phantastischen Romans bildet die ebenso eigentümliche wie seltene atmosphärische Erscheinung, die bei völlig klarem, wolkenlosem Horizont inmitten der Purpurgluten der untergehenden Sonne einen einzigen schmalen Strahl von grünem Lichte hervorzaubert. Es ist nicht das Grün der sommerlichen Bäume, das dem Menschenauge so wohltut, es ist nicht das Grün der See – es ist eine Nuance, die eben nur bei einer glücklichen Vereinigung seltener Zufälle in die Erscheinung tritt; und diesen grünen Strahl zu sehen, ist die Grille der jungen Hochländerin, die als ein echtes Kind ihrer sagenreichen und märchenhaft schönen Heimat für alles Schöne und Große schwärmt. Miß Campbell ist bei aller Extravaganz eine so hochherzige und liebenswürdige Dame, daß wir ihr unsere vollste Sympathie zollen müssen und ihr den Eigensinn nicht verübeln können, mit dem sie auf der Erfüllung ihres Wunsches beharrt.

Sie hat nun freilich das Glück, dies auf alle mögliche Weise versuchen zu können; denn ihre beiden zärtlichen Verwandten, Onkel Sam und Onkel Sib, sind nicht imstande, ihr irgend ein Anliegen abzuschlagen, und hätten sich auch bereit erklärt, in das ewige Eis des Nordpols oder in die sengenden Gluten des Aequators mit ihr zu ziehen, wenn es nötig gewesen wäre.

So folgen sie ihr nach den Hebriden und warten geduldig, bis es dem Himmel, der Sonne und der Luft gefallen möge, den grünen Strahl hervorzubringen. Die Zeit wird ihnen nicht lang; denn die Naturwunder dieses Archipels sind sehenswert, und jede der zahlreichen Grotten und Höhlen hat ihre eigenen Schönheiten.

»Alle Hebriden,« schreibt F. von Hellwald, »sind öde und baumlos, mit steilen, oft lotrecht ins Meer stürzenden Küsten und oft nicht unbeträchtlichen Gipfelerhebungen. Die größte Vollkommenheit und Schlankheit, verbunden mit bedeutender Höhe, erreichen die Basaltsäulen des berühmten Inselfelsens von Staffa, ausgezeichnet durch die gefeierte Fingalshöhle. Schwer ist der wunderbare Anblick zu beschreiben, welchen hier die unzähligen Basaltsäulen bieten, die in tiefstem Schwarz nebeneinander als Seitenwände ausstreben oder von der Decke herniederschießen, während die eindringende Meerflut unten in bunten Farben schillert, und sich dem Rückwärtsschauenden wie durch einen Bilderrahmen hindurch der ungehemmte Blick auf den offenen Ozean darbietet.«

Angesichts dieser bizarren, bezaubernden Natur erwacht der Charakter der jungen Schottin, und es ist nicht zu verwundern, daß nun ein Mann wie Aristobulos Ursiklos – ein »kalter hölzerner Franz« – ein klägliches Fiasko erleidet, und das Herz Helenas sich dem geistesverwandten Olivier zuwendet, der zum Zwecke künstlerischer Studien die schöne Wüstenei der Hebriden durchwandert. –

Die Geduld der Brüder Melvill wird auf eine harte Probe gestellt; denn erstens zerschlägt sich ihre Lieblingsidee, daß Helena und Aristobulos ein Paar werden mögen, und zweitens will sich der grüne Strahl absolut nicht sehen lassen. Einmal ist der Horizont bewölkt, ein andermal steigt im entscheidenden Moment ein Schwarm Vögel auf, ein drittesmal fährt ein Boot vorüber – kurz, alle möglichen Mißhelligkeiten treten der Erfüllung ihres Wunsches entgegen.

Zuletzt gerät noch gar ihre angebetete Nichte in Lebensgefahr in der Fingalshöhle selbst – in jener märchenhaften Grotte, derengleichen die Erde nicht mehr trägt, in jenem Tempel der Natur, in welchem das ewig rauschende Wasser das erhabenste Loblied des Schöpfers brausend singt – und natürlich setzt Olivier Sinclair sein Leben daran, die Schöne zu retten, die es ihm schon längst angetan hat.

Aber gerade der furchtbare Sturm, der diese Gefahr mit sich gebracht hat, bringt auch die Entscheidung mit sich. Am Abend des anderen Tages ist der Himmel klar und hell – und sie sehen den »grünen Strahl!« Jedoch die Ironie des Schicksals läßt Miß Campbell auf eigenartige Weise dafür büßen, daß sie ihre gutmütigen Verwandten so lange mit ihrem »grünen Strahl« auf die Folter gespannt hat; denn sie sieht ihn nicht! Im entscheidenden Moment versenkt sie den Blick in das Auge Oliviers, und es ist ein anderer Strahl, dessen Zauber sie jetzt umstrickt – es ist der Strahl der Hoffnung auf ein langes, ungetrübtes Glück an der Seite des Geliebten. –

Vielleicht dachte sie in diesem Augenblick an die Worte ihres Lieblingsdichters Ossian:

Gelegt hat sich der stürmische Wind,
Fernher dringt des Waldstroms Gemurmel,
Rauschende Wogen branden am Felsen,
Fliegen des Abends schwärmen auf schwachen.
Luftigen Schwingen durch das Gefild!
Wonach blickst Du, Du schönes Licht?
Doch Du lächelst und schwindest hinweg.
Die Wogen umgaukeln mit Freuden Dich
Und baden das liebliche Haar Dir.
Lebwohl, Du schweigender Strahl,
Erwecke das Licht in Ossians Geist!

P. O.


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