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Einen Monat später – es war am Abend des 20. August – verabschiedeten sich Simon Ford und Madge mit den herzlichsten Glückwünschen von vier Touristen, welche im Begriff standen, die Cottage zu verlassen.
James Starr, Harry und Jack Ryan wollten Nell nach der Erdoberfläche führen, die ihr Fuß bis jetzt noch nie betrat; in die lichtstrahlende Oberwelt, deren Glanz ihre Augen noch nicht kannten.
Der Ausflug sollte auf zwei Tage ausgedehnt werden. James Starr wollte, mit Harry's Übereinstimmung, daß das junge Mädchen nach einem achtundvierzigstündigen Aufenthalte in der Oberwelt Alles das gesehen habe, was sie in dem Kohlenwerke niemals sehen konnte, d.h. die verschiedensten Bilder von der Erde, so als rolle sich ein bewegliches Panorama mit Städten, Landschaften, Bergen, Flüssen, Seen, Buchten und Meeren vor ihren Augen ab.
Gerade in diesem Theile Schottlands, zwischen Edinburgh und Glasgow, schien die Natur alle jene Erdenwunder zusammengehäuft zu haben; der Himmel bot ja hier wie überall denselben Anblick, mit seinen wechselnden Wolken, dem heiteren oder verschleierten Monde, der strahlenden Sonne und dem flimmernden Sternenheere.
Man hatte für den beabsichtigten Ausflug Alles in der Weise verabredet, daß Nell möglichst viel zu sehen bekommen sollte.
Auch Simon Ford und Madge hätten Nell gar so gern begleitet; wir wissen aber, daß sie die Cottage nur sehr ungern verließen, und so kamen sie schließlich zu dem Entschlusse, sich von ihrer unterirdischen Wohnung auch nicht einen Tag zu entfernen.
James Starr ging mit als Beobachter, als Philosoph, der vom psychologischen Standpunkte sehr gespannt auf die Folgen der fremdartigen Eindrücke, welche Nell erhalten sollte, wartete, während er dabei gleichzeitig hoffte, vielleicht etwas von den geheimnißvollen Ereignissen während ihrer Kindheit zu erfahren.
Harry fragte sich, nicht ohne einige Befürchtungen, ob aus dem jungen Mädchen, das er liebte, durch die schnelle Einführung in die Außenwelt nicht vielleicht ein ganz anderes werden möge.
Jack Ryan war lustig wie ein Buchfink, der mit den ersten Sonnenstrahlen hinausflattert. Er hoffte, seine ansteckende, übermüthige Freude werde sich auch den Anderen mittheilen. Das war so seine Art, eine freundliche Aufnahme zu vergelten.
Nell erschien nachdenklich und in sich versunken.
James Starr hatte, gewiß nicht mit Unrecht, darauf bestanden, des Abends aufzubrechen, da es für das junge Mädchen unzweifelhaft besser sein mußte, nur durch unmerkliche Übergänge von der Finsterniß zum Lichte zum ersten Male den Tag zu schauen. Das erreichte man aber durch den Aufbruch am Abend, wobei ihre Augen von Mitternacht bis Mittag sich ganz allmälig an die Helligkeit der Außenwelt gewöhnen konnten.
Als man die Cottage eben verlassen wollte, ergriff Nell Harry's Hand und sagte:
»Harry, ist es denn so nöthig, daß ich unsere Kohlengrube, und wenn auch nur auf wenige Tage, verlassen soll?«
»Ja, Nell,« erwiderte der junge Mann, »es muß sein! Um Deinet- und um meinetwillen.«
»Und doch, Harry,« fuhr Nell fort, »fühle ich mich seit dem Tage meiner Errettung durch Dich so glücklich, wie man nur jemals sein kann. Du hast mich ja unterrichtet? Ist das noch nicht genug? Was soll ich denn da oben?«
Harry sah sie schweigsam an. Die von Nell ausgesprochenen Gedanken waren fast ganz auch die seinigen.
»Meine Tochter,« begann da James Starr, »ich begreife Dein Zaudern recht wohl. Und doch ist es gut, daß Du mit uns gehst. Die, welche Du liebst, begleiten Dich und werden Dich auch zurückführen. Willst Du dann Dein Leben auch ferner in dem Kohlenwerke verbringen, wie der alte Simon, wie Madge und Harry, so steht Dir das ja frei! Ich zweifle nicht daran und würde diese Entscheidung sogar gern sehen. Du wirst dann aber wenigstens beurtheilen können, was Du ausschlägst und was Du annimmst, um ganz nach freiem Willen zu handeln. Komm also!«
»Komm, liebe Nell,« bat auch Harry.
»Harry, ich bin bereit, Dir zu folgen!« antwortete das junge Mädchen.
Um neun Uhr führte der letzte Zug durch den Tunnel Nell und ihre Begleiter nach der Oberfläche der Grafschaft. Zwanzig Minuten später stiegen sie an dem Bahnhofe aus, in dem eine speciell für Neu-Aberfoyle hergestellte Zweigbahn der Eisenbahn von Dumbarton nach Stirling mündet.
Schon herrschte tiefe Dunkelheit. Vom Horizont nach dem Zenith bewegten sich in großer Höhe noch einige leichte Dünste, welche eine erfrischende Brise aus Nordwesten dahin trieb.
In Dumbarton angekommen, verließen Nell und ihre Begleiter sofort den Bahnhof.
Vor ihnen dehnte sich zwischen großen Bäumen eine lange, nach dem Ufer des Forth führende Straße aus.
Der erste physische Eindruck, den das junge Mädchen empfand, war der der reinen Luft, die ihre Lungen begierig einsogen.
»Athme recht tief, Nell,« sagte James Starr, »sauge sie ein, diese Luft mit allen belebenden Gerüchen der Landschaft.«
»Was ist das für Rauch, der da über uns hinzieht?« fragte Nell.
»Das sind Wolken,« erklärte Harry, »halb verdichtete Dunstmassen, die der Wind vor sich her treibt.«
»O,« rief Nell, »wie gern flög ich mit ihnen dahin. Aber was sind das für leuchtende Punkte, welche dort durch die Lücken in den Wolken schimmern?«
»Das sind die Sterne, von denen ich Dir erzählte, Nell. Es sind ebensoviele Sonnen, ebensoviele Mittelpunkte von Welten, welche wahrscheinlich der unsrigen gleichen.«
Jetzt traten die Sternbilder auf dem dunkelblauen Firmamente, das der Nachtwind rein fegte, deutlicher hervor.
Nell betrachtete die unzähligen Sterne, die über ihrem Kopfe kreisten.
»Aber,« sagte sie, »wenn das Sonnen sind, wie kommt es, daß meine Augen deren Glanz vertragen?«
»Mein Kind,« bemerkte James Starr, »das sind wirklich Sonnen, aber solche, welche in unmeßbarer Ferne von uns wandeln. Der nächste dieser Sterne, deren Strahlen bis zu uns gelangen, ist die Wega, im Sternbild der Leier, welche Du dort nahe dem Zenith erblickst, und doch ist diese noch fünfzigtausend Milliarden Lieues von uns entfernt.«
»Ihr Glanz kann Dich hier also nicht blenden. Unsere Sonne aber wird morgen früh in einer Entfernung von achtunddreißig Millionen Lieues aufgehen, und kein menschliches Auge vermag sie direct anzusehen, denn sie leuchtet mehr als ein Schmelzofen. Doch komm jetzt, Nell, komm!«
Man wandte sich nach jener Straße. James Starr führte das junge Mädchen an der Hand. Harry ging auf ihrer anderen Seite. Jack Ryan lief hin und her, wie ein junger Hund, wenn ihm sein Herr zu langsam geht.
Der Weg war menschenleer. Nell sah die Schattenrisse der großen vom Winde etwas bewegten Bäume an der Seite. Sie hielt dieselben für Riesen, welche ihre hundert Arme bewegten. Das Geräusch des Windes in den hohen Ästen, das tiefe Schweigen, wenn jener sich legte, die weite Linie des Horizontes, wenn die Straße eine Ebene durchschnitt. Alles erfüllte sie mit neuen Empfindungen und prägte sich ihrem Geiste mit unverlöschlichen Zügen ein. Während sie zuerst eifrig Fragen stellte, schwieg Nell jetzt, und ihre Begleiter unterbrachen, wie durch gemeinsame Übereinkunft, dieses Schweigen nicht. Sie wollten durch ihre Worte die empfindliche Einbildungskraft des jungen Mädchens nicht störend beeinflussen, sondern ihre Gedanken über das Alles sich ganz von selbst entwickeln lassen. Gegen halb zwölf Uhr erreichten sie das nördliche Ufer am Golf des Forth.
Dort erwartete sie eine schon vorher von James Starr gemiethete Barke, welche die kleine Gesellschaft in wenigen Stunden nach dem Hafen von Edinburgh überführen sollte.
Nell sah das zitternde und am Strande in Folge der Brandung leicht schäumende Wasser, welches mit flimmernden Sternen besetzt schien.
»Ist das ein See?« fragte sie.
»Nein,« antwortete Harry, »das ist ein Golf mit fließendem Wasser, die Mündung eines Stromes, oder fast schon ein Meeresarm. Schöpfe ein wenig von diesem Wasser mit der hohlen Hand, Nell, und Du wirst sehen, daß es ganz anders schmeckt als das aus dem Malcolmsee.«
Das junge Mädchen bückte sich, tauchte die Hand ein und führte sie an die Lippen.
»Dieses Wasser ist salzig,« sagte sie.
»Ja,« bestätigte Harry, »es ist jetzt die Zeit der Fluth, bei der das Meerwasser bis hierher eindringt. Fast drei Viertel der ganzen Erdoberfläche sind mit solchen Salzwasser, von dem Du eben einige Tropfen kostetest, bedeckt.«
»Wenn das Wasser der Flüsse aber kein anderes ist, als solches aus dem Meere, das jenen die Wolken zuführten, warum ist dieses süß?« fragte Nell.
»Weil das Wasser bei der Verdunstung seinen Salzgehalt verliert,« erklärte ihr James Starr. »Die Wolken bilden sich nun allein durch Verdunstungsprocesse und verbreiten das reine Wasser aus dem Meere durch den Regen über die Länder.«
»Harry, Harry,« rief da plötzlich das junge Mädchen, »was ist das für ein röthlicher Schein am Horizonte? Brennt dort vielleicht ein ganzer Wald?«
Nell zeigte dabei nach einem Punkte am Ost-Himmel, wo sich die niedrigen Dunstmassen zu färben begannen.
»Nein, liebe Nell,« antwortete Harry. »Dort wird der Mond aufgehen.«
»Ja wohl, der Mond,« fiel Jack Ryan ein, »eine herrliche Silberschale, welche die Genien des Himmels am Firmament vorüber gleiten lassen, und die ein ganzes Heer von Sternen aufnimmt.«
»Wahrlich, Jack,« bemerkte der Ingenieur, »ich kannte Dich bis jetzt noch nicht als Liebhaber so kühner Vergleiche.«
»Nun, Herr Starr, ich denke, mein Vergleich ist richtig. Sie sehen, daß die Sterne in demselben Maße verschwinden, als der Mond aufsteigt. Ich nehme also an, daß sie in jenen hineinfallen!«
»Sagen wir, Jack,« entgegnete der Ingenieur, »daß der Mond durch seinen Glanz das Licht der Sterne in sechster Größe verdunkelt, und deshalb verschwinden diese, so lange er am Himmel steht.«
»O, wie schön ist das Alles,« rief Nell, welche ganz in ihrem Blicke lebte. »Aber ich glaubte, der Mond sei ganz rund?«
»Rund erscheint er, wenn er voll ist,« antwortete James Starr; »das heißt, wenn er sich in Opposition zur Sonne befindet. Heute steht er im letzten Viertel, ein Theil seiner Scheibe wird dabei fast unsichtbar und die Silberschale unseres Freundes Ryan schrumpft zu einem – Barbierbecken zusammen.«
»O, Herr Starr,« wandte Jack Ryan ein, »welch' entwürdigender Vergleich! Eben wollte ich das Lied zum Preise des Mondes anstimmen. Ihr Barbierbecken hat mir die ganze Sangeslust verdorben.«
Inzwischen stieg der Mond langsam am Horizont empor, und die letzten Dünste flohen vor seinen Strahlen. Im Zenith und im Westen glänzten die Sterne noch auf dem dunklen Hintergrunde, die nun bald vor dem Silberschein des Mondes erbleichen sollten. Schweigend erfreute sich Nell an dem wunderbaren Schauspiele, da ihre Augen das milde Licht des Freundes der Nacht recht gut ertrugen, ihre Hand aber zitterte leise in der Harry's und sprach für sie deutlich genug.
»Steigen wir ein, meine Freunde,« mahnte der Ingenieur, »vor Sonnenaufgang noch müssen wir den Abhang des Arthur-Seat erstiegen haben.«
Die Barke lag von einem Schiffer bewacht, an einem Uferpfahl befestigt. Nell und ihre Begleiter nahmen darin Platz. Das Segel ward gehißt und wölbte sich unter dem Drucke des Nordwestwindes.
Welch' neue Erscheinung für das junge Mädchen. Sie war wohl manchmal auf den Seen Neu-Aberfoyles umhergefahren; so ruhig dabei Harry aber auch das Ruder führte, es verrieth doch immer die Anstrengung des Schiffers. Hier sah sich Nell zum ersten Male fast ebenso sanft dahin geführt, wie etwa ein Ballon durch die Lüfte gleitet. Der Golf war glatt wie ein See. Halb zurückgelehnt, ergötzte sich Nell an dem sanften Schaukeln des Fahrzeuges. Dann und wann brach sich ein Mondstrahl Bahn auf die weite Fläche des Forth, dann schien das Schiffchen eine in Millionen Funken glitzernde Silberfläche zu durchschneiden. Längs der Ufer murmelten sanfte Wellen ihr eintöniges Lied dazu. Es war wahrhaft entzückend.
Dann schlossen sich aber Nell's Augen unfreiwillig. Ihren Geist beschlich eine vorübergehende Abspannung. Sie ließ den Kopf an Harry's Brust sinken und fiel in sanften Schlummer.
Harry wollte sie wecken, um ihr nichts von den Herrlichkeiten dieser Nacht entgehen zu lassen.
»Laß sie schlafen, mein Sohn,« rieth ihm dagegen der Ingenieur. »Zwei Stunden der Ruhe werden sie besser vorbereiten, die Eindrücke des Tages zu ertragen.«
Um zwei Uhr Morgens langte die Barke am Granton-pier an. Nell erwachte, als jene an's Ufer stieß.
»Ich habe geschlafen?« fragte sie.
»Nein, mein Kind,« antwortete James Starr. »Du hast nur geträumt, Du schliefest, weiter nichts.«
Die Nacht war jetzt sehr hell. Der Mond stand hoch am Himmel und goß seine Strahlen nach allen Seiten aus.
Der kleine Hafen von Granton enthielt nur wenige Fischerboote, welche sanft auf den langen Wellen des Golfes schaukelten. Gegen Morgen legte sich der Wind. Die dunstfreie Atmosphäre versprach einen jener herrlichen Augusttage, welche die Nachbarschaft des Meeres nur noch verschönert. Am Horizonte nur lagerte noch ein warmer Hauch, aber ein so zarter und durchsichtiger, daß die ersten Sonnenstrahlen ihn gewiß augenblicklich wegsaugen mußten. Das junge Mädchen sah also hier zum ersten Male das Meer, dessen äußerste Grenze mit dem Himmelsdache verschmolz. Zwar ihr Gesichtskreis erweiterte sich dabei, noch empfand sie aber den unbeschreiblichen Eindruck nicht, den der Ocean vorzüglich auf jeden Unbefangenen hervorbringt, wenn er auf grenzenlose Weiten hinaus das Licht des Tages wiederspiegelt.
Harry faßte Nell's Hand. Beide folgten James Starr und Jack Ryan durch die noch menschenleeren Straßen. Diese Vorstadt der Metropole Schottlands erschien Nell für jetzt nur als eine Anhäufung düsterer Häuser, die sie an Coal-City erinnerte, mit dem einzigen Unterschiede, daß die Deckenwölbung über dem Ganzen hier eine höhere war und voll flimmernder Punkte glänzte. Sie eilte so leichten Fußes dahin, daß Harry seinen Schritt nicht zu verlangsamen brauchte, wie er es wohl sonst that, um sie nicht zu ermüden.
»Du fühlst Dich nicht angegriffen?« fragte er sie nach einer halben Stunde Weges.
»O nein,« antwortete sie. »Meine Füße scheinen kaum den Boden zu berühren. Der Himmel über uns ist so hoch, daß ich mir nur Flügel wünschte, um mich emporschwingen zu können.«
»Halte sie!« rief Jack. »Wir müssen doch unsere gute Nell behüten und bewachen. Mir geht es übrigens ganz ähnlich, wenn ich einmal sehr lange Zeit aus dem Kohlenwerke nicht herauskam.«
»Das rührt daher,« meinte James Starr, »daß wir uns hier nicht durch die Felsmassen gedrückt fühlen, welche Coal-City überlagern. Dann erscheint das Firmament wie ein tiefer Abgrund, in den man sich zu stürzen versucht ist. – Hast Du nicht eine ganz ähnliche Empfindung, Nell?«
»Ja gewiß, Herr Starr,« bestätigte das junge Mädchen. »Mich überkommt es wie ein Schwindel.«
»Du wirst Dich schon eingewöhnen, Nell,« sagte Harry. »Du wirst Dich gewöhnen an diese Unermeßlichkeit der Welt und unsere düstere Kohlengrube darüber vielleicht ganz vergessen.«
»Niemals, Harry!« versicherte Nell.
Sie bedeckte dabei mit der Hand ihre Augen, so als wollte sie ihrem Geiste zu Hilfe kommen, sich an Alles zu erinnern, was sie verlassen hatte.
Zwischen den noch schlafumfangenen Häusern der Stadt durchschritten James Starr und seine Begleiter Leith-Walk. Sie gingen um den Calton-Hill (C.-Hügel), auf dem sich die Sternwarte und das Denkmal Nelson's erhebt. Dann folgten sie der Regent-Straße, überschritten eine Brücke und langten bald am Ausgange der Canongate an.
Die Stadt lag noch in tiefer Ruhe. Am gothischen Glockenthurme der Canongate-Kirche schlug es zwei Uhr.
Jetzt blieb Nell plötzlich stehen.
»Was ist das dort für eine dunkle Masse?« fragte sie und wies dabei nach einem isolirten Gebäude am Ende eines kleinen Platzes.
»Das ist Holyrood, Nell,« antwortete James Starr, »der Palast der einstmaligen Beherrscher Schottlands, in dem sich so viele schreckliche Ereignisse zutrugen. Der Geschichtskundige könnte aus demselben eine ganze Anzahl königlicher Schatten hervor zaubern, von der unglücklichen Maria Stuart an bis zu Karl X., dem früheren Könige von Frankreich. Und doch wird Dir, trotz dieser traurigen Erinnerungen, diese Residenz bei vollem Tageslichte gar nicht so abschreckend aussehen. Mit seinen vier großen crenelirten Thürmen gleicht Holyrood vielmehr einem Lustschlosse, dem nur die Laune seines Besitzers jenen feudalen Charakter bewahrt hat. – Doch setzen wir unseren Weg fort. Dort in der Umgebung der uralten Abtei von Holyrood erheben sich die prächtigen Salisbury-Felsen, welche der Arthur-Seat (d. i. A.-Stuhl) krönt. Das ist der Punkt, Nell, von dem aus Deine Augen die Sonne aus dem Meere sollen auftauchen sehen.«
Sie betraten den königlichen Garten und stiegen dann langsam bergan, wobei sie die Victoria-Allee, einen prächtigen, fahrbaren, im Kreise verlaufenden Weg passirten, den Walter Scott in einem seiner Romane so begeistert schildert.
Der Arthur-Seat bildet im Grunde nur einen Hügel von 750 Fuß, der aber die benachbarten Höhen alle überragt. Auf einem vielfach geschlängelten, das Emporsteigen wesentlich erleichternden Wege, erreichten James Starr und seine Begleiter nach einer halben Stunde die Mähne des Löwen, dem der Arthur-Seat von Westen gesehen auffallend ähnelt.
Dort ließen sich alle Vier nieder und James Starr, der immer ein Citat aus den Werken des großen schottischen Romandichters bei der Hand hatte, begann:
»Walter Scott schrieb im achten Capitel des ›Kerkers von Edinburgh‹ Folgendes:
›Sollte ich eine Stelle auswählen, von der aus man den Aufgang und Untergang der Sonne am herrlichsten sehen könnte, hier wäre diese!‹«
»Hab also Acht, Nell. Die Sonne muß bald erscheinen und zum ersten Male wirst Du sie in ihrer ganzen Pracht bewundern können.«
Nell's Augen blickten unverwandt nach Osten. Harry hielt sich neben ihr und beobachtete sie mit ängstlicher Spannung. Würden die ersten Strahlen des Tages nicht einen zu heftigen Eindruck auf sie machen? Alle schwiegen; selbst Jack Ryan verhielt sich still.
Schon flimmerte ein blasser, rosa angehauchter Schein am Horizonte. Ein Rest der über den Zenith hinirrenden Dunstmassen färbte sich unter dem ersten Morgenschimmer. Zu Füßen des Arthur-Seat breitete sich undeutlich das Häusermeer Edinburghs aus; noch ruhte die Stille der Nacht auf den Wohnstätten der Menschen. Nur da und dort unterbrachen einzelne Lichtpünktchen das nächtliche Dunkel. Das waren gleichsam die Morgensterne, welche die Leute in der alten Hauptstadt anzündeten. Auf der anderen Seite, im Westen, bildete die wechselvolle Linie des Horizontes eine Reihe steilerer Bergspitzen, welche das Morgenroth alle bald mit einer feurigen Krone schmückte.
Inzwischen wurde nach Osten zu der Umriß des Meeres schärfer sichtbar. Nach und nach erschien die ganze Tonleiter von Farben in derselben Ordnung, wie ein Sonnenspectrum. Das Roth der untersten, dunstreichen Schichten ging allmälig bis zum Violet im Zenith über. Von Secunde zu Secunde schmückte sich die Palette mit lebhafteren Farben, das Rosa ward zum Roth, das Roth zum Feuer. Am Morgenpunkte, wo der Tagesbogen der Sonne die Grenzlinie des Meeres schnitt, wurde der Tag geboren.
Eben jetzt schweiften Nell's Blicke von dem Fuße des Hügels bis zur Stadt, deren einzelne Quartiere sich deutlicher abgrenzten. Hohe Denkmäler, einige spitze Glockenthürme tauchten da und dort auf, deren Umrisse sich bestimmter von der Umgebung abhoben. In der ganzen Atmosphäre zitterte eine Art Zwielicht. Endlich traf ein erster Sonnenstrahl das Auge des jungen Mädchens. Es war jener grüne Strahl, der bei reinem Horizonte sich Morgens und Abends aus dem Meere zuerst oder zuletzt loslöst.
Eine halbe Minute später wendete sich Nell um und wies mit der Hand nach einer Stelle, welche die Häuserviertel der Neustadt überragt.
»Da, ein Feuer!« rief sie erschrocken.
»O nein, Nell,« beruhigte sie Harry, »das ist kein Feuer. Es ist nur eine flüchtige Vergoldung, mit der die Morgensonne die Spitze des Denkmals Walter Scott's verziert.«
Wirklich leuchtete die oberste Spitze des gegen zweihundert Fuß hohen gothischen Baldachins über dem Denkmale des berühmten Schotten wie ein Leuchtthurm erster Klasse.
Jetzt wurde heller Tag. Die Sonne löste sich vom Horizonte los. Noch erschien ihre Scheibe feucht, als sei sie buchstäblich aus dem Meere aufgestiegen. Zu Anfang eine verbreitetere Scheibe in Folge der Strahlenbrechung und des scheinbar entfernteren Hintergrundes zog sie sich nach und nach zusammen und nahm die gewöhnliche runde Gestalt an. Ihr Glanz wurde bald unerträglich und ähnelte dem der Mündung eines Hochofens, der sich am Himmelsgewölbe öffnete.
Nell mußte sofort die Augen schließen und auf ihre zu dünnwandigen Lider noch die dichtgeschlossenen Finger legen.
Harry rieth ihr, sich nach der entgegengesetzten Seite des Himmels zu drehen.
»Nein, Harry,« antwortete sie. »Meine Augen müssen lernen das zu sehen, was die Deinigen schon zu sehen verstehen.«
Selbst durch die Hand hindurch bemerkte sie noch einen röthlichen Schimmer, der immer heller wurde, jemehr die Sonne über den Horizont aufstieg. Allmälig gewöhnten sich ihre Augen daran. Dann hob sie die Lider empor und schaute zum ersten Male hinaus in das Licht des Tages.
Das fromme Kind sank bewundernd in die Knie.
»O Gott,« rief sie aus, »wie ist Deine Welt doch so schön!«
Dann senkte das junge Mädchen ihre Blicke und ließ sie ringsumher schweifen. Tief unten entrollte sich das Panorama von Edinburgh: die modernen, geradlinigen Häuserviertel der Neustadt; die Anhäufung von Gebäuden und das verwirrte Straßennetz des Auld-Recky. Zwei Punkte ragten über das Ganze empor, das auf seinem Basaltfelsen aufgethürmte Schloß und der Calton-Hill, der auf seinem abgerundeten Gipfel die Ruinen eines griechischen Monumentes trug. Prächtige Alleen strahlten von der Hauptstadt nach dem Lande aus. Im Norden schnitt ein Meeresarm, der Golf des Forth, tief in die Küste ein, an welcher sich der Hafen von Leith öffnete. Darüber erstreckten sich, als drittes Bild, weithin die lieblichen Gestade der Grafschaft Fife. Eine Straße, so schnurgerade wie die nach dem Piräus, verband auch dieses nordische Athen mit dem Meere. Nach Westen hin dehnten sich die schönen Küsten von Newhaven und Porto-Bello aus, deren Sand die letzten Ausläufer der Brandung gelblich färbte. Weit draußen belebten einige Schaluppen die Gewässer des Golfes, und zwei oder drei Dampfer wirbelten ihre langen Rauchsäulen gen Himmel. Auf der anderen Seite lachte die immer grünende Landschaft. Aus der Ebene stiegen da und dort mäßige Hügel empor. Im Norden warfen die Lomond Hills, im Westen der Ben-Lomond und der Ben-Lech die Strahlen der Sonne zurück, als lagerte der ewige Schnee auf ihren Gipfeln.
Nell vermochte nicht zu sprechen. Ihre Lippen murmelten nur halb verständliche Worte. Der Kopf schwindelte ihr. Bald verließen sie die Kräfte. Sie fühlte noch, wie sie in dieser reinen Luft, vor diesem ergreifenden Naturschauspiele zusammenbrach, und sank dann bewußtlos in Harry's schützende Arme.
Das junge Mädchen, deren ganzes früheres Leben in den dunklen Schächten des Erdinnern verlaufen war, hatte nun zum ersten Male gesehen, was das ganze Universum zusammensetzt und was der Weltenschöpfer und der Mensch aus der Erde gemacht haben. Von der Stadt und der Landschaft ausgehend, hatten ihre Blicke zum ersten Male die Unendlichkeit des Meeres und den grenzenlosen Himmelsraum durchmessen.