Hermine Villinger
Aus dem Badener Land
Hermine Villinger

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Preisgekrönt.

Sie saßen an einem schön gedeckten Kaffeetisch, auf dessen Mitte eine Riesentorte prangte, ganz mit täuschend nachgeahmten Bienen besät, dem Sinnbild des Fleißes. Und wahrlich, die Hände, die sich mit so großer Vorsicht der feinen Porzellantassen bedienten, sie gaben ein beredtes Zeugnis, daß ihre Aufgabe im Leben nichts als Mühe und Arbeit gewesen.

Sie kamen soeben aus dem Rathaus, diese fünf nicht mehr dem jugendlichen Alter angehörenden Erscheinungen, alle mit dem Kreuz auf der Brust, das sie zur Belohnung für eine langjährige Dienstzeit erhalten hatten. Ricke und die sehr sorgfältig gekleidete und äußerst zierliche Theres hatten ihr Kreuz am heutigen Tag, zur Feier ihres fünfundzwanzigjährigen Jubiläums, bekommen, während die Gretel mit ihrer dicken gelben Uhrkette, und Lene, das Urbild einer wohlgenährten und 112 selbstbewußten Herrschaftsköchin, einer älteren Generation angehörten und mit dem Preis für eine dreißigjährige Dienstzeit bedacht worden waren.

Oben am Tisch aber thronte das Rosele in der großen Flügelhaube, die ihr in jungen Jahren so reizend zu Gesicht gestanden und jetzt den stark ergrauten Scheitel der bald Siebzigjährigen beschattete; auf ihrer Brust prangte das goldene Kreuz für eine Dienstzeit von fünfzig Jahren.

Ein blutjunges Ding, kaum siebzehnjährig, mit ängstlich angespannten Haaren und großen verwunderten Augen, bediente die angesehene Versammlung. Aber sie that's mit sichtlicher 113 Verklommenheit, denn die Ricke, ihre Tante, ließ kein Auge von ihr; sie war die Wirtin; in dem Hause ihrer Herrschaft fand die Nachmittagsfeier statt.

Durchdrungen von der Verantwortlichkeit, vermochte denn auch die Ricke keinen Augenblick still zu sitzen.

»Nur keinen Flecken auf das schön' Damasttuch,« rief sie das junge Ding an. »So ein Unsinn! Ohne mir ein Wort zu sagen, decken die Frau Geheimrat ihr feinstes Sach' auf; was hat man denn weiter davon, als daß man in Todesängsten lebt, 's geschieht 'was.«

»Nein, es freut uns, denn es ist eine Ehr',« sagte das Rosele, »und bleiben Sie jetzt einmal um Gottes willen ruhig sitzen, Ricke, und lassen Sie uns die Sach' in Frieden genießen!«

»Sie ist und bleibt wie ein Zündnadelgewehr, das alle Augenblick losgeht,« meinte die Gretel, worauf die Ricke sich mit einem Ha! in ihr Schicksal ergab und auf ihrem Stuhl Platz nahm.

Aber schweigen konnte sie nicht: »Helen', ich sag' dir's, – ich bind' dir's auf die Seel', ein einzig's Kaffeetröpfle, und das ganze Tischtuch ist ruiniert!« –

114 Das junge Ding fing an zu kichern, wurde dunkelrot im Gesicht, und wußte sich nicht anders zu helfen, als indem es schleunigst die Kaffeekanne auf den Tisch setzte.

Sofort bemächtigte sich Ricke der Kanne: »So 'was Dumms,« schalt sie, »immer das Gekicher, – von morgens bis abends kichert das Geschöpf, und wenn ich nur wüßt', warum? Aber wegen gar nix auf der Herrgottswelt.«

»Sie ist halt noch jung,« sagte das Rosele, »da braucht's nicht viel.«

»Sie haben gut reden,« begehrte die Ricke auf, »aber ich hab' die Verantwortung; ihre Mutter, meine Schwester, hat sie mir geschickt, so ein Land-Konfekt! Und in einem halben Jahr soll ich sie für einen Dienst erzogen haben, – nein,« unterbrach sie sich, »nicht zusammengerückt am Tisch, da gehört die nicht hin! Dort am Büffet hab' ich ihr ein Blechbrettle hingelegt, da mag sie ihren Kaffee trinken, denn ein kleines Kind treibt's nicht ärger als die.«

»Wie lang' ist sie denn da?« fragte Rosele.

»Ha, schon über acht Tag' –«

»Da kann man auch noch nicht viel verlangen.«

115 »So, wenn ich den ganzen Tag an sie hinred'! Jetzt schaut nur, wie sie wieder in ihr Schürz' 'nein kichert! Guck' du dich lieber um, 's ist gescheiter, und nimm dir ein Exempel; hast's gesehen heut' auf dem Rathaus, was man für Ehren erntet, wenn man ein ordentlicher Dienstbot' ist? Eine, die alle Jahr in einem andern Haus 'rumschlampt, die sitzt in ihren alten Tagen nicht mit dem Kreuz da, und wird von der ganzen Stadt estimiert und im Tagblättle gelesen.«

»Ja, das ist wirklich wahr,« nahm das Rosele das Wort, »es ist eine Freud', so einen Tag zu erleben; einen General, der eine Schlacht gewonnen hat, kann man nicht mehr ehren, als mir das heut' von der ganzen Nachbarschaft widerfahren ist; und was so schön ist, daß man so mit jedem Preis der Landesmutter näher rückt; man ist wie befreundet miteinander; heut' war ihre erste Frag': ›Und wie geht's mit den Füßen, Rosele?‹«

»Und zu mir,« unterbrach sie Ricke, »zu mir hat sie gesagt, sie hab' schon viel von mir gehört, und weil Ihre Königliche Hoheit auch noch aufgestanden sind –«

»Das thun sie immer,« unterbrach sie Rosele, 116 »wenn sie das Kreuz austeilen; das ist eben die besondere Ehr'! –«

»Vor lauter Schreck hab' ich Großherzogliche Hoheit gesagt anstatt ›Königliche‹,« sagte die Ricke.

»Ja, so kann's einem gehen,« meinte die Gretel, »ich weiß noch, ich hab' 's erst'mal in der Angst ›Hochwürden‹ zur Frau Großherzogin gesagt; ich bin halt aus einem katholischen Ort.«

Jetzt lachten sie alle, und Helen', das junge Ding, richtete mit ihrem vollen Mund ein solches Unheil auf dem Blechbrettchen an, daß Rickes Behauptung, ihre Nichte gehöre nicht an den Tisch, glänzend gerechtfertigt war.

Wie der Blitz stand sie an des Mädchens Seite, als dieses eben mit der Schürze den Schaden wieder gut machen wollte.

»Halt, hinaus mit der Kaffeebrüh',« kommandierte sie, »und schämen thust dich bis über die Ohren!«

Mit dunkelrotem Kopf nahm die Kleine ihr Brettchen; sie schämte sich in der That und war dem Weinen nahe.

»Nur nicht den Mut verloren!« rief ihr die freundliche Stimme Roseles nach.

117 Und die behäbige Lene gab auch ihren Senf: »Schön die Gedanken beisammen haben, nicht immer an andre Sachen denken; oder haben Sie vielleicht eine Bekanntschaft?«

»Nein, die Bleichsucht,« sagte die Helen' und zog mit ihrem Brettchen ab.

»Sie scheint mir aber noch eine ziemliche Unschuld zu sein,« meinte die Gretel, »denn sonst weiß doch jedes, was eine Bekanntschaft ist.«

Rosele lachte: »Auf dem Land fragt man halt: ›haben Sie einen Schatz?‹«

»O Gott bewahr', für so 'was Ernstes hat die noch keinen Sinn,« sagte die Ricke, »die thät' am liebsten den ganzen Tag mit dem Hundle, dem Fifi, spielen; 's hat heut' schon ein Drama abgesetzt, weil sie ihn hat hier haben wollen; ›Nein‹, hab' ich gesagt, ›das Tier will immer die Hauptperson sein, und außerdem sollst du lernen, daß man nicht immer seinen Kopf durchsetzen darf‹.«

Helen' war während der Rede der Tante wieder herein gekommen und nahm ganz bescheiden auf einem kleinen Stühlchen hinter dem Büffet Platz; sie hatte den Fifi unter der Schürze und hielt ihm die Schnauze zu; er quiekste aber doch 118 ganz bedenklich, nur hatte jetzt niemand Zeit, darauf zu achten, denn Ricke, die entdeckt hatte, daß noch so viel Kaffee in der Kanne war, fing mit jeder ihrer Freundinnen, die sich gegen eine dritte Tasse wehrte, Händel an.

»Sie dürfen 'was sagen, daß man nicht immer seinen Kopf durchsetzen soll,« meinte das Rosele, »so ein heiliger Eifer, mit dem Sie immer zu Werk gehen, Ricke, – das mag auch manchmal 'was Beschwerliches für Ihre Herrschaft haben?«

»Ja, ja,« gab die Ricke zu, »ich vertrag's nicht gut, wenn ich zum Beispiel mein Repertoir gemacht hab', und 's kommt einer und wirft's mir über den Haufen.«

Die Rosel nickte: »Ja, wir haben auch unsre Schattenseiten: ich bin zum Beispiel ein bißle empfindlich.«

»Ich hab' den Eigensinn,« sagte die Gretel.

»Und ich bin grob,« verkündete Lenes Baßstimme.

Alle sahen nach der Theres hin, allein sie sagte nichts, sondern behielt ihre Schattenseite für sich.

»Sie, Ihre Brill' sitzt Ihnen aber auch nicht,« 119 sagte das Rosele zur Ricke, nachdem sie alle eine Arbeit zur Hand genommen hatten.

»Ha, 's ist halt 'm Herr Geheimrat selig seine,« gab die Ricke zur Antwort, »er hat viere hinterlassen, und die müssen doch aufgetragen werden. So ganz klar seh' ich freilich nicht durch, aber für meine Kisseneinsätz' reicht's gerad' noch; zwei Dutzend will ich fertig haben, bis unser Mariele achtzehn ist; jetzt ist sie vierzehn.«

»Da hat die Tante Geduld, mit dem Mariele, aber mit mir nicht!« rief die Helen' aus ihrem Winkel heraus.

»Vor allen Dingen hast du ›Fräulein Marie‹ zu sagen und nicht ›Mariele‹,« begehrte die Ricke auf, »aber daß ich jetzt zur Hauptsach' komm', – ich hab' nämlich grad' wollen mit euch Rat pflegen, wo ich denn ums Himmels willen das Mädel hinthun soll, denn die Hauptsach' ist eben doch, daß sich so ein junges Ding gleich von vornen herein richtig organisiert.«

Schnell fuhr das rosige, stark aufgestülpte Näschen der Helen' hinter dem Büffet hervor: »Eine Freundin, die ich als an der Kirch' treff', hat zu mir gesagt, – geh' nur nicht zu Adeligen, da kriegt man nicht genug zu essen.«

120 »Bitte recht sehr!« ließ sich die leise, gehaltene Stimme der Theres vernehmen, »da muß ich denn doch den Adel in Schutz nehmen; in den fünfundzwanzig Jahren, daß ich bei meiner gnädigen Frau bin, darf ich nie 'was Extras für sie kochen, sondern stets fürs Allgemeine; nie wird sich bei uns angefahren oder ein heftiges Wort gesagt; ich hab' gern anfangs, wie ich noch jung war, ein wenig gemault, wenn mir 'was nicht nach dem Sinn ging, das haben mir die gnädige Frau direkt durch ihre Liebenswürdigkeit ausgetrieben, so daß ich beschämt diesen Fehler ablegte. Und vom Herrn Bruder, Seiner Excellenz, die zuweilen bei uns speisen, bekomme ich stets zwei Mark wegen der Umständ', denn sie sind Vegetarianer.«

»Versteht denn so einer deutsch?« fragte die Helen', wurde aber von ihrer Tante durch ein: »Sei nicht so ungebildet!« zum Stillschweigen gebracht.

»No, aber so viel weiß man halt doch,« bemerkte die Gretel, »der Adel halt' sich für 'was Besonderes und will nie nix von andern Leuten wissen.«

»Ha,« meinte die Ricke, »da wären wir ja eigentlich auch von Adel, denn wir sind auch am 121 liebsten unter uns und mögen von den gewöhnlichen Dienstboten, wie sie heutzutag' sind, nix wissen.«

»Sagen Sie doch nicht immer Dienstboten,« unterbrach sie die Theres, »ich kann das Wort nicht leiden; es ist gerad' so veraltet, wie die gedruckten Röck', die die Mädchen früher getragen haben.«

»Gellen Sie aber, Sie sind insfisziert!« triumphierte die Ricke, »ich sag's ja immer, über ihren Adel laßt sie nix kommen, gleich macht sie ein Gesicht, wie eine beleidigte Gräfin!«

»Nun ja, so gehört's sich doch auch,« fiel ihr das Rosele in die Rede, »das wär' noch schöner, wenn man nicht zu seiner Herrschaft hielt! Mag die Theres ihren Adel fürs Höchste ansehen, ich halt 's meist auf den gebildeten Mittelstand; alle großen Erfindungen: 's Gas, 's elektrische Licht, Steinkohlen, Dampf und Maschinenbau, – alles, was überhaupt was Rechts ist, hat der gebildete Mittelstand erfunden.«

»So, und der Bismarck?« fragte die Theres, »hat der vielleicht nichts erfunden?«

»Ha, natürlich, 's einig' Deutschland,« sagte die Ricke, »man liest doch seine Zeitung, mir entgeht nix! Aber wir wollen uns jetzt lieber nicht 122 in die Politik vertiefen, denn das weiß jeder, da giebt's gleich Händel; helft mir lieber einen guten Dienst ausfindig machen für die Helen'.«

»Nur nicht zu Offiziersleut',« schrie diese aus ihrer Ecke, »meine Freundin hat mir gesagt, da soll's immer nach außen hin flott sein, und man muß sich halber tot schaffen und wird doch für nix angesehen.«

»Potz Tausend!« fuhr die Ricke auf, »du scheinst mir ja eine recht nette Freundin aufgegabelt zu haben; die wird kassiert. Hättst du unsern Premierlieutenant gesehen, du wolltst anders reden, du einfältige Person! Letzten Sommer, wie die Frau Geheimrat und 's Mariele fort waren, hab' ich dürfen vierzehn Tag' zum jungen Paar, ins Elsaß. Ich kann nur sagen, wenn's überall so zuging, in allen Häusern, da wär's kein Unglück, Dienstbot' zu sein. Nein, ich laß nix über den Militarismus kommen; unser Herr Premierlieutenant ist die Güte in Uniform, so groß hab' ich sie noch gar nie im Zivil angetroffen.«

»No ja,« sagte die Gretel, »'s giebt Ausnahmen, aber im großen ganzen –«

»Im großen ganzen sind auch die Dienstmädle 123 nix wert, heißt's, und wir sitzen auch da und sind ordentlich,« erklärte die Ricke.

»So ist's,« sagte das Rosele, »drum ereifere ich mich nie, denn 's hat alles zwei Seiten in der Welt. Nur wenn man mich fragt, wo man ein junges Mädle hinthun soll, so bleib' ich dabei und schlag' den gebildeten Mittelstand vor, wo die Frau nach allem sieht, und so ein Mädle immer unter Aufsicht ist. Bei reichen Herrschaften ist das anders.«

»Ja, das weiß ich noch von der Schul' –« ertönte Helen's Stimme vom Büffet her, »eher kommt ein Kamel durch ein Nadelöhr, als ein Reicher ins Himmelreich!«

»Jetzt hör' einer das vorsintflutisch' Geschwätz!« lachte die Gretel auf; »daß meine Frau reich ist, das hat noch keinem Menschen 'was geschadet, im Gegenteil: zwei Buben von meinem Bruder hat sie studieren lassen, und für ein taubstummes Kind von meiner Schwester sorgt sie auch, außerdem daß ich einmal recht angenehm leben kann, wenn meine Frau stirbt; aber Gott erhalt' sie mir noch recht lang! Nein, der Reichtum ist nicht zu verachten! Nicht wahr, Lene, sie wissen auch, was er wert ist?«

Diese nickte: »Will's meinen! Um Gottes 124 willen, so ein kleiner Herd mit einem oder zwei Pfündle Fleisch, das wär' nimmer mein Fall! Ich bin so rechte Händ' voll gewöhnt; ein überraschends Abendessen von zehn Personen ist mir nix, und wenn der Herr Kommerzienrat um halber Eins telephoniert: ›Ich bring' drei Herren zu Tisch‹, – so haben sie um halb Zwei ein Diner, mit dem er Ehr' einlegt. Und wegen dem Nadelöhr-Vergleich brauchen wir uns auch nicht betroffen zu fühlen, denn was wir an jungen Künstlern 'rausfüttern, unterstützen und ausbilden lassen, das geht in die Tausende.«

»Hm,« meinte die Ricke, indem sie mit einer gewissen Geringschätzung die Nase rümpfte, »Künstler, so Opernsänger oder Schauspielersleut', das wär' doch 's Letzt', wo ich die Helen' hinthun möcht'!«

»Ricke!« Das war Rosele, und sie, die behauptet hatte, sie ereifere sich nie, war ganz hochrot vor Empörung.

»Das ist auch wieder in Bausch und Bogen geurteilt,« sprudelte sie hervor, »der Theaterberuf geht freilich oft tief in die Nacht hinein, und das ist nicht bequem, aber darum kann doch Ordnung im System sein; unser Neffe ist wenigstens ein 125 ausgezeichneter junger Mann, trotzdem er Schauspieler ist; der dürft' sich ruhig neben ihren Premierlieutenant stellen, da dreh' ich keine Hand um. Wenn er deklamiert, da laufen mir gerad die Thränen über die Backen, und daß ich den halben Schiller auswendig kenn', das dank' ich unserm Neffen ganz allein, denn es ist doch auch 'was Schönes um die Poesie, die einem lehrt, daß man nicht nur fürs Essen und Trinken auf der Welt ist.«

»Hm,« meinte die Lene, »die Hauptsach' ist's aber doch.«

»Jetzt aber,« rief die Helen' in heller Ungeduld aus ihrer Ecke hervor, »zu den Juden darf man ganz gewiß nicht, denn da kommt man um sein Christentum!«

Die Ricke schlug die Hände zusammen: »Was die in der kurzen Zeit alles aufgeschnappt hat, auch noch in den Antissismus red't sie 'nein! Ich will dir 'was sagen, ich hab' ein paar gute Freundinnen, die bei Juden dienen und gerad so oft in die Kirch' gehen als ich.«

»Wenigstens,« sagte die Karolin', »einen bescheidenen Ton hat man in den Judenfamilien nicht vor Augen –«

126 Und die Gretel setzte hinzu: »Ich für meine Person glaub' einmal nicht an eine rechte Anhänglichkeit zwischen Juden und Christen –«

»So, und die Eva?« fragte das Rosele, »ihr erinnert euch doch an die Eva? Ein Menschenleben lang haben wir zwei droben im Rathaussaal auf derselben Bank neben einander gesessen: sechzig Jahr hat die Eva in einem jüdischen Haus gedient. So lang ich leb', vergeß' ich das Bild nicht, wie sie das letztemal vor die Frau Großherzogin hingetreten ist, schneeweiß, ganz gebeugt, geführt von den beiden Söhnen ihrer Herrschaft, die auch schon alte Herren waren; 's hat alles geheult, auch der Frau Großherzogin sind die Thränen über die Wangen geloffen. Ich hab' selbigsmal denkt: ›Wie schön, wenn man auf die Menschen so einen Eindruck macht, der ihnen fürs Leben bleibt.‹«

Die Stille, die diesen Worten folgte, wurde durch ein lautes Gequiekse aus der Ecke unterbrochen.

»Ha, jetzt hört aber aller Verstand auf!« schrie die über alle Maßen erboste Ricke, und schoß nach jener dunklen Ecke, »wer so wüst thut, der gehört, bei Gott, nicht in eine gebildete Gesellschaft!«

»Ich war's ja gar nicht,« verteidigte sich die von ihrer Tante unsanft aus der Ecke gezogene Helen', »der Fifi war's!« – Und sie hielt der Ricke das zappelnde Hundchen unter die Nase.

Alles lachte, nur die Ricke nicht, die in höchster Indignation ausrief: »Und hab' ich dir's nicht streng verboten, der Fifi dürft' nicht 'rein?«

»Ha,« meinte die Kleine, »ich hab' doch auch 'was haben müssen, wo ihr so ernsthaft geredet habt; wenn meine Freundin von den Leuten red't, das ist viel unterhaltlicher, da sind's nicht lauter Engel.«

»Das ist halt, ›wie man in den Wald ruft, so ruft's 'raus‹,« sagte das Rosele, »wer selber ordentlich ist, der findet auch ordentliche Leut'.«

Und die Ricke gab ihrer Nichte einen Stoß in die Seite: »Nimm dir ein Exempel dran!«

128 In diesem Augenblick flogen die beiden Flügelthüren in den geräumigen Salon auf, und den erstaunten Blicken der Anwesenden bot sich ein gar rührendes Bild dar, – Maria Stuart inmitten ihrer weinenden Frauen.

»Jesses,« flüsterte die Ricke, »unser Mariele in der Frau Geheimrat ihrem weißseidenen Hochzeitskleid!«

»Was klagt ihr?« begann die jugendliche Königin, »warum weint ihr? Freuen solltet ihr euch mit mir, daß meiner Leiden Ziel nun endlich naht –«

Daß Melvil, an den die unglückliche Königin sich wandte, die Hausmütze des Herrn Premierlieutenants trug, störte weder die Spielenden noch die Zuschauer in ihrer Illusion. Sie war so echt, daß nicht nur die letzteren in Thränen schwammen, sondern auch die Spielenden kaum ihrer Rührung Herr zu bleiben vermochten. Ja, Mariele, die Königin, mußte zum Schluß ihrer Abschiedsworte fortwährend ihr Taschentuch zu Hilfe nehmen, und kein Mensch konnte sie mehr verstehen.

Lord Leicester dagegen führte seinen Monolog mit der größten Sicherheit durch; die Darstellerin 129 dieser Rolle war ein kleines, rundliches Mädchen mit der hellsten Stimme der Welt; alles was sie sagte, klang so lustig wie möglich, aber sie suchte den Mangel ihres Organs dadurch gut zu machen, daß sie erschrecklich die Stirne runzelte und zum Erbarmen seufzte; und jeder war von ihrer Verzweiflung überzeugt.

»Es ist unserem Neffen seine Roll',« flüsterte 130 das Rosele und sprach den ganzen Monolog mit halblauter Stimme nach.

Ein wahres Gruseln aber erfaßte die Versammlung, als die Stelle kam:

»Es wird still, – ganz still;
Nur Schluchzen hör' ich, und die Weiber weinen. –
Sie wird entkleidet. – Horch! der Schemel wird
Gerückt. – Sie kniet auf's Kissen, – legt das Haupt –«

Sie schrieen alle mit bei dem gräßlichen Schrei, den Leicester zum Schlusse ausstieß, gerade als ging's ihnen an's eigene Haupt, und die jugendlichen Darsteller hatten alle Ursache, mit dem Effekt ihres Festspiels zufrieden zu sein.

»Aber Kinder,« sagte die Frau Geheimrätin, welche erschien, und nicht wenig erstaunt war, die ganze Gesellschaft in Thränen aufgelöst zu finden, »warum habt ihr denn gerade so etwas Trauriges für den heutigen Tag gewählt?«

»Das hat seinen Grund,« gab ihr das Töchterchen zur Antwort, »wenn die Ricke aus dem Theater kommt, sagt sie immer: 's war nix, es sind gar keine gestorben –«

131 »Nun, dann habt ihr's ja getroffen,« meinte die Geheimrätin, »ich aber will mit einer Flasche Schaumwein den ergriffenen Gemütern wieder aufzuhelfen suchen –«

»Was,« protestierte die Ricke, »so eine unverantwortliche Verschwendung, Frau Geheimrat, – das kann ich nicht zugeben, das nehmen wir alle nicht an!«

Es half aber nichts, die Kinder kredenzten der preisgekrönten Dienstbotenschar den schäumenden Moselwein in schönen hohen Stengelgläsern, und Rosele, die Seniorin, erhob das ihre mit den Worten:

»Alle guten Herrschaften sollen leben!«

Worauf die Jugend einstimmig in den Ruf ausbrach:

»Nein, die guten Dienstboten, die guten Dienstboten hoch!«

 

 


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