Hermine Villinger
Schulmädelgeschichten
Hermine Villinger

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Lischen

Ich bin am 4. Mai 1856 geboren; meine Eltern nahm der liebe Gott gleich zu sich, aber er ließ mir Tante Anna. Wir sind aus der Stadt fortgezogen, weil wir so sehr sparen mußten und Tante sich schämte vor den Leuten. Tante hat ein kleines Vermögen gehabt, sie hat es aber meinen Eltern gegeben, daß sie haben heiraten können; dann ist meine Mutter gestorben, und der Vater ist lange krank gewesen, und zuletzt ist nichts übrig geblieben als ich.

Es war sehr schön in unserm Dorf, wir wohnten in der Augustaburg; das war einmal ein Schloß, aber jetzt wohnen lauter arme Leute drin, und wir hatten die zwei besten Stuben und einen Erker und eine Küche, und sahen in 98 einen lustigen Bach. Als ich neun Jahre alt war, habe ich mir zum Geburtstag gewünscht, daß ich barfuß im Bach herumpatschen darf wie die Dorfkinder. Ich ging in die Dorfschule und Tante gab mir französische Stunden und Klavierstunden, und noch vielen andern Kindern auch; für die großen Mädchen hielt sie Nähschule.

Oft erzählten wir uns was wir haben möchten, wenn wir ein wenig reich wären, und da wünschte ich mir eine Menge Holzschiffchen mit roten Fähnchen, daß ich sie den Bach hinunterschwimmen lassen könnte, und für alle meine vier Puppen von Tante Marie ein neues Kleid. Weiter wünschte ich ein warmes Tuch für's »Lahmärmle«, für den »Freß-Seppele« so viel Essen, bis er sagt – »jetzt hab' ich genug« – und ein paar Schuhe für die Hanne, denn sie ist die fleißigste in der Nähschul und muß ihre alte Großmutter ernähren, die taub ist und nichts mehr sagen kann als: »vergelt's Gott!«

Zu Weihnacht aber hatte uns der 99 Bürgermeister den schönsten Baum geschickt vom ganzen Dorf, und alle Mütter in der Augustaburg schickten uns ihre Kinder, frischgewaschen, denn sie meinen alle, meine Tante Anna wäre auch ihre Tante Anna. Und es war eine wunderschöne Bescheerung, und ich kann nicht sagen wie überrascht ich war, denn ich bekam wirklich eine Menge Holzschiffchen mit roten Fähnchen; meine vier Puppen aber hatten von Tante Marie alle neue Kleider mit prachtvollen Schleifen bekommen. Das »Lahmärmle« weinte vor Vergnügen über sein warmes Tuch, denn es ist ganz allein auf der Welt und erst neunzehn Jahr alt und kann, weil es nur einen Arm hat, nichts thun als Kommissionen machen, und ist bei allem Wetter unterwegs, und ißt alle Tag wo anders zu Mittag.

Und nun erst das »Freß-Seppele«, das alleinig von allen Kindern nicht gewaschen war, weil es ein Findelkind ist, und von seiner Pflegemutter nie genug zu essen bekommt, so daß es immer das Gesicht voll schmutziger Thränen hat.

100 Die Tante hat eine großmächtige Schüssel Reisbrei gekocht, und die Kinder haben müssen um den Tisch herum sitzen, und wir haben ausgeteilt und ausgeteilt, bis eines nach dem andern genug hatte, und nur das »Freß-Seppele« aß immer weiter, daß wir lachen mußten bis zu Thränen, und endlich schob auch er den Teller weg und legte sich mit dem Gesicht in den Arm hin und schlief; und alle andern Kinder fingen an zu schlafen, und es wurde mäuschenstill im Weihnachtszimmer.

Auf einmal ist die Thüre aufgegangen, und der Herr Pfarrer ist gekommen und der Bürgermeister, und die haben sehr gelacht, und der Herr Pfarrer hat gesagt:

»Da liegen sie wie die Jünger am Ölberg!«

Tante Anna aber hat sich ein Herz gefaßt und ihnen gesagt, das »Lahmärmle« sei so geschickt mit seinem einem Arm, wie andre nicht mit zwei, und es sei noch ein oberes Zimmer in der Burg, das sei leer, und da müsse man 101 einen Ofen und Fensterscheiben hineinsetzen, dann habe man eine Kleinkinderschule.

Der Herr Pfarrer und der Bürgermeister haben gesagt, sie wollten sich's überlegen, und Tante und ich, wir sind jeden Sonntag hingegangen und haben sie erinnert, und endlich hatten sie sich's überlegt, und's »Lahmärmle« zog in die Augustaburg und hielt Kleinkinderschule.

Aber daß das »Freß-Seppele« gar nicht viel besser war als ein Schweinchen, und so schmutzig und so fürchterlich zerrissen, war uns ein großer Kummer; und Tante Anna hat ihn einmal bei der Hand genommen und zu ihm gesagt:

»Aber Seppele, du denkst doch immer an's Essen!«

Da hat er sie groß angesehen und gesagt: »An was denksch denn du?«

Tante aber und ich sind wieder zum Bürgermeister, und sie hat ihn so lang gebeten, bis er's erlaubt, und der Seppele von seiner bösen Pflegemutter weggekommen ist, zum »Lahmärmle«.

102 Und als er das erste Mal sauber gewaschen, in guten Kleidern herein gekommen ist, haben wir uns unaussprechlich gefreut und Tante wollte ihm das Gesicht streicheln. Da ist er schnell zurückgefahren und hat sich mit den Händen das Gesicht geschützt, als wolle man ihn schlagen. Und Tante hat gesagt:

»Das ist ein armes Kind, das weiß nicht einmal, was eine Liebkosung ist.« –

Und wenn's »Lahmärmle« kam und sich beklagte, daß der Seppele so unfreundlich sei, und daß sie fürchte, er habe kein Herz, gab ihr Tante Anna jedesmal die Antwort:

»Geduld und Liebe wirken Wunder.«

Manchmal aber war Tante recht traurig, und zwar, wenn ein Brief von Tante Marie kam.

Tante Marie war Tante Anna's liebste Jugendfreundin; sie hat sich mit dem Professor verheiratet, den sie so lieb gehabt, und er ist nach zehn Jahren gestorben. Darauf hat sie das Institut am Bodensee gegründet und fragte 103 immer wieder an, ob ich denn nicht in ihr Institut kommen wolle. Tante hatte ihr aber nichts gesagt von unsrer Armut und schämte sich, zu sagen, daß wir nicht einmal ordentliche Kleider für eine Reise hatten.

Auf einmal kam der Winter, und das war der traurigste in meinem Leben. Tante Anna war krank. Sie mußte der Hanne die Nähschule überlassen, dann konnte sie auch die andern Stunden nicht mehr geben, und kochte alle Tage weniger, und sagte, sie habe keinen Hunger. Wenn sie glaubte, ich sehe sie nicht, weinte sie. Ich wußte es wohl, es war kein Geld mehr da, und ich betete zum lieben Gott um Hülfe, und ich ging alle Tage auf die Landstraße und schaute mich um, weil ich glaubte, es müsse etwas geschehen, und jemand kommen und uns helfen.

Aber nur's Lahmärmle und die Hanne kamen und thaten uns alles zu Lieb und pflegten die Tante Tag und Nacht, und die Hanne erzählte uns, daß alle Morgen ein großes Bündel 104 Anfeuerholz vor der Küche liege, und daß sie nicht wisse woher. Dann aber kam sie wieder und sagte, jetzt wisse sie's, der Seppele sei's, der ging in der Frühe in den Wald und hole das Holz. Da haben wir uns unaussprechlich gefreut, daß er doch ein Herz hat, und Tante Anna ließ ihn an's Bett kommen, und als sie zu ihm sagte: »Seppele, du bist recht lieb und gut, ich danke dir für das Holz« – da hat er so herzbrechend zu schluchzen angefangen, daß ich nicht anders konnte und mit weinen mußte.

Und als Tante noch kränker wurde und im Fieber lag, haben sie im ganzen Dorf für uns gesorgt und Milch und Suppe und Wein geschickt, daß der Seppele immer zum Aufessen hat kommen müssen. Und der Doktor fuhr an und brachte Medizin, und im Armenhaus war's so still, daß man keinen Ton hörte. Einmal war ich an Tantens Bett, da jammerte sie laut im Fieber und kannte mich nicht und rief nach ihrer Freundin Marie, und daß sie ein schweres 105 Unrecht gethan an mir, denn nun müsse sie sterben, und ich sei verlassen, und Tante Marie werde ihr über's Grab hinaus grollen.

Da bin ich gegangen und habe an Tante Marie einen langen Brief geschrieben und ihr gesagt, wie krank Tante Anna ist, und wie es uns geht.

Zwei Tage und zwei Nächte lebte ich in großer Angst und Verzweiflung und stand am Erkerfenster und schaute die Gasse hinauf und hinunter, daß mir die Augen weh thaten.

Am dritten Tag kam ein Wagen gefahren und alle Leute liefen zusammen, und ich hab's gewußt, das ist Tante Marie, und bin die Treppe hinunter geflogen gerad in ihre Arme.

Wir sind leise zu Tante Anna hinein, und sie hat auf einmal die Augen aufgemacht und gesagt: »Bist du endlich da? ich hab's geträumt.« –

Und wie der Doktor gekommen ist, hat er gesagt, sie ist vor lauter Freud gesund geworden, 106 und wir waren unaussprechlich glücklich, daß ich's laut zum Fenster hinausgerufen hab: Tante Anna ist gesund! worauf gleich ein großes Geschrei drunten am Bach losging, denn die Kinder hatten so lang still sein müssen und drum schrieen sie doppelt.

Tante Marie aber sagte uns, daß wir mit ihr ziehen müßten, und sie habe für Tante Anna einen sehr schwierigen Posten in Bereitschaft, den Haushalt im Institut, und sie sagte zu Tante Anna mit gefalteten Händen: Darf ich auf deine Zusage hoffen? worauf ihr Tante Anna um den Hals fiel.

Zum Abschied gaben wir einen großen Kaffee in der Augustaburg, und der Herr Pfarrer hat eine Rede gehalten und gesagt, jetzt ging ihnen der Schutzengel fort, und alle armen Leute weinten.

Da ist Tante Anna aufgestanden und hat gesagt, sie sollten nur zufrieden sein, denn sie hätten die prächtige Hanne für ihre Nähstunden, und das seelensgute »Lahmärmele« für ihre 107 Kinder, was sie denn noch mehr wollten? Für den Seppele aber zahle sie ein Kostgeld, und sie müßten alle recht gut zu ihm sein.

Und der Bürgermeister hat dem Seppele über's Haar gefahren und gesagt:

»Es soll dir gut gehen, Büble.«

Aber der Seppele hat finster vor sich hingestarrt und gesagt:

»Jo, aber mine geht fort.« –

Worauf ihm Tante Anna versprach:

»Dine vergißt dich nicht.«

Wir sind abgereist und haben's bei Tante Marie wie im Himmelreich gefunden, und ich bin unaussprechlich glücklich, denn ich habe schon ein ganzes Häufchen Geld beisammen, nämlich für den Seppele und's »Lahmärmle« und die Hanne, damit sie kommenden Sommer eine Reise zu uns machen können.

Seppele's Brief nach seiner Konfirmation will ich zum Schluß abschreiben. 108

Liebe Dante Anna!

Ich bin jetzt in der Leer beim gartner Helmle in der Statt wo ich einem zihmlich schweeren Berruf underliege aber am Sonntag geh ich heim mit der Wäsch wos Lammermle schon uf der Landstros wart und kocht mir meine Laipspeiß Wegklös mit Biere wofür Gott ihr und mir ein langes Leben und Reichlichen Seegen schenke. Der Burgermeister muß ich auch loben for seine Güt und der Herr Pfarrer und die Hanne, da sie mir immer was zusteckt so daß ich vollauf gesund bin. Aber dich und 's Lisele möchten wir halt vor unserm End noch einmal sehne, denn dorum bin ich auch immer brav gewest.

Dein glückl. Faforit

Joseph.

 


 


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