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Hätte der treffliche Verfasser des Theaterstücks »Verworrene Schicksale« vorausgesehen, daß keine geringere Persönlichkeit als der hochwohllöbliche Marquis von Pelborough, ein wenig von den strahlenden Lichtern geblendet, am Schluß des dritten Aktes auf der Bühne erscheinen und noch dazu im aufregendsten Augenblick in den sorgfältig ersonnenen Schlußeffekt hineinplatzen würde, mit einem Kind auf dem Arme, hätte er keine für die Situation besser geeigneten Worte finden können als diese. Sie lauteten:
Frau Wahrheit (flehend): »Geben Sie mir das Kind her! Geben Sie mir das Kind her!«
Graf Robino: »Sie sollen es nie wieder sehen! Ha, ha, ha!«
Flemming (tritt eilig ein, ein Kind auf dem Arm): »Sie lügen! Das Kind ist hier!«
(Vorhang.)
Der treffliche Verfasser hat zwar nicht mit den obigen Worten sagen wollen, daß die Mutter des Kindes davongelaufen war, oder daß das Kind einen Fremdkörper verschluckt hatte, wie Bubi so bestimmt behauptete und dadurch gleichfalls der dramatischen Dichtung einen Fremdkörper aufzwang. Lassen wir aber den Vorhang des Strand-Broadwaytheaters fallen, lassen wir die Theaterkritiker im Restaurant zusammenhocken und sich den Kopf über den lustspielartigen Schluß der tragischen Szene zerbrechen, lassen wir Herrn Solburg, den gewichtigen Direktor, von verhaltenem Lachen geschüttelt, sich hinter die Kulissen begeben, um die sensationelle Geschichte auszudenken, die er am nächsten Morgen den Journalisten auftischen wird; lassen wir Bubi nach der Doughtystraße eilen, um eine gefüllte Milchflasche zu holen, während eine bejahrte Garderobenfrau das Kind wiegt, und dann lassen wir Bubis Tagebuch einen kurzen Überblick geben:
Sonnabend den 30. Wurde Marquis.
Montag den 1. Beerdigte meinen Onkel.
Mittwoch den 3. Erstes Auftreten auf der Bühne. Kind adoptiert.
Donnerstag den 4. Gehalt auf fünf Pfund die Woche erhöht.
Vier dramatische Tage in einer aufregenden Woche.
War Bubis bisheriges Leben kein ganz alltägliches gewesen, so war es wenigstens glatt verlaufen. Ein Versicherungsbeamter mit einem beschränkten Einkommen hat immer dieselbe eintönige Existenz. Für die zahlreichen Gesuche seines Onkels an das Oberhaus, das uralte, erloschene Marquisat von Pelborough wieder herzustellen, hatte Bubi nur die Nachsicht, Gleichgültigkeit und freundliche Geringschätzung übrig gehabt, die die Jugend für die Schwächen und Liebhabereien des Alters empfindet. Und siehe da! Ein Wunder war geschehen. Das Oberhaus hatte Doktor Beanes Forderung bewilligt, und die Nachricht hatte den alten Mann im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode erschreckt, so daß sein Titel und die Freuden desselben nicht ihm, sondern einem ernsten jungen Mann zufielen.
In der Nacht, die auf Bubis unfreiwilliges Auftreten im Broadwaytheater folgte, schlief er schlecht. Über seine Lage grübelnd, wälzte er sich hin und her. Er war Marquis, Pair des britischen Reiches, Nachkomme von Königen und großen Kriegern geworden. Ein unbehagliches Gefühl der Verantwortung bedrückte ihn, und er wußte nicht, wie er diese neuen Verpflichtungen erfüllen sollte.
Sein Wirt, der Sekretär eines Rechtsanwalts, hatte ihm die Erlaubnis gegeben, von den Büchern, die ungefähr sechs Reihen eines Regals im Eßzimmer ausfüllten, alles zu lesen, wozu er Lust hatte.
Um drei Uhr morgens machte Bubi Licht und ging leise mit bloßen Füßen ins Eßzimmer, um Klarheit und Belehrung zu suchen. Vielleicht würde er ein Buch über Lords finden.
In der Tat fand er ein halbes Dutzend darüber, aber alle waren Romane. Nachdem er mehrere durchblättert hatte, kam er zu der Erkenntnis, daß es zwei Arten Lords gäbe. Die eine Art war alt und ehrwürdig und trug den Kopf hoch, die andere verbrachte ihr Leben mit Wetten und benahm sich unpassend gegen Damen. Bubi stellte diese Bücher zurück und nahm seine Nachforschungen wieder auf.
In einem vielgelesenen Konversationslexikon fand er endlich das Gewünschte. Auf dem Rande seines Bettes sitzend, schlug er das Wort »Marquis« auf und entdeckte, daß er fast so hoch im Range stand wie ein Herzog.
»Don–ner– –wet–ter!« rief Bubi aus.
»Der Mantel ist scharlachrot mit einem dreistufigen Hermelinumhang.«
Was das wohl für ein Mantel sein mag, fragte er sich. Als er las, daß der erste Marquis von Pelborough, ein gewisser Charles, Graf Sheffield, den Titel von König Richard dem Dritten in höchsteigener Person verliehen bekommen hatte, war er ganz ergriffen.
Nachdem er das Buch in das Regal zurückgestellt hatte, ging er schlafen und wachte erst um halb acht wieder auf, als ihm ein kleines Dienstmädchen eine Tasse Kaffee brachte. Mit dem Tageslicht kehrten auch die Sorgen über alle Probleme wieder, die ihn in der Nacht bedrückt hatten.
Gwenda war schon auf, und der Frühstückstisch wurde gerade gedeckt, als er klingelte und sie ihm öffnete.
»Guten Morgen, Bubi! Haben Sie schon die Zeitung gelesen?« fragte sie, als er sich an den Tisch setzte.
Bubi fuhr schuldbewußt zusammen.
»Nein, noch nicht. Hoffentlich steht von meinem Auftreten mit Samuel nichts darin?« fragte er bestürzt.
»Bis jetzt nicht, aber es wird schon kommen!« erwiderte die herzlose Gwenda.
»Wie geht es Samuel?«
Sie lächelte. »Er schlief wie ein junger Gott. Was wollen wir nun mit ihm anfangen, Bubi?«
»Aber Gwenda! Schon gestern abend sagte ich Ihnen, daß ich ihn adoptieren will, bis seine Mutter zurückkommt«, antwortete Bubi entschlossen.
»Und was gedenken Sie mit dieser Wohnung zu machen?« fragte Gwenda ergeben.
»Ich werde die sämtlichen unbezahlten Rechnungen begleichen, und wir werden die Wohnung behalten.«
Bubi ist heute morgen entschieden sehr geschäftstüchtig und energisch, dachte Gwenda bei sich.
»So viel Geld habe ich doch noch«, fügte er hinzu.
Aber Samuel zu adoptieren erwies sich als ein schwierigeres Unternehmen als er zuerst gedacht hatte. Es bedeutete das Engagieren einer Kinderpflegerin, und diese Kinderpflegerin mußte gleichzeitig noch Hausdame und Gwendas Gesellschafterin sein, sonst könnte nichts aus dem idealen kleinen Haushalt werden, den er erstrebte. Gwenda legte ihm natürlich keine Hindernisse in den Weg, denn ihre Lage war schon ohnehin eine schwierige. Es war ihr klar, daß sie, und nicht Bubi, das Kind adoptieren mußte.
Bubi waren die Götter an jenem Tage hold. Das Resultat des ersten Besuches in dem Mietsbureau war Frau Orlando Phibbs, und zwar leibhaftig, denn sie war in höchsteigener Person zugegen, als Gwenda das Bureau betrat. Zuerst war Gwenda nicht sonderlich von ihr entzückt. Frau Phibbs war eine große, majestätische Erscheinung. Sie hatte ziemlich markierte und imponierende Gesichtszüge und ein Doppelkinn.
Die ruhige, kühle Art, mit der sie Gwendas etwas zaghaft geäußerte Wünsche anhörte, wirkte auf diese nicht gerade ermutigend.
Aber dann hatte Gwenda eine Eingebung. Sie erzählte die ganze Geschichte von Maggie und Samuel und von Bubis freiwilligem Adoptieren des Kindes. Während dieser Schilderung milderte sich die strenge Würde der Frau Phibbs, und ein Lächeln erhellte ihr finsteres Gesicht.
»Also, meine Liebe, ich sehe, das ist gerade etwas für mich«, sagte sie energisch.
Sie war eine Arztwitwe. Vor der Heirat war sie Krankenpflegerin gewesen. Ihr Mann, erzählte sie mit der größten Ruhe, hatte sich zu Tode getrunken und eine Anzahl »Ehrenschulden« hinterlassen. Es erfüllte sie mit tiefer Befriedigung, diese nicht anzuerkennen. Außerdem hatte sie vier Lotterielose von ihm geerbt und ein Haus, das der selige Phibbs so geschickt mit Hypotheken überlastet hatte, daß er totsicher sein Leben hinter Schloß und Riegel beendet hätte, wenn der Betrug vor seinem Tod aufgedeckt worden wäre. Diese Einzelheiten vertraute sie Gwenda auf dem Wege nach der Wohnung an.
»Denken Sie nicht etwa, daß ich zu den ›verschämten Armen‹ gehöre,« sagte Frau Phibbs, »durchaus nicht, aber ich bin mit einem Sinn für Humor und einem dann und wann auftretenden Anfall von Rheumatismus belastet.«
Samuel, der inzwischen der Obhut seines freiwilligen Hüters anvertraut worden war, begrüßte Frau Phibbs mit stürmischem Beifall.
Frau Phibbs war erstaunlich tüchtig. Sie ließ sich in dem Zimmer von Samuels geflüchteter Mutter häuslich nieder, übernahm die Oberaufsicht über das Mädchen, das Maggie gemietet hatte und befahl Bubi, seinem Wirt zu kündigen und in das Zimmer, das ursprünglich für ihn bestimmt war, einzuziehen.
»Ach was, Schicklichkeit!« rief Frau Phibbs verächtlich. »Ich habe einen Sohn beim Militär, der den jungen Mann in die Tasche stecken könnte! Wie heißt er übrigens?«
»Marquis von Pelborough«, sagte Gwenda.
Frau Phibbs hielt in ihrer Arbeit inne.
»Marquis von – – – ach ja, ich weiß schon. Ich las neulich davon in den Zeitungen. Er ist der junge Mann, der den Titel von einem Onkel erbte, nicht wahr? Ein interessanter Haushalt, Frau Maynard. Ihr Gatte lebt nicht bei Ihnen?«
Gwenda schüttelte den Kopf. »Ich glaube, es ist wohl besser, ich erzähle Ihnen, wie es mit meiner Ehe steht«, sagte sie, und offenbar waren die Gründe, die sie für die Abwesenheit ihres Mannes gab, vollkommen zufriedenstellend.
»Bubi – Lord Pelborough – weiß nichts davon, ich will auch nicht, daß er es erfährt«, sagte sie. »Ich habe mit niemand außer mit Ihnen darüber gesprochen. Es ist eigentlich sonderbar, daß ich es Ihnen erzähle.«
Bubi kam genau anderthalb Stunden zu spät ins Bureau. Er hatte an Herrn Leither telefoniert, und dieser liebenswürdige Herr hatte ihm Urlaub für den ganzen Tag angeboten, aber Bubi hatte schon ein so schlechtes Gewissen, daß er fest entschlossen war, mit solchen Unregelmäßigkeiten aufzuhören. Er trieb sogar seine Gewissenhaftigkeit so weit, daß er Herrn Leither um eine Unterredung ersuchte und ihn bat, die versäumten Arbeitsstunden von seinem Gehalt abzuziehen, doch Herr Leither wollte nichts davon hören.
»Sie nehmen das Leben viel zu schwer, mein lieber Pelborough«, sagte er jovial. »Übrigens Ihr Gehalt habe ich auf fünf Pfund die Woche erhöht. Es ist natürlich lange nicht angemessen« – er zuckte mit den Achseln – »und ich muß sehen, daß Sie entlastet werden, Pelborough, ja, das muß ich unbedingt. Von morgen ab wird Ihr Schreibtisch in meinem Zimmer stehen. Ich kann es nicht länger zulassen, daß Sie mit dem Personal zusammensitzen – das geht nicht – nein.«
Bubi hörte mit Entsetzen von dieser Neuerung und versuchte zu ergründen, welche Pflichten ihm übertragen wären. Augenscheinlich bestanden sie darin, so dekorativ und wichtig wie möglich zu wirken und etwaige Kunden zu empfangen.
»Nur eine Frage möchte ich gern mit Ihnen besprechen,« sagte Herr Leither etwas verlegen. »Wie steht's mit der Kleidung?«
»Kleidung?« fragte Bubi erstaunt.
»Ich habe den besten Schneider, den es überhaupt gibt«, erklärte Herr Leither ein wenig prahlerisch.
Bubi konnte nicht umhin, zu denken, daß Herrn Leithers Anzüge eigentlich der Tüchtigkeit seines Schneiders kein gutes Zeugnis ausstellten.
»Wie wäre es, wenn Sie sofort ein halbes Dutzend Anzüge bestellten? Einen Frackanzug vor allem. Haben Sie einen Frack, Pelborough?«
»Nein, ich habe keinen«, mußte Bubi zugeben.
»Ach den müssen Sie unbedingt haben«, sagte Herr Leither kopfschüttelnd. »Wie steht's mit Oberhemden, Stiefeln und so weiter? Mein lieber Pelborough, Sie müssen wirklich standesgemäß angezogen sein. Sehen Sie mich nur an.«
Bubi sah ihn an und dachte, er hätte noch nie einen Mann gesehen, bei dem die Geschicklichkeit des Schneiders so offensichtlich verlorene Liebesmüh war.
»Stellen Sie sich vor, wenn ich ganz zerlumpt hier erscheinen würde – womit ich natürlich nicht etwa sagen will, daß Sie zerlumpt hier ankommen, das ist nur eine Redensart, mein lieber Pelborough –, meinen Sie, daß ich auf die Kunden einen vertrauenerweckenden Eindruck machen würde?«
Dieser Gedanke war für Bubi ganz neu, und er teilte Gwenda seine Sorgen gleich mit, denn er ging jetzt immer zum Mittagessen nach Hause.
»Er wird wohl recht haben«, meinte sie. »Aber Sie werden Ihre Anzüge selbst kaufen, nicht wahr, Bubi? Sie werden sich Herrn Leither doch nicht verpflichten?«
»Aber selbstverständlich will ich meine Kleidung selbst kaufen«, rief Bubi erstaunt. »Er hat auch gar nicht gemeint, daß er sie bezahlen wollte.«
»Ich glaube doch«, meinte Gwenda lächelnd.
Die Kleidungsfrage sollte wichtiger und akuter werden als sie oder Bubi ahnten.
Am nächsten Morgen bekam er einen dicken Brief in einem großen weißen Umschlag, der ihm von Brockley nachgesandt worden war. Er war an den »Hochwohllöblichen Marquis von Pelborough etc.« adressiert. Was das Etcetera bedeuten sollte, war aus dem Briefe selbst zu ersehen.
»An Unseren vielgeliebten und getreuen Charles, Marquis von Pelborough, Graf Steffield, Vicomte Morland, Baron Pelborough der Grafschaft Westshire, Baron Slieve etcetera ...«
»Zuvörderst entbieten Wir Unseren Gruß. Sintemalen Wir Unser Parlament in Unsere Stadt Westminster einberufen haben, wegen dringender Angelegenheiten, betreffend Unsere Person, sowohl den Staat, als auch die Verteidigung Unseres Britischen Reiches und der Kirche Unseres Landes, ersuchen Wir Euch bei Eurer Untertanentreue und dem Gehorsam, die Ihr Uns schuldet, in Anbetracht der oben erwähnten dringenden Geschäfte und drohenden Gefahren, von allen Entschuldigungen abzusehen und persönlich in dem besagten Parlament vor Uns und den versammelten Prälaten, Edelleuten und Pairs Unseres vorher erwähnten Reiches zu erscheinen und Uns mit Eurem Rat in den besagten Angelegenheiten beizustehen. Insofern als Ihr Uns, Unserer Ehre, der Wohlfahrt und Sicherheit des besagten Britischen Reiches und der Kirche wohlgesonnen seid und Euch die Erledigung der besagten Geschäfte am Herzen liegt, befehlen Wir Euch hiermit, dieser Unserer Order ohne Versäumnis Folge zu leisten. Gezeichnet zu Westminster etc. etc. etc.«
»Was hat das zu bedeuten?« rief Bubi entsetzt.
Sie waren alle drei beim Frühstück. Samuel in einem scharlachroten Schlafröckchen saß in einem hohen Kinderstuhl im Hintergrund und kaute an einem Löffel.
»Ich kenne keinen von diesen Leuten.«
»Von welchen Leuten?« fragte Gwenda.
»Na diesen Graf Steffield und Vicomte Morland und Baron Dingsda – – –«
Gwenda war vor Lachen ganz atemlos.
»Aber Bubi, Sie dummer Zunge, alle diese Leute sind Sie doch! Das sind Ihre Nebentitel.«
»Ach, du Himmel!« rief Bubi. »Bin ich das wirklich?«
»Aber natürlich! Wenn Sie heiraten und Kinder haben sollten, wird Ihr Sohn den zweiten Titel bekommen. Er wird Graf Steffield heißen.«
»Aber bedeutet denn dieser Brief, daß ich ins Oberhaus gehen muß?«
Gwenda nickte.
»Ich überlegte mir schon neulich, wann Sie wohl hinbeordert werden würden. Nun sind Sie einer unserer Gesetzgeber geworden.«
»So, so«, sagte Bubi. »Dann werde ich mal heute nachmittag mit herangehen und die Sache erledigen.«
Gwenda lachte noch immer.
»Ach, Bubi, das Oberhaus ist keine ›Sache‹, die man so ohne weiteres erledigen kann, oder ein Institut, wo Sie ›mit herangehen‹ können«, sagte sie und legte dabei die Hand auf seine Schulter und schüttelte ihn sanft. »So einfach ist das nicht, dazu gehören eine Menge Formalitäten. Vorläufig müssen Sie schreiben, daß Sie am nächsten Montag erscheinen werden. Inzwischen werde ich auskundschaften, was Sie außerdem zu tun haben.«
»Aber warum kann ich nicht einfach dort vorsprechen, ›guten Tag‹ sagen und wieder fortgehen?« fragte Bubi bekümmert. »Ich möchte nicht viel Zeit damit vergeuden. Ich habe Herrn Leither in der letzten Zeit recht schlecht behandelt, und gerade Montag nachmittag kommt ein Herr zu uns, der sich bestimmt sehr hoch versichern wird, und Herr Leither wird sicher wollen, daß ich ihm die verschiedenen Verzeichnisse zeige und erkläre.«
Gwenda setzte Bubi auseinander, daß die Einführung eines neuen Lords eine ziemlich große Zeremonie wäre, und als er sie an jenem Abend vom Theater abholte, um sie nach Hause zu begleiten, teilte sie ihm weitere Einzelheiten mit, die ihn mit Entsetzen erfüllten.
»Ich habe mit Herrn Solburg gesprochen,« sagte sie, »und er ist wirklich viel netter, als ich dachte. Denken Sie, Bubi, er hat der Presse nichts von Ihrem Auftreten im dritten Akt in ›Verworrene Schicksale‹ mitgeteilt. Er sagte, das Stück ginge so gut, daß es keiner weiteren Reklame bedürfe. Sie müssen sich morgen eine Stunde Urlaub geben lassen und mit Herrn Solburg essen gehen.«
Die beiden Herren speisten in einem Klub in Mayfair, dessen Mitglied Herr Solburg war. Bubi war sprachlos über die Pracht des Zimmers, die Eleganz der Gäste und die luxuriöse Atmosphäre.
»Nein, ich würde Ihnen nicht raten, hier als Mitglied einzutreten, Mylord«, sagte der offenherzige Solburg. »Sie sind zwar ziemlich sicher, solange Sie kein Geld haben, aber es gibt Männer und Frauen in diesem Zimmer, die Mittel und Wege fänden, aus Ihrem Titel Geld zu machen.«
Er wies auf ein paar berüchtigte Persönlichkeiten. Sie sehen doch ganz anständig aus, dachte Bubi bei sich und war ganz erstaunt, zu hören, daß sie schon mit einem Ärmel das Zuchthaus gestreift hatten.
»Der Kerl da drüben arbeitet mit amerikanischen Dampfern«, sagte Herr Solburg. »Er ist der Sohn eines Lords mit dem Prädikat ›hochwohllöblich‹, dabei ist er ein Lockvogel, um die Gimpel auf den Leim gehen zu lassen.«
»Aber warum sind Sie Mitglied eines Klubs, in dem so schreckliche Leute sind?« fragte Bubi erstaunt.
»Ach, mich stören sie nicht«, erwiderte Solburg gelassen.
»Mich würden sie sehr stören«, entgegnete Bubi. »Wenn ich Geld hätte, was gottlob nicht der Fall ist, würde ich dieses Haus bestimmt nicht betreten.«
»Sie sind klug«, sagte Herr Solburg.
Nach dem Essen fuhr er Bubi in seinem prächtigen Auto zu Stainers, dem berühmten Spezialgeschäft für Theatergarderobe.
»Ja, wir können Ihnen die Staatsrobe liefern«, sagte Herr Stainer, der derselben Rasse wie Herr Solburg angehörte. »Echt Hermelin, Herr Solburg. Es wurde von – – – – – getragen« – er nannte einen berühmten Schauspieler –, »aber die Marquiskrone müssen wir von Pillings, Burystraße, leihen, und sie werden eine Kaution verlangen.«
»Belasten Sie mein Konto damit«, sagte Solburg. »Aber sorgen Sie dafür, daß die Krone gut aussieht und seiner Lordschaft paßt.«
Mit der gehörigen Feierlichkeit wurde Bubi Maß genommen, und am selben Abend wurden Krone und Staatskleid in der Doughtystraße abgeliefert. Bubi probierte sie vor einem bewundernden Publikum an.
Die Marquiskrone war doch etwas zu groß ausgefallen; aber nachdem Gwenda ein paar Streifen Papier hineingelegt hatte, die sie mit einigen Stichen befestigte, paßte sie tadellos. Bubi betrachtete sich mit ernster Miene im Spiegel. Seine scharlachrote Robe schleppte auf der Erde, der große Hermelinumhang erstickte ihn fast, aber der Anblick der Marquiskrone auf seinem Kopfe mit den Perlen und Erdbeerblättern aus Edelsteinen hypnotisierte ihn.
»Donnerwetter noch einmal!« sagte er schließlich.
Das Wort schien seine Empfindungen hinreichend auszudrücken.
»Ich sehe wie ein König aus, Gwenda. Hoffentlich wird mich keiner für so etwas Ähnliches halten?« fragte er erschrocken.
»Ach, Unsinn, Bubi! Das wird kein Mensch tun!«
»Aber muß ich etwa in dieser Aufmachung durch die Straßen gehen?« fragte er entsetzt. »Ich könnte natürlich im Autobus fahren oder ein Auto nehmen, aber man würde mich auslachen. Könnte ich nicht in meinen gewöhnlichen Kleidern hineingehen, mit der Krone in der Hand und der Robe über dem Arm, bloß um ihnen zu zeigen, daß ich die Dinger habe?«
»Aber Sie ziehen sich doch erst im Oberhaus um«, sagte Gwenda lachend. »Sie sind närrisch, Bubi!«
Gwenda übernahm es, alle die nötigen Auskünfte einzuholen. Nachmittags ging sie ins Oberhaus. Nachdem sie einem Heer von Beamten, vom Pförtner angefangen bis zum Chef der Subalternen, auf ihre prüfenden Fragen geantwortet hatte, gelang es ihr endlich, die Unterredung, die sie erstrebte, zu erhalten. Mit vor Erregung geröteten Wangen kehrte sie danach zu Bubi zurück.
»Bubi, Sie werden von zwei Lords dem Oberhaus vorgestellt,« sagte sie, »und es ist ein besonderes Zimmer dort vorhanden, in dem Sie sich einkleiden können, wie man es da nennt. Nachdem Sie durch den ganzen Sitzungssaal gegangen sind, müssen Sie den Treueid schwören und dem Lordkanzler die Hand schütteln.«
»Sie ziehen mich wohl auf, Gwenda«, sagte Bubi, der ganz blaß geworden war. – »Und Montag wird gerade ein so interessanter Tag sein«, fuhr sie begeistert fort. »Es soll eine große Debatte über das Kinderarbeitsgesetz stattfinden, und das ganze Oberhaus wird versammelt sein, und alle werden Sie sehen.«
Bubi schloß die Augen und stöhnte.
»Und hier sind die Namen der Lords, die Sie einführen werden, es sind so nette Leute, Bubi. Sehen Sie, Lord Felthinton und Graf Mansar. Sie haben schon viel von Ihnen gehört, und sagen, daß sie sich sehr freuen werden, Ihnen behilflich sein zu können.«
»Ach Gott, ach Gott«, stöhnte Bubi und sah sich hilflos im Kreise um.
»Unsinn!« rief die weltkluge Frau Phibbs. »Sie tun ja so, als ob Sie zu Ihrer Hinrichtung geschleppt würden, Bubi.« (Er hatte sie herzlich gebeten, ihn auch Bubi zu nennen.)
»Könnte es nicht einige Tage verschoben werden?« fragte Bubi kummervoll. »Wir haben gerade Montag soviel im Bureau zu tun.«
»Ausgeschlossen, Sie müssen Montag hin«, beharrte Gwenda unnachgiebig. »Wir wollen also kein Wort mehr darüber verlieren. Ich glaube, Sie müssen in Hoftracht erscheinen. Ich werde Herrn Solburg fragen.«
Die Woche verging allzu schnell, und je mehr sich der gefürchtete Tag näherte, desto resignierter wurde Bubi.
Am Sonntag abend saß er mit Gwenda und der tüchtigen Frau Phibbs zusammen und las. Samuel hatte sich für die Nacht zurückgezogen, und die Stille wurde nur durch das Rascheln von Bubis Zeitung und das Klappern von Frau Phibbs' Stricknadeln unterbrochen.
Etwas in Gwendas Haltung wirkte beruhigend auf Bubi. Eine Weile beobachtete er sie über den Rand seiner Zeitung hinweg. Sie ist doch die schönste Frau der Welt, dachte er bei sich, und er hatte nicht so sehr unrecht. Gwenda Maynard sah wirklich hübsch aus. So weiche Linien hatte er in keinem anderen Frauengesicht gesehen. Ihre Augen waren groß und dunkel und hatten etwas tief Geheimnisvolles für den jungen Mann.
»Gwenda,« sagte er, »ich habe nachgedacht.«
Sie sah von ihrem Buch auf ...
»Ich habe darüber nachgedacht, wie unbedeutend ich doch im Vergleich zu anderen Leuten bin«, fuhr er fort.
Sie legte das Buch hin.
»Für manche Menschen ist es ganz gut, wenn sie hin und wieder mal von ihrer eigenen Unbedeutenheit durchdrungen sind,« meinte sie, »aber nicht für Sie, Bubi. Sie werden Großes leisten im Leben.«
Er schüttelte den Kopf.
»Eben las ich die politischen Nachrichten«, entgegnete er. »Früher habe ich sie nie gelesen, und jetzt erst ist es mir klar geworden, welche Macht die Regierung besitzt. Eigentlich kann sie machen, was sie will. Sie könnte Ihr Theater schließen, Gwenda, oder ... oder ...«
»Wie sind Sie auf solche Gedanken gekommen?« fragte sie.
»Ich weiß nicht, mir scheint es so lächerlich, daß ein junger Mensch wie ich die Dreistigkeit besitzt ... denn eigentlich ist es eine Dreistigkeit ... einen Sitz im Parlament einzunehmen.«
Gwenda lachte, streckte ihm die Hand entgegen und ergriff die seine mit ihren kühlen Fingern.
»Sie werden noch ein großer Mann werden«, sagte sie. »Ein Wink von Ihnen wird Regierungen aufbauen und stürzen!«
»Ach, um Gottes willen – hoffentlich nicht!« erwiderte Bubi erschrocken.
Mit bleichem Gesicht erschien Bubi am Morgen des wichtigen Tages. Er wollte erst gar nicht frühstücken, aber Gwenda bestand darauf; das Mittagessen ließ er jedoch ganz unberührt. Er sagte, daß jeder Bissen ihm im Halse steckenbleiben würde.
Die Marquiskrone und die Staatsrobe wurden in einen Handkoffer gepackt, und Bubi bestand darauf, mit dem Autobus nach dem Oberhaus zu fahren. Er behauptete, daß es weniger auffallend wäre. Gwenda begleitete ihn; denn sie hatte von einem der Lords, die Bubis Paten sein sollten, eine Einlaßkarte zu der Zuschauertribüne bekommen, damit sie der Zeremonie beiwohnen könnte.
Das Gebäude erinnerte Bubi an eine große Domkirche, die er einmal besucht hatte. Wann und wo wußte er nicht mehr. Nur der Eindruck, den der Ort auf ihn gemacht hatte, stieg in seiner Erinnerung wieder auf. In diesen breiten, hohen gewölbten Gängen hatte er das Gefühl, er dürfe nur im Flüstertone sprechen, wenn er nicht etwas Frevelhaftes begehen wollte.
Die steinernen Wände waren mit Bildern geschmückt, die historische Ereignisse darstellten. Alle fünf, sechs Schritt stand auf einem Postament die Büste eines längst verstorbenen Parlamentsmitgliedes, und von Zeit zu Zeit erblickte man die lebensgroße Statue eines Staatsmanns, der Geschichte gemacht oder verstümmelt hatte. Ihm war zumut, als ginge er durch eine riesige prächtige Gruft. Dumpf klangen die Schritte der hin und her eilenden Männer auf dem marmornen Fußboden der Wandelgänge. Die eintönige Stimme eines Dieners leierte nicht zu verstehende Namen herunter. Und über allem schwebte das Raunen flüsternder Stimmen, denn hier berieten die Mitglieder des Unterhauses mit ihren Wählern.
Durch diese Wandelgänge mußte man gehen, um in den Sitzungssaal des Oberhauses zu gelangen. Er lag am Ende eines breiten Vestibüls, dessen Wände ebenfalls mit historischen Bildern geschmückt waren.
Bubi faßte sich ein Herz und ging auf den ersten besten Schutzmann zu – – – Hunderte dieser höflichen Beamten schienen anwesend zu sein.
»Lord Pelborough? Jawohl, Mylord, bitte mir zu folgen.«
Bubi hielt den verbeulten Handkoffer, der die geliehenen Gewänder seines Adels enthielt, krampfhaft fest, als Gwenda und er dem Beamten folgten, bis er sie einem anderen Schutzmann übergab, der sie unter seine Obhut nahm und schließlich dort landete, wo Bubis Paten standen.
Mit Ehrfurcht und Scheu betrachtete Bubi diese Herren. Der eine war ein großer Mann von ungefähr fünfundvierzig Jahren, mit einem klugen Gesicht. Er hielt sich schlecht, trug ein Monokel und war sehr elegant gekleidet. Bubi bereute tief, Herrn Leithers Rat nicht befolgt zu haben, als ihm dieser ans Herz gelegt hatte, einen besseren Anzug als den dunkelblauen anzuziehen. Der andere Herr war jung und hatte ein rundes rosiges Gesicht, das ein winziger Schnurrbart schmückte.
»Hier ist also der Marquis von Pelborough«, sagte Gwenda.
Der ältere der Herren schüttelte Bubi die Hand.
»Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Lord Pelborough«, sagte er lächelnd. »Ich habe viel von Ihnen in den Zeitungen gelesen.«
»Jawohl, Herr ... Mylord meine ich«, stammelte Bubi.
»Darf ich Sie mit Graf Mansar bekannt machen?« fuhr der ältere Herr fort, und wies auf den rosigen jungen Mann, der liebenswürdig grinste.
»Furchtbar langweilig, in dieser Aufmachung hierherkommen zu müssen, was? Aber du lieber Gott! Diese Mummelgreise sind so blind, daß sie es nicht merken würden, wenn Sie in Ihrem Pyjama ankämen!«
»Führen Sie Lord Pelborough in das Ankleidezimmer, Mansar. Der Lordkanzler eröffnet die Sitzung um drei Uhr. Sie haben noch ungefähr zehn Minuten Zeit.«
Wie jemand, der zum Schafott geführt wird, sah Bubi aus, als er Lord Mansar folgte; aber durch den erheiternden Einfluß seines lebhaften Begleiters, der beredt und ohne Atempause über das Wetter, den furchtbaren Zustand der Straßen, über die Dummheit, die parlamentarische Laufbahn zu wählen, sprach, wurde Bubi etwas leichter ums Herz. Wie ein Traum kam ihm alles vor. Unklar war er sich bewußt, daß man ihm die lange scharlachrote Staatsrobe anzog, und daß Graf Mansar und ein Diener ihm die Marquiskrone aufsetzten.
»Versuchen Sie den Kopf ruhig zu halten, damit das Ding geradesitzt, alter Junge«, murmelte der Graf. »Es verschiebt sich leicht nach rechts und sieht dann nicht sehr würdig aus. – So ist's gut!«
Darauf wurde Bubi in den Vorsaal geführt. Gwenda war inzwischen auf ihren Platz nach der Tribüne gegangen. Lord Felthinton klemmte sein Monokel ins Auge und betrachtete beifällig den neuen Pair.
»Eigentlich müßten Sie von zwei Marquis eingeführt werden, Lord Pelborough,« sagte er, »aber heute ist gerade kein Marquis anwesend, so müssen Sie mit dem Geleit untergeordneter Leute, wie wir es sind, fürliebnehmen.«
Da Bubi sich dunkel an Gwendas Erzählung erinnerte, daß Lord Felthinton einer der wohlhabendsten Gutsbesitzer in England wäre, versuchte er, während sie warteten, das Gespräch auf die Scholle zu lenken. Er tat es aus Höflichkeit, denn seine Kenntnisse auf diesem Gebiet waren sehr gering. Er wußte nur, daß auf dieser Substanz Häuser erbaut wurden. Sein Mund war trocken, seine Zunge schwer, und wenn er sprach, kam es ihm vor, als redete nicht er, sondern ein anderer.
Ein Beamter, ein ältlicher Herr, der eine Kette um den Hals hatte und die Hoftracht trug, kam durch die Drehtür und murmelte Felthinton etwas ins Ohr. Dieser nickte.
»Also kommen Sie jetzt, Pelborough«, sagte Mansar. »Sputen Sie sich, haben Sie die königliche Order bei sich?«
Mit zitternder Hand holte Bubi sie aus der Hosentasche.
»Nun los«, rief Mansar vergnügt.
Der schlimmste Teil des Traumes war der Gang durch den mit einem roten Teppich ausgelegten Saal. Bubi war sich dunkel bewußt, daß rechts und links von ihm Männer in zivilisierter Kleidung saßen. Das Gefühl, so herausgeputzt zu sein, war ihm außerordentlich peinlich. Zu jeder Seite einen Pair, stand er vor dem Tisch und unterschrieb mit zitternder Hand seinen Namen und hörte, wie er die Worte hersagte: »Untertanentreue ... Erben und Nachfolger ...«
Dann wurde er zu einer Gestalt geführt, die eine große Perücke trug und auf einem breiten gepolsterten Diwan saß. Darauf erhob sich diese Gestalt feierlich, nahm den dreieckigen Hut ab und schüttelte ihm die Hand.
Sein nächster bewußter Eindruck war, wie er wieder im Ankleidezimmer stand, und der junge Graf Mansar ihn anlachte und begeistert rief: »Famos haben Sie Ihre Sache gemacht, alter Junge! Erstaunlich geradezu!«
»Und ich staune nur, daß ich noch am Leben bin!«
»Ach was, Sie sind ganz lebendig! Ziehen Sie nun Ihr Nachtröckchen aus, und stecken Sie die Erdbeerblätter in die Tasche. Kommen Sie, wir wollen die Debatte nicht verpassen.«
»Aber ich soll doch nicht noch einmal da hineingehen!« rief Bubi entsetzt.
»Doch natürlich!« erwiderte Mansar ruhig. »Ihre junge Dame ist auf die Tribüne gegangen, und ich sagte ihr, daß wir in den Saal zurückgingen, um die Redner quasseln zu hören.« Bubi wischte sich die feuchte Stirn.
»Ich habe schrecklich viel Arbeit liegen«, meinte er.
»Ach was! Kommen Sie nur!« sagte Mansar und zog ihn mit sich. Diesmal gelangten sie unbemerkt in den Sitzungssaal. Mansar schob ihn in eine ledergepolsterte Bank, rechts von dem Lordkanzler, und ohne es zu ahnen, unterstützte er so die Regierung. Er wußte nicht, daß er eine Stütze der Regierung geworden war. Aber selbst wenn es ihm bekannt gewesen wäre, hätte es ihn nicht aufgeregt. Jetzt, wo er ruhiger war, konnte er den Sitzungssaal mit Muße betrachten. Es ist doch ein herrlicher Raum, dachte er sich. Wie prächtig wirken die goldenen und karminroten Verzierungen! Nur die Leute, die auf den Bänken saßen, paßten nicht recht in den Rahmen hinein. Es waren fast alle ältliche Herren, und ihre Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf einen sehr dicken, großen Mann, der am Tisch stand und die Ansichten der Regierung über das Gesetz, das augenscheinlich das Thema der Debatte bildete, erklärte.
Bald darauf setzte sich dieser, und ein anderer erhob sich. Bubi fiel es auf, daß, wenn auch diese Herren sich noch so heftig bekämpften, sie nie versäumten, wenn einer von dem anderen sprach, ihn »den edlen Lord« zu nennen. Ein- oder zweimal mußte der Herr mit der Perücke auf dem Diwan, den man, wie er nachher erfuhr, allgemein den »Wollsack« nannte, die Debatte unterbrechen, und hitzige Liebenswürdigkeiten wurden ausgetauscht.
Die auf dem Diwan sitzende Gestalt wurde mit »Mylord Kanzler« angeredet.
Einmal sah Bubi nach der Tribüne und fing einen Blick von Gwenda auf. Ihre Wangen glühten vor Stolz, und er lächelte ihr zu.
Aus einer Flut von Worten, dem eintönigen Sprechen langweiliger Redner und der glühenden Beredsamkeit der Interessanten begriff Bubi allmählich, um was es sich handelte. Es wurde über die Abänderung eines Gesetzes verhandelt, das die Altersgrenze erhöhte, in der man Kinder zu Arbeiten in Fabriken und sonstigen Werkstätten zuließ. Bubi vergaß, daß er im Oberhaus saß, vergaß Gwendas Anwesenheit auf der Tribüne, vergaß seine eigene Nervosität und Verlegenheit und hing an den Lippen des Redners. Er nickte beifällig, wenn ihm etwas gefiel, und schüttelte ablehnend den Kopf, als ein wichtigtuender Herr hinter ihm darauf bestand, daß Kinder der Arbeiterklassen viel besser in einer Fabrik untergebracht wären als in der Schule, wo sie nur kostbare Zeit vergeudeten, um sich Kenntnisse anzueignen, die ihnen im späteren Leben nichts nützten.
Jetzt trat eine Pause ein. Der letzte Redner hatte sich hingesetzt, und der Lordkanzler warf einen Blick nach rechts und links. In diesem Augenblick beschloß Bubi fortzugehen und draußen auf Gwenda zu warten. Als er sich erhob, fand er, daß plötzlich alle Augen auf ihn gerichtet waren.
»Lord Pelborough ...« sagte der Kanzler mit Grabesstimme, und Bubi wandte sich ihm sofort zu.
»Ja, Herr ... Mylord meine ich«, erwiderte er.
»... hat das Wort.«
Erstaunt sah Bubi die Gestalt auf dem Diwan an.
»Sie müssen eine Rede halten«, flüsterte Mansars Stimme hinter ihm. Bubi blinzelte verlegen.
Es war also Sitte, daß ein neues Mitglied eine Rede hielt? Er wußte nicht, daß er das Unglück dadurch heraufbeschworen hatte, daß er aufgestanden war und dem Kanzler kameradschaftlich zugenickt hatte.
»Ich wollte eigentlich fortgehen«, sagte er.
Ein leise gemurmeltes »Hört! Hört!« war die Antwort auf die Störung der Debatte.
»Aber«, fuhr Bubi fort und rieb sich nervös das Kinn, »ich stimme vollkommen mit jenem starken Herrn dort überein.« Er nickte dem Vertreter der Regierung zu, der damit betraut war, das Gesetz einzubringen.
»Der edle Lord meint den Herrn Unterstaatssekretär«, sagte der Kanzler.
»Ich danke Ihnen sehr, Herr – – – Mylord, meine ich«, entgegnete Bubi. »Ich weiß den Namen des Herrn nicht, aber ich stimme mit ihm überein in fast allem, was er sagte. Ich bin überzeugt, der Herr hat selbst Kinder.«
»Es wird vielleicht den edlen Lord interessieren, zu erfahren, daß ich Junggeselle bin«, sagte der Staatssekretär lächelnd, als er sich erhob.
»Das wundert mich sehr,« erwiderte Bubi ernst, »aber ich kann Ihnen versichern, daß das, was Sie gesagt haben, vollkommen richtig ist.«
Die Zuhörer lachten nicht, sondern saßen schweigend mit offenem Munde da, während Bubi die Hände in den Hosentaschen, das rosige Gesicht dem Kanzler zugewendet, fortfuhr, im leichten Plauderton seine Ansichten vorzutragen, völlig ahnungslos, wie oft er gegen das Herkömmliche sowie alle Regeln des Hauses verstieß, und wie viele Traditionen er zertrat.
Es war das erstemal, daß er öffentlich sprach, trotzdem versagte ihm die Stimme nicht, wie es sonst oft bei ungeübten Rednern geschieht. Zuerst war seine Rede stockend, und die Sätze verwickelten sich, aber nach kurzer Zeit vergaß er, daß er sich im Parlament befand, vergaß alles außer der Tatsache, daß diese sehr alltäglich aussehenden Herren ihm zuhörten und seine Ansichten hören wollten. Bubi hatte unter dem Volk gelebt und war Zeuge seiner Kämpfe und seines Heldentums gewesen. Er hatte sich mit halb verhungerten, lang aufgeschossenen Jungen gerauft, die frühzeitig mit Männerstimmen Männerflüche ausgestoßen hatten. Darum wußte er Bildung zu schätzen und begriff, warum der Junge, der das Gymnasium besuchte, eine ganz andere Sprache spricht als das in die Welt hinausgestoßene Kind, daß seine Bildung auf den Straßen erwirbt. –
Im stillen hatte sich Bubi feste Ansichten über diese Frage angeeignet, sie aber bisher nie ausgesprochen.
»Der Unterschied zwischen dem einfachen Arbeiter und dem Handwerker liegt in den zwei Schuljahren, die man dem ersteren abknappst«, sagte Bubi unter anderem, und dieser Ausspruch wurde nachher das Schlagwort der Sozialisten.
Ganz starr vor Erstaunen sah Gwenda auf Bubi hinunter und hörte ihm zu. Hier war ein beredter, überzeugender Bubi, dessen Existenz sie nie geahnt hatte.
Plötzlich wurde er sich seiner Lage bewußt, und seine Rede stockte. Auf einmal überwältigte ihn das Gewaltige seiner Umgebung, und er hielt inne.
»Das ist alles«, stammelte er und setzte sich.
Mitten in das Gemurmel hinein, das teils Beifall, teils Widerspruch ausdrückte, erklang eine Glocke; alle Herren standen auf und verließen den Saal. Durch das Gedränge wurde Bubi von Mansar getrennt und in die Richtung des Vorsaales mitgeschleppt.
»Ja oder nein, Mylord?« fragte ein Beamter an der Tür.
»Nein, danke,« sagte Bubi schnell, »ich trinke nichts.«
Da er glaubte, daß man Erfrischungen anbieten würde, ging er in den von dem Diener bezeichneten Saal. Gruppen miteinander plaudernder Herren gingen ebenfalls dort hinein. Zwei oder drei, die erstaunt zu sein schienen, ihn da zu sehen, wechselten einige Worte mit ihm; aber sie waren fast alle eifrig mit der Frage beschäftigt, ob der Abänderungsantrag genehmigt oder abgelehnt würde. Die meisten glaubten, daß die Stimmenzahl für die Regierung und die Opposition beinahe die gleiche sein würde.
Nach einer Weile marschierten alle wieder hinaus – warum, wußte Bubi nicht – und kehrten in den Sitzungssaal zurück. Wie ein Schaf trottete Bubi hinterher. Plötzlich erblickte er Mansar, der ihn am Arm ergriff.
»Es wird eine sehr knappe Stimmenmehrheit geben,« sagte er, »Ihre Rede war famos, alter Bursche!«
»Wie, was wird knapp sein?« fragte Bubi, der immer weniger begriff.
»Pst!« sagte Mansar.
Zwei Herren gingen an den Tisch heran, ein paar Worte wurden ausgetauscht, und plötzlich brach ein Beifallssturm aus. Mansar saß mit offenem Munde da.
»Ach, das bedeutet eine Niederlage für die Regierung. Das Gesetz für die Erhöhung der Altersgrenze ist abgelehnt worden, und zwar durch die Mehrheit von einer Stimme«, erklärte er Bubi. Plötzlich hatte Mansar einen furchtbaren Verdacht. »Sie haben doch nicht etwa für Herabsetzung der Altersgrenze gestimmt?«
»Aber nein«, rief Bubi entrüstet. »Ich habe überhaupt nicht gestimmt.« Lord Mansar ging ein Licht auf.
»In welchen Saal gingen Sie vorhin? Nach der ›Ja‹- oder ›Nein‹-Tür?« fragte er.
»Ich weiß nicht«, antwortete Bubi. »Einer fragte mich ›Ja oder nein?‹, und – ich sagte ›Nein‹; denn ich dachte, er biete mir etwas zu trinken an.«
»Und da gingen Sie natürlich in den ›Nein‹-Saal!« rief Mansar erregt. »Erst unterstützen Sie mit einer feurigen Rede die Maßnahmen der Regierung, und dann stimmen Sie für die verfluchte Opposition? Verdammt nicht nochmal, Pelborough! Durch Ihre Stimme hat die Regierung eine Schlappe erlitten!«