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Einen Augenblick lang starrte ihn Hymie völlig fassungslos an. Er war wie gelähmt und keines klaren Gedankens fähig.
»Miss Ena wartet draußen auf mich ...«, begann Mr. Reeder, doch da war Hymie schon wieder zu sich gekommen und handelte.
Mit einer blitzschnellen Bewegung schlug er gegen den Schalter das Licht ging aus, und im nächsten Augenblick raste er durch den Gang und die Treppe hinunter.
In der Halle war niemand. Hymie stürzte zur Haustür, riß sie auf und rannte in die Nacht hinaus. Er trug nur einen Morgenrock und Handschuhe, aber er fühlte nicht einmal den harten Kies unter den Füßen, als er den Zufahrtsweg hinunterlief. Ein Wagen fuhr gerade aus der Garage, die hinter dem kleinen Portierhaus am Eingang lag.
»Macht das Tor auf, schnell!« rief er schon von weitem. Einer seiner Leute rannte hin, drehte den Schlüssel um und versuchte, das große schmiedeeiserne Tor zu öffnen. Es bewegte sich einige Zentimeter, doch dann rührte es sich trotz allen Ziehens und Zerrens nicht mehr. Jemand hatte die beiden Flügel mit einer Handschelle zusammengekettet.
»Einen Hammer – eine Axt!« brüllte Hymie.
Einer der Leute lief zur Garage und brachte einen schweren Vorschlaghammer. Es schien eine Kleinigkeit zu sein, die stählerne Kette, die die beiden Stahlringe miteinander verband, zu zertrümmern – trotzdem dauerte es fast drei Minuten, bevor es gelang, das Tor zu öffnen.
»Warum die Mühe«, hörte Hymie in diesem Augenblick plötzlich eine sarkastische Stimme aus der Dunkelheit. »Ihre Reifen sind platt, ich habe mir selbst erlaubt, sie durchzuschneiden. Und auch wenn ich es nicht getan hätte ...«
Im gleichen Moment hörten sie Motorengeräusch. Ein Wagen näherte sich in rasender Fahrt und hielt gleich darauf mit knirschenden Bremsen vor dem eisernen Parktor.
Hymie sah das Aufblitzen von Polizeiuniformen und Waffen, drehte sich um und lief zurück. Zehn Meter vor ihm tauchte plötzlich eine dunkle Gestalt aus dem Gebüsch auf – er blieb stehen, riß die Pistole aus dem Schulterhalfter, die er unter dem Morgenrock trug, und feuerte.
Darauf hatte Mr. Reeder nur gewartet. Er nahm es in dieser Beziehung sehr genau mit dem Gesetz und schoß immer erst dann, wenn auf ihn geschossen worden war.
Sein Revolver krachte zweimal kurz hintereinander.
Hymie fühlte einen brennenden Schmerz in der Hüfte und stürzte zu Boden.
*
»Ja«, erklärte Mr. Reeder wenig später im Büro von Inspektor Grayson. »Ich fuhr nach Buckinhamshire, ohne Scotland Yard vorher über meine Absichten zu informieren. Da ich, wie Sie ja wissen, ziemlich vorsichtig bin, rief ich allerdings die Polizei in Buckinghamshire an und teilte ihr mit, was ich vorhatte. Ich bat gleichzeitig, daß man zu einer bestimmten Zeit einen Streifenwagen mit einigen Beamten schicken solle, um mich am Parktor abzuholen.
Schon seit einiger Zeit wußte ich, daß auf diesem reizenden Landsitz mindestens zwei Verbrecher wohnten. Mr. Hymie Higson war es in letzter Zeit so auffallend gut gegangen, daß ich einem meiner Beamten den Auftrag gegeben hatte, sich ein wenig um ihn zu kümmern; so entdeckten wir, daß er in Hexley Manor wohnte. Der Nachweis, daß er und Captain Mannering ein und dieselbe Person waren, fiel uns dann natürlich nicht mehr schwer.
Ich wunderte mich, als ich erfuhr, daß Hymie sich einen kleinen Landsitz gekauft hatte. Die Lösung fand ich erst, als ich mir aus Amerika seine Strafakten kommen Heß. Drin steht nämlich, daß er gerne in der Rolle eines Gutsbesitzers auftritt. Das flößt Vertrauen ein, und auf diese Weise ist es ihm auch gelungen, eine ganze Anzahl reicher junger Leute zu schröpfen.
Hymie hat, als ihm in Amerika der Boden unter den Füßen zu heiß wurde, die gleiche Methode in England versucht. Er annoncierte in großen Blättern und bot Grundstücke mit Petroleumvorkommen zum Verkauf an. Und auch hier gelang es ihm, verschiedene Leute hereinzulegen.
Als er mit Ernest Graddle in Verbindung trat, war er sich noch nicht im klaren, welch guten Fang er da gemacht hatte. Erst; als er von Graddle eine größere Summe erhielt, wurde er aufmerksam, denn er wußte natürlich, daß ein Bankangestellter nicht über soviel Geld verfügen konnte. Er drohte ihm mit einer Anzeige, und Graddle erzählte ihm daraufhin, wie er die Bank hinterging.
Der Rest war nun ziemlich einfach. Graddle plünderte die Bank in Hymies Auftrag um immer größere Beträge. Der Trick war so einfach, daß auch ein Kind die Sache hätte durchschauen können.
Graddle war auf die schiefe Bahn geraten, aber er hatte sich fest vorgenommen, alle Unterschlagungen wieder zu ersetzen, wenn er einmal Glück bei seinen sorgfältig geheimgehaltenen Spekulationen hatte. Nachdem er aber mit Hymie in Verbindung getreten war, wurde das unmöglich, denn dieser erpreßte ihn ständig weiter.
Nach dem ersten Treffen ließen sich die beiden nie wieder zusammen in London sehen. Dazu war Hymie viel zu klug, denn er wußte, daß die Verfehlungen Mr. Graddles früher oder später entdeckt werden mußten. Sie trafen sich in einer Wohnung am Haymarket und an anderen Orten.
Bei einer seiner Fahrten nach London sah Graddle Ena Panton und verliebte sich auf den ersten Blick in sie. Er machte ihr Geschenke und gab ihr größere Summen. Als die Entdeckung seiner Unterschlagungen immer drohender wurde, wollte er sie heiraten und mit ihr flüchten.
Ena wünschte, daß die Verlobung in der Zeitung bekanntgemacht werden sollte. Nur zögernd gab Graddle nach und erzählte später Hymie davon, der daraufhin einen Wutanfall bekam. Solche Anzeigen würden selbstverständlich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf das Paar lenken. Hymie verhinderte das Erscheinen der Anzeige und erfuhr bei seinem mitternächtlichen Besuch, daß Enas Schwester bei mir arbeitet. Das war ein schwerer Schlag für ihn.
Er verkleidete sich so gut wie möglich, als er zu den Pantons ging, denn auf keinen Fall sollte jemand entdecken, daß er mit Ernest Graddle in Verbindung stand.
Schließlich machte er dem Bankbeamten den Vorschlag, noch einmal eine große Summe abzuheben und dann mit ihm zu fliehen. Doch diesmal sträubte sich Ernest. Er erklärte, daß er Ena nicht aufgeben wolle, ließ sich aber schließlich überreden, für eine Weile ins Ausland zu gehen. Erst einen Abend vor der beabsichtigten Flucht gestand er Hymie, daß er sein Versprechen gebrochen, sich wieder mit Ena in Verbindung gesetzt und ihr einen Teil des Geldes geschickt habe, das er vorher in Dollar umwechseln ließ.
Als Hymie hörte, daß er Ena fünfundzwanzigtausend Dollar geschenkt hatte, geriet er außer sich. Es drohte ihnen sofortige Entdeckung, wenn die laufenden Nummern der Banknoten bekanntgemacht wurden. Ernest Graddle hatte ihm in der letzten Zeit schon viel zu schaffen gemacht, denn der junge Mann zeigte allmählich Furcht und Reue und überhäufte Hymie mit heftigen Vorwürfen.
Die Aussagen des Automechanikers und des Wirts in Andover bestätigten diese Tatsache. Ihrer Beschreibung nach machte Graddle einen völlig verstörten Eindruck.
Der Plan, den sich Hymie zurechtgelegt hatte, sah nun folgendermaßen aus.
Er wollte am Nachmittag in die Nähe von Salisbury fliegen und dort in der Dunkelheit auf einem von seinen Komplicen mit Lichtern markierten Sportplatz landen. Ernest sollte mit dem Auto dorthin fahren und ihn in der Nähe von Stonehenge treffen. Es gelang Hymie auch, mit seiner Maschine unbemerkt zu landen. Ein großer Flugplatz liegt in dieser Gegend, und ein niedrigfliegendes Flugzeug fällt nicht weiter auf.
Ernest hatte Hymie natürlich versprochen, daß er ihn sicher ins Ausland bringen wolle, wahrscheinlich nach Südfrankreich – in Wirklichkeit hatte Hymie aber ganz andere Pläne. Graddle war für ihn viel zu gefährlich geworden; er konnte keinesfalls das Risiko eingehen, ihn in Frankreich frei herumlaufen zu lassen, denn wenn der Bankraub bekannt wurde, erhielt natürlich auch die französische Polizei Graddles Steckbrief. Außerdem würde er sich bestimmt sofort telegrafisch mit Ena in Verbindung gesetzt haben, um sie zu sich zu holen.
Aus allen diesen Gründen richtete Hymie einen Raum in seinem Landhaus ein, wo er Ernest Graddle gefangensetzen konnte.
Der junge Mann traf an der verabredeten Stelle mit ihm zusammen. Der Koffer mit dem Geld wurde ins Flugzeug gebracht, dann übergossen sie das Auto mit Benzin und ließen eine kleine Sprengladung mit Spätzündung in dem Wagen zurück. Der Start des Flugzeugs ging ohne Zwischenfall vonstatten.
Bald nach dem Start roch Ernest aber Lunte. Er merkte wohl, daß Hymie eine andere Richtung einschlug, oder Hymie sagte ihm gleich, daß es zu gefährlich wäre, ihn ins Ausland zu bringen, und daß er ein sicheres Versteck für ihn vorbereitet hätte.
Was darauf geschah, läßt sich nur vermuten.
Höchstwahrscheinlich geriet Graddle, der sowieso in einem Zustand äußerster Erregung war, jetzt ganz außer sich. Vielleicht durchschaute er Hymie auch endlich. Er öffnete den Koffer mit dem Geld und wollte den ganzen Inhalt über Bord werfen. So fielen die zwei Päckchen mit Banknoten herunter, die später gefunden wurden. Aber dann drehte sich Hymie um und schlug Graddle mit einem Schraubenschlüssel nieder, der griffbereit neben ihm lag. Graddle setzte sich verzweifelt zur Wehr, ein Kampf entspann sich, und der Schraubenschlüssel flog nach einem letzten wuchtigen Schlag Hymies aus dem Flugzeug heraus. Daß er zu Boden sauste, ist selbstverständlich, doch daß er ausgerechnet Mr. Friston, einen Lehrer in Eton, auf den Kopf traf, gehört zu jenen merkwürdigen Zufällen, die nicht nur dem Kriminalisten immer wieder Rätsel aufgeben.
Wenn Sie eine Karte von Südengland zur Hand nehmen und eine gerade Linie von dem Treffpunkt der beiden bis zu dem Flugzeugschuppen Hymie Higsons ziehen, dann werden Sie feststellen, daß diese Linie Farnham, Windsor und Cockham schneidet. Die kleinen Abweichungen davon lassen sich leicht durch Kursabweichungen erklären, die das Handgemenge zur Folge hatte.
Ich weiß nicht, wie oft Ernest von dem schweren Schraubenschlüssel getroffen wurde. Zweifellos war er aber tot, als Hymie landete.
Den Toten versteckten sie vermutlich am nächsten Tag im Flugzeugschuppen. Ich erhielt Nachricht, daß der Schuppen während der folgenden Tage verschlossen blieb und daß einer von Hymies Leuten davor Wache hielt, obwohl es anhaltend regnete.
Aber Higson war noch nicht außer Gefahr, denn Ena Panton befand sich in Freiheit und hatte einen Betrag von fünfundzwanzigtausend Dollar erhalten. Das mußte um so verfänglicher werden, als man Geld auf dem Heuschober und in dem Graben bei Farnham gefunden hatte und einen Zusammenhang damit vermuten konnte.
Hymie fühlte sich besonders unsicher, weil er mit der Möglichkeit rechnete, daß Graddle an Ena lange Briefe geschrieben und ihr sein Vergehen gestanden hatte. Vielleicht hatte er mit ihr auch ausgemacht, daß sie sich an einem bestimmten Ort treffen wollten.
Alles wurde noch schlimmer für Hymie, seit er wußte, daß ich bereits Kenntnis von der Angelegenheit hatte. Als ich ihn im Klub traf, war er gerade im Begriff, den gewagten Plan auszuführen.
Ena durfte unter keinen Umständen in Freiheit bleiben. Sie hat mir von seiner Drohung erzählt, sie umzubringen, und ich zweifle keinen Augenblick daran, daß er diese Absicht auch ausgeführt hätte. Wahrscheinlich verliebte er sich aber dann in ihr hübsches Gesicht, und unter diesen Umständen ist ihr nichts geschehen.
Um Ena Panton brauchen wir uns im übrigen bestimmt keine Sorgen zu machen. Sie wird in dem Mordprozeß als Hauptbelastungszeugin auftreten, und wenn ihr Bild in der Presse erscheint, bekommt sie sicher eine Menge Heiratsanträge. Außerdem soll sie noch eine Belohnung erhalten, weil es mir durch ihre wichtigen Hinweise gelang, den Bankdiebstahl aufzudecken und wenigstens einen Teil des Geldes zu retten.
Hymie kam also in der Nacht zu Enas Wohnung und setzte seinen Plan in die Tat um. Es glückte ihm leichter, als er gedacht hatte. Er brachte sie dann zu seinem Landsitz, wo er ja bereits ein Zimmer für Graddle vorbereitet hatte.«
Mr. Reeder machte diese Ausführungen vor leitenden Beamten von Scotland Yard und der Polizei von Berkshire. Der Vertreter der Staatsanwaltschaft war ebenfalls dabei.
»Es stimmt alles, was Sie gesagt haben, Mr. Reeder«, bemerkte Inspektor Grayson. »Ein interessanter Fall. Ich zweifle nicht daran, daß sich alle Einzelheiten bestätigen werden. Jetzt können wir ja die Sache weiterbehandeln«, wandte er sich dann an den Vorgesetzten von Mr. Reeder.
»Ja, wo ist denn nun eigentlich der Tote?« fragte Reeder und lächelte verschmitzt.
»Den werden wir schon noch finden. Ich habe heute morgen Hymie Higson in seiner Zelle vernommen. Natürlich streitet er alles ab. ›Erst müssen Sie die Leiche finden!‹ sagte er zu mir. ›Man kann keinem Menschen einen Prozeß wegen Mordes machen, solange die Leiche nicht vorhanden ist!‹ Aber verlassen Sie sich darauf, das werden wir schon herausbekommen – mit Hilfe der Polizei von Berkshire«, fügte Grayson höflich hinzu.
Mr. Reeder rieb sich kräftig sein Kinn.
»Sie wünschen also nicht, daß ich Ihnen dabei behilflich bin? Einige Nachforschungen nach dieser Richtung hin habe ich schon angestellt ...«
»Sehr freundlich, Mr. Reeder, aber das können Sie wirklich ruhig uns überlassen.«
*
»Ich sehe es schon kommen, daß wir letzten Endes doch wieder Mr. Reeder zuziehen müssen«, sagte der Staatsanwalt zum Chefinspektor von Scotland Yard, als sie zusammen zum Mittagessen gingen. »Er ist nun mal ein schlauer Fuchs! Ich bin überzeugt davon, daß der das Rätsel längst gelöst hat, und wenn Grayson nicht so ehrgeizig gewesen wäre, hätte er ihm haarklein alles erzählt.«
Tatsächlich hatte Mr. Grayson eine schwierige Aufgabe übernommen. Ein kleines Heer von Kriminalbeamten suchte das Haus und das Grundstück ab. Das Unterste wurde zuoberst gekehrt, Dielenbretter losgerissen, Mauern abgebrochen – aber von Ernest Graddle fand man keine Spur.
*
Mrs. Reeder schmökerte, wie gesagt, gern in amerikanischen Magazinen; er hätte die Lösung des Rätsels nicht so schnell gefunden, wenn ihm nicht der Artikel über den Lügendetektor, den Hymie Higson unvorsichtigerweise erwähnt hatte, noch in Erinnerung gewesen wäre.
Als der Staatsanwalt Mr. Reeder in seinem Büro begegnete, fragte er ihn vorsichtig, ob er ihm im Vertrauen nicht vielleicht doch schon einen Fingerzeig geben könne.
»Nun, es gibt nur ein wirklich sicheres Versteck für eine Leiche«, erwiderte Mr. Reeder. »Haben Sie jemals etwas von einem alten Landstreicher namens Peters gehört? Sicher ist Ihnen der Name unbekannt. Auch ich hatte keine Ahnung von der Existenz dieses Mannes, aber er hat tatsächlich gelebt.«
»Das klingt ja wieder einmal sehr geheimnisvoll«, meinte der Staatsanwalt lächelnd.
Mr. Reeder schüttelte den Kopf.
»Aber nein, die Sache ist durchaus nicht geheimnisvoll. Ich habe von diesem Peters gehört und auch erfahren, daß Hymie Higson ihm gegenüber sehr freigebig war. Sagen Sie das den Beamten von Scotland Yard! Vielleicht kommen sie dann von selbst auf die Lösung. Unter den jetzigen Umständen würde es ziemlich schwierig sein, Hymie Higson für den Mord an Graddle verantwortlich zu machen.«
Hymie war natürlich derselben Ansicht. Seine Zuversicht wuchs, je häufiger die Verhandlung des Falles vertagt wurde, und er war schlau genug, sich durch keine Drohungen und durch keine Kniffe zu einem Geständnis bewegen zu lassen.
Schließlich blieb den Beamten von Scotland Yard tatsächlich nichts anderes übrig, als sich wieder an Mr. Reeder zu wenden.
»Wir können den Kerl einfach nicht dazu bringen, ein Geständnis abzulegen – und bis jetzt ist es uns leider auch nicht gelungen, die Leiche zu finden«, knurrte Inspektor Grayson ärgerlich.
Mr. Reeder zog bedächtig ein amerikanisches Magazin aus der Tasche.
»Wahrscheinlich machen Sie sich nichts aus derlei Lektüre. Ich lese so etwas ganz gerne, und den gleichen Geschmack hat offenbar auch Mr. Higson. Vor einigen Jahren erfuhr ich zufällig, daß dieses Kriminalmagazin in amerikanischen Verbrecherkreisen sehr beliebt ist. Sie verstehen, es wird darin mit allen Einzelheiten über die Aufklärung interessanter Mordfälle berichtet. Sehr gefesselt hat mich in dieser Nummer auch ein Bericht über den Lügendetektor, der von der amerikanischen Polizei manchmal angewandt wird.
Sie wissen doch, wie so ein Ding funktioniert. Ein enganliegendes Band wird um die Brust, ein anderes um den Arm des Untersuchungsgefangenen gelegt. Mit Hilfe einiger komplizierter Vorrichtungen wird es dadurch möglich, Temperatur, Transpiration und Herztätigkeit aufzuzeichnen. Dem zu Verhörenden werden verschiedene Fragen vorgelegt – sagt er die Wahrheit, dann bleiben die Reaktionen der Meßgeräte normal, lügt er, dann ergeben sich typische Schwankungen, die der Fachmann ohne weiteres deuten kann.
In dem Artikel, den ich eben erwähnte, wird auch die Geschichte eines jungen Autohändlers erzählt, der auf unerklärliche Weise verschwand. Die Polizei vermutete einen Mord, und der Mann, der als Täter in Betracht kam, wurde verhaftet. Man wandte den Lügendetektor an, mußte das Verhör aber abbrechen, weil der Häftling mit einem Einspruch seines Rechtsanwalts beim Obersten Gerichtshof Erfolg hatte. Die Gesetzgebung sieht nämlich vor, daß der Lügendetektor nur in besonderen Fällen angewendet werden darf, und auch dafür gewöhnlich die Zustimmung des Vernommenen notwendig ist. Immerhin waren schon die interessantesten Tatsachen in Erfahrung gebracht worden, bevor das Verhör eingestellt werden mußte. Erstens war herausgekommen, daß der Mann den Autohändler tatsächlich ermordet hatte, zweitens, daß er ihn an einem ganz bestimmten Platz verscharrt hatte, und drittens, daß dieser Platz ein – Kirchhof war!«
Grayson sah Reeder verblüfft an.
»Ein Kirchhof?«
Mr. Reeder nickte bestätigend.
»Könnten Sie sich einen geeigneteren Platz für die Bestattung eines Toten denken? Die Leiche eines Ermordeten auf einem Kirchhof zu suchen, daran denkt die Polizei doch zuallerletzt – nun ja, am Tag nach dem Mord an Graddle starb ein Landstreicher namens Peters. Er sollte in einem Armengrab beigesetzt werden, aber unerwarteterweise fand sich ein unbekannter Wohltäter, der eine Grabstätte kaufte und dem Toten somit zu einem eigenen Grab verhalf. Er verhalf ihm auch zu einem Kameraden, denn in der nächsten Nacht wurde das Grab wieder geöffnet und Graddle hineingelegt.«
*
Drei Monate nach der Hinrichtung Hymie Higsons bat Lizzie Mr. Reeder, ihr einen Tag freizugeben.
»Ena verheiratet sich«, sagte sie. »Sie bekommt einen wirklich netten und auch wohlhabenden Mann, mit dem sie bestimmt glücklich wird; und das gönne ich ihr nach dem großen Kummer, den sie durchgemacht hat, auch von ganzem Herzen. Wie gut, daß alles wieder in Ordnung gekommen ist! Übrigens, Mr. Reeder, die Polizei will ihr die fünfundzwanzigtausend Dollar nicht zurückgeben. Sie behauptet, das Geld gehöre der Bank. Schließlich hat es ihr Ernie aber doch geschenkt! Und wenn sie ihr schon die Banknoten wegnehmen, warum lassen sie ihr dann den Schmuck, den sie von Ernie hat?«
Darauf wußte selbst Mr. Reeder keine Antwort, außerdem war er gerade viel zu müde, seinen Kopf auch noch damit zu belasten. Gähnend winkte er ab.
»Sie können den Tag freihaben, Lizzie – bringen Sie mir jetzt aber meine Butterbrote!«