Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Mit schnellen Schritten gingen die Leute an Margot vorüber, und sie sah ihnen sprachlos nach. Der Steuermann sprach noch über die ungleiche Verteilung der Güter im Leben; er hatte ihre Aufregung nicht bemerkt.
»Ja, so ist es. Einige von uns arbeiten unten im Maschinenraum, die anderen schlafen oben in den Luxuskabinen. Aber die Heizer, die sich unten so plagen müssen, haben auch Vergnügen, von denen die reichen Leute da oben nichts ahnen. Unter den Heizern findet man ebenso feine Herren wie in der ersten Klasse, auch das sind schließlich Menschen genau wie Sie und ich.«
»Ach, malen Sie diese Schrecken nicht noch weiter aus«, sagte Margot und legte ihre Hand auf seinen Arm.
»Ach, verzeihen Sie«, erwiderte er erstaunt, und doch fühlte er sich geschmeichelt, daß seine beredte Schilderung sie so bewegt hatte.
»Wollen Sie so liebenswürdig sein, mir noch eine Tasse Kaffee zu besorgen? Es tut mir leid, ich habe diese umgestoßen.«
Der Steuermann verschwand.
Das also war die Erklärung. Jim Bartholomew fuhr als Heizer. Plötzlich durchschaute sie nun alles. Der Chefingenieur und der Kapitän des Schiffes waren seine Freunde. Sie hatten dafür gesorgt, daß die Nachrichten von dem Mord in der Bank unterdrückt wurden, und hatten alles Risiko auf sich genommen. Jim hatte ihnen doch früher auch das Leben gerettet. Und nun war er da unten in der heißen Hölle des Maschinenraums. Sie dachte wieder daran, daß einer der Heizer unten bewußtlos umgefallen war, und fuhr schaudernd zusammen. Und gerade jetzt, in diesem Augenblick war er unten und mußte die furchtbaren Hitzequalen ertragen. Jedenfalls war es am frühen Morgen aber noch kühler als während der heißen Tageszeit.
Plötzlich erinnerte sie sich auch an den geheimnisvollen ›Nosey‹. »Als ich ihn das letztemal sah, war er nackt bis zum Gürtel«, hatte Jim gesagt. Er schien also auch ein Heizer zu sein.
Margot machte eine kurze Kalkulation. Wenn er um fünf Uhr in den Maschinenraum ging, mußte er um neun wieder abgelöst werden, und er brauchte dann erst am Nachmittag wieder Dienst zu tun. Aber am Nachmittag war gerade die heißeste Zeit. Der Zahlmeister hatte gesagt, daß es im Innern des Schiffes heiß wäre, da sie jetzt den Golfstrom durchquerten.
Sie wünschte, daß er es ihr nicht gesagt hätte, aber dann bedauerte sie diesen Gedanken wieder. Wahrscheinlich war Jim auch aus diesem Grund in der vorigen Nacht nicht zu ihr nach oben gekommen.
Mit dieser Vermutung hatte sie ziemlich recht. Er war auf Wache gewesen, hatte im tiefen Innern des Dampfers gearbeitet, und zwar in einer Hitze, die jeder Beschreibung spottete. Sie war davon überzeugt, daß er dieses aus einem ganz bestimmten Grund tat, und nicht für sich selbst, sondern für sie.
Als der Steuermann ihr eine neue Tasse Kaffee brachte, lächelte sie, und sie lächelte noch, als sie sich eine Stunde später in ihrer Kabine zur Ruhe legte. Später wachte sie steif und verkrampft auf, denn sie hatte sich nicht entkleidet. Um drei Uhr nachmittags galt ihr erster Gedanke Jim Bartholomew, der vor der Verfolgung durch die Gerichte floh und tief unten in der Hitze des Maschinenraums arbeitete.
Und sie war stolz, daß sie wußte, in welch schrecklicher Gefahr er schwebte.
Und dann erinnerte sie sich, daß sie am frühen Morgen die Kabine von Mrs. Dupreid aufgesucht hatte. Sobald sie sich umgekleidet hatte, ging sie zum C-Deck und klopfte an die Tür von Ceciles Freundin.
Das Mädchen, das Margot auch sonst schon dort gesehen hatte, und die anscheinend ihre ganze Zeit in der Kabine zubrachte, öffnete.
»Mrs. Dupreid schläft«, flüsterte sie leise. »Sie hatte eine sehr schlechte Nacht.«
»Das ist schade«, entgegnete Margot höflich. »Wann ist sie denn zu Bett gegangen?«
Das ging sie eigentlich nichts an, und es war sehr unhöflich, diese Frage zu stellen.
»Ach, sie hat sich kurz vor Mitternacht gelegt.«
Margot ging verwundert zum Promenadendeck.
Auch um Mrs. Dupreid schwebte irgendein Geheimnis. Stella Markham gegenüber war sie etwas höflicher. Die Dame hatte ihr hochfahrendes Wesen mehr und mehr abgelegt und war bedeutend menschlicher und liebenswürdiger geworden.
»Ich danke Ihnen für Ihre Nachfrage, aber ich hatte eine sehr schlechte Nacht. Oh, ich hasse dieses Schiff – ja, es gibt Augenblicke, in denen ich wünschte, daß der ganze große Kasten unterginge!«
»Ich würde Ihnen raten, dem Kapitän das zu sagen. Vielleicht versenkt er die ›Ceramia‹, weil Sie es wünschen«, entgegnete Margot ruhig. »Er steht in dem Ruf, die Wünsche der Passagiere möglichst weitgehend zu berücksichtigen.«
Mrs. Markham sah sie schnell von der Seite an, aber ihr Ärger verflog wieder, und sie lächelte.
»Es ist auch nicht recht von mir, mich so gehenzulassen«, sagte sie. »Ach, es ist doch furchtbar heiß.« Sie fächelte sich.
Es war wirklich heiß, die See lag glatt wie die Oberfläche eines Spiegels, das Versprechen des Steuermanns hatte sich tatsächlich erfüllt. Lückenlos blau spannte sich der Himmel über die weite Meeresfläche. Die See selbst zeigte dasselbe Blau wie der Himmel, nur war er einige Töne tiefer.
»Wenn es hier oben schon heiß ist, dann möchte ich nur wissen, welche Temperatur im Kesselraum herrscht«, bemerkte Mrs. Markham. »Ich habe gehört, daß einen der Heizer der Schlag getroffen hat. Ich fragte den Schiffsarzt, als er zum Mittagessen herunterkam, aber der hat es natürlich abgestritten. An Bord eines so großen Dampfers erfahren die Passagiere doch niemals, was wirklich vorgeht.«
»Ich glaube, mich bringt diese Reise auch noch um«, entgegnete Margot, erhob sich unsicher und ging zur Reling.
Mrs. Markham glaubte nur, daß sie unruhig war wie viele andere Passagiere. Sie nahm ihre feine Stickerei wieder auf, die sie bei Margots Ankunft niedergelegt hatte.
Nach einiger Zeit kam das junge Mädchen zurück. Sie war im Innersten überzeugt, daß nicht Jim der Heizer sein konnte, der gestorben war.
»Wie geht es Ihrem Butler?« fragte sie. »Hat der etwa auch einen Schlaganfall bekommen?«
Mrs. Markham stickte ruhig weiter, während sie den Blick auf die Arbeit gesenkt hielt.
»Nein«, sagte sie nach einer kleinen Pause. »Mein Butler stirbt nicht. Es scheint so, als ob er ewig lebt.«
Es lag etwas Merkwürdiges in ihrem Ton, so daß Margot sich nach ihr umsah.
»Wieso meinen Sie das?«
»Mein Butler stirbt nicht«, erklärte Mrs. Markham wieder und schüttelte den Kopf.
Margot schaute das Deck auf und ab.
»Ich habe ihn in den letzten Tagen überhaupt nicht gesehen.«
»Nein, wenn es ihm einigermaßen gutgeht, sitzt er die ganze Zeit im Rauchsalon. Aber hier kommt ein Freund von Ihnen.«
»Er ist nicht mein Freund«, entgegnete Margot schnell, als Major Pietro Visconti in seiner glänzenden Uniform das Deck entlangkam.
»Ein merkwürdiger kleiner Herr«, meinte Mrs. Markham, wahrend sie eifrig weiterstickte.
»Ja«, pflichtete Margot bei. »Er sieht immer so schmuck und adrett aus, als ob die Uniform eben vom Schneider geliefert worden wäre.«
Mrs. Markham mußte lachen.
Der Italiener hielt vorschriftsmäßig in der genauen Entfernung vor den Damen an, salutierte vor ihnen beiden und schüttelte dann Margot die Hand.
»Sie sind heute mittag nicht zum Essen gekommen, das tat mir furchtbar leid. Ich promenierte diese Seite des Dampfers entlang, ich promenierte die andere Seite entlang, aber ich entdeckte sie nicht. Ich kletterte zum Bootsdeck hinauf und promenierte auch dort entlang. Ich suchte in der großen Gesellschaftshalle und im Palmengarten, aber nein! Ich fand Sie nicht, Sie waren nicht da.«
Margot drückte sich und ließ den Major mit der von ihm verehrten Mrs. Markham allein. Sie eilte die Treppe hinunter zu ihrem Freund, dem Zahlmeister.
»Sie müssen heute recht lieb und nett zu mir sein«, sagte sie, als sie ihn allein in seinem Büro fand. Auch er wurde von der Hitze sehr geplagt, obwohl zwei bewegliche elektrische Fächer auf seinem Schreibtisch aufgestellt waren.
»Sie können versichert sein, daß ich dem leisesten Ihrer Wünsche sofort nachkomme, Miss Cameron«, entgegnete er höflich.
»Ich möchte, daß Sie eins der wichtigsten Gesetze brechen, die an Bord eines Schiffes gelten.«
»Um was für ein Gesetz handelt es sich denn?«
»Daß Sie niemals ein Geheimnis verraten dürfen. Sie sagen niemals, wieviel Knoten wir laufen, und Sie sagen auch nichts, wenn der Kapitän mit geringerer Geschwindigkeit fährt und warum er das tut.«
Er lächelte.
»Das wissen wir manchmal hier unten auch nicht.«
»Nun gut, dann werde ich Sie jetzt fragen.« Es kostete sie einige Anstrengung, und sie mußte erst schlucken, bevor sie etwas sagte. »Ist es wahr, daß ein – Heizer heute gestorben ist?«
Er sah sie ernst an.
»Dann scheint die Geschichte doch herausgekommen zu sein? Ja, das stimmt. Was erzählen sich die Passagiere? Woran soll er denn gestorben sein?«
»Sie sagen, daß er einen Schlaganfall bekommen hat.« Sie mußte sich sehr zusammennehmen. Ihre Beine zitterten.
»Das ist nicht wahr. Der arme Kerl kam durch eine kleine Explosion ums Leben. Es tut mir furchtbar leid um ihn, er war schon fünfzehn Jahre hier an Bord des Schiffes.«
Margot atmete erleichtert auf. Es klang fast wie ein Schluchzen. »Ich danke Ihnen, daß Sie mir das gesagt haben«, entgegnete sie mit heiserer Stimme. »Ich mußte unter allen Umständen etwas Genaueres erfahren.«
»Aber, Miss Cameron, man sollte fast denken, daß Sie einen Freund unter den Heizern hätten«, meinte er lachend, als er die Tür für sie öffnete.
»Sie sind alle meine Freunde dort unten im Maschinenraum. Ich lerne jetzt überhaupt erst etwas von dem Leben dieser Leute kennen.«
Der Zahlmeister schwieg.
Der Tag war nicht ohne Abenteuer für Jim Bartholomew abgelaufen. Als die Wache der Heizer abgelöst wurde, ging er durch den engen Verbindungsgang, der die unzureichenden Quartiere der Heizer im Vorderdeck mit dem Maschinenraum verband. Plötzlich klopfte ihm jemand auf die Schulter, und als er sich umsah, bemerkte er das schmutzige Gesicht des Mannes, der den ganzen Morgen neben ihm gearbeitet hatte.
»Ich möchte einmal ein Wort mit Ihnen reden, Wilkinson. Wir wollen zum Bad gehen.«
Jim folgte dem anderen in einen einfachen, schmucklosen Raum, in dem eine lange Reihe von Duschen angebracht war.
»Was haben Sie gestern abend auf dem Promenadendeck gemacht?« fragte der andere. Es war Nosey, und seine Stimme klang befehlend.
»Dieselbe Frage könnte ich auch an Sie richten.«
Nosey sah ihn nachdenklich an, dann sagte er plötzlich: »Ja, es stimmt schon – Sie sind Bartholomew!«
»Ein ganz netter Name«, erklärte Jim. »Aber deshalb brauche ich doch nicht so zu heißen.«
»Wir wollen uns nicht streiten. Setzen Sie sich hin, ich bin hundemüde, aber ich muß die Sache einmal mit Ihnen ins reine bringen.«
Sie ließen sich auf zwei Stühlen nieder.
»Also, ich kann Ihnen nur das eine sagen«, erklärte Nosey. »Ich bin ein Beamter von Scotland Yard, und obwohl ich nicht direkt hinter Ihnen her bin, habe ich doch genügend Amtsgewalt, um Sie zu verhaften. Und wahrscheinlich wird es auch so kommen, obwohl die Leute in Scotland Yard nicht glauben, daß Sie den Mord begangen oder das Diamanthalsband gestohlen haben.
Mein Kamerad hier an Bord hat übrigens einen ganz ausführlichen drahtlosen Bericht erhalten. Sie können nichts Besseres tun, Mr. Bartholomew, als mir alles sagen, was Sie wissen. Sie haben nicht mehr lang Gelegenheit dazu, denn morgen komme ich nicht mehr in den Maschinenraum hinunter. Ich habe mich vollkommen davon überzeugt, daß sich keiner der Verbrecher, die wir verfolgen, unter der Schiffsbesatzung befindet.«
Jim konnte nichts gewinnen oder erreichen dadurch, daß er schwieg oder Ausflüchte machte. Deshalb erzählte er alles bis zu den letzten Einzelheiten. Eine ganze Stunde saßen die beiden beisammen. Gelegentlich unterbrach der Detektiv ihn mit einer Frage, und als sie sich zum Schluß erhoben, klopfte er dem anderen auf die Schulter.
»Es wird jemand verhaltet, bevor der Dampfer den Hudson River erreicht – möglicherweise sind Sie es.«
»Nun, es würde mir auch leid tun, wenn Sie ohne Erfolg nach Hause zurückkehren müßten.«
Das ewige Einerlei des Schiffslebens fiel Margot Cameron auf die Nerven. Sie wartete ungeduldig auf die Stunde, in der sie Jim treffen konnte.
Wieder ging sie zum dunkelsten Teil des Promenadendecks und lehnte sich an die Reling. Gleich darauf kam Jim, wie gewöhnlich im Abendanzug. »Nun, wie geht es dir?« fragte sie atemlos, indem sie sich an ihn lehnte. »Wie geht es mit deiner Arbeit? Ich meine, mit der Aufklärung all der Geheimnisse?«
»Meiner Meinung nach gut.«
Er sah sich um.
»Dieser verdammte Obersteward wird mich hier sehen. Er ist der letzte, den ich treffen möchte, denn er kennt mich unglücklicherweise. Komm doch bitte mit mir die Treppe herauf, wir wollen auf das Bootsdeck gehen.«
Sie antwortete nicht, aber sie legte den Arm in den seinen.
Der Weg nach oben führte über eine enge, steile Treppe, und er stieg zuerst hinauf. Oben gingen einige Paare an ihnen vorüber.
Zwischen zwei Booten war eine enge Plattform, von der aus das Herablassen dirigiert werden konnte. Dort traten sie ans äußere Geländer.
»Erzähle mir alles, was. sich ereignet hat«, sagte sie, und er berichtete ihr wahrheitsgetreu alles bis zur Entdeckung der Leiche Sandersons.
»Eins kann ich nicht verstehen. Warum mag wohl Cecile dicht an der Eisenbahnstation ausgestiegen und in ihrem Auto fortgefahren sein? Warum hast du das Frank nicht erzählt?«
»Ich war eigentlich davon überzeugt, daß er es wußte«, erklärte Jim. »Es kam mir selbst so sonderbar vor. Hat sie denn etwas davon gesagt, daß sie nach Schottland fahren wollte, bevor sie plötzlich ihren Entschluß änderte?«
»Nein, das kam alles bei der Unterredung heraus, die sie mit Frank in seinem Arbeitszimmer hatte. Es muß sich um sehr ernste Dinge gehandelt haben, denn Frank sah angegriffen und müde aus, als er herauskam, und die arme Cecile war bleich und verstört. Aber du hast mir noch nicht alles erzählt.«
»Nein«, gab er zu. Aber es dauerte einige Zeit, bis er wieder zu sprechen begann.
»Es handelt sich um zwei verschiedene Dinge. Das eine will ich dir berichten, aber das andere halte ich für später zurück. Ich will noch nicht sagen, was sich alles ereignete, nachdem der Polizeiinspektor mich mit dem Toten zurückließ, aber etwas anderes will ich dir mitteilen. Und ich bitte dich, mir bei Lösung des Geheimnisses zu helfen.
Als ich mich über den Mann neigte, sah ich, daß er ein Stück Papier in der Hand hielt. Ich öffnete seine Hand gewaltsam und entdeckte die Ecke einer Photographie. Ein anderer muß den oberen Teil abgerissen haben.«
»Was war das denn für eine Photographie?« fragte sie schnell.
»Das kann ich nicht sagen. Es war nur eine Ecke, auf der eine Frauenhand zu sehen war.«
»Kannst du sie nicht genauer beschreiben?«
»Es war eine Frauenhand, an der sich ein Ring befand.«
Margot faßte seinen Arm.
»Doch nicht etwa die ›Töchter der Nacht‹?«
»Ja, dieser Ring war es.«