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Melys Herz pochte vor Freude, als sie die finstern Treppen zur Benderschen Pension erstieg. Sie dachte nur an Falk, und zum ersten Mal ward sie sich des ganzen Umfangs ihrer Liebe bewußt. Aber schon im Korridor überfiel sie eine heimliche Angst, und sie konnte sich von zudringlichen Ahnungen nicht befreien. Rasch entkleidete sie sich in ihrem Zimmer und schlüpfte in den grauen Schlafrock. Sie sah auf die Uhr: es war halb vier. Aber sie hatte noch kein Bedürfnis zu schlafen. Sie dachte daran, daß er jetzt reich sei, und diese Vorstellung erfüllte sie mehr und mehr mit einem quälenden Schmerz. Weshalb waren seine letzten Briefe so ironisch, grübelte sie; der rätselhafte Ton, den er darin angeschlagen, hat mich völlig unglücklich gemacht.
Sie saß auf dem Bettrand, die Arme rückwärts gestemmt, und ihre Augen erweiterten sich. Ihre Freude verging und ein bitteres, nagendes Gefühl nahm statt dessen in ihrem Herzen Platz. Die schwarze Wolke, die über ihrem Leben hing, war jetzt nahe gekommen, und alles rings herum war finster geworden. Sie begriff nicht, wohin sie gegangen; sie begriff nicht, daß Gott ihr all das Glück der Liebe und der Sehnsucht hatte schenken mögen. Und sie dachte: Gott ist barmherzig; er ist wie ein Vater und hat mir in seiner Güte noch das Herz beseligen wollen. Und Dankbarkeit gegen Gott erfüllte sie. Hier an diesem Fleck hatte sie gesessen vor Monaten – wie lang und sie hatte an den Geliebten gedacht und von ihm geträumt und hatte seine Worte nachgeflüstert: »Haben Sie große Schmerzen? ich kann sie lindern«... Es war vorbei.
Jetzt sah sie ein zerfetztes Blatt Papier am Boden liegen. Noch ehe sie es aufhob, wußte sie alles, was sich zugetragen hatte, und als sie den Zettel angesehen, wurde sie von so unerträglichem Gram ergriffen, daß sie laut aufschluchzend auf das Bett fiel.
Der Morgen kam und fand sie noch wach. Sie sperrte sich ein bis zum Mittag, dann wurde ihr das Alleinsein entsetzlich. Sie erschien im Wohnzimmer zum Erstaunen von Frau Bender und Helene, die um ihre Ankunft noch nicht wußten. Auch Doktor Brosam war da und das Gespräch lenkte sich bald auf Vidl Falk und den überraschenden Wechsel seines Geschicks. Mely war nicht fähig zu reden, aber sie fühlte wohl die Tendenz dieser Konversation. Sie beobachtete auch, daß Helene und der Doktor von der Erklärung gegenseitiger Liebe nicht mehr weit entfernt waren, und dies machte sie neidisch und verbittert. Jetzt war sie verurteilt, fremdes Glück zu sehen und wenn sie in das heitere, belebte, strahlende Gesicht Helenes schaute, ward ihre Brust voll von einem niederdrückenden Schmerz.
Der Doktor erzählte, daß Fräulein von Erdmann gänzlich heruntergekommen sei. »Sie treibt jetzt feinere Bettelei,« sagte er. »Auch bei mir war sie und besang meine Genieaugen. Um sie los zu werden, gab ich ihr ein Goldstück.«
Er hat sich noch nicht abgewöhnt zu prahlen, dachte Mely und sah ihn voll Haß an.
Nachmittags kam ein Brief für sie. Es war ein wirres Schriftstück ohne Unterschrift und lautete:
»Du hast mich betrogen. Also doch. Man hätte mir sagen dürfen, der Himmel stürzt ein, man hätte mir weis machen können, die Sonne ist ein Aschenhaufen – ich hätte es eher geglaubt. O, was für ein Vieh bin ich. Ich bin ganz krank, daß ich so blind in den Tag hinein voll Vertrauen war. Wer hält das für möglich? Du bist Schuld, wenn ich zu Grund gehe. Ich sehe nichts mehr, ich höre nichts mehr. Meinetwegen geht die Welt unter. Je eher, je lieber. Wer hätte das geglaubt. Ich meine, ich muß verrückt werden.«
Findlingstraße 3 b, II.
Am Abend ging sie hin. Sie wurde mehr von einer innern, unerbittlichen Macht getrieben, als daß sie freiwillig diesen Schritt tat. Was um sie her auf den Straßen vorging, gewahrte sie nicht. Sie hatte nur Augen um das Unglück zu sehen, von dem sie heimgesucht wurde und das ihr immer größer und größer erschien.
Er öffnete auf ihr Läuten selbst die Korridortüre. »Ach, ich habe gewußt, daß du kommst,« murmelte er erbleichend und gab ihr die Hand.
Er führte sie in einen mit dumpfer, schwüler Pracht ausgestatteten Salon. In einer Art von altdeutschem Kamin flackerte das Feuer und der Duft von Tannenharz herrschte. Es brannte noch kein Licht: die züngelnden Flammen allein warfen gespenstige, ruhlose purpurne Lichtflecke in den Raum.
Mely setzte sich ermattet auf das untere Ende einer großen Ottomane. Falk trat zu ihr und zog die beiden langen Nadeln aus ihrem Hut, löste den Knoten des Schleiers, knüpfte das Jackett auf und legte dann alles beiseite. Sie saß da, die gefalteten Hände in den Schoß gelegt und ließ ihn lautlos gewähren. Furchtsam, mit heißer Liebe und heißer Sehnsucht, sah sie zu ihm auf, bereit, ihm alles hinzugeben, was sie besaß. Aber ihre Gedanken waren nicht mehr traurig und beklommen. Sie dachte: Hier ist es schön wie in einem Schloß. So habe ich mir das Schwarzwaldschloß geträumt... Aber plötzlich übermannte sie wieder die Bitterkeit in ihrer Brust. Ihr war, wie wenn eine starke Faust das Herz zusammenpreßte. Sie beugte sich nieder und legte den Kopf auf die verschränkten Arme.
»Ist es denn wirklich wahr?« hörte sie jetzt seine Stimme und es fiel ihr auf, daß er so leise sprach und daß seine Stimme gütig klang.
Als sie nicht antwortete, ging er zu ihr und setzte sich neben sie. Er strich mit der Hand über ihr Haar und fragte noch ein Mal. Ein Schluchzen, das ihren Körper zusammenkrümmte, entrang sich ihr. Sie mußte die Kniee an den Leib ziehen, ihre Schultern preßten sich zusammen und dumpfe, ächzende, von dem weichen Stoff der Ottomane gedämpfte Laute wurden hörbar.
»So ist es also wahr? Mely? – Mely?«
»Nein, nein,« flüsterte sie, und das klang wie aus weiter Ferne.
Er lächelte wie im Traum, verließ den Platz an ihrer Seite und kauerte sich in eine Chaiselongue vor dem Kamin. Er starrte ins Feuer, bis ihm die Augen übergingen. Dann vergrub er den Kopf in die Hände und langsam fiel eine Träne nach der andern auf den Teppich.
So verging die Zeit.
Dann nahte sich ihm Mely und kniete bei ihm nieder. Sie schlang die Arme um seinen Hals und suchte mit den Lippen seinen Mund. Aber er schob sie weg. Und nur wenige Schritte vor ihm blieb sie dann auf den Knien liegen. Das Feuer war schon zur Glut geworden. Falk sah in den Kohlen die gestaltgewordenen Träume seiner Vergangenheit. Wiederum stand das lockende Schloß im Schwarzwald da mit seinen Parktannen. Festungsartige Zinken thronten an seinem First und darauf stand ein Wächter und blies das Horn. Dieser Wächter hatte die Gabe, zu weissagen und in die Zukunft zu sehen, ja er sah in ferne Jahrhunderte hinein und erblickte den Fall der Nationen und die Geburt eines neuen Heilands. Er sah die Sterne rollen in ihrer Bahn und die Kometen zu den Tiefen der Unermeßlichkeit ziehen und er lachte über die Kleinheit der menschlichen Schmerzen. Er griff an den Himmel und steckte sich den Sirius als Orden an die Brust und mit den Plejaden spielte er, wie ein Akrobat mit seinen Bällen.
Felsmassen lagen in der Glut und Gemsen sprangen darüber hinweg. Dann erschien plötzlich ein Berggeist in einer Mönchskutte und kündigte den Untergang dieser glühenden Kohlenwelt an.
Es war tiefe, stille Nacht, als Falk den regungslos knienden Körper des jungen Mädchens vom Boden erhob. Ihre Hände waren eiskalt. »Wie hab ich dich geliebt,« flüsterte er und streichelte ihre Wangen.
Ihr Haupt fiel auf seine Schulter. Und sie umarmten sich immer fester und dann fanden sich die Lippen zum Kuß. Ein seltsamer Frieden zog in Melys Herz und wie mit einem undurchsichtigen Schleier war all das Vergangene verhängt. Er zog sie zur Ottomane und drückte sie darauf nieder. Dann legte er sich neben sie und schloß sie weinend in die Arme.
In dieser Nacht empfing er von ihr den letzten Zoll der Liebe. Der junge Tag beschien mit seinem blassen Licht die beiden Schläfer, die bisweilen im Schlafe seufzten, wie Kinder, wenn sie lange geweint haben.
Als Mely am Vormittag ging, reichte sie ihm stumm die Hand. Sie sah zu Boden und lächelte verstört. Dies verstörte Lächeln war ihm wohl bekannt aus vergangenen Tagen. »Auf Wiedersehen,« sagte sie.