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Gottesurteil

Das kleine Holzrössel war fertig geschnitzelt, und so legte es der Schmied auf den Schragen zu den Ochseneisen. Nachher ging er ratlos um den Amboss herum. Die Hände zuckten ihm manchmal nach einem Werkzeug, aber er zwang sie immer wieder zum Müßiggang. Denn es war Sonntag.

In der Stube neben der Werkstatt sang sein Weib. Sie wusste viele Lieder. Sie sang leise:

»Wohl ist der Herbst gedrungen
Durch den hochgrünen Wald,
Da hat sich gäh versungen
Ein Vogel wunderfalt.

Es hat sein Seel versungen,
Hat sich getrauert tot.
O weh, ihm ist zersprungen
Sein feines Züngel rot!

Jetzt ist es hold entbronnen,
Singt hoch am Himmelstor,
Bis es sein Rast gewonnen
In unsers Herrgotts Ohr.«

Martin hatte in seiner Reise um den Amboss innegehalten, verlauscht in die Weise, die mählich niedersummte.

Hilflos tappte sich nun sein Blick durch Radspeichen und Reifen hindurch zu den Pflugscharen und Hacken im Winkel, zu den Sensenklingen und Sicheln, die die Ernte gestumpft hatte, zu dem feiernden Werkgerät.

Und da sich heute sein Gemüt nicht in derbe Arbeit entladen durfte, so drängte sich etwas an ihn heran und stierte ihn unverwandt an mit den Augen eines schlimmen Tieres, das sich nicht zurückweisen lässt, stierte ihn so lange an, bis er den Hufhammer ergriff und klingend auf den Amboss schlug, wie um dies Gedankengespenst zu zertrümmern.

Hastig drehte sich die Stubentür. Sein junges Weib sah heraus.

»Hast du so auf das Eisen geschlagen? Ich zittere wie Herbstlaub.«

»Dass du jetzt allweil so furchtsam bist!« sagte der Meister tiefsinnig. »Alles erschreckt dich, alles macht dich traurig.«

»Musst es verzeihen, Martin! Meine Angst kommt wohl daher, dass ich ein Kind erwarte. Auch um dich sorg ich mich so: tagelang gehst du schon mit finstern Augen, kaum dass du redest, kaum dass du isst, und sagst mir nit, was dich bedrückt. – Und ich, ich selber fürcht mich so vor der Geburt. Denn Gebären ist bitterer als das Sterben.«

Die Furchen auf des Mannes Stirn tieften sich und sein Mund rang vergeblich, ein Lächeln zu formen.

»Hast ja noch keines versucht, das Gebären nit und das Sterben auch nit. Und das Kindel kommt erst nach ein paar Wochen zur Welt. Kannst noch viele Nächte ruhig schlafen.«

»Ach, der Schlaf ist mir feind worden«, klagte sie. »Alles hilft zusammen in der Nacht, dass sich die Ruhe nit zu mir findet. Der Thomasturm schlägt die Zeit schier ohne Aufhör, als müsst er alle Stunden in meinem Leben nachzählen. Die Bäume neben unserm Haus reden so schauerliche Geschichten, oft schleicht einer davon zum Fenster her und haut mit dem Ast daran. Auf der Gasse gehen Schritte so schwer, es dürft einer kommen und mich holen. Und der Knisterwurm im Gebälk über unserm Bett …«

»Es knistert nur mein Schwert, das im Trambaum steckt, Walburg. Jetzt zieh es heut heraus.«

»Und wenn mir die Augen nur ein bisschen zufallen«, setzte sie fort, »gleich kommt ein Traum daher, der mich wieder auftreibt.«

»Heut Nacht muss dir was Schlimmes geträumt haben«, meinte der Schmied.

»Hab ich geweint?« besann sie sich. »Und es ist doch ein liebes Bild gewesen. Gottvater lehnt im Himmelssessel, die Füße hat er auf einer lichten Wolke stehen. Aber derweil er so schläft, ist eine schneeweiße Lilie vor seinen Füßen aus der lichten Wolke gewachsen. Sie ist wie eine kleine Seele gewesen.«

»Du hältst das wieder für ein Vorzeichen«, brummte der Mann. »Der Traum ist dir aber nur kommen, weil du jetzt immer ein Lied singst, wo von derselben Sache die Rede ist.«

Walburg wiegte das Haupt.

»Ich glaub halt, der Traum ist ein Spiegel, der Bilder wirft, die erst später wirklich kommen. Freilich schickt es sich häufig, dass er mir nur das zeigt, was ich am Tag gedacht hab. Drum seh ich, seit sie den Andres Welsch erstochen haben, allweil vor meinen Augen die Nacht zusammenrinnen zu einem blutigen Gesicht.«

»Denkst du schon wieder daran, Weib!« zürnte er.

»Ich kann mir nit helfen«, sagte sie. »Ich red mit niemand über das Unglück, ich geh nit aus dem Haus, dass ich nichts darüber erfahr, und immer wieder seh ich das blutige Gesicht.«

Da griff der Meister hastig nach dem Holzrössel und hielt es ihr dar.

»Gerad bin ich fertig worden mit dem Schnitzen. Ich hoffe, der Bub wird Freud haben mit seinem ersten Spielrat, dem Rössel, und es wird sich dann gleich zeigen, dass er ein braver Schmied wird …«

» … oder ein stolzer Ritter«, ergänzte lächelnd die Blasse. »Aber das hat noch Zeit. Und ich hab dem Kindel eine Docke aus Flecken genäht, denn ich mein, es soll ein Dirnlein werden.«

Er sah ihr in die hirschbraunen Augen. Gern hätte ihr jetzt etwas recht Gutes gesagt, aber eine Scheu fasste ihn vor dem feinen Liebeswort, das sich nicht recht zu seinen groben Händen gefügt hätte. So schwieg er.

Gedankenlos streichelte sie das Rössel.

»Mir geht der Andres Welsch nit aus dem Sinn. Was mag da geschehen sein im Wald? Wer hat die halsbrüchige Untat getan? Es ist doch die größte Sünd, einen Menschen abzutöten.«

Martin Herdegen ereiferte sich fast über diese Ansicht.

»Kann er nit in gerechter Not erstochen worden sein? Denk dir, der Andres hat seinen wilden Tag, und es begegnet ihm einer wo in der Öde, dem er nit wohl will. Er fällt mit der Axt, mit der Armbrust über den anderen her. Soll man sich da halten wie ein Geißbock, der abgegurgelt wird?«

Sie sagte nur: »Wie ein böses Feuer ist der Andres gewesen. Aber mir graust vor dem, der ihn umgebracht hat. Ein Mensch, der einen andern vom Leben zum Tod bringt, ist entsetzlich.«

Der Schmied bückte sich über eine Gerättruhe und kramte das Werkzeug lärmend durcheinander.

»Das Fieber greift mich schier, wann ich zurückdenk, dass mich der Andres einmal hat zum Weib haben wollen«, fuhr sie fort. »Ich hab eine große Angst vor diesem Menschen gehabt. Er muss die ganze Zeit nix anderes getan haben als gelauert. Erzwingen hat er es wollen. Und wie du mich dann genommen hast, ist mein Kummer erst recht groß worden. Wie er gedroht hat, er erschießt dich, er zündet unser Haus an, er lässt Neuern an allen Ecken brennen!«

»Wir haben uns schon nit leiden können, wie wir noch Buben waren und unsere Väter Anrainer«, sagte der Schmied. »Wie ich aber aus Sankt Katharina nach Neuern herein gesiedelt bin und die Werkstatt von deinem Vater übernommen hab, da hätt er mich am liebsten auf offener Gasse erdrosselt.«

»Jetzt kann er dir nix mehr tun, Martin«, – ein leichtes Frohlocken war in ihrem Antlitz – »und ich freu mich, dass du nicht mit ihm zusammengerückt bis. Wer mag es aber verbrochen haben?!«

Er Meister zuckte die Schulter.

»Der das getan hat, wird es kaum gestehen.«

»Aber es kommt vor das Gericht. Und warum soll er es nit bekennen, wenn er ihn in Selbstwehr gestochen hat?«

»Weißt du, Walburg, was für Gründe einer dafür haben kann? Wenn er ihn auch im gerechten Streit, in aufgezwungener Wehr erschlagen hat müssen, wenn ihn des Königs Gericht freispricht und das eigene Gewissen, die Menschen vergessen ihm das nie. Sie schauen ihn an wie einen Dieb oder Räuber oder Kirchenschänder, sie reden heimlich hinter seinem Rücken und deuten sich zu; sie sehen das Blut immerfort auf seinen Hände, es graut ihnen, und das Grausen ist wie ein Gebirg zwischen den Menschen und ihm.«

»Du redest whr, Martin«, pflichtete sie bei, »und ich müsst schreien und davonlaufen, wenn der Mörder des Andres unter unser Dach käme.«

Der Schmied ward rot im Gesicht und dann geradezu licht vor Blässe, wie die rote Hitze in Weißglut sich wandelt, und er trug die blasse Miene in die Stube und riss das Schwert ungebärdig aus der Balkendecke, dass das mürbe Holz splitterte.

»Es wär bald eingerostet. Seit unserer Hochzeit hab ich es nimmer getragen.«

Walburg sah unruhig seinem Treiben zu.

»Was hast du vor? Hab ich dich mit meinen Reden gekränkt? Warum nimmst du den Hut?«

Er band sich das Schwert fest.

»Heut wird in Sankt Katharina Gericht gehalten, ich muss hin.«

»Du musst? Bist du denn ein Ratgeb, ein Schrannensitzer?«

Er küsste sie auf die Stirn.

Unter dieser Liebkosung schloss sie die Augen und bat: »Bleib daheim, bleib bei mir!«

Aber er riss sich fast heftg los. Die Haustür öffnend, trat er auf die Schwelle. Seine Stimme stockte.

»Weib, ich hab es dir verhehlt bis jetzt. Vor deinem Weinen hab ich mich gefürchtet. Aber einmal muss es doch offenbar werden. – Schau, du bist die ganze Zeit nit auf die Gasse kommen, du weißt nit, was sie über mich raunen. Aber was du auch hörst, glaub mir, ich hab recht getan.«

»Um Gottes willen, was ist geschehen?«

Wie Mohn brannte ihre Wange, ängstlich schossen ihre Augen hin und her, gefangenen Schwalben gleich.

Da sprach der Mann leise und schwer: »So will ich dir es beichten zwischen Tür und Angel: vor das Gericht hat mich gestern der Scherg geheischt. Ich bin bezichtigt worden, den Andres Welsch erschlagen zu haben.«

Die Tür schloss sich hinter ihm. Es war wie eine Flucht gewesen.

Walburg lehnte sich an die Wand, ein Schauder fröstelte ihr durchs Blut.

Aufschluchzte sie so stark, dass das raue Eisen klang.

Herdegen eilte das Gässchen hinunter.

Es war eine Schlucht, von Holzhäusern beiderseits gesäumt, deren flache Bretterdächer greis im Herbstreif lagen. Die Häuser zogen von der Kirchenhöhe nieder. Oben ragte einsam Gottes Bergfried im Freithof, umzingelt von Mauern, fast unberennbar wie eine Feste.

Der Meister sprang über die flachen Steine, die sich über das herbstliche Angelströmlein zur Furt reihten.

»Wohin du?«

Ein Dornvogel schrillte es.

Mit langen Schritten griff Martin aus, des herbstlichen Farbengepränges nicht achtend.

Ein junger Mann saß an der Straße und erwartete ihn.

»Nachbar, ich begleit dich.«

»Bleib daheim, Kolmar, lass mich allein gehen!« lehnte der Schmied ab.

Der andere schien das nicht gehört zu haben, denn er trabte an des Meisters Seite die steinige, schlechte Straße.

»Was hat dein Weib dazu gesagt?« fragte er.

»Nix. Ich hab es ihr erst verraten, wie ich zur Haustür hinaus bin.«

»Das war klug«, lobte der Freund, »denn ein Weib, das mit einem Kinde geht, soll nit durch wilde Geschichten verstört werden. Wie leicht könnt sie ein Wesen zur Welt bringen, das ein Blutmal auf der Stirn hat!«

Erschrocken blieb der Schmied stehen.

»Hör auf, Kolmer, das ist ja nicht zum Glauben.«

»Drüben in Bayern ist ein Müllner, lieber Martin, der hat den Bart aus lauter Schweinsborsten, weil seine Mutter in der schweren Zeit über einen Eber gestürzt ist. – Und warum ist denn dem Andres sein Leib so haarig gewesen? Nur darum, weil sich die Welschin in einen Bildstock verschaut hat, wo der Johannes der Täufer mit seiner rauen Kamelkutte gestanden ist.«

Martin schüttelte gewaltig den Kopf.

»An den Unsinn glaub ich nit.«

Der Weg ging über eine Hügelwelle. Rasend goss sich in der Morgensonne das Laub aus den kränkelnden Bäumen. Die Äcker ruhten verwitwet unterm glitzernden Schleier des Altsommergespinstes.

»Die Haare sind auf dem Andres gewachsen wie Gras auf der Erde«, hub der Begleiter wieder an. »Ich hab es gesehen, wie sie seinen Leichnam gewaschen haben. Da ist er gelegen, ohne Macht, ohne Geist. Schreckhaft ist es, wie das Sterben den Menschen anders vermacht. Wie hat er voreh das Vieh gepeinigt, die Bäume geschunden und geknickt, die Nachbaräcker zertreten in seiner Boshaftigkeit! Wie hat er im Wirtshaus die andern gespießelt und gestichelt! Und auf einmal liegt er auf dem Totenbrett wie ein Heiliger.«

»Der richtige Heilige!« murrte Martin in den Schnauzbart.

Kolmer redete weiter: »Vor einer Woche hab ich ihn noch gesehen, im trunknen Elend ist er an deiner Schmiede vorbei, mit dem Stecken hat er hinaufgedroht …«

»Er hat mich schon als Kind verderben wollen«, entgegnete der Meister. »Kommt er nit einmal an einem Sonntag mit einem Knecht in unser Hammerwerk. Meine Leute sind gerade auf dem Kirchplatz und ich, ein geringes Bübel, bin ganz alleindahin. Da fangen mich die zwei und binden mich auf den Amboss. – Da bin ich gelegen. Über mir der riesige Hammer. Wann er fällt, zerdrückt er mich zu Brei. Und der Andres rennt zum Weiher und will das Wasser in die Schmiede lassen und den Hammer gehend machen. Auf mein wildes Geschrei aber kriegt der Knecht Erbarmen, er knöpfelt mich wieder los, und kaum dass ich vom Amboss herunter bin, so haut der Hammer darauf, dass die Erde zittert …«

Dem Freunde graute.

»Der Teufel hat eine Seele mehr, die Welt einen Schuft weniger«, sagte er.

Die Wandernden näherten sich dem Bildbaum. Daran war mit einem Stricklein unbeholfen eine hässliche Heilandsmarter gefügt, die statt der fünf heiligen Wunden die unzähligen Löcher des Holzwurmes trug.

Heute kniete die alte Welschin dort, sie war halbtaub und hörte die Vorübergehenden nicht. Ihr Gesicht war hart und steinern wie das einer alten Nonne.

Mit einer Rut züchtigte sie den Gekreuzigten.

Auf dem Driespitz, einer von steilem Tannicht gesäumten Hutweide, sollte des Gerichtes gepflogen werden.

Jakob Eisner aus Seewiesen, der Oberrichter des Königswaldes, stand auf einem grauen Stein unter dem Klagbaum. Er war ein derbschrötiger Mann mit rostigem Bart. Sein Schwert glänzte vor ihm auf der Platte eines stämmigen Tisches. Darunter gestreckt schlummerte sein Rüde.

An dem Tisch saßen die sieben Urteiler.

Die Gerichtsstätte war umfasst von einem birkenen Gezäun, den Schrannen, dahinter der Umstand harrte: waffenfährende Freibauern, Weiber und Knechte. Es waren meist hellhaarige und langgewachsene Gestalten, doch auch viele mit verbrauchtem Körper, mit Fingern, die raue Mühe versteift und verstümpelt hatte.

Eine süße Kühle mahnte an den Gilbmond. Sonnig und blau das Himmelsrund.

Die Hellebarde des Fronboten, der die Birkenschranke entlang stolzte, funkelte.

Nun bückte sich der Rostbart von dem Stein zum Tisch nieder und hob das Schwert. Der Rüde reckte die Schnauze empor und wedelte. Die Bauern dehnten die Hälse.

Die Hegung des Dorfgerichtes hatte begonnen.

Der Richter sprach mit eintöniger, aber starker Stimme. »Urteiler und Umstand! Bei ewiger Verweisung aus den Marken des Königswaldes gebiete ich Friede, auf dass das Gericht recht gehegt werde. Keiner soll reden, wenn ihn der Richter nit fragt; keiner darf in die Schrannen treten, wenn ihn der Richter nit fordert. Scheltwort und hastigen Mut untersag ich denen, die Urlaub kriegen zur Rede. Also mahne ich: schweigt und loset der Gerechtigkeit zu!«

Während der Anrede war es still geworden. Der rote Ahorn über dem Richtplatz stand wie ein gewaltiger Lauscher.

Jakob Eisner ließ sich auf den Stein nieder, schränkte die Beine und schlang die Hände ums Knie.

»Wir künischen Bauern sind nur dem König untertan. Durch altes Herkommen und durch Freibriefe sind wir befugt, Wildbann und Fischnutz frei zu übern im ganzen Königswald. Auch haben wir Mut und Macht, des Gerichtes zu pflegen über unsersgleichen. – Und so frag ich dich, Ratgeb, ist es die rechte Zeit und Weil, dass wir das Recht suchen?«

Der Sprecher der Schrannensitzer, Wolf Fuxpichler aus Sankt Katharina, erwiderte mit überlauter Stimme: »Es ist hohe Sonne, und der Tag steht weiß. Es ist die rechte Zeit und Weil.«

Wieder fragte der Richter: »Ist es der rechte Ort, das Gericht zu heben und das Urteil zu finden?«

Der Ratgeb antwortete: »Der Mann, den man bezichtigt hat, ist ein künischer Bauernsohn. Nur auf freiem Königsboden darf er gerichtete werden. Es ist der rechte Ort.«

Zum dritten begann der auf dem Stein: »So sag mir noch, Ratgeb, ist das Gericht ordentlich besetzt?«

Zum dritten erwiderte der andere: »Sieben gekürte Urteiler sitzen unterm Klagbaum. Das Gericht ist ordentlich besetzt.«

»Der Kläger erhebe die nothafte Klage«, gebot nun Jakob Eisner.

Gallus Welsch, ein alter Bauer mit leicht gekrümmtem Rücken, trat in den Ring. Seine Stimme schnitt wie eine Sense.

»Vor drei Nächten ist mein Sohn Andres Welsch ins Bärenloch jagen gangen. Er ist nit heimkommen. Drum bin ich mit meinem Weib suchen gewesen. Wir haben ihn gefunden, aber er hat keinen Atem mehr in sich gehabt, er war erstochen. Mein Weib hat einen Hirschensprung weit von dem Leichnam dem Schmiedmartin sein Weidmesser gefunden. Der hat zur selbigen Zeit im nämlichen Holz gebirscht. – Ich schrei über den Martin Herdegen, Schmiedmeister zu Neuern, dass er den Frieden im Wald gebrochen hat, ich rüge ihn des Mordes an meinem Sohn, ich schrei um Vergeltung.«

»Der Gallus Welsch«, begann der Richter wieder, »bezichtigt den Schmied Martin Herdegen, das er in Hehle und Heimlichkeit ihm den Buben erstochen. Wenn du, Martin Herdegen, nit durch echte Not behindert bist, wenn dir kein Räuber den Weg gewehrt, wenn nit wild Brand oder finstrer Tod, wenn du nit siech liegst im Stroh, so tritt vor meinen Stuhl!«

Herdegen trat vor, fahlfarben das Gesicht unter dem korngelben Haar.

»Lass mich ein Wehrwort reden, Richter! Alles leugne ich, wessen ich gerügt werde.«

Richter, Ratgeb und Klagmann hatten geschrien. Die künischen Leute hatten nicht nur im Wirtshaus feste Stimmen; sie schrien überall. Sie waren es so gewohnt, denn die Stimme, die von einem Einödhof weit hinüber zum zweiten drang, musste Kraft und Mark haben.

Der Geklagte aber hatte leise geredet. Er sah sein Weidmesser auf dem Tisch, er sah eine abgeschlagene Hand. Wie aus gelblichem Wachs geknetet, lag sie dort. Aber sie schmolz nicht an der Sonne. Sie blieb und war leicht geöffnet.

Das war die Hand des Erschlagenen, die dem Gericht als Urkunde vorlag.

Gallus Welsch hatte die Arme in die Hüften gespreit.

»Du leugnest?« kreischte er. »Beweisen will ich dir es bis ins Feuer hinein, dass du ihn abgestochen wie eine Sau. Schaut ihn an,er traut sich kaum zu reden! Steht er nit da wie die fahle Sünd selber? – Gelt, fürchtest dich vor der Hand dort, Nachbarsbub? Die wirst du zur Sühne ins Grab tragen müssen.«

Darob ergrimmte der am Richtstein.

»Halt dein Maul, Welsch, kränk niemand! Sag mir lieber, ob du ihn auf handhafter Tat ergriffen hast? O du einen Zeugen bringen kannst, einen Menschen oder ein Tier?«

»Das kann ich nit«, murrte der Kläger.

Martin starrte noch immer versunken auf die Hand.

Wie oft hatten sich seine Finger wütend geschoben in diese hässliche, haarige Hand! Ihm war, als müsste sie sich noch einmal mit der Seinen streitend verklemmen.

Eine Krähe wanderte über den Wald. – Wenn nur der Vogel diese Hand stähle!

Jakob Eisner hatte auf das Messer gewiesen.

»Ist das dein Hirschmesser, Martin?«

»Es gehört mir. Ich hab es im Wald vergessen, wie ich einen Rehbock ausgeweidet hab. Wie das Messer zu dem Toten kommen ist, weiß ich nit.«

Der alte Welsch ward bis zum Hals hinunter rot, die verfaulten Zähne wies er dem Gegner.

»Du hast ihm den Fang gegeben, nur du! Hat ihn einer so verfolgt wie du? Hast du ihn nit geschädigt, wo du nur können hast? Willst es leugnen, dass du ihm die genommen hast, die er zum Weib hat haben wollen?«

»Lass das gehen, das gehört nit her!« erinnerte der Richter.

Aus den Augen des Alten fuhr die Wut wie eine Wolke.

»Hilfst du zu ihm, Eisner? Bist ihm gar befreundet und versippt? – Leut und Kinder, da haben wir den rechten Richter, da ist der Kater zum Speckwächter bestellt.«

»Ich vermahn dich ernsthaft, Gallus …«

»Mahn zu! Mein Bub muss gerächt werden, und der Schmied muss am Rad faulen, seinen Kopf will ich gespalten sehen vom Hals.«

»Du willst deinen Andres rächen«, sagte der Beschuldigte, »und könntest froh sein, dass du seiner ledig bist. Hat er dich nit gehaut und getreten, hat er dich nit in den Keller gesperrt tagelang? Auf den Misthaufen hat er dich hinausgeschmissen im Zorn, hat dir den Sautrog zum Sarg versprochen. Dein Weib hat er an den Haaren in der Stube herumgeschleift. Seine Mutter!«

»Das geht niemand nix an. Was geschehen ist, tut nimmer weh.«

Die Lauscher hatten beifällig zu den Worten des Schmiedes genickt, denn dessen Sippe war in großer Zahl anwesend. Der Tote aber war ein anrüchiger Gesell, ein gefürchteter Rauling gewesen.

Nur einer, ein verrufener Knecht, war anderen Sinnes. Er schrie plötzlich: »Der Lügengeifer tropft ihm aus dem Maul, dem Schmiedmartin!«

Gleich hob sich wilder Widerspruch.

»Holzdieb, duck dich!« drohte einer dem Knechte zu.

Jetzt kam der schwerblütige Bergmensch auf dem Richtstuhl in Erregung, seine groben Knochen dröhnten in den Tisch.

»Auf der Stelle will ich Ruh haben!«

Da lachte der Kläger hart auf.

»Es wäre gescheiter, es tät weniger friedsam zugehen. Da schaut hin, dort am Ratgebtisch schläft sich einer aus.«

Richtig war der Schrannenmann Tobisa Puchinger aus Kochet eingenickt. Das Kinn hatte er in die Brust gebohrt, den Rumpf vorgeneigt; die Arme hingen schlaff.

»Du, spar dir dein Gespött! Der Puchinger hat die ganze Nacht nix geschlafen, seine Kuh hat das Kalb nit kriegen können. dann hat er den weiten Weg machen müssen von Kochet her über die Berge. Lasst ihn schlafen!«

»Lasst ihn schlafen!« äffte Gallus den Richter nach. »Lasst ihn das Jüngste Gericht verschlafen! Lasst mich stehen wie einen abgedorbenen Baum, dem einer den Gipfel abgerissen hat! Lasst ihn laufen, den augendreherischen Heiligen da, der meinen Letztling erschlagen hat!«

Eine rote Flocke sinkenden Laubes flog über den Alten.

»Schau an, wir sind Nachbarsleut gewesen!« suchte Martin ihn zu begüten.

»Schmied, wir haben nix mehr gemein als den Erdboden, darauf wir stehen. Aber auch das muss sich ändern, einer von uns muss weg.«

Und Gallus Welsch sah seinen Widersacher an, als wolle er ihn mit den Augen ermorden.

Bist wirr geworden, Gallus? Schrei nit so!« befahl der Richter.

»Du Eisner« – der Kläger hob die Hand und deutete auf ihn, – »gib mir mein Recht, sonst muss ich mir es selber verschaffen!«

»Martin Herdegen«, hub der Richter abermals an, »gesteh, hast du den Andres vom Leben zum Tode gebracht? Hast du ihn aus Not erstochen? Bist du ihn selber angesprungen?«

»Ich hab schon gesagt, dass ich unschuldig bin«, erwiderte gereizt der Schmied.

»Die Wahrheit muss ans Licht«, fuhr der Alte darein.

»Was ist denn dir die Wahrheit? Das, was du dir einbildest«, begehrte der andere auf.

Der Eisner unterbrach diesen Zank.

»Schmiedmartin, kannst du es beschwören, dass du keine Schuld hast? Kannst du die Finger aufrecken und die Linke auf die Totenhand legen?«

Einen Augenblick schien es dem Schmied, als verschwöllen ihm Zunge und Gaumen, als müsse er die Zunge mit der Hand aus dem Munde ziehen, um reden zu können. aber er brachte es doch heraus.

»Ich will schwören.«

Des Gegners Lippen verrenkten sich zum Grinsen.

»Schwör nur! Leg die Finger in dem Andres seine Hand, sie wird dich nimmer auslassen.«

Jetzt ward Martin zornig.

»Renk dir die Gurgel aus! Schrei noch mehr! – Schwören will ich und meine ganze Sippe mit mir!«

Und zum Richter sich kehrend, forderte er: »Gib mir den stärksten Eid, den du hast!«

Den rechten Arm hielt Martin wie einen Stab auf und spreizte zwei Finger gegen die Sonne, die Linke aber legte er auf die Totenhand.

Die war welk und kühl und grässlich anzufühlen, aber sie packte ihn nicht.

Wie träumend begann er dem Richter die Formel nachzusprechen und sah unter aus grünem Tannenland fackelloh das Laub lodern im Rausch vor dem Tode.

Doch mitten im Eid sprang Gallus Welsch voll wildester Leidenschaft herzu und riss die erhobene Hand nieder.

»Er darf nit eiden, der Meinschwörer, ich lass das nit zu. Eitel Funkelwerk, Trug und Larvenspiel ist das. So leicht darf er mir nit davonkommen. Und der Ahorn da, der ehrliche Baum, soll die Schand nit erleben, dass sie ihn einmal den Meineidbaum schimpfen.«

Unschlüssig sah der Richter den Sprecher der Schrannenbesitzer an.

Aber des Fuxpichlers Bauerngedankenlagen schwer auf der Erde, die sein war, er dachte an Vieh und Feld, an Stall und Stier, an Flegelprall in finstrer Scheuer, an weißes, rieselndes Mehl. Ganz abseits war ihm der Sinn gekommen. Sein verflogenes Auge haftete plötzlich auf seines Knechtes Kopf, der auf gerecktem Halse herüberspähte. Und seiner selbst und des Gerichtes vergessend, rief der Ratgeb hell seinem Knechte zu: »Geh heim, Girgl, und füttre das Vieh!«

In der Richters Bart huschte ein Lächeln auf wie ein drolliges Tier.

Aber des Klägers Stimme bäumte sich jetzt wie eine Keule.

»Was lasst ihr mich da stehen und warten? Und du, Eisner, du lachst noch in deinen fuchsigen Bart? – Ihr denkt alle nur an euer Vieh, von meiner gerechten Forderung wollt ihr nix wissen. Sitzet nit so da wie keinnützige Mückenschnapper! Um mein Recht schrei ich. Verflucht und verurteilt muss er werden, der misstätige Mann!

In des Schmiedes Augen fing es zu sieden an, aus allen Winkeln seines Leibes fühlte er das Blut zusammenfließen und gegen sein Hirn rennen.

»Beiß dir nit die Zunge ab, Gallus! Wenn der Hund sie frisst, ist er vergiftet«, stieß er heraus.

Und der Richter sagte und seine Rede klang müde: »Welsch, ich mahn dich, beschwer das Gericht nit wieder mit solch ungebührlichem Schimpf, sonst müsst ich dir grob kommen!«

Aber der Welsch stürmte gegen den Schrannentisch.

»Du willst mir was schaffen?! Was gelten mir heute eure Satzungen und gesiegelten Briefe! Wie kann mich ein Brauch bändigen, der so verrostet ist wie dein Bart, Eisner! – Unfug ist alles, was du jetzt da getrieben hast. Da fragst du, ob der Geklagte da ist, derweil er dir vor der Nase steht; da willst du wissen, ob ihn mit Schneewehen und wilde Flüsse hemmen, derweil der Himmel nit mehr blauer sein könnt. – Was, um Gottes Blut, ist den die ganze Narretei da gegen das schreckliche Unrecht, das mir geschehen ist? Begreifst du denn es noch allweil nit? – Meinen Stamm hat man zerstört, abgeschnitten hat man mich von der Zukunft. Aus ist es mit mir in alle Ewigkeit. Denn ich und mein altes Weib können kein Kind mehr zeugen. – Mein Blut wird sich nimmer über die Felder bücken, nimmer Gras und Holz und Korn nutzen! – Ja, der Schmiedmartin hat mehr getan als meinen Buben gestochen, er hat mein ganzes Geschlecht ermordet. Er muss es büßen, er darf nit leben!«

Der Alte reckte die Arme gegen den Himmel und war wie ein Baum mit zwei dürren Ästen. Niemand wagte es, ihm Stille zu befehlen.

»Soweit bin ich gekommen, dass ich mein Schaffen hassen muss. Warum hab ich nit Baum um Baum, Wiese um Wiese verrauscht, warum hab ich nit den Hof verfressen und vergurgelt? Warum hab ich mir den Buckel krumm geplagt, gesät und gesenst? Warum hab ich gebetet? Mein ganzes fleißiges Leben ist jetzt zum Unsinn worden. – Ha, red Richter! Ihr Ratgeber, gebt mir einen Rat, wem soll ich den Hof hinterlassen?«

Alles schwieg.

Der Schmerz ließ den Alten wachsen.

»Die Brunnen hab ich über die Wiesen geleitet, den Pflug tausend und tausend Mal über die Äcker geführt, geschunden hab ich mich ärger als ein Knecht, ärger als ein Vieh. Bei jedem aufsteigenden Wölkel ist mir die Angst um die Frucht ins Gebein gefahren. Für wen das alles? Ha, red, Richter! Red, Ratgeb! – Keinen Feiertag hab ich gekannt und keinen Kirchgang, so dass mir der Herrgott zum Feind worden ist. Wie wild bin ich aufs Geld gewesen, drei Tage lang hat der Jud Melech aus Neuern dazu gebraucht, dass er es gezählt hat. Für hundert Jahr schier hab ich vorausgesorgt. Und für wen hab ich das getan? – O könnt ich hingehen und zu meinem Wald sagen: ‚Holz, verfaul!' und zu meinen Gründen: ‚Werdet zum Gesümpf!' Könnt ich die Steine, die ich aus Acker und Peunt gerissen hab, wieder hineintreiben und das Land verderben! – Abgeschnitten hat mich der Schmied von der Welt!«

Er barg das Gesicht in den schwieligen Händen.

Ratlos saß der Richter, das Kinn zwischen dem gebogenen Zeigefinger und dem Daumen. Die klugen Bauernaugen waren dumm geworden.

Um scharlachbekrönte Herbstbäume, um die Zinnoberbrände müden Laubes silberte die Luft. Und müder ward die Sonne, die große Zeugin alles Weltgeschehens, die stumme Mitwisserin.

Feierlich bagann nun Jakob Eisner: »Was ist zu tun, wenn ein bekennender Mund geschlossen bleibt und blinkender Schein nit zeugt, wenn der Verrufene nit ergriffen worden ist auf handhafter Tat? Ist einer da, der es weiß, der soll reden.«

Laut wie ein geängstigter Vogel fast schrillte eine Grille und übertäubte das Flüstern der Urteiler.

Ein uralt ferner Glaube war seinen Schatten auf die Männer, der Glaube, dass, wenn des Menschen Afterwitt ohnmächtig zerschellt, der höchste Richter die Wahrheit künden müsse.

Lange berieten die Schrannenmänner. Nur der müde Bauer aus Kochet schlief sorglos und tief.

Endlich erhob sich der Fuxpichler und sagte langsam: »Gott wird entscheiden. Sie sollen kämpfen, bis einer hin ist.«

Eine mächtige Bewegung ergriff die Lauscher, dennoch ruhte jeder Atem.

Der Welsch aber betet mit seiner Sensenstimme, die Augen auf des Sohnes Hand gerichtet,betete mit geballten Fäusten.

»Hilf mir, dass ich ihn schwer treffe! Gib mir ihn!«

Keiner wusste, wessen Beistand er anrief, den der Hand oder den Gottes.

Die beiden Gegner zogen sich die rauen Joppen aus, in Hemdärmeln wollten sie kämpfen.

Aufgeregt erhob sich der Rüde, er witterte die Rauferei.

Ein feines Gilben lag über dem Rasen, worauf der starke Mann und der wilde Greis sich gegenüberstanden.

»Mach Reu und Leid, Gallus!« mahnte der Schmied ernst.

»Geh du zum Beichtvater! An deinem Leib will ich dich der Tat überführen, dass du in einer Stunde schon den Blasbalg in der Hölle trittst, und wenn du auch das Kraut Widertod geschluckt hast.«

»Steh ab vom Streit, Alter, es kommt anders!« war das Gegenwort.

»Schmied, wenn ich dich erschlagen hab, Lefzen und Zähne will ich dir auseinanderreißen und dir auf die meinschwürige Zunge speien!«

Herdegen sah hinter diesen Worten die zerbrochenen, gehöhlten Zahnriffe des Welsch und schaute in seine Augen, die wie Pfützen im vermagerten Gesicht standen. Diese Augen kannte er.

Sie waren schwarz. Des Gegners Sippe hatte die finstersten Augen im Gau, die des Schmiedes die hellsten. Schon darum mussten sie sich feind sein.

Der Kampf wurde wie von zwei Blinden geführt, ohne Besinnung, ohne List und Kunst, nur die nackte Wut gab den Streichen die Richtung.

Der Alte stieß mehr, als er schlug und begleitete seine Bewegungn mit böser Rede.

»Mit dir raufe ich es noch aus«, schnaufte er, »und wenn ich nach dem Tod gehen muss und im Grab nit schlafen kann.«

Richter und Urteiler waren in Erregung und Neugier aufgesprungen, um besser zu sehen. Mit zankendem Gebell sprang der Rüde um die Streiter. Nur der Kocheter schlief unbekümmert fort.

Jetzt führte der Welsch einen jähen Stich gegen den Bauch des Gegners. Doch rettete diesen ein hastiger Sprung.

Aber alles spannte sich, Geist, Sehnen, Sinne, in dem Schmied. Er wollte sich nicht in den Tod trollen, wollte nicht enden durch die Hand eines welken Menschen.

Langsam steigende Blutfunken im Auge, trat er zurück gegen den Ahorn. Er schien sich ein fliegender Hammer, der seines Schicksals nicht Herr ist.

Der nackte Scheitel des Feindes glich einem Amboss. Von diesem Schädel, von diesem Leib aus war schon unsäglich viel Böses gegen ihn gegangen, Verleumdung, Schimpf, Fluch, wilde Pläne.

Könnte man diesen verhassten Amboss in den Grund hämmern, wie es die starken Schmiedgesellen alter Märlein getan!

Und Martin holte aus, dass die Fäuste hinter seinem Genick waren und die Ellbogen spitz gegen den Himmel standen.

»Herrgott, jetzt schlaf nit!« kreischte ein Ruf aus dem Umstand auf. Die alte Welschin war es gewesen.

Eine Weile, kürzer als ein Gewitterlicht, zögerte er Schmied. Es dröhnte ihm im Ohr, als schritte ein Mächtiger die Himmelsstiege nieder.

Dann schlug er zu.

Ein Gebrüll erscholl, furchtbar. Dass ein Menschenhals so tosen kann! Das lockere Laub des Klagbaumes fiel darob wimmelnd von den Zweigen, der schlafende Ratgeb fuhr auf, schaute blöd umher und wusste nicht, wo er war.

Ein Gebrüll, darein der Donner gepfercht war! Grauenhaft rüttelte es an jedem Herzen.

»Es gibt keinen Herrgott!« hatte der Welsch gerufen.

Gestreckterlängs lag er nun auf dem Rasen. Unter dem durchschweißten Hemdärmel flog ein Zucken, das Knie richtete sich ein wenig auf. Dann ward er ruhig, und seine offenen Augen waren wie leeres Glas.

Der Schmied sah weg. Im Land drunten lag des Herbstes rote Fehde gleich einer Blutstätte.

Von seinem Stein herab rief Jakob Eisner heiser: »Ratgeb, ich frag dich, hat sich der Martin Herdegen vor dem Gerichte gereinigt?«

»Er hat sich gereinigt. Gott hat geurteilt«, klang die Antwort.

»Martin Herdegen, ungefährdet ziehe deine Straßen! Niemand darf dich hemmen, niemand dir ein Misswort geben oder sich rächen wegen der Tat, die da geschehen ist.«

Und das Schwert aufstreckend, schloss der Oberrichter: »Das Gericht ist entbannt! Geht heim!«

Die Bauernwaffen klirrten Beifall, Herdegens Sippe riss die Schranken ein und drängte um den Sieger, seine kalten, gleichgültigen Hände nehmend.

»Ich dank euch recht schön, liebe Leut! Aber lasst mich heimgehen, lasst mich allein!«

Seine Stimme drang wie aus einem Nebel.

Die Urteiler machten sich um den Toten zu schaffen. Sie brachten ihm das Schwert nicht aus der Hand, es war wie eingewachsen.

In verständnisloser Fröhlichkeit bimmelte das Sterbeglöckel. –

Der Schmied hatte hastig die Driespitz verlassen.

An einem dürren Wegdorn erwartete ihn die Welschin, das Wischtuch von den Augen ziehend, deren rote Ränder ganze Bündel von Runzeln entsandten.

»Den Buben hast du mir genommen und den Bauern. Erschlag mich auch!« sagte sie hart.

Er wollte wortlos vorbei, sie aber fasste ihn am Rock.

»Jetzt gehen sie saufen und zehren, der Richter und die Urteiler. Warum gehst du nit mit? Magst wohl nur aderwarmes Blut?«

»Heb dich von mir, du verdammte Hex!«

Sie folgte ihm.

»Wohin soll ich denn gehen? Ich habe ja niemand mehr. Lass mich bei dir!«

Da trieb er sie mit Fausthieben von sich und rannte davon.

Er rannte, bis ihn die Hüften schmerzten und er sicher war, dass ihn die Welschin nimmer einhole. Dann ging er langsam und mit schlafender Seele.

Er sah kaum die Ödhöfe, die er streifte, die stummen Scheuern, die goldenen Birkenschachen, durchraschelt vom Spätjahr.

Rote Bäume traten wie trauernde Fackelträger an die harte, steinvolle Straße, dann wieder Felder, darüber die Ernte gesenst. Öde Furchen klafften.

Martin warf sich hinter einen abseitigen Zaun und starrte in das Braungelb dorrender Lärchlinge. Bei Lichten wollte er die Stadt nicht betreten.

Der Schmerz spielte wie ein Hammerwerk in seinem Hirn.

Erst als die Sonne, von ihrem großen Gewerbe lassend, straßenmüde heimging, machte er sich auf und fühlte den bayerischen Wind wie eine Hand in seinem Schopf und spürte ihn über die Stoppeläcker hinken.

Die Abendglut schrankte, ein roter Rain, zwischen Tag und Nacht auf. Blutig war das Vließ eines verspäteten Wolkentieres.

Hernach dumpfes Dunkeln.

Auf den Bergklötzen lauerten schwer die Wälder, der Straßenbäume dürrarmig Gedrohe griff undeutlich und verrenkt in die Dämmernis. Nicht mehr vermochte die Ahornleuchte die schwarze Luft zu durch brennen. Verdüstert weiteten sich die Wiesen.

Oft aber trotteten sich die Bäume zu schwarzen Gruppen, als hielten sie unheilvolles Gericht über den Wanderer in der Dämmerung.

Das Dunkel bürdete seinen Nacken. Nur der staubfahle Weg glomm matt.

Aber jetzt öffnete die Moorwiese die Wimpern: bläuliches Geflämmel spielte.

Tanzt dort eine arme Seel mit ihrer Latern? Ist es der glühende Mann, der Moorwisch? Drei Brosamen muss man ihm geben, so wissen es die Spindelweiber, dann ist er erlöst.

Oder ist es der Erschlagene? Der alte Welsch? Versprach er nicht, wiederzukommen nach dem Tod, um den Streit auszuraufen?

Ach, dumme Märchen der Ahnmutter! –

Der Mond schielte lauersam übers Bannholz.

Wie ein Schränkelbalken lagert ein Nebelstrich zwerch über den Weg.

»Niemand darf den Weg dir sperren«, sagte Martin in sich hinein. Schauernd durchschritt er aber den Streif, als ginge er durch den Tod.

Tod?

Der Gallus hat sich heut mit dem Tod abfinden müssen, sein Leib, am Rasen zuckend und mit verpulsendem Blut …

Der Wanderer rückte im Trotz die Brauen zusammen.

Er hatte gut gehandelt. Gott selbst hat ihm recht gegeben zu allem, was er getan. Gott hat gerichtet.

Aber – der Schmied erschrak – gibt es denn einen Gott? Oft hatte er schüchtern, ganz schüchtern nach dieser Frage gespäht. Jetzt stand sie wie ein Riese über ihm und hielt ihn mit gewaltigen Pranken.

Der, dessen Seele heut verraucht ist, hat Gott zu leugnen gewagt, hat ihn verleugnet in einem Augenblick, wo er schon ein gutes Wegstück ins Jenseits hinüberschauen konnte.

Gibt es eine Hand, die aus dem Dunkel, aus den Höhen langt und sich in des Menschen Werk mischt?

Schier neugierig hob der Schmied die eignen, arbeitentstellten Hände im Mondlicht. Sie schienen ihm wie Wesen, unabhängig von ihm. Was sie getan, hatte er es gewollt? Waren sie nicht von fremden Kräften gehoben, gedrängt worden? Aber alles war in ehrlicher Wehr geschehen.

Doch die Totenhand?!

Wo mag sie jetzt liegen? Bleicht sie noch auf vereinsamter Richtstätte, ein Mahl dem Rabenmagen? Oder wird sie nachts an die Schmiede klöpfeln? Ihn aufschrecken und sein Weibß

Sein Weib! –

Geisterweiß die Landschaft im beginnenden Mondlicht, bleich wie etwas Totes.

Des Wanderers Sinnen ästelte und veraderte sich, umkereiste unruhig das Geschehene, witterte in Werdendes hinein. Immer aber landete es bei Walburg, seinem Weibe.

Wenn er nur dieser Aussprache enthoben würde, dieser Fragen, dieser Tränen, die jetzt kommen werden, bald kommen werden, denn die Stadt ist nahe.

Er sah auf.

Blendhell weilte der Mond hinter den Häusern, so dass der Ort, mit dem Hügel zu einem einzigen Block verronnen, weinen spenstischen Schattenriss darbot. Durch eine Nebelbank, die zu seinen Füßen brütete, schien dies Schattenungetüm hoch emprogehoben.

Grau, schemenhaft, ein gebäumter Droher, die eckigen Giebel bald zackend, bald breitkeilig in den übermondeten Himmel treibend, ein abweisendes Zingel- und Schartenwerk, die Baumkronen zu seltsamen Kugeln gerundet, der unheimliche Umriss wie ein entsetzliches Geschick, – so hatte der Mann die Stadt noch nie geschaut, dies gemächlich kleine Nest, dessen Dächer sonst so lieb grüßten.

Es fror ihn an den Lippen

Doch erst der Kirchturm!

Der finsterte streng über den Ort hinaus, den bauchigen Helm wie eine Hand, die sich in dem Städtlein sattgewürgt hatte und nun, zur Riesin erwachsen, als Faust über die Häuser getaucht ist.

Geh dieser Faust nicht entgegen, raunte es dem Schmied zu. Ist sie nicht Gottes Faust? Und diese schwere Ruhe im Ort! Was hat diese Faust getan, dass es so totstill ist im Gässleinß

Dieser Frost in den Lippen! Das tun die Gedanken.

Es ist ja lauter Wahnsinn. Diese Faust ist der alte Kirchturm, diese Zacken und Schneiden sind kein böses Bollwerk, sondern Dächer, darunter gute Menschen schlafen.

Fort, sinnloses Denken! Ein Lied her, irgendein frohes, warmes Lied!

Wohl ist der Herbst gedrungen
In den hochgrünen Wald,
Da hat sich gäh versungen
Ein Vogel wunderfalt.

Er summte es und fand, dass es so traurig war. Da bannte er es weit von sich hinaus, doch als er es ins Unerreichbare gerückt glaubte, fand er es wieder auf den frierenden Lippen.

Da hat sich gäh versungen
Ein Vogel wunderfalt.

Er hätte ebenso den hageren Schatten wegscheuchen können, den der Mond neben ihm wandern ließ. –

Über die Furt trat er in den Stadtbann. Die schluchtige Kirchengasse lag zur Hälfte im Dunkel, die Häuser starrten mit argen Augen.

Ein Mann begegnete ihm, der sah ihn scheu an.

Da hob der Heimkehrende steil den Kopf. Sie sollten wissen, dass er der Siegmann sei.

Und die erhobenen Augen fanden die Fenster seines verschatteten Hauses. Wie die glühenden Nüstern eines Zeubertieres leuchteten sie. So hell ist kein Spanlicht, da ist Kerzenglanz in der Stube.

Wie zu einem Feste bereit, lag des Schmiedes Haus. Ist ein guter Gast eingekehrt?

Martin Herdegen öffnete das Tor.

Auf dem rauen Eisen der Werkstatt saß die alte Welschin, ein Wachslicht vor sich auf dem Boden. Sie sah ihn an mit Augen voll Ruhe und Starrheit.

Ein Gedanke kam dem Schmied, so grauenhaft, wie ein Unhold dem Moor enttaucht, und er erbebte, dass ihm das Herz kalt wurde.

Die Stubentür riss er auf.

Auf dem Bette lag, das Gesicht seltsam mager wie in müder Beruhigung nach überlautem Schmerz, Walburg, sein Weib, tot. zu ihren Häupten qualmten die geweihten Kerzen.

»Das Gericht!« schrie der Schmied.

Vor seinen Augen wankte alles, und auch ein Brettlein, darauf ein stilles, fremdes Kind ruhte.

In den winzigen Fingern hielt es ein geschnitztes Rössel, Spielzeug für das Schwarzland des Todes.

Da stieg es in dem Menschen auf wie fließend Eisen, da verkniffen sich seine Lippen.

»Es gibt ein Gericht – es gibt ein Gericht – aber keinen Herrgott mehr!«

Und er taumelte zurück in die Werkstätte und legte die Stirn auf den eisigen Amboss.


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