Ernst Heinrich Weber
Der Tastsinn und das Gemeingefühl
Ernst Heinrich Weber

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Das Gemeingefühl.

Coenaesthesis.

Die Mehrzahl der Physiologen bezeichnet mit dem Worte Gemeingefühl das uns zukommende Vermögen, unseren eignen Empfindungszustand, z. B. Schmerz, wahrzunehmen, und unterscheidet es daher von dem Vermögen eine Empfindung zu haben, die wir als einen von unserem Empfindungszustande verschiedenen Gegenstand auffassen können, z. B. die Empfindung einer Farbe oder eines Tones. Jenes Vermögen hat man daher keineswegs für einen eigentümlichen Sinn zu halten. Viele haben vielmehr angenommen, daß uns alle Sinnesnerven unter gewissen Umständen dergleichen Empfindungen verschaffen könnten, daß es aber Empfindungsnerven gäbe, die, weil sie mit keinen besondern Sinnesorganen in Verbindung ständen, uns keine eigentümliche Sinnesempfindung, sondern nur Gemeingefühlempfindung verschaffen könnten. Manche sind sogar der Meinung, daß wir bei dem ersten Gebrauche der Sinne alle Eindrücke nur als eine Veränderung unsers eignen Empfindungszustandes empfunden, und daß wir erst allmälig durch Vergleichung und Auslegung der Sinneseindrücke gewisse Empfindungen als Objekte aufzufassen gelernt hätten.

Gemeingefühlempfindung und Sinnenempfindung entstehen oft zugleich und sind dann nur verschiedene Wirkungen eines und desselben Eindrucks, z. B. der Ekel, der durch einen Geruch erweckt wird, oder überhaupt dasjenige Angenehme und Unangenehme der Empfindungen, was unmittelbar und zu gleicher Zeit mit ihnen wahrgenommen wird, und nicht erst aus einer Vergleichung der Empfindungen entspringt.

Daher der Name Gemeingefühl, welcher das Bewußtsein von unserem Empfindungszustande bezeichnet, welches alle mit Empfindungsnerven versehenen Teile vermitteln, abgesehen von der spezifischen Sinnesempfindung, die uns außerdem manche von ihnen verschaffen.Gemeingefühlempfindungen sind, wie ich oben pag. 495 gezeigt habe, Empfindungen, die wir als Änderungen unseres Empfindungszustandes auffassen müssen und nicht auf Objekte beziehen können. Zu den am angeführten Orte angegebenen Verhältnissen, welche es uns unmöglich machen, die Empfindungen auf Objekte zu beziehen, gehört auch der Umstand, daß wir unsere Aufmerksamkeit nicht zugleich auf viele Empfindungen richten, und sie uns als Objekte vorstellen können. Da nun immerfort zahlreiche Eindrücke auf unsere Sinnorgane gemacht werden, auf die wir unsere Aufmerksamkeit nicht richten, so werden wir uns hierbei nur des geänderten Empfindungszustandes bewußt, den solche Eindrücke hervorbringen und hinterlassen. Henle scheint mir aber zu weit zu gehen, wenn er hierin allein das Wesen des Gemeingefühls setzt, und (Allgemeine Anatomie, Leipzig, 1841, S. 728) sagt: "Das Gemeingefühl ist die Summe, des ungesonderte Chaos von Sensationen, welches dem Selbstbewußtsein von allen empfindenden Teilen des Körpers zugeführt wird." Empfindungen, durch die wir Änderungen unseres Empfindungszustandes wahrnehmen, erwecken leicht unmittelbar, d. h. ohne daß zuvor Zwecke und Mittel gedacht werden, die Tätigkeit unseres Willens, und werden dann in ihrem Verhältnisse zu unserem Begehrungsvermögen entweder als angenehm oder unangenehm vorgestellt. Indessen gibt es auch sehr schwache, und deswegen indifferente Gemeingefühlempfindungen. Hierher gehört das Gefühl der mäßigen Anstrengung unserer Muskeln.

Diese Lehre ist neuerlich durch die oben mitgeteilten Versuche von Magendie zweifelhaft geworden, welche ihn zu dem Resultate führten, daß die mechanische Verletzung der Nervenhaut des Auges und des Sehnerven, des Geruchnerven und des Gehörnerven bei Säugetieren keinen Schmerz erregte. Da man nun schon seit langer Zeit weiß, daß die mechanische Verletzung der Corticalsubstanz des großen und kleinen Gehirns und der ihr nächsten Lagen der weißen Substanz dieser Teile und sogar die Verletzung des Balkens unmittelbar keine Zeichen von Schmerz hervorrufen; da man ferner durch die Versuche von Bell, Magendie und durch die entscheidenden Versuche von Joh. Müller, so wie auch durch die von Panizza bewiesen hat, daß die mechanische Verletzung der die Bewegungsnerven enthaltenden vorderen Wurzeln der Rückenmarknerven keinen Schmerz verursacht, und da man sich endlich durch chirurgische Operationen beim Menschen und durch Vivisektionen bei Säugetieren davon überzeugt hat, daß die Tastorgane und ihre Nerven, wenn sie verletzt werden, mehr Schmerz als die meisten anderen Teile hervorrufen, so scheint der von Joh. Müller ausgesprochene Gedanke viel für sich zu haben, daß wir nur vermittelst der Gefühlnerven Schmerz empfinden könnten, und daß der Tastsinn durch Gefühlnerven vermittelt werde, die dadurch, daß sie in manchen Teilen durch besondere Tastorgane unterstützt werden und in den Tastorganen sehr zahlreich sind, uns außer den Gemeingefühlempfindungen noch die Sinnempfindungen des Drucks, der Wärme und der Kälte verschaffen könnten.

Wie sehr sich auch diese Lehre empfiehlt, so ist sie doch bis jetzt noch nicht außer allen Zweifel gesetzt.

Magendie's Versuche sind nach seiner eignen Meinung nicht ganz entscheidend, wenigstens ließen die bei Vögeln angestellten Versuche eine Ungewißheit. Daraus ferner, daß die mechanische Verletzung der Nervenhaut des Auges keinen Schmerz hervorbringt, kann noch nicht mit Sicherheit gefolgert werden, daß auch keine andere Art von Einwirkung auf dieselbe Schmerz erzeugen könne. Im Gegenteile scheinen die so häufig vorkommenden, mit Lichtscheu verbundenen, Augenschmerzen zu beweisen, daß das Licht Schmerz vermittelst des Sehnerven hervorrufen könne. Zwar könnte man einwenden, daß diese Schmerzen vielleicht nicht durch den Sehnerven, sondern durch andere Nerven entstünden. In der Tat kommen auch dergleichen Augenschmerzen, die in anderen Nerven ihren Sitz haben, wirklich vor, aber sie dürfen nicht mit denjenigen Schmerzen verwechselt werden, welche durch das Licht unmittelbar und also in dem Momente erzeugt worden, wo es ins Auge fällt. Denn da das Licht unmittelbar nur auf die Nervenhaut einwirken kann, und auf keinen anderen Nerven einen Eindruck macht (auch wenn er entblöst ist); so können solche Schmerzen nur durch die Mitwirkung des Sehnerven entstehen. Wollte man annehmen, daß die Fortleitung des Lichteindrucks nach dem Gehirne auch in jenen Fällen unmittelbar keinen Schmerz erweckte, daß sich aber daselbst der Eindruck anderen Nervenfasern mitteilte und mittelst dieser Schmerz erweckte, so ist zu bemerken, daß wir auch, wenn sich's so verhielte, doch der Nervenhaut des Auges Gemeingefühl und die Fähigkeit, Schmerz hervorzubringen, zuschreiben müßten.

Denn auch in vielen anderen Fällen entsteht der Schmerz dadurch, daß die von Nerven fortgepflanzten Eindrücke sich im Gehirn auf andere Nervenfasern ausbreiten. Übrigens werden Lichtscheu und die Entstehung von Augenschmerzen auch bisweilen beobachtet, wenn das kranke Auge in dem Grade am schwarzen Star erblindet ist, daß das Licht als Licht und Farbe gar nicht empfunden wird, sondern nur insofern es Schmerz erregt, Ph. v. WaltherPh. v. Walther im Journal der Chirurgie und Augenheilkunde: die Lehre vom schwarzen Star und seiner Heilart. B. XXX. S. 360. drückt sich hierüber so aus: "Daher dauert die Photophobie bei manchen Amaurosen, auch wenn sie schon vollkommen geworden sind, auf eine für den Kranken betrübende Weise fort, und für denselben ist der Eindruck des Lichts noch immer äußerst schmerzhaft, obgleich er dasselbe von Dunkelheit nicht mehr zu unterscheiden vermag." In solchen Fällen scheint mir zwar die Nervenhaut die Lichteindrücke aufzunehmen, und die Fäden des Sehnerven scheinen sie auch zum Gehirne fortzupflanzen; aber dort scheint ein Hindernis zu sein, dieselbe als Licht und Farbe aufzufassen, so können denn jene Lichteindrücke, wenn sie zu heftig sind, Schmerz erregen, ohne die Empfindung von Licht zu erzeugen. Daß im Auge und im Gehörorgane die spezifischen Empfindungen nicht öfter Schmerz erzeugen, kann vielleicht darin liegen, daß die Licht- und Schalleindrücke überhaupt nicht zu den stärkeren Einwirkungen gehören, welche auf unseren Körper geschehen, und daß auch Anstalten getroffen sind, vermöge deren zu heftige Eindrücke gemäßigt werden, z. B. durch die Verengung der Pupille und durch die Muskeln, die auf das Trommelfell wirken.

Die Erfahrung lehrt übrigens, daß ein Teil gegen eine gewisse Klasse von Einwirkungen sehr empfindlich sein könne, während er gegen eine andere Klasse derselben unempfindlich ist. Die Muskeln gehören z. B., wie weiter unten gezeigt werden wird, zu den Teilen, die ein vorzüglich feines Gemeingefühl besitzen, und doch sind sie gegen mechanische Verletzung und gegen Wärme und Kälte sehr unempfindlich.

Gegen die Lehre, daß der Tastsinn nur durch eine vollkommnere Ausbildung der dem Gemeingefühl gewidmeten Nerven und Organe entstehe, und also nur ein ausgebildeterer Gefühlsinn sei, könnten vielleicht auch die Erfahrungen angeführt werden, daß durch den Gehrauch des Äthers und des Chloroforms das Vermögen, Schmerz zu empfinden, auf einige Zeit beschränkt und sogar aufgehoben werde, während das Vermögen, Berührungen zu empfinden, fortdauere, und dieser merkwürdige Zustand könne auch durch andere Ursachen, z. B. durch Bleivergiftung herbeigeführt werden.

GerdyGerdy. Siehe Arch. gén. de méd. Fevr. 1847. p. 265 sq. der über die Wirkungen des Ätherisierens an sich selbst Beobachtungen gemacht hat, gibt an, er habe erst eine Betäubung und Wärme gefühlt, als wenn alkoholische Dämpfe berauschend zum Gehirn stiegen. Zuerst nahm er die Betäubung in den Füßen bis zu den Zehen wahr, dann in den Beinen und Armen. Die Betäubung war in den empfindlichsten Teilen mit einem Gefühle von Wärme und Zittern verbunden. Nun erst folgte die Betäubung des Vermögens Schmerz zu empfinden. Gerdy glaubte sich zu überzeugen, daß der Geruch, der Geschmack, die eigentliche Tastempfindung und der Kitzel nicht durch die allgemeine Betäubung aufgehoben würden, wohl aber der Schmerz.

LongetLonget. Siehe seine Abhandlung hierüber in Archives générales de médecine. Paris, 1847. p. 21 sagt, indem er sich zugleich auf die Versuche von Malgaigne und Velpeau bezieht: "Bei dem einen Menschen dauert das Selbstbewußtsein, der Gebrauch der äußeren Sinne und sogar der Gebrauch des Tastsinns fort, während die allgemeine Empfindlichkeit (sensibilité générale) allein aufgehoben ist, bei dem andern entsteht absolute Insensibilität, die Ideen sind aber nur unvollkommen gefesselt, der Patient versteht die Fragen, die man an ihn richtet, obwohl er sie nicht sogleich beantworten kann. Er hat das Empfindungsvermögen für das Tasten (sensibilité tactile) verloren und hat doch noch so viel Bewußtsein, daß er die Versuche angeben kann, die an seiner Person angestellt werden sollen und daß er sich selbst Nadeln in das Fleisch zu stoßen fähig ist." "Manche Patienten fühlen es, wenn ihr Zahn vom Zahnarzte mit einem Instrumente berührt wird, und doch empfinden sie keinen Schmerz beim Ausziehen desselben. Ein anderer nimmt das Zerreißen der Gewebe in der Gegend der Parotis wahr, welches durch das Instrument bewirkt wird, womit man operiert, und ist doch unempfindlich für den Schmerz." PirogoffPirogoff Recherches pratiques et. physiologiques sur l'éthérisation. Petersbourg, 1847. p. 21. sagt, indem er sich auf seine eigenen Erfahrungen stützt: "Die Ätherisierten behalten mehr oder weniger ihr Bewußtsein und den Gebrauch ihrer Sinne, aber sie verlieren ganz oder bis auf einen gewissen Grad das Gemeingefühl (sensibilité). Ein Kranker, bei welchem ich die Operation einer fistula recto-vesicalis ausführte, plauderte während der ganzen Operation, hörte und sah Alles, zog mit Gewalt seine Schenkel zusammen und fühlte doch nur, daß die Operation gemacht wurde, ohne daß er Schmerzen empfand." Dürfte man diese Beobachtungen für entscheidend halten, so könnte man annehmen, daß das Zentralorgan des Tastsinns an einem anderen Orte des Gehirns gelegen wäre als das Zentralorgan des Gemeingefühls, und daß daher das Letztere durch die Einwirkung des Äthers betäubt werden könne, während das andere in seiner Verrichtung nicht gestört werde und hieraus würde folgen, daß beide Vermögen zu unterscheiden seien.

Auch die giftigen Wirkungen des Bleies haben auf eine solche Annahme geführt. J. H. BeauBeau Arch. gén. de méd. Jan. 1848 in Froriep Not. Apr. 1848 p. 136. beobachtete nämlich im Hotel Dieu in Paris einen Arbeiter, der sich mit Anstreichen der Häuser beschäftigt hatte, und an der Bleicachexie litt. Der obere und innere Teil seines Schenkels war ganz gefühllos. Wenn man ihn knipp oder stach, so fühlte er daselbst weder die Berührung noch Schmerz, an anderen Teilen des Körpers fühlte er zwar die Berührung, aber keinen Schmerz. "Sogar die leiseste Berührung entging ihm nicht. Der Tastsinn war nicht aufgehoben." Seitdem fand Beau bei wenigstens 30 Patienten dieser Art eine mehr oder weniger vollständige Anästhesie. Er glaubt eine doppelte Art von Anästhesie unterscheiden zu können, die Anästhesie der Berührung (des Tastsinns) und die Anästhesie des Schmerzes (des Gemeingefühls). Bei der letzteren empfand der Patient keinen Schmerz, keinen Kitzel zum Niesen, wenn man die Schleimhaut der Nase mit einer Flaumfeder reizte, keinen Kitzel zum würgen, wenn man das Zäpfchen reizte, wohl aber fühlte er die Berührung. Die Anästhesie des Gemeingefühls hat verschiedene Grade, das Gefühl des Schmerzes ist nach Beau entweder ganz aufgehoben, oder nur mehr oder weniger abgestumpft. Die Anästhesie des Gemeingefühls fehlt nie, wo die Anästhesie des Tastsinns vorhanden ist, wohl aber kann sie ohne die letztere vorhanden sein. Die Anästhesie des Gemeingefühls nimmt oft einen beträchtlichen Teil des Körpers ein, während die Anästhesie des Tastsinns immer nur auf einen kleinen Teil desselben beschränkt ist. Bisweilen gelingt es nicht, in einem Teile künstlich Schmerz zu erregen, und dennoch werden in dem nämlichen Teile große Schmerzen empfunden, die von selbst entstehen, z. B. bei Arthalgie. Aber nicht nur bei Bleivergiftungen beobachtete Beau diese doppelte Art der Anästhesie, sondern auch bei der Hypochondrie. So fühlte z. B. ein 18 jähriger Schuhmacher, der sonst völlig gesund zu sein schien, an beiden Armen durchaus keinen Schmerz, wenn man ihn knipp, stach oder mit einem weißglühenden Eisen berührte, während er an denselben Teilen die Berührung mit einer Federfahne gewahr wurde, und eine ähnliche Beobachtung machte er bei einem 23jährigen Tischlergesellen.

Ein ähnlicher Zustand ist schon vor langer Zeit von dem Genfer Arzte VieusseuxVieusseux. Siehe bei Mehlis commentatio de morbis hominis dextri et sinistri. Göttingen 1818. 4. p. 15. bei einem komplizierten Falle von Lähmung an sich selbst beobachtet und beschrieben worden. Das Gemeingefühl wurde bei ihm auf der ganzen rechten Seite mit Ausnahme des Kopfes gelähmt, während der Tastsinn unversehrt blieb. Am Kopfe nämlich war nicht die rechte, sondern die linke Seite des Gefühls beraubt. Er konnte mit der Hand den Puls fühlen und fühlte doch keinen Schmerz, wenn er gestochen oder mit den Nägeln geknippen wurde. Spanische Fliegen und ein heftiges mit Fieber verbundenes Nagelgeschwür erregten ihm nur ein Gefühl von Wärme, Spannung oder Jucken. Warmes Wasser schien ihm kalt und kaltes schien ihm warm zu sein. Es bestand das Übel nicht in einer einfachen halbseitigen Lähmung, da auch auf der linken Hälfte des Körpers das Empfindungsvermögen etwas stumpf und die Muskeln schwach waren.Über die Frage, ob bei der Anästhesie dasjenige Empfindungsvermögen fortdauert, wodurch wir den Grad der Anstrengung der Muskeln abmessen, siehe das nach, was weiter unten bei der Untersuchung des Gemeingefühls der Muskeln gesagt worden ist. Siehe S. 584.

Die Berührung eines eingeschlafenen Gliedes erregt bekanntlich nicht selten ein unangenehmes Gefühl von Prickeln und Beben, so daß man es vermeidet, dasselbe mit anderen Körpern in Berührung zu bringen und z. B. den Fuß auf den Fußboden aufzusetzen. Patienten, welche an der Hemiplegie leiden, ist bisweilen das Einreiben von Salben schmerzhaft, das ihnen im gesunden Zustande nicht die geringste unangenehme Empfindung erregen würde. In beiden Fällen ist der Tastsinn betäubt und es könnte daher scheinen, daß in demselben Maße das Gemeingefühl empfindlicher geworden sei, als der Tastsinn unempfindlich. Ich habe schon oben diese auffallende Erscheinung zu erklären gesucht und bin nicht der Meinung, daß daraus gefolgert werden könne, daß verschiedene Nerven dem Gemeingefühle und dem Tastsinne der Haut dienstbar wären.

Beau glaubt, daß zur Entstehung des Schmerzes und Kitzels eine Reflexion der Empfindungen erfordert werde. Entstünde bei der Berührung keine Empfindung, so könnte auch keine Reflexion derselben entstehen. Es müsse daher das Vermögen, Schmerz zu empfinden, allemal fehlen, wo das Vermögen, Berührung zu empfinden, aufgehoben wäre. Das Vermögen, die Berührung zu empfinden, könne dagegen wohl fortdauern, während das Vermögen, Schmerz zu empfinden, aufgehoben wäre, nämlich dann, wenn Umstande existierten, welche die Reflexion der Empfindung unmöglich machten. Beau behauptet, daß, wenn man sich mit einem Stocke auf einen Leichdorn schlage, der Schmerz um 1 bis 2 Sekunden später entstehe als die Empfindung, die die Berührung verursache. Wäre diese Erfahrung begründet, so würde sie allerdings sehr zu Gunsten der von Beau aufgestellten Hypothese sprechen. Denn die Fortpflanzung der Eindrücke durch die Empfindungsnerven geschieht so geschwind, daß die dabei vergehende Zeit nicht beobachtet werden kann; eben so geschieht die Fortpflanzung der auf die Bewegungsnerven gemachten Eindrücke zu den Muskeln, wie mein Bruder, EduardEduard Weber, Handwörterbuch der Physiologie. Art. Muskelbewegung Band III. 2. Abteil. S. 3., angibt, so geschwind, daß die Zwischen der Reizung und der entstehenden Muskelzuckung verfließende Zeit nicht wahrgenommen wird. Dagegen vergeht, damit ein auf die Empfindungsnerven gemachter Eindruck auf die Bewegungsnerven reflektiert werde, eine meßbare Zeit. Man hat eine sehr gute Gelegenheit, das Letztere hei vielen Menschen gleichzeitig wahrzunehmen, wenn man das weibliche Publikum in einem Konzerte beobachtet, in welchem nach sanften Melodien oder nach einer Pause plötzlich mit dem Taktschlage Pauken und Trompeten mit aller Kraft einsetzen. Das Zusammenfahren der Damen erfolgt, wie ich seit vielen Jahren beobachtet habe, eine meßbare Zeit später als der Eindruck des starken Schalls auf's Ohr. Ich habe mich, um die Angabe des Herrn Beau zu prüfen, mehrmals auf den Nagel eines vom Tische unterstützten Fingers heftig geschlagen, und gefunden, daß allerdings die durch diesen Stoß entstehende Empfindung nach dem der Schlag vorüber ist, an Stärke zunimmt, und eine merkliche Zeit nach dem Schlage ihren höchsten Grad erreicht und dann wieder schnell abnimmt. Allein wenn der Stoß nicht auf den Nagel geschieht, sondern auf die Haut des zweiten Gliedes des Fingers, so finde ich, daß der Schmerz sogleich beim Schlage am stärksten ist, und nehme daher an, daß im ersteren Falle der Schmerz, vermöge des Schutzes, den der Nagel gewährt, etwas später eingetreten sei. Der Nagel erleidet durch den Schlag einen Eindruck oder eine Einbiegung; vielleicht ist es nicht diese Einbiegung unmittelbar, sondern die Bewegung, wodurch der Nagel hierauf, vermöge seiner Elastizität seine ursprüngliche Gestalt wieder annimmt, die den Schmerz erregt, der daher nicht im ersten Momente fühlbar ist. Indessen will ich nicht behaupten, daß die Empfindung von der Berührung und die Empfindung des Schmerzes völlig gleichzeitig waren. Streicht man Jemandem mit der Fahne einer Feder auf den nackten Rücken, so entsteht ein Schauder, aber dieser Schauder ist nach meinen Erfahrungen auch nicht gleichzeitig mit der Empfindung der Berührung, sondern folgt ihr nach, und dasselbe gilt wohl auch beim Kitzel, der dem Niesen vorausgeht. Ich bin der Meinung, daß auch der Schmerz, ebenso wie diese Empfindungen, auf einer weiteren Ausbreitung des auf das Gehirn hervorgebrachten Eindrucks auf andere Fasern des Gehirns beruhe, da ich sehe, daß der Ort, wo die Einwirkung geschieht, von welchem der Schmerz ausgeht, viel ausgebreiteter zu sein scheint als es der Fall ist, und daß uns dieser Ort, so lange kein Schmerz entsteht, viel enger begrenzt erscheint.

Verschiedene Lebhaftigkeit des Gemeingefühls.

Nur die mit Nerven versehenen Teile unsers Körpers haben Gemeingefühl. Teile, in welche keine Nerven eindringen, wie die Haarzylinder, die oberflächlichen Lagen der harten Zahnsubstanzen, die Oberhaut und die Nägel ermangeln im gesunden und kranken Zustande des Gemeingefühls. Haare verbrennen, ohne daß wir's empfinden, von Zähnen feilt man Stückchen ab, und erst wenn die die Höhle des Zahns und den Zahnkeim bedeckende Lage so dünn wird, daß nun der Zahn gegen Kälte und Wärme und gegen andere Einflüsse nicht mehr gehörig geschützt ist, zeigt sich der Zahn empfindlich. Eben so kann man von den Nägeln eine beträchtlich dicke Lage abschaben, und von der Oberhaut in der Hohlband und im Hohlfuße eine beträchtlich dicke Lage abschneiden, ohne eine andere Empfindung zu erregen als die, welche dadurch entsteht, daß sich nun der Druck und die Erschütterung zu den nervenreichen Teilen leichter fortpflanzt. In die Hufe der Pferde schlägt man bis zu einer gewissen Tiefe Nägel ein.

Werden die zu einem Teile gehenden Nervenstämme vollständig durchschnitten, so wird derselbe des Gemeingefühls beraubt. Durchschneidet man z. B. am Fuße des Pferdes die zu dem letzten Gliede gehenden Nerven, so kann man nachher, wie Professor Renner in Jena beobachtet und bezeugt hat, den Huf mit Zangen loßreißen, ohne daß das Pferd Schmerz verrät.

Das Gemeingefühl ist in den Tastorganen und in den Muskeln, welche zu den nervenreichsten Teilen unseres Körpers gehören, am feinsten. Aber die Feinheit des Gemeingefühls äußert sich in beiden nicht unter denselben Umständen. In den Tastorganen bringen der Druck sowie auch die mechanischen und chemischen Verletzungen, z. B. durch Zerquetschen und Verbrennen, heftige Schmerzen hervor, die in den Muskeln nach Bichat's Versuchen durch diese Ursachen nicht erzeugt werden. Dagegen entstehen in den Muskeln durch zu lange dauernde lebendige Kontraktion der Muskeln Schmerzen, die so zunehmen, daß sie endlich nicht mehr zu ertragen sind, und durch eine krampfhafte Zusammenziehung mancher Muskeln, z. B. durch den Wadenkrampf, oder durch Rheumatismus entstehen in denselben sehr heftige Schmerzen. Auch hat man in manchen Muskeln ein überaus feines Gefühl der Anstrengung, mittelst dessen man durch die Muskeln, wie mit einem Sinnorgane, den Widerstand messen kann, der unseren Bewegungen geleistet wird. Vermöge dieses äußerst feinen Gemeingefühls der Stimmmuskeln kann man beim Singen den Grad der Kraft sehr genau abmessen, welcher erforderlich ist, damit die Stimmbänder in dem Grade angespannt werden, daß ein Ton von bestimmter Höhe entsteht.

Zwischen den Teilen, welchen das Gemeingefühl ganz mangelt, und den, welche ein sehr feines Gemeingefühl haben, liegen die in der Mitte, bei welchen es so stumpf ist, daß es im gesunden Zustande wenig oder gar nicht bemerkt wird, wohl aber in gewissen krankhaften Zuständen sich äußert.


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