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[IV. Abschnitt.
Worningen]

Die herrliche Zeit. Wieder daheim. Die Worn. Grüntals Menschen und Vögel. Durchs Spiel zu sich selbst. Die Lehrer des roten Hauses: Kantor Georgi. Die anderen Lehrer. Der Repetent; Kraft und Uebermut. Das Böse. Die Nerven. Gott. Konfirmation. Wolfgang Kern. Gute und böse Bücher. Die Fußreise. Der Berg der Verklärung. Rosenbach? Starenflüge. Die Waldbank.

 

Gott, was war das nun für ein Leben! Die Heimat umfing ihn und er warf sich an ihre Brust mit dem Liebesdurst des Kindes, das immer sicherer zu sagen wagt: Das alles ist nun wieder mein.

Ungemahnt erhob sich Reinhart mit dem ersten Sonnenstrahl vom Lager und trat mit den Büchern in den vom Frühlingsglanz erfüllten Garten. In seinen Garten! Was waren das für Morgenstunden, als es nun Mai und Frühsommer wurde! Wohlig ließ er sich von der warmfeuchten Luft umfächeln, in der die Blumen atmeten und dufteten, die Balsaminen auf den Rabatten, der Jasmin um das Marterl der Steinburg. Wonnig rauschten die Bäume, seine Bäume, als riefen sie: bist wieder da, haben es uns fast gedacht, daß wir zusammengehören. Meist glitzerte noch der Tau auf der Wiese, wenn Reinhart mit dem Buch vor der Nase über die Kieswege schritt. Gehend lernen, gehend meditieren, gehend laut mit der Vergangenheit und Gegenwart, ja wohl auch mit der Zukunft reden, – so hat er es zeitlebens gehalten. O, es war ein flottes Lernen im Frühling und Frühsommer unter den Worninger Gartenbäumen!

Da nahm das Gedächtnis sogar Gedichte an, gereimte Gedichte, die er zeitlebens so schwer lernte. Lieber freilich die kleinen Musterprosastücke aus dem »Zettel«, an denen sie Deutsch lernen sollten. Am leichtesten lernte er die Liederverse aus dem Gesangbuch. Der zauberhafte Morgen, die wiedergewonnene Freiheit, das dem Frühaufsteher gewisse Wohlgefallen der Tante stimmten ihn weich und empfänglich und ließen die alten erprobten Lieder auf dankbaren Boden fallen.

»Morgenglanz der Ewigkeit,
Licht vom unerschöpften Lichte,
Schick uns diese Morgenzeit
Deine Strahlen zu Gesichte
Und vertreib durch deine Macht
Unsre Nacht.«

In ahnendem Verständnis und zum Guten willig nahm seine Seele die herrlichen Worte auf. »Hilf, daß ich mit diesem Morgen geistlich auferstehen mag …« Stand er nicht inmitten einer seelischen Neugeburt? War er nicht im Begriff sich zu recken und zu strecken dem Lichte entgegen? Seine Seele schwang mit, wenn er laut lernend die Worte wiederholte und die Melodie, in der ihm die Worte überliefert worden waren, tönte mit als unabtrennbares Gewand. Ein Strom von Dankbarkeit erfüllte seine junge Seele, wenn er Frühling und Freiheit und keimendes Leben so stark in seiner Brust fühlte. Fiel aber drüben in Pfaus Garten, auf fremdem Gebiet, ein Jakobiapfel, so sprang er geduckt über den Grenzbach und stahl die süße Frucht und was sonst noch unterm Baume lag und lernte mit gefüllten Taschen, behaglich kauend, laut und dankbar weiter:

»Gott, ich danke dir von Herzen,
Daß du mich in dieser Nacht
Vor Gefahr, Angst, Not und Schmerzen
Hast behütet und bewacht,
Daß des bösen Feindes List
Mein nicht mächtig worden ist.« –

Beim ersten Besuch in der Apotheke gab er das Markenalbum zurück. Krauß prüfte sorgsam den Zustand der kostbaren Sammlung und fand alles in Ordnung. Jetzt, nach bestandenem Examen, könne er sich wieder ganz auf seine Sammelfreuden werfen, auf Käfer und Marken. Zunächst solle einmal eine »wunderbare« Käferexpedition gemacht werden. Pfingstmontag habe er dienstfrei, in aller Frühe sollte es losgehen.

O, sie war auch wunderbar, die Pfingstfahrt mit Herrn Krauß nach Käfern. Wer sonst von den Kameraden wurde von einem so gelehrten Mann als Freund behandelt und auf einen ganzen Tag in den Wald hinaus mitgenommen?

Krauß füllte einen zierlichen Segeltuchtornister mit Sammelgläsern und Medikamenten »eigener Erfindung« zur Betäubung, mit Grabscheit und Hacke, aber auch mit einer halben Flasche Rotwein und sonstiger Wegzehrung; sogar vom Konditor Glaser hatte er etwas holen lassen. Der Griff seines Stockes war abgeschraubt und durch ein zierliches rotes Gazenetz ersetzt worden, ein Käfernetz zum Absuchen der Blumen und Büsche nach dem kleinen Wild.

Stolz schritt Reinhart mit dem Freund durch die noch schlafende Stadt einer Gegend zu, die er noch nicht kannte. Wie redete die Natur zu ihm, als Krauß die Schleusen seines Wissens öffnete und aus Geologie und Zoologie, Mineralogie und Botanik, vor allem natürlich aus seiner Käferwissenschaft hervorholte und mitteilte, was er irgend für den Knaben als bedeutsam und faßlich erachtete. Auf der Käferjagd wurden verlassene Ameisenhaufen untersucht, verfaulte Baumstrünke zerhackt und durchwühlt, Eichen und Fichten nach Bohrkäfern abgeklopft. Ein schmales Waldtälchen verfolgten sie bis zu der Stelle, da das Rinnsal als Quelle aus dem Boden springt. Mit dem Netz wurden Unmengen kleiner Käferchen von den Erlenbüschen geschüttelt und in den Betäubungsäther geworfen zur »genaueren Untersuchung daheim«. Auch den Schmetterlingen wandten sie einige Aufmerksamkeit zu. Doch meinte Krauß, auf diesem Gebiet solle Reinhart einmal selbständig seine Erfahrungen sammeln und ihm dann berichten.

Und dann lag man tief im Walde und leerte die Weinflasche und knabberte an Glasers Kunsterzeugnissen. (Tante Konstanze hätte ruhig die Zwetschgenmusbröter sparen können.) Sie lagen im Walde und freuten sich ihrer Beute und des herrlichen Tages und der Stille, die nur dann und wann vom Schlag der Kirchenglocken unterbrochen wurde, die über dem Stumpf des alten Wartturmes hingen, hoch über dem Tal am Rande des steilabfallenden Jura, und freuten sich ihres jungen Lebens, denn auch Krauß war noch jung und hatte sein Examen hinter sich und Reinhart wurde jünger und kindlicher und empfänglicher mit jedem Glockenschlag.

Und dann saßen sie droben im Schatten der Dorfkirche neben dem alten Turm im Wirtshaus. Als Reinhart mit großem Interesse auf die Zigarre sah, die Krauß behaglich lächelnd im Munde hielt, fiel diesem ein, den Knaben zu fragen, ob er schon geraucht habe. Als dieser verneinte, sagte der Freund bedächtig: »Das freut mich; es ist gesünder, du lässest es. Gleichwohl solltest du es aus Überzeugung lassen, nicht bloß aus Gehorsam oder Unkenntnis. Ich würde es an deiner Stelle doch einmal probieren und mir ein Urteil bilden. Du hast hier im Wirtshaus Gelegenheit, dir eine Zigarre zu kaufen und zu kosten. Du wirst dann selbst sehen, ob es dir gut tut.« In der Tat ließ sich Reinhart eine Zigarre geben und bezahlte sie vom eigenen Gelde mit fünf Pfennigen. Sie war sehr fest gedreht und von ganz dunkler Farbe. Nach mehrfachen Versuchen in Brand gesetzt, begann sie zu zischen und zu kohlen und zu schwelen, so daß Reinhart alle Mühe hatte, sie in Brand zu halten. Noch hatte er erst wenige Millimeter herabgeraucht, da begann der schöne Pfingstmontagnachmittag seinen Schein zu verlieren; alle Lebensfreude erstarb dem kleinen Raucher, er legte die Ursächerin des Übels auf den Bierfilz, lehnte sich weit zurück, begann tief und mühsam zu atmen und eine ungewohnte Unruhe des Herzens, aber auch des Magens zu spüren. Da sagte Krauß ganz ruhig, als habe er eben einen hübschen Käfer in den Äther geworfen: »Siehst du, nun kennst du auch das; so wirkt dieses häßliche Gift. Komm schnell mit!« Draußen gab er ihm Gelegenheit den gequälten Magen zu entlasten, der dann mit dem Rest des Weines und einem Stückchen Brot, aber auch durch längeres Riechen an einem halbgeöffneten Ätherglas bald wieder in Ordnung gebracht war. So war Reinhart um eine Erfahrung reicher. Warum blieb aber Krauß auch nach der zweiten Zigarre munter und rosig?

Die Sonne war untergegangen, als sie an ein paar einsamen, weitläufigen Bauernhöfen vorbeikamen. Da meinte Krauß: »Hier einheiraten und ganz unstudiert bleiben oder es wieder werden, ganz Bauer werden, ganz Feld- und Waldmensch …« Es war sein Ernst nicht, aber Reinhart fing es auf, behielt es, das träumerische Wort des Freundes, auf dem Marsche durch die dämmernde, träumende Landschaft. –

Kraußens Anregung gehorsam ging er nun auch den Raupen nach. Hatte er mit den kleinen Brüdern die Schafweide hinterm Sommerkeller nach den bunten, fetten Raupen des Wolfsmilchschwärmers abgesucht, so ging man gern ein wenig in das fürstliche Gut Weheberg hinein, roch in den Ställen den warmen Duft der Tiere und der Milch, ließ sich in der Gastwirtschaft des Pächters ein Glas Bier geben, machte auf der verfallenen Kegelbahn ein Spiel und strich dann am Rande des fürstlichen Hirschparks vorbei, wo gegen Abend das Damwild auf die Waldwiese trat. Kam man auf die Worninger Straße zurück, so fuhr wohl der Jagdwagen des Fürsten Worningen vorbei. Hoch oben auf dem Bock saß der Fürst, ein Mann in mittleren Jahren, im braunen Jägergewand, den grünen Lodenhut auf dem Kopf, ein Gewehr zwischen den Knieen. Die behandschuhte Hand lenkte zwei Pferde, die glänzend schwarz oder glänzend braun oder falb, immer aber ganz gleich in Farbe und Größe und Gang waren und stets den Eindruck erweckten, daß es ihnen zu langsam ging, und daß ihnen die vornehme Last zu leicht war. Neben dem Fürsten, etwas niedriger, saß die Fürstin. Sie unterhielt sich mit ihrem Gemahl, wobei ihre weißen Zähne blitzten. Ihre Arme hielt sie an den schlanken Körper gelegt, die Hände ruhten im Schoße. Und hinter ihnen saß ein Diener, aufrecht und stumm. Neben ihm aber ragte das Geweih eines Hirsches, meist die Schaufeln eines Damhirsches, bis zu seinen Knieen empor. Mit Wonne sah Reinhart die schöne Erscheinung kommen und entschwinden. Es war ihm selbstverständlich, dem Herrn Fürsten und seiner schönen Frau ein Kompliment zu machen und ihnen dadurch für die Augenweide zu danken. – –

Der Worninger Nepomuk steht über der Worn, die Worninger Stadtmühle rauscht und brummt über der Worn, der Worninger Stadtfischer wirft seine Netze in die Worn, die Worninger Gerber lassen ihre Felle in der Worn weich werden. Wo ist ein reineres, weicheres, fischreicheres Wasser, als die Worn es ist?

Von Mitte Juni an ging Reinhart jeden Nachmittag, die Badehose auf der Schulter, – ein Handtuch war nur an kühleren Tagen nötig –, die Mühlstraße hinab, durch die Stadtmühle zum Badeplatz hinaus. Da stand weit draußen vor der Stadt zwischen der Teilung des Flusses neben dem Wehr eine Badehütte zum Auskleiden. Von irgendwelchen Bequemlichkeiten war keine Rede. Meist waren, wenn Reinhart kam, die Zöglinge des Knabenpensionats, die in geschlossenem Zuge hinausmarschiert waren, schon in voller Tätigkeit. Herr Ballenberger, der kleine, sehnige, braungebrannte Bademeister, stand in schneeweißen Hemdärmeln auf dem Steg und hielt einen Schwimmschüler am Stock. Einige Erwachsene aus der Stadt hatten die letzten Plätze in der Hütte belegt. So entkleideten die Nachzügler sich eben draußen auf der Wiese. Man legte sich erst ein wenig in die Sonne, reckte den jungen Leib, machte ein paar Klimmzüge an der Bretterwand, freute sich, wenn der Turnlehrer Hurtig vorüber kam auf dem Wege zum Herrenbad und wohlgefällig Reinharts Arm hinaufstreichend sagte: »Der bekommt gute Muskeln.« Und dann ging's ins Wasser. Niemand hat Reinhart schwimmen gelehrt. Er hat es gesehen und nachgeahmt und eines Tages fühlte er mit Wonne, daß er nimmer unterging, daß er im Wasser schwebte; bald kam er flott von der Stelle, auf dem Bauch und auf der Seite und auf dem Rücken. Er konnte es.

Dem Schwimmer aber winkten drei Ziele: die kleine Bucht, das Herrenbad und das »Insele«. Die kleine Bucht war nicht schwer zu erreichen, hundert, hundertfünfzig Schwimmzüge genügten. Dann saß man dort behaglich am Ufer und sah sachverständig zu, wie sich die Nachfolger heranarbeiteten. Auf dem Wege zum Herrenbad war schon mancher, der mit ungenügenden Kräften an das Wagnis gegangen war, untergegangen und als Toter geborgen worden. Da hieß es beharrlich sein, bis die kleine Bank erreicht war, die den Badeplatz der fertigen Schwimmer bezeichnete. Man war froh, wenn man den Steg umklammern konnte, der unmittelbar ins tiefe Wasser führte. Und das »Insele«! Von der Bretterhütte aus war es kaum zu erkennen, das kleine, flache, grüne Eiland, an dessen Rändern sich gelbe und weiße Seerosen im Wasser wiegten, weit flußaufwärts gegen die Talmühle. Wer es erreicht hatte, warf sich erschöpft auf seinen selten von Menschen betretenen, grün schimmernden Boden, rastete, schlang sich Seerosen um den Hals, nahm wohl auch eine in den Mund, warf sich auf Tod und Leben wieder in das tiefe Wasser und ruderte, lange Strecken auf dem Rücken treibend, flußabwärts, bis er endlich nach dreiviertelstündiger Abwesenheit, beglückwünscht und beneidet, am Steg bei der Badehütte landete. Der Bademeister atmete auf, wenn die Tat glücklich gelungen war; er war stolz auf seine Schwimmer, aber er fühlte sich verantwortlich. Und dann legte man sich aufs Wehr und ließ sich von dem gestauten Wasser überrieseln.

Und das Angeln, das Angeln! Beim Uhrmacher Danner sich Kork und Haken kaufen, aus feinem Bindfaden eine Leine drehen, im Garten die schönste, feste und doch schwanke Gerte stehlen, – und dann am Wasser stehen, in der Deckung eines Erlenbusches, oder geduckt im Röhricht sitzen, oder ohne alle Deckung neben dem Wehr der Stadtmühle oder neben dem knarrenden alten Schaufelrad, von feinen Tropfen übersprüht, wo im Wasserwirbel sich Bürschlinge und Rotaugen tummelten –, immer ohne Fischkarte, immer in Angst vor dem braunen Gesichte des Stadtfischers und nie ertappt. Hatte nicht auch Tante Constanze eine aufrichtige Freude, wenn sie am Abend eine Pfanne voll gebackener Fische auf den Tisch setzen konnte?

Ja, die Worn, ihr Wasser, ihre Fische, ihr Röhricht und Kalmus! Oft ist Reinhart schon im Morgennebel hinausgegangen und hat in dem lieben, sanftfließenden Fluß stromauf und stromab Leib und Seele gebadet und ganz unbewußt und ungewollt einen Grund gelegt zu dem, was man Gesundheit nennt. –

Ach, was war das für eine herrliche Zeit der Freiheit und Gesundheit! Tante Konstanze sah, wie der Knabe aufblühte, wie die kleine Gestalt frei und kerzengerade die nun wieder glatter und breiter gewordene Lebensstraße ging, wie die Augen heller leuchteten und der Gesichtskreis immer weiter wurde. Sie ließ ihn gewähren, ja sie räumte ihm mit Bedacht viel Freiheit ein. Darum hatte sie auch nichts dagegen, daß er so oft mit Werner Felbel nach Grüntal ging.

Ja, diese Gänge ins Grüntaler Pfarrhaus! Werner war nicht eigentlich sein Freund, niemals mehr als guter Kamerad. Er war das einzige Kind seiner Eltern, ein Gegenstand zärtlichster Liebe und ängstlicher Fürsorge, umhegt von allem, was sein Herz begehrte, reichlich verwöhnt. Darum war er es auch nicht gewöhnt, einen andern als gleichberechtigt oder als nötige Ergänzung anzuerkennen. Bei all seinem Reichtum bedurfte er aber in seiner Einsamkeit eines Kameraden, dem er von seinem Überfluß mitteilen, von dem er seine außergewöhnliche körperliche Kraft und Gewandtheit bewundern lassen konnte.

Da sich Eltern und Kind nur auf Stunden trennen mochten, ging er täglich den eineinhalbstündigen Schulweg zwischen Grüntal und Worningen hin und her zu Fuß. Wurden die Tage kürzer, so war es seinen Eltern eine Beruhigung, einen Begleiter bei ihm zu wissen. So kam es, daß Reinhart sehr oft an Herbst- und Winterspätnachmittagen mit Werner nach Grüntal ging, um am anderen Morgen vor Schulbeginn mit ihm nach Worningen zurückzukehren. Nachdem die Knaben aneinander gewöhnt waren, taten sie es oft auch den Sommer hindurch.

Werner war der Reichere. So geziemte es sich, daß Reinhart dem Kameraden gegenüber bescheiden, abwartend, höflich, nachgiebig und dienstbereit war. Daneben sagte ihm sein gesunder, praktischer Instinkt: verdirb es nicht mit ihm!, halte, was du hast! Diese Erwägung ließ ihn manche hochfahrende Geste und manches selbstbewußte Wort übersehen. Auch hatten die Pfarrleute zu ihm gesagt: »Reinhart, du mußt unseren Werner gut beeinflussen.«

Es war immer wieder ein Erlebnis für Reinhart, wenn sie hinter Randendorf den Buschel hinaufstiegen und in den Hochwald traten, über dem die Raben kreischten, dann an Wornhügel mit seinem Forsthaus und dürftigen Wirtshaus vorbeikamen, bis es abwärts ging und unter einer Burgruine und waldgekrönten Jurahöhen aus steinbestreuten Feldern und schmalen Wiesenstreifen der gemusterte Kirchturm von Grüntal heraufgrüßte.

Unter der Haustüre des Pfarrhauses stand meist, des Sohnes harrend, Werners Vater. Er nahm die Meerschaumspitze aus dem Mund, seine Augen blickten gütig und zärtlich auf den heil zurückgekehrten Einzigen. »Da bist du ja,« sagte er lächelnd und nahm ihm die Bücher ab. Dann reichte er Reinhart die Hand. »Das ist ja nett, daß du unserem Wernerle so treu Gesellschaft leistest. Kommt herein, Kinder, und trinkt Kaffee!« Der Vater trug den Schulranzen des Sohnes, die Knaben folgten. Unter der Zimmertüre stand die Pfarrfrau. Sie war klein und ein wenig formlos in ihrer Fülle, aber einer von den seltenen Menschen, die eitel Besonnenheit, Stille, Güte und Liebe sind. Ohne Geräusch beglückte sie jeden, der in ihre Nähe kam. Sie fragte nach dem, was dem andern das Herz bewegte; sie bot, was sie vermochte. Sie streckte ihre weiche Hand zuerst Reinhart entgegen. »Das ist aber recht.« Dann küßte sie den Sohn auf die Stirne. »Kommt, wärmt euch auf!«

Wo gab es ein behaglicheres Einkehren als im Grüntaler Pfarrhaus? Wohlig legte sich die Zimmerwärme auf die von der Kälte erstarrten Hände und Wangen. Während die Stiefel mit Pantoffeln vertauscht wurden, nahm Werners Mutter die Kaffeekanne aus dem Ofen und setzte sie auf den runden Tisch, der in der Ecke unter den Bildern der Verwandten und Freunde stand. Ja, dieser gemütliche, gastliche Tisch. Als Reinhart der Mann in der »Stromtid« vom Girlitzer Pastorhause las, dachte er an den Grüntaler Tisch unter der dortigen Bildergalerie. Die dickbauchigen Tassen wurden gefüllt mit einem Kaffee, der alle Eigenschaften eines nahrhaften, süßen, wohltemperierten Familienkaffees hatte. »Trink nach Belieben, Reinerle!« Und neben den Tassen lag über Bitten und Verstehen je eine Lage von Kuchenstücken, Celtes genannt, flaches, rösches, süßes, schneeweißes Kuchenbrot. »Iß nach Belieben!« Bei Wernerle verstand sich das ja von selbst. Reinhart roch schon auf dem Wege das liebliche Gericht und genoß es nun mit Hingabe.

Dann ging man an die Schulaufgaben. Man arbeitete gemeinschaftlich, darum flott und leicht. Waren die Bücher eingepackt, so gab es ein gemütliches Plaudern über die kleinen dörflichen und kleinstädtischen Angelegenheiten, die tagsüber die Eltern und die Kinder beschäftigt hatten. Vater und Sohn verkehrten dabei merkwürdigerweise fast wie Freunde, die sich achteten und auf einander Rücksicht nahmen. Indessen deckte die Magd den Tisch zum Abendessen, das ländlich und nahrhaft war, – die Schmalzfrage spielte keine Rolle. War abgeräumt, so erschienen nicht selten Frauen aus dem Dorfe. Sie lieferten ihre Liebesgabe für die Küche im Hausflur ab, setzten sich aber auf Einladung der Pfarrleute mit an den runden Tisch unter den Bilderwänden, nippten ein oder zwei Gläschen Likör aus, ließen ein paar Biskuits im Munde zergehen und blieben lange, lange. Mühsam, von Kunstpausen unterbrochen, schleppte sich die Unterhaltung hin. Oft sah der Gast stumm dem Spiele zu, das der Hausherr mit den Knaben begann, während die Hausfrau nur ab und zu den Faden des Gesprächs ein wenig weiterspann, bis der Abendsegen den Tag endgültig beschloß. Im Bette fand man in der kühlen Jahreszeit eine Wärmflasche. Reinhart stellte den ungewohnten Schlafkameraden verächtlich auf die Bettvorlage. Er wollte es nicht anders haben als die Geschwister daheim.

Am andern Morgen hieß es früh auf sein. Der Pfarrer weckte. Wieder stand ein herrlicher Kaffeeschmaus auf dem Tisch. Allein über Wörterlernen und Lieder- und Gedichteaufsagen wurde nur wenig genossen. Nachdem Werner im Alkoven nebenan von der Mutter zum Guten ermahnt und gesegnet worden war, traten die Lateiner ihre Wanderung an. Oft vor Tagesgrauen im beißenden Morgenfrost, oft bei Vogelsang und Sonnenprangen, je nach der Jahreszeit, immer aber mit Schulsorgen im Kopf und eiliger als am Abend zuvor auf der gemütlichen Heimfahrt.

Werner ging nicht sehr aus sich heraus. Herzensangelegenheiten teilte er ausschließlich mit den Eltern. In einem aber war er durchaus mitteilsam, im gemeinsamen Naturgenuß. Es war ihm Bedürfnis, den Kameraden in den Reichtum der Natur einzuführen, der ihm selber offen stand.

Hätte Reinhart die heimische Vogelwelt so genau kennen gelernt, wenn Grüntal nicht gewesen wäre?

In der Wohnstube des Grüntaler Pfarrhauses huschten zur Winterszeit stets ein paar Vögel umher, eine Wachtel oder ein Rotkehlchen oder eine Grasmücke. Hinter dem Ofen standen stets ein paar große Töpfe, mit Sägspänen gefüllt und mit Mehlwürmern bevölkert. War doch der Bedarf an lebendiger Vogelnahrung groß. Wer Werner eine Freude machen wollte, schenkte ihm Mehlwürmer, handelte mit ihm Mehlwürmer. Unter dem Fenster, auf einem besonderen Tisch, standen mehrere große Vogelbauer. Anfangs bargen sie inländische Vögel sowie Kanarienvögel. Als aber die Firma Kumß in Warmbrunn in Schlesien ihre Vogelkataloge auch nach dem weltentlegenen Pfarrhaus sandte, wurden die einheimischen verschenkt und vertauscht. An ihre Stelle traten Exoten: Sittiche, kleine Papageien, Webervögel, die aber trotz des »echten Nestbaumaterials«, das man ihnen vom Versandhaus kommen ließ und in genügender Menge zur Verfügung stellte, sich nicht zum Bau ihrer afrikanischen Kunstwohnung bequemen mochten. Die Krone der Sammlung war ein roter Admiral, der vornehm und wortkarg in einem eigenen Hause saß.

Was Reinhart hier im großen Stile sah, ahmte er zu Hause im kleinen, mit Beschränkung auf die Worninger Vogelwelt, nach.

Bald hing eine kleine Vogelgesellschaft links und rechts in der Fensternische über dem mit grünem Wachstuch bezogenen Tisch, an dem Reinhart seine Aufgaben machte. Ein eigentlicher Sänger war nicht dabei, es wäre denn der Stieglitz ein solcher zu nennen, der Reinhart von all dem lieben Vieh am längsten durchs Leben begleitet hat.

Eines Tages machte Pfarrer Felbel seinen Sohn auf einen alten Daheim-Band aufmerksam, in dem die Anlage einer Vogelstube überaus verlockend geschildert war. Auf einem prächtigen Bilde sah man eine buntgemischte Vogelgesellschaft in bestem Einvernehmen scheinbare Freiheit genießen, während der glückliche Besitzer durch die Fensterscheiben befriedigt hereinsah.

Werner verzichtete auf eine derartige Einrichtung, – er habe in seinen Käfigen und unter der Bank Vögel genug, dazu Kaninchen und Meerschweinchen im Stalle. Aber Reinhart solle sich doch ans Werk machen. Im oberen, nur teilweise bewohnten Stockwerk des Palais sei ja Raum genug.

In der Tat stand dort ein kleines, helles Zimmer leer. Mit fieberhaftem Eifer wurden nun aus dem Hundswinkler Hölzchen starke Zweige nach Hause geschleppt, in wassergefüllte Holzfässer gestellt und so ein Wald geschaffen, der den armen Gefangenen die Freiheit vortäuschen sollte. Dann wurden die Käfige entleert und Groß und Klein, durch ein paar Emmerlinge und Rotschwänzchen verstärkt, hüpfte und schwirrte und sudelte durcheinander. Sehr bald aber stellten sich Mißstände heraus. Der Kirschkernbeißer gebärdete sich vermöge seiner überragenden Kraft als Hausherr; auch die Emmerlinge waren gemeine Patrone, die an der Futterstelle keine Rücksicht kannten. In der Meinung, der Freiheit entgegen zu fliegen, schlugen sich die Häftlinge an den Fensterscheiben die Schnäbel wund. Die Lüftung des Raumes gestaltete sich schwierig. Ferner hatte Frau Seibott trotz aller Verschleierung von der Sache Wind bekommen. So mußte die Auflösung des interessanten Unternehmens erfolgen. Die Gefangenen wanderten, soferne sie nicht freigelassen wurden, in ihre engen Zellen zurück, wo sie sich wesentlich wohler fühlten. Tante Konstanze ließ das alles ruhig geschehen. Sie drohte mit dem Finger, aber sie fuhr nicht dazwischen und hat so Reinhart und die Kleineren ein Stück Jugendland bauen lassen, von dem sie noch zehren.

Werner freute sich, den Freund in Feld und Wald und Haus in seine bunte zwitschernde Welt einführen zu können, und lachte, wenn dieser von einem Staunen ins andere fiel. Zum Dank für seine Anregungen begehrte er nichts weiter als die Anerkennung seiner Überlegenheit.

Die aber stand außer allem Zweifel. Auf der Schulbank waren sie sich so ziemlich ebenbürtig. In allen anderen Dingen aber war Werner dem Wandergenossen entschieden über: in der Naturkenntnis, in der Fähigkeit das Knabenleben nach allen Seiten zu genießen, vor allem aber in einer auffallenden körperlichen Gewandtheit.

Er verfügte über eine katzenartige Geschmeidigkeit der Glieder, die ihn beim Spiel und Klettern wie beim Raufen unüberwindlich machte. Er besaß ein fabelhaft scharfes Auge und eine sichere Hand. Frühzeitig hatten ihm seine Eltern einen richtigen Zimmerstutzen mit Munition anvertraut. Er schoß den Sperling vom Dachfirst und aus den Zweigen des Kirschbaums und erlegte das Eichhörnchen, das sich auf den Birnbäumen gütlich tat, – selten, daß ihm ein Schuß fehlging. Sein scharfes Auge unterschied auf weite Entfernungen den der freien Jagd unterworfenen Sperling von dem Finkenweibchen, Zeisig und Rotschwänzchen. Hatte er sich aber doch einmal versehen und lag statt des Sperlings ein Singvogel tot zu seinen Füßen, so erging er sich in Selbstvorwürfen über seine Torheit.

Und seine Leistungen mit der Gummischleuder! Zu unbegrenzter Bewunderung riß er den Kameraden hin, als ihm das Unerhörte gelang, einen der grauen Vielzuvielen von der Spitze des Kirchturms herunterzuschießen. Vater Felbel gab seiner Hochachtung dadurch Ausdruck, daß Wernerle sich bei Kumß weiße Mäuse bestellen durfte.

Ein Wunsch jedoch ging ihm nicht in Erfüllung. Er schwärmte von einem kleinen, schmucken Pferde, einem »Donaupferdle«, das ihn den Weg zwischen Worningen und Grüntal hin und her tragen sollte. Merkwürdigerweise versagte Vater Felbel diesmal seine Zustimmung. Niemand war froher darüber als Reinhart. Das Roß hätte ihn überflüssig gemacht. So aber konnte er weiterhin als Knappe seinem Ritter ins Grüntaler Wunderland folgen.

Grüntal lehrte ihn Gewandtheit und bereicherte seine Vorstellungswelt.

Im Gebrauch der Schleuder hat er Werner nie erreicht. Schon die Nötigung, das immer wieder reparaturbedürftige Instrument in Ordnung zu halten, erschwerte dem Unpraktischen die Nebenbuhlerschaft. Dafür wuchs er im Speerwerfen allmählich über den anderen hinaus. Mit seiner kurzen Holzlanze wußte er zwar keine Sperlinge vom Dache, aber die inneren Ringe der Scheibe und den dünnsten Baumstamm so gut wie ein aufgestelltes Holzscheit aus ansehnlicher Entfernung sicher zu treffen. Mit eingelegtem Speer durch den Garten rasen, in vollem Lauf ihn nach irgendeinem Gegenstand schleudern und mit dem springenden Körper dem Geschoß ein Stückchen in der Luft nachzuschweben, war ihm ein wildes, herrliches Vergnügen.

Und im Reifenschlagen – ja, darin war er auch Meister. In wilder Flucht mit dem hüpfenden, fliegenden Reifen über Hindernisse jagen, ihn auf ebenem Boden dahinsausen lassen, plötzlich bremsen und umkehren, rückwärts treiben, mit und ohne Hindernisse, dann wieder vorwärts im langsamen Schritt, in Serpentinen mit Vorderschlag und Hinterschlag, dann den willigen Tänzer in ungezählten Kreisen den Treiber umtanzen lassen, – man sah nur gerne zu.

Im Schloßgarten, dessen Hauptwege der Einwohnerschaft frei zugänglich waren, ließ er am liebsten seine Reifenkünste spielen. Daß ihm doch einmal das Fürstenpaar begegnet wäre und die Fürstin, stehen bleibend, gesagt hätte: »Schau, der Knabe versteht es!«

Auch die innere Welt wurde in Grüntal erweitert. Die Wald- und Vogelstreifen, die »Grüntaler Neuesten Nachrichten«, eine kleine Dorfzeitung, die man eine Zeitlang erscheinen ließ, weckten in Reinharts Geist den Trieb, aus Tiefen zu schöpfen und in Tiefen zu leben, die sich nicht allen auftaten.

Wozu stand im Garten die blaugemalte Halle mit dem Sternenhimmel, mit der von Säulen getragenen, von Weinlaub umsponnenen Offenseite? War sie nicht zur Schaubühne wie geschaffen? Wozu hatte man Brüder und zeitweilig auch Schwestern, Schwestern, die über Phantasie verfügten? So wurde denn in der Halle Theater gespielt. Vor allem waren es Märchen, die in einzelnen Bildern einem nachsichtigen, aus den Nachbarhäusern herbeigenötigten Publikum vorgeführt wurden. Zöglinge des Knabenpensionats schlossen sich, aller Hausordnung zum Trotz, an, als Schauspieler, vor allem aber als Musikanten auf Geige, Okkarina, Mund- und Ziehharmonika. Es gewährte Reinhart eine eigenartige Befriedigung, ja eine wilde Lust, sich in seine jeweilige Rolle zu versenken, in die Welt des Unwirklichen einzutauchen, ungestraft, ja mit Aussicht auf Lob und Bewunderung etwas zu sein, was er nicht war, mit dem holden Schein zu spielen, der doch den ganzen Menschen erfüllte. Die Zuschauer nahmen die stammelnde Kunst gütig auf. Tante Konstanze öffnete Schränke und Truhen für die Theatergarderobe und drückte ein Auge zu, als sie merkte, daß Bretter und Farben auf nicht ganz einwandfreie Weise beschafft wurden. Sie sah, wie sich die Geister der Kinder regten und sich eine zweite Welt schufen, eine Innenwelt von beglückendem, dauerndem Reichtum, nachdem sich ihr äußeres Leben so bescheiden gestaltet hatte. Wie mancher Sonntagnachmittag, wie mancher Ferientag ist da vertrödelt und doch nicht verloren worden, sondern Ausgangspunkt späteren, tiefer eindringenden Genießens und Feierns geworden.

Reinhart lernte spielen. Sich ganz ins Spiel vertiefen, spielend sich ganz vergessen.

Er fing dabei aber auch an, er selbst zu werden. Die Erfassung seiner selbst als Persönlichkeit begann sich in ihm zu regen. Hatte nicht auch er im Leben, im wirklichen Leben eine Rolle zu spielen, eine Rolle, die ihm niemand abnehmen konnte? Mitten in dem kindlichen Treiben kam ihm das hin und wieder zum Bewußtsein. Er sprang dann unbekümmert um den Fortgang der Theaterprobe oder des sonst begonnenen Spiels zur Seite, auch äußerlich einen Zwischenraum zwischen sich und den andern schaffend, und sprach zu seiner Seele: das also bist du … und das sind die andern … Er sah sich springen, reden, lachen, Speer werfen, Theater spielen, als wäre er sein eigener Zuschauer. Dann lachte er innerlich über das Schicksal des Menschen, einer für sich sein zu müssen, und gelobte sich, seine Eigenart auszubauen, – ohne den andern ein Wort davon zu sagen, ins Eigene hineinzukommen, wenn möglich ins Ungewöhnliche, Besondere. Das waren Augenblicke, aber in ihnen wurde geboren, was je gut und eigen an ihm gewesen ist. –


Nun aber die Schule. Wer hat ihn fortan geformt nach seinem Bilde?

Ist die Worn sein Fluß und der Buschel sein Berg und Grüntal sein Pfarrhaus geworden und geblieben bis auf den heutigen Tag, so ist die Worninger Lateinschule, das Worninger rote Haus, seine Schule geworden und geblieben. Sie hat ihn gebildet. Er vergißt sie nicht, solange er lebt.

Die Lehrer derselben waren ihm unbekannt geblieben bis auf Kantor Georgi, bei dem er in der ersten Klasse das Taktschreiben gelernt hatte. Ist er nicht der beste Lehrer gewesen, mit dem Reinhart je in einer Schulstube zusammengetroffen ist? Absonderlich, aber trefflich. Kantig, aber ein Mensch. Kein Normallehrer, aber ein Meister, ein Schul-Meister.

Wenn Reinhart der Mann nach Worningen kommt, geht er auf den Friedhof. Ehe er an des Vormunds Grab tritt und an seines Konfirmators Grab, stellt er sich ein wenig an Georgis Grab. Er formt dann an einer Grabinschrift und findet keine andere als die: »Und wenn es köstlich gewesen ist, ist's Mühe und Arbeit gewesen.« Zu seinem mühevollen Amte tat Georgi freiwillig eine Menge Mühe und Arbeit hinzu.

Er war kein eigentlicher Mittelschullehrer, sondern ursprünglich Volksschullehrer, unterrichtete aber an der Lateinschule in Schönschreiben, Rechnen, Geographie, Singen, – gezeichnet wurde hier nicht. Er stammte aus keinem feinen Hause, das merkten kritische Knabenohren aus mancher Redewendung, die ihm in der Erregung entglitt. Dafür war er aber durchglüht von dem Kultus der Arbeit. Ganz arbeiten, ganz darin aufgehen, die Arbeit lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüte, mit dem ganzen Wesen, – die Arbeit, die sich darbietet. Sein höchstes Bestreben war, die Jugend darin mit sich fortzureißen, sodaß sie ganz aufginge im Gegenstande des Unterrichts. Dieser Arbeitswille aber war gehalten und getragen von einer tiefgreifenden, sein ganzes Tagewerk und wohl auch die Träume der Nächte umfassenden Gottesfurcht. Er war ein Vorbild und bei aller Absonderlichkeit der bedeutendste der damaligen Worninger Lehrer.

Fünf Minuten vor acht Uhr kamen alle Klassen, die im roten Hause Unterricht hatten, vor seinem Schulzimmer zusammen. Eine Minute vor acht Uhr öffnete sich seine Wohnzimmertür und er trat im schwarzen Schulrock, freundlich grüßend, meist lächelnd, unter die Schar. Für ihn hatte der Morgen schon frühe begonnen. Er hatte schon ein paar Stunden gearbeitet, dann die Blumen begossen, die auf allen Fenstersimsen seiner Wohnung und seines Schulsaales standen, all die Fuchsien- und Geranienableger, dann mit den Seinigen gebetet und schließlich, als Nebensache, sein Frühstück verzehrt. Seine ehrlichen Augen sahen strahlend unter der Stahlbrille hervor, als wollten sie der Jugend zurufen: »Heute ist heut! Das wird ein Lerntag, ein besonderer!« Er schloß den Lehrsaal auf. Sechzig Buben stürmten hinein und füllten stehend die Bänke und den sonst verfügbaren Raum zur Morgenandacht, die von der Schulleitung mit Vorliebe dem Kollegen Georgi übertragen wurde. Fritz Hesselberger nahm an der kleinen Orgel Platz, einer der Größeren setzte den Blasbalg in Bewegung. Es wurde gesungen, es wurde gebetet. Georgi benutzte gerne ältere Gebetbücher, die man sonst wenig kannte. Doch genügten auch sie ihm nicht ganz; er ergänzte den Text, wie es der Tag und der Anblick der Jugend ihm eingab, ganz auf den besonderen Fall eingestellt, aus dem Eigenen. Er redete mit Gott über die ihm anvertraute Schulherde, bat um Kraft für seinen Beruf an ihr; er klagte vor ihm über ihre Fehler, aus vollem Herzen, nicht immer wählerisch in den Ausdrücken, ja oft schonungslos deutlich und urwüchsig. Da duckten sich die jugendlichen Häupter. Aber nicht alle in Demut. Ein Schmunzeln verbreitete sich, – da stieß einer den andern an, da schneuzte sich einer heftig, da platzte einer heraus. Georgi wußte, daß er es war, der mit seinem Gebet solche Wirkungen erzielte, konnte es aber nicht lassen. Ja, während seiner freien Aussprache mit Gott sah er forschend in den Knabenhaufen, ob er keinen Unandächtigen finde. Gewahrte er einen, so stürzte er vom Lehrpult, riß dem Heuchler die deckende Hand oder das Taschentuch vom Munde und hielt ihm empört und eifernd die Entweihung des heiligen Aktes vor. Dann stieg er wieder auf sein Katheder und brachte sein Gebet zu Ende. Nach dem Schlußgesang verteilte sich die Schar in die Klaßzimmer.

Und Georgi im Unterricht. Da war Geographie. In früher Morgenstunde hatte er sich aus dem Schulbuch, dem dicken Schacht, den gesamten zuletzt durchgenommenen Stoff in allen Einzelheiten, insbesondere auch die Ziffern der Höhen und die Einwohnerzahlen, genauestens angeeignet. Das verhörte er nun, ohne das Buch zu öffnen, aufs peinlichste. Schnell mußte es gehen. Frage und Antwort sollten sich zeitlich, wenn es möglich gewesen wäre, decken. Den Mund aufmachen, reden, reden, war sein immer wiederholtes Gebot. Keine Stunde ohne Kartenzeichnen. Im Nu stand ein Gradnetz auf der Tafel, im Nu war nach einem der alten, bewährten Skizzenhefte, die er sich für die einzelnen Klassen angelegt hatte, ein Landschaftsbild eingezeichnet.

Und im Rechnen. Reden, reden! Alles Denken sollte vom Reden begleitet sein. Wie an ihm selbst alles zitterte vor Lerneifer, wie ihm selbst im Eifer der Schaum aus dem Munde sprang, so sollte der Schüler zappeln und überschäumen vor Lernbegeisterung. Möglichst viele Beispiele über eine Regel! Die Zahlen sollten übereinander purzeln wie die Bälle eines Jongleurs und alle sicher in die Hand des Spielers zurückfallen. Das Rechenhausheft sollte musterhaft gehalten sein, ein kalligraphisches und zeichnerisches Kunstwerk.

Und Kantor Georgis Singstunde. Da diente er ganz als Priester der Musik. Er kam, schon ein wenig ermattet, aus dem Zeichenunterricht in der Volksschule, wo es nicht immer reibungslos abgegangen war. Aber er nahm sichtlich einen neuen Anlauf: die letzte Unterrichtsstunde der Woche sollte die beste sein. Er nahm von seinen drei Geigen die geringste aus dem Schrank, drehte die krachenden Wirbel, bis das Instrument stimmte, und öffnete das Gesangbuch. Erst einige Choräle. Um sein Pult herum stand die Masse des Soprans, im Hintergrund die dünneren Reihen des Alt. Da Georgi selbst ganz innerer Aufschwung, ganz Andacht und Anbetung war und mit heiliger Hingabe den Choral anfaßte, den er vielleicht zum dreihundertsten Male übte, hätte er gern gesehen, daß auch das junge Volk wenigstens einigermaßen seine Gefühle teilte. Wie betrübte es ihn, wie bekümmert konnte er aussehen, wenn er gewahrte, daß nur ein Teil der Sänger an die Worte dachte, die von den Lippen kamen. Wie konnte er in heiligen Zorn geraten, wenn auch hinter Gesangbüchern Schabernack getrieben wurde, wenn Faulheit und Unaufmerksamkeit auch die Choralübungen schändete. Die Lohe der Musik, das heilige Brennen des Kirchenmusikers glühte nur um so heißer in ihm auf, wenn er manchmal, etwa an schwülen Sommernachmittagen, sehen mußte, wie der Geist nicht recht über die Gemeinde kommen wollte. Wie oft hat er dann seinem Volke eine harte Zeit der Bewährung, einen Krieg gewünscht, der alle zusammenzwingen und nach oben reißen würde. Gewiß, er hat nicht alle mit seinem Geiste entflammt, aber was er die Knaben lehrte mit seiner harten Geige, mit seiner von der Wochenarbeit verbrauchten Singstimme, mit seinem Schelten, mit seinem zufahrenden, ihn selbst verzehrenden Feuer, – ist bei vielen geblieben. Er hat viele dazu gebracht, den größten Teil der 182 Melodieen des bayerischen Gesangbuchs richtig zu singen. Was man aber richtig gelernt hat, pflegt man zu lieben.

Fuhr den Knaben seine herzliche Hingabe ins Gewissen und taten sie ihm die Liebe, schön und einheitlich und andächtig zu singen, dann tat er sein Herz auf und erzählte von seinen musikalischen Freuden: wie er seine drei Geigen erworben habe, wie er aber mehr als sie seine Viola liebe, deren merkwürdigen Mittellagenton er dann ein wenig erklingen ließ; von dem Streichquartett, in dem er sie spielte; von den Oratorienaufführungen in der benachbarten größeren Stadt, die er in Worningen nachahmen würde, wenn seine Buben eifrigere Sänger wären. Zum Beschluß der Stunde ergriff er das Volksliederbuch und sang mit ihnen zur Erholung von der strengeren Arbeit Altes und Neues, und jedes Lied klang wie ein Abschiedslied an die verstrichene Woche, wie ein Gruß an den Feiertag, der bevorstand.

Oratorien hat Kantor Georgi nicht zur Aufführung gebracht, wohl aber hielt er einen Kirchenchor zusammen, der sich hören lassen konnte. Jeden Freitag abends 6 Uhr saßen in seinem Schulzimmer Männer und Frauen in den niedrigen Bänken zur Probe. Hinter ihnen standen die auserwählten Knabensänger; unter ihnen, nun im Alt, auch Reinhart. Wie ganz anders gab sich hier Georgi. Leutselig, zuvorkommend, rücksichtsvoll und höflich, in der Wahl seiner Ausdrücke sehr vorsichtig; auch trug er nicht den abgeschabten schwarzen Schulrock. Vor Beginn des Singens pries er die betreffende Komposition und den Komponisten vom fachmännischen Standpunkt aus und bat, die meist von ihm selbst geschriebenen Notenblätter zu schonen – »jedes Blatt kostet mich einen halben Pfennig, und niemand ersetzt es mir« –, und dann stürzte er sich in die herrliche Arbeit, die Weisen so erklingen zu lassen, wie sie in ihm selbst klangen. Mit leuchtenden Augen, nimmer satt, trieb er vorwärts, bat um das Zusammennehmen aller Kraft, schwärmte von künftigen höheren Leistungen und nützte jede Minute aus. Hatte sich der Saal geleert, so saß er bald korrigierend über einem Stoß von Schülerheften, auch ihnen seine ganze Seele widmend.

Reinhart kam gern zur Chorprobe. Die gemeinsame Dienstbarkeit der Idee gegenüber trat in seinen Gesichtskreis. Er war stolz, die Schwestern zu den Proben und Aufführungen begleiten zu dürfen. Und wenn dann an Sonn- und Feiertagen Georgi, auf der zweiten Empore, neben der Orgel, mit dem Rücken gegen die Brüstung, den Taktstock hob und alle die Männer und Frauen aus allerlei Kreisen und Ständen gespannt auf ihn sahen, da folgte auch er willig dem Führer und gab, was sein bescheidener Alt zu leisten vermochte. – – –

Und die anderen Lehrer der dritten und der nächsten Klassen? Ueber dem militärisch-straffen Studienlehrer Hofer dozierte der Studienlehrer Rötlich. Er hatte gerade zum Dr. phil. promoviert und der Subrektor hatte das Ereignis bei der nächsten festlichen Gelegenheit der gesamten Schülerschaft zu wissen getan. Ein Doktor! Der einzige der Schule. Der Zauber der Allwissenheit umwob ihn, und wenn er sich recht natürlich und menschlich gab, dachte man: nun läßt er den Himmel blau werden, damit uns die Wolke seiner Gelehrsamkeit nicht erdrückt. Aus seinen klaren, unbebrillten Augen leuchtete lautere Freundlichkeit, Lebensfreude umspielte den von einem wohlgepflegten roten Bart umwallten Mund, aus dem gesunde Zähne blitzten. Seine Wohlbeleibtheit unterstrich er durch einen eigenartig wippenden Gang, er beschrieb mit dem rechten Bein immer erst einen kleinen Halbkreis, ehe er es aufsetzte. Zumeist hatte er ein Glas Limonade auf der Lehrkanzel stehen, das er aus der im gleichen Stockwerk befindlichen Wohnung mit herüberbrachte oder von seiner Frau nachbringen ließ. Hatte er den ersten Schluck genommen und befriedigt die Tropfen aus dem Bart gewischt, so begann der Ernst des Lebens. Nichts änderte sich an der Heiterkeit seines Gesichtes, wenn er mangelhaftes Lernen mit einem kurz hervorgestoßenen »Brumm'!« quittierte. »Brummen«, das hieß: im Schulzimmer die Aufgabe nachlernen, bis sie saß. Am liebsten ließ er während der Mittagspause von 12-1 Uhr brummen. Packte ihn das Wohlwollen oder fanden die Vorstellungen seiner Gattin Gehör, so erschien er schon um halb 1 Uhr, um für diejenigen, die nun ihre Sache konnten, den Löseschlüssel zu bringen. Wie lieblich klang dann aus dem immer gütigen, nie von Zorn entstellten Munde des Gewaltigen das überlaute: »Spring, Faulpelz!« Da man aber in den Worninger Bürgerhäusern, auch im Palais, pünktlich um 12¼ Uhr zu Mittag aß, ward die Schande doch offenbar, auch wenn die Kette vor Abbüßung der ganzen Strafe abgenommen worden war. Tante Konstanze wußte Bescheid, auch wenn Reinhart noch so schnell vom roten Hause die Mühlstraße hinablief und noch so gewandt die Bücher in einen Winkel warf.

Rötlich war ein guter Lehrer, pünktlich zur Stelle, gründlich, gerecht gegen jedermann, kein Tyrann und doch in seiner Macht- und Wissensfülle hoch erhaben über seinen Schülerlein. Seine treffliche Art, ins Griechische einzuführen, die ein wenig an Grallaths Weise erinnerte, begeisterte Reinhart. Auch im Aufsatzunterricht war bei ihm etwas zu holen. Doch war das nicht eigentlich seine Stärke. Er rechnete zu wenig mit dem engen Horizont der Worninger, die wenig vom Leben sahen, auch wenig lasen. So kamen die meisten bei dem flotten Gedankensuchen und Formen nicht mit und die Ironie, die dann den Mund des Lehrers umspielte, machte sie noch langsamer und linkischer.

In diesem Punkt war ihm Assistent Lux, Grallaths Nachfolger, zu dessen Deutschunterricht die vierte Klasse wöchentlich einigemal durch den Schloßtunnel ins Knabenpensionat hinauswanderte, überlegen. Unter allen Deutschlehrern, die Reinhart je hatte, war er der tüchtigste. Ob Lux mehr Feinmechaniker oder mehr Künstler war? Jedenfalls war er ein Meister seines Faches. Er kannte den Gedankenkreis seiner Buben und stellte seine Aufgaben darauf ein. Hatte er ein passendes Thema entdeckt, so baute er mit ihnen den Aufsatz. Ganz aus dem Rohmaterial heraus. Erst ließ er einen Vorrat von Gedanken, passenden und unpassenden, auf einen Haufen zusammentragen. Dann galt es, die brauchbaren zu ordnen und alles Unrichtige auszuscheiden bis auf einen Rest unentbehrlicher Hauptgedanken. Dann formten und feilten und strichelten sie miteinander in der Lust gemeinsamen Schaffens, bis die einzelnen Sätze eindeutig und in sprachlicher Reinheit und Schönheit fertig dastanden. Dann verzahnten sie die Teile nach den Erfordernissen der Folgerichtigkeit klug und klar miteinander. Nun übersahen sie das Gewonnene, ob vielleicht noch etwas Entbehrliches zu entfernen wäre, ob nichts am falschen Platze stehe, ob alles einzelne wohl überlegt und einleuchtend und gefällig sich gegenseitig diene. Jetzt erst, nachdem der Rumpf vollendet war, schufen sie Einleitung und Schluß. Bei der Einleitung hieß es einen Geistesblitz haben. Beim Schluß mußte sich offenbaren, ob die zahlreichen Mitarbeiter von ihrer eigenen Arbeit so ergriffen waren, daß sie die gefundenen Wahrheiten in zusammenfassender, kraftvoller Unterstreichung noch einmal auf den kürzesten Ausdruck zu bringen vermochten. Wie gerne arbeiteten sie so mit Lux zusammen! Eifrig steuerte jeder seinen Stein bei und war glücklich, wenn er eingefügt wurde. »Das ist von mir.« So tat der eifrige Lehrer seiner Vierten und seinem Volke den Dienst, zwei Dutzend junge Leute in das Heiligtum ihrer Muttersprache einzuführen. Nun konnte es für den einzelnen nicht mehr allzu schwer sein, auf eigene Gefahr eine Fahrt ins Land des Wortgebrauchens zu machen. Man hatte ein deutsches Ohr gewonnen, auf das der Mund sich verlassen konnte.

Da war der Subrektor der Lateinschule, Herr »Rektor« Scherzer. Er hatte einen Stich ins Pastorale, wenn man seine Bevorzugung schwarzer Kleidung und das schwarze grünbestickte Käppchen, das sein treuer Begleiter war, so bezeichnen will. Er unterrichtete die vierte und fünfte Klasse im Latein, einige Stunden auch im Griechischen, aushilfsweise auch in der Mathematik. Daß diese sein Feld nicht war, gestand er, ehe es sich im Unterricht deutlich offenbarte. Geblieben ist Reinhart, der immer ein schlechter Mathematiker war, die umständliche Auseinandersetzung, daß es sich in der Planimetrie nicht um Körper, sondern um Linien handle. »Linien sind es, Linien; wir müssen sie aber auf die Wandtafel oder aufs Papier aufzeichnen, damit wir sie sehen. Denkt euch das Papier dünn, feinstes Postpapier, noch viel dünner, laßt nun das Papier ganz verschwinden, nur noch die Linien bleiben, das ist Planimetrie.« Ach wie froh war er, als der neue Inspektor des Knabenpensionates Mathematiker war und ihm die Last abnahm.

Für sein Leibfach, das Latein, hatte er sich als Ergänzung der Grammatik von Elendt-Seifert eine Sammlung von »Mustersätzen« angelegt, die er den Schülern in ein dickes Heft diktierte. Unermüdlich baute er sie vor ihnen auf. Vom einfachen, nackten Satz bis zum Satzungetüm, in dem über allerlei zeitlichen und kausalen und sonstigen Nebensätzen und Schachtelsätzen und ablativis absolutis und anderen Fialen und Krabben und Baumeisterscherzen erst nach mühsamem Suchen des verworrenen Knäuels schlichter Sinn zu finden ist. Namentlich an einem Satze, der mit den Worten begann: Hannibal, cum Alpes transgressus esset, zeigte er den verdutzten Worningern immer wieder, was der Lateiner im Periodenbau zu bieten hat. Man lernte die Mustersätze auswendig, übte fleißig die einzelnen Glieder auseinandernehmen und wieder zusammensetzen, um dann in der Skription ähnliche Satzgefüge aufbauen zu können. Auch wurde Nepos und Cäsar gelesen.

Übrigens kam Scherzer viel mehr als Rektor und Mensch in Betracht. Als Rektor hielt er es für seine Pflicht und für sein Recht, während der Schulstunden möglichst viel im Schulhause herumzuwandern und bei den Kollegen Besuche zu machen. Wie glücklich waren die Buben, wenn vor der Schultür das bekannte Pusten, Spucken und Räuspern vernehmlich wurde, kurz darauf eine ringbewehrte Hand pochte und der »Herr Rektor« eintrat. Damit war ja meist der Unterrichtsstunde der Rest gegeben. Höflich empfing der Lehrer den Vorgesetzten und unterhielt sich mit ihm in einer Fensternische im Flüsterton, solange es dem Gaste beliebte. Scherzer, der ganz Kleinstädter geworden war, konnte es sich nicht versagen, sich alles vom Herzen zu reden, was darauf lag; sehr oft war es nichts weiter als die Neuigkeiten des Städtchens, die seine menschenfreundliche, teilnehmende Seele bewegten wie irgendeinen in der Stadt. Inzwischen saßen die Schüler auf ihren Plätzen, blätterten in den Schulbüchern oder nahmen ein Lesebuch herauf. Aber auch die Lehrer waren gut gezogen. Keiner hätte gewagt den Störer abzuschütteln. Sie hielten willig still. Hofer tat es aus Gründen der Unterordnung schlechthin, Rötlich aus Gutmütigkeit. Nur Georgi machte, während der Besucher, behaglich in die Fensternische gelehnt, schneuzend und schnupfend und spuckend breiter und breiter wurde, nervöse Bewegungen nach den Bänken hin und warf sehnsüchtige Blicke in die Reihen der Schüler, die ruhig und geduldig harrten, – bis er sich endlich nach Verabschiedung des Hartnäckigen in wilder Lerngier wieder auf seine Jugend stürzen konnte, das Versäumte nachzuholen.

Scherzer legte großen Wert darauf, die Eltern der Schüler, ihre Lebensweise und Familienverhältnisse kennen zu lernen. Er sprach gern mit den Kindern darüber, auch während des Unterrichts. So machte er einmal Reinhart erröten, als er vor versammeltem Volke umständlich erzählte, daß Tante Konstanze bei ihm gewesen sei, was sie gesprochen und welchen Eindruck er von ihr empfangen habe, und als er ein andermal zu ihm sagte: »deine Schwester, die mittlere, ist ein reizendes Ding, wie ein Jakobiapfel, wie Milch und Blut.« Oder er machte über sonst einen Menschen eine gute, charakteristische Bemerkung, die den Betreffenden von einer Seite zeigte, die die Knaben mit Bewußtsein noch nie an ihm wahrgenommen hatten, und nicht selten dessen Wesen auf eine einfache Formel brachte. So wenn er Reinhart in kurzen Zügen ein Charakterbild seines Vaters nach Licht und Schatten entwarf, oder seines ältesten Bruders, der einmal Scherzers einziger Schüler in der fünften Klasse gewesen war. Da horchte der Knabe auf Wort und Ton und Unterton und wunderte sich nicht nur darüber, daß der Mann vor fremden Ohren so zu ihm sprach, sondern auch darüber, daß er ihn für reif hielt, das zu hören. Als Scherzer wieder einmal ein Charakterbild des Bruders entwarf, das aus hellen und weniger hellen Farben gemischt war, ward ihm Reinhart gram und stahl aus dem dicken, auf Jahrzehnte zurückgehenden Klassenbuch, das auf dem Tische des Lehrers lag, die Seite, die eine Rüge des Ältesten enthielt.

Stolz leuchtete es aus des Subrektors Augen, wenn seine Schüler sich später auf dem Vollgymnasium auszeichneten. Trotz seiner Schwächen blieb seine Autorität unangetastet. Mit demselben Zittern wie bei den anderen Lehrern sah man auch seinen Skriptionen entgegen. Doch war bei ihm die Spannung der Ungewißheit über den Ausgang von kürzerer Dauer. Unmittelbar nach der Schlacht korrigierte er die noch warmen Arbeiten – es waren ja nicht viele – und warf sie auf den Lehrtisch. Unfehlbar stürzte man gegen Abend ins rote Haus und holte sich sein zerknittertes, mit roten und braunen Flecken geziertes Blatt mit der Note. –

Reinhart blieb in der vierten Klasse sitzen. Trotz häufigen »Brummens« bei Rötlich und entsprechender häuslicher Nachspiele, trotz vielen freiwilligen Abschreibens der lateinischen Mustersätze aus dem dicken Heft auf allerlei Blätter. Die Steingartener Lücken machten sich fühlbar. Vielleicht nahmen die Grüntaler Vogelstreifen zu viel Zeit weg? Nach kurzem Aufstieg versagte die Kraft.

»Das Aufsteigen in die fünfte Klasse hängt vom Bestehen einer Nachprüfung in der lateinischen und griechischen Sprache ab.« So stand's im Zeugnis. Da Reinhart jung war und die beiden Nachprüfungen ihm voraussichtlich die Ferienerholung zunichte machen würden, beschloß der Vormund, ihn die Klasse wiederholen zu lassen. Tante Konstanze war sofort damit einverstanden.

Schnell gewöhnte er sich an die neuen Kameraden. Das Bewußtsein, für die fünfte Klasse nicht reif zu sein, überwog das dann und wann auftauchende peinliche Gefühl, von nachrückenden Truppen eingeholt worden zu sein. Eine ungekannte Sicherheit überkam ihn. Abgesehen von den Rechnungen, die ihm auch im zweiten Jahre gleich schwierig erschienen, sah er alle Aufgaben wie alte vertraute Freunde an, denen man sich gerne widmet. Was auch kommen konnte, er hatte sich schon damit befaßt. Sein Körper tat einen merklichen Schuß in die Höhe, er trug den Kopf frei, die Augen blickten keck in die Welt. Die Schwestern schrieben den auswärtigen Geschwistern: Ihr glaubt nicht, wie hübsch Reinhart jetzt wird.

Es war ein stolzer Augenblick, als der Turnlehrer Hurtig eines Tages ihn aus dem Glied treten ließ und sagte: »Du führst von heute ab eine Riege.« Vorturner sein! Einer von den auserwählten Sechsen! Das war etwas. Zweimal wöchentlich gegen Abend traten erst in einer großen Scheune, dann auf dem großen Vorplatz im ersten Stock des Rathauses die achtzig Lateiner zum Turnen an. Als Vorturner patzte man bei den Freiübungen nie. Als Vorturner führte man hocherhobenen Hauptes in der zweiten halben Stunde seine Riege von einem Gerät zum andern. In prachtvoller Haltung zog die Truppe in den Sommermonaten vom roten Hause aus durch den Schloßtunnel an der Fabrik des Vormundes vorbei auf den Kellerwasen. Wehe dem, der schlapp ging! Hurtigs Stock mit dem Hirschhorngriff fuhr ihm zwischen die Beine und ein durch die Zähne geblasener Fluch brachte ihn vollends wieder zurecht. Draußen hieß es: »Hüte ab! Zacken herunter! Zu den Freiübungen antreten!« Hurtig war weiß Gott ein strammer Turnlehrer. Prüfend ging er von einer Riege zur andern und sah der Arbeit seiner Abrichter zu. Wie glücklich war Reinhart, wenn er dann gerade selbst am Gerät die Übung zeigen konnte und Hurtigs anerkennender Blick ihn traf oder dessen stählerne Finger seinen Oberarm umklammerten, während sein schöner Mund, nur dem Ausgezeichneten vernehmbar, murmelte: »So ist's recht, der hat Muskeln!« Oder wenn der Herr Rektor aus dem Städtchen kam und lange, wie ein schwarzer Pfahl auf dem grünen Rasen stehend, dem Treiben seiner Schuljugend zusah, – dann war es Reinhart, als sähe sein höchster Vorgesetzter ihm allein zu und müsse er und seine Riege es herausreißen. Eine Übung freilich war ihm stets peinlich: das Springen unter dem geschwungenen Seil. Da bestand er, der Vorturner, keineswegs mit Ehren. Im rechten Augenblick vor das Seil treten und, ohne mit der Wimper zu zucken, die geforderten Sprünge und Wendungen machen, – dazu fehlte ihm die Schlagfertigkeit und ruhige Entschlossenheit. Wie schämte er sich dieser Ungeschicklichkeit! Als Hurtig es gewahrte, erbarmte er sich und stellte ihn als Seilschwinger an. Reinhart war auch keineswegs der Kräftigste der oberen Klassen. Als er beim Ringen vor versammelter Turnerschaft von einem Knaben seiner Größe wiederholt geworfen wurde, mußte er sich damit abfinden. Und er tat es, ohne unglücklich zu werden.

Ja die Turnstunden auf dem Kellerwasen! Alles in allem waren es doch Ehrenstunden für ihn. Man war etwas, man galt etwas. Es war Zug drin vom ersten Antreten bis zum letzten Rührt-euch! War man auseinandergetreten, so lösten sich rasch die gestrafften Glieder. Reinhart nahm dann die Kappe in die Hand, schlug einen leichten Trab an, der sich die Mühlstraße hinab zum sausenden Flug steigerte. Rechtschaffen hungrig verschlang er das Abendessen, das Tante Konstanze für ihn zurückgestellt hatte. –

Die Mitschüler wunderten sich immer von neuem, daß er in der Schule nach besseren Zeiten immer wieder Stotterperioden hatte, in denen er fast nichts herausbrachte, während er im kameradschaftlichen Gespräch sich leidlich verständigen konnte. Ganz merkwürdig war ihnen, daß das Übel verschwand, wenn er sich in ausgelassener oder gesucht witziger Rede erging. Wer konnte dann so fließend, so überschäumend reden wie er? Wer konnte dann die Lehrer so nachahmen wie er? Er hatte den Wortschatz von Scherzers Drohreden gesammelt und verknüpfte ihn zu immer neuen Ansprachen an die lüsternen Kameraden, dabei Schneuzen und Spucken und die Ruderbewegung der Arme nicht vergessend. Seine beste Leistung aber war die Nachahmung Georgis. Dessen Morgengebete mit der Mischung von Liturgischem und Persönlichem waren ihm eine immer neue Quelle der Anregung. Auf Übertreibungen und Fälschungen kam es ihm dabei nicht an, hatte er doch Konkurrenten, die es ihm gleichtun wollten. Es war ihm eine süße Genugtuung, wenn die Kameraden ihn bewundernd umstanden und zu immer stärkerer Übertreibung reizten. Reinhart war weit davon entfernt, seine Lehrer verächtlich machen oder gar das Gebet als solches heruntersetzen zu wollen. Er wollte nur reden, reden, die Zunge gebrauchen. Auch wollte er eine Rolle spielen. Dazu kam das immer mächtiger wirkende Wollustgefühl des süßen Rausches, in der Raserei des Schauspielers alles um sich her zu vergessen, nicht zuletzt die bescheidenen häuslichen Verhältnisse und die Erzieherhand von Tante Konstanze, die oft schwer auf ihm lag. Wie oft ist er so in Scherzers Schulzimmer aufgetreten und hat sich vor versammeltem Volk produziert, bis endlich der Subrektor zum Unterricht erschien.

Es gab aber auch Tage, an denen er trotz der Aufstachelungen der Kameraden keine Lust zu solchen Vorführungen hatte. Dann drangen sie in ihn: »So halte uns wenigstens einen Vortrag!« Dem mochte er sich nicht entziehen. Die gelähmte Zunge richtete sich auf und forderte ihr Recht. »Worüber?«, sagte er ohne Stottern. »Über den nächsten besten Schund!« »Der nächste beste Schund«, erwiderte Reinhart mit funkelnden Augen, »ist diese Stahlfeder; so setzt euch und hört!« Sie setzten sich neben die Tintenfässer der Schulbänke, dicht um ihn gedrängt, und er begann ohne Stocken und Stammeln, mit zuckendem Munde von Geburt und Werdegang, Freuden und Leiden und Sterben der Stahlfeder zu erzählen, wie die wilde Phantasie es ihm eingab. Sie waren ganz stille und sahen ihm lächelnd in das von leidenschaftlicher Anstrengung verzerrte Gesicht, – bis drüben Scherzers Türe geöffnet wurde. Oft war es die Frau Rektor oder eine der Töchter, die über den Flur gingen, – bis schließlich er selbst erschien und seiner Freude über das ruhige Verhalten der Buben Ausdruck gab.


Auch Reinhart ist das Böse nicht fern geblieben. Er wußte es sehr genau vom Guten zu unterscheiden und doch hat er es nicht immer verschmäht. Freilich war nach seiner Meinung nicht alles, was Tante Konstanze so nannte, böse.

Am Abend, etwa auf dem Heimweg von der Probe des Kirchenchors, lieber aber noch viel später, am geschlossenen Fensterladen des Bäckers Mebert anklopfen und auf die Frage der schläfrig gewordenen Bäckersleute: »was isch gfällig?« mit verstellter Stimme sagen: »Bitt schön, fünf Stück Pärlesweck«, und dann warten, bis der Bäcker umständlich das Fenster öffnete, um das Gewünschte herauszureichen, und in diesem Augenblick davonlaufen, – nein das war nicht böse. Mit verstellter Stimme so laut als möglich in den angrenzenden Garten des Handelsgärtners hineinrufen: »Härtle-Pfau, schnell rauf, 'sisch ebber do!«, dann warten, bis der fleißige Mann die Hände gewaschen hatte und herbeieilte, und noch rechtzeitig davonlaufen, – das war nicht böse.

In der Mühlstraße schräg gegenüber war ein kümmerliches Kramlädchen, dessen armselige Auslagesächelchen hinter den kleinen blinden Fensterscheiben das ganze Jahr hindurch die gleichen blieben. Birzele hieß der Mann, der auch ein paar Kühe einspannte. Die Birzelesbuben waren arm, scheinbar ärmer als die Pfarrersbuben und hatten diesen wenig zu bieten. Aber sie hatten ein Briefmarkenalbum, schmutzig freilich und auch sonst nicht gerade fachmännisch gehalten. Als die Kinder wieder einmal auf den Balken neben dem Brunnen an der Straße saßen und das Album betrachteten, machte Reinhart eine Entdeckung, die sein Herz rascher schlagen machte und ihn die folgenden Tage nicht zur Ruhe kommen ließ. Die Birzeles hatten den bayrischen schwarzen Einser, den richtigen, echten schwarzen Einser. Vermutlich wußten sie, was das bedeutete, denn das weiß jeder Sammler. Oder ahnten sie nichts von ihrem Glück? Jedenfalls mußte gehandelt werden und zwar sofort, ehe ein anderer Marder das Nest aushob. Da nahm denn Reinhart ein Häuflein bessere Doppelte, nichts Gutes, aber allerlei in die Augen stechende Sachen, und hat den mißtrauisch werdenden und doch nichts ahnenden Birzelesbuben ihren schwarzen Einser abgeschwätzt. Mit zitternden Händen klebte er die tadellos erhaltene Marke in sein Album, Herrn Krauß sagte er kein Wort davon. Nun hatte er ihn, den schwarzen Einser. Und doch, wenn er ihn so recht liebevoll und befriedigt ansehen wollte, starrte ihn die kostbare Marke vorwurfsvoll an: ja, ich bin der schwarze Einser, aber ich bin auch der schwarze Punkt in deiner Sammlung und ein schwarzer Punkt in deinem Leben, denn du hast mich mehr erschwindelt als erworben. Bis dann doch das Herz ruhiger wurde und glauben lernte: etwas Böses, so etwas richtig Böses, ist auch das nicht gewesen.

Reinhart war Geiger. Weniger aus Lust, mehr weil es Tante Konstanze wünschte. Täglich nach dem Mittagessen stand er mit der in Steingarten erhaltenen Dreiviertelsgeige eine halbe Stunde übend vor dem Notenpult, auf dem die Hohmannsche Violinschule lag. Den Unterricht empfing er vom Stadtmusikus Häuser, die Stunde zu vierzig Pfennig. Wie erstaunte Tante Konstanze, als des Musikers Frau sie eines Tages auf der Straße fragte, was denn Reinhart gegen ihren Mann habe, weil er nie mehr zur Stunde komme. Die Untersuchung ergab, daß der Neffe wochenlang rechtzeitig mit dem Geigenkasten abzog, das Instrument bei einem Kameraden einstellte und während der für die Geigenstunde angesetzten Zeit spazierenging. Das war schlimm, Reinhart sah es selbst ein. Aber er tat es. Mächtiger als die Warnerin in ihm war eine andere Stimme: es ist das nun einmal so, du bist nun einmal jetzt so; wenn du groß bist, mußt du ja ohnedies noch lange genug ordentlich sein, dann kannst du das wieder gut machen.

Und noch etwas anderes gewann er über sich, etwas wirklich Böses. Rektor Scherzers häufiges Zuspätkommen und Besuchemachen brachte die sich selbst überlassenen Schüler auf allerlei Unfug. So wurde es Sitte unter ihnen, den eisernen Schulofen derartig reichlich mit Holz zu speisen, – die fürstlichen Wälder lieferten die herrlichsten Scheiter –, daß er eine unheimliche Hitze verbreitete. War der eiserne Schürhaken glühend geworden, so bohrte man Löcher in die Holzkiste, in die Schulbänke und schließlich in wilder Grausamkeit – in etwas, das einem Worninger Kinde hätte heilig sein sollen, in die großen Ölbilder, die hoch oben, den kurzsichtigen Augen des Lehrers nicht mehr recht erreichbar, über dem Bücherschrank hingen. Die Bilder aber stellten Fürsten von Worningen dar, die sich um die Lateinschule besonders verdient gemacht hatten. Man brannte den in Staatsgewand und Orden prangenden gütigen Herren kaltblütig die Augen aus. Reinhart stieg zwar nicht auf die Schultern der andern, das gemeine Werk zu vollführen. Aber er widersprach auch nicht, ja er reichte das Eisen hinauf und hielt es wieder ins Feuer, bis draußen Scherzers Türe ging und alles zu den Plätzen eilte. Reinhart war innerlich erstaunt und verstimmt über die sinnlose, rohe Handlungsweise und schämte sich seiner und der anderen, aber eine andere Stimme sagte: du tust es nicht allein, die Schuld geht in mehrere Teile … So ist auch Reinhart das Böse nicht ferngeblieben. –

Wie war es mit dem Rauchen, das zwischen Gut und Böse in der Mitte steht? Als er andere rauchen sah, fing er es schließlich trotz Kraußens Unterweisung auch an. Der Kaufmann Kratzer hatte die dünnen, weißen, pikanten Röllchen jederzeit auf Lager, für ein oder zwei Pfennig das Stück; die Zündhölzer stahl man in der Küche. Von dem bei Beerdigungen ersungenen Gelde, das nach Tante Konstanzes strengem Befehl in die Sparkasse kommen sollte, tat man ein paar Zehner auf die Seite, geheime Einkäufe in Rauchwerk und Schokolade zu machen. Und worin bestand denn die merkwürdige Anziehungskraft der Zigaretten? Bitter und süß zugleich, übelriechend und angenehm duftend zugleich, Magen und Kopf alsbald in Mitleidenschaft ziehend, nie ein reiner Genuß, oft die Ursache lang andauernder Übelkeit und doch immer wieder begehrt, weil immer wieder eine eigentümliche, der Erdenschwere entrückende Berauschung, – waren sie immer wieder ein unwiderstehlicher Magnet. Wie oft warf Reinhart die halb herabgerauchte Verführerin zu Boden, wenn es ihm eng und schwül wurde, und gelobte, keine mehr anzufassen, und dann tat er es doch wieder. Schade, daß der Pensionär, den Tante Konstanze ins Haus aufgenommen hatte, Franz Hart, Sohn eines Missionars in Amerika, trotz seiner dreizehn Jahre ein ausgepichter Raucher war, den nichts mehr angriff. An ihm, dem sonst so prächtigen, kernigen Menschen, hatte Reinhart in diesem Punkte kein löbliches Vorbild. Wie oft lagen sie nachts an den weit geöffneten Fenstern, die Köpfe durch das Gitter ins Freie streckend, und huldigten dem schlimmen Vergnügen. Tante Konstanze hat es nie gemerkt. Die Schwestern aber rochen es, und wenn sie, vom Lebensmittelmarkt heimkehrend, den beiden zur Schule trabenden Knaben begegneten, flüsterten sie ihnen mit listigen, wissenden Augen spöttisch zu: »Hat es fein geschmeckt heute Nacht?«

Wie der Knabe einen sehr schwankenden Kampf kämpfte gegen Stottern und Rauchgelüste, so auch gegen ein ganz eigenartiges Übel, gegen ein unbegründetes, lediglich auf Nervenschwäche beruhendes Lachen.

Woher es nur stammte? Erbliche Belastung?

Wenn er Tante Konstanze eine schlechte Skription überreichte und genau wußte, nun fließen ihr Herz und Mund über zu einem Erguß von Leid und Klage und Vorwurf, – statt sein Gesicht darauf einzustellen, tat er das Gegenteil, er lachte, ein unverständliches, den Gegner verblüffendes und reizendes Lachen. Und die Tante verstand nicht immer, woher das Lachen kam. Daß es nicht aus dem Herzen, sondern lediglich aus den Nerven kam. Warum ließ man Reinhart nur selten das Tischgebet sprechen? Weil er unter Umständen plötzlich trotz alles Widerstrebens hell auflachte. Warum übertrug man ihm keine Glückwunsch- und Beileidsbesuche, überhaupt keinerlei Familienvertretung? Weil er nicht nur nicht Herr seiner Zunge, sondern auch nicht Meister seines Gesichtes war.

Waren die Aufgaben gemacht, so sagte Tante Konstanze allabendlich: »nun, Kinder, laßt uns beten!« Die Gesangbücher und Bibeln wurden verteilt, – Verteilung und Aufbewahrung traf von Woche zu Woche einen andern Lektor –, Benjamin setzte sich ans Klavier, die Abendandacht begann. Die Tante war ganz Hauspriesterin, die verkörperte Andacht; die Geschwister, auch die kleinsten, trotz Müdigkeit in guter Haltung. Beim gemeinsamen Singen ging alles gut. Dann aber kam das Lesen eines Kapitels der Bibel, reihum auf jeden ein kleiner Abschnitt. »Nun kommt's bald an dich«, dachte Reinhart. Weniger sein Stottern machte ihm Sorge als die Furcht vor dem Herausplatzen. Und diese Furcht nahm ihm oft alle Widerstandskraft. Mit dem Lachen kämpfend begann er seinen Abschnitt, lachend und stotternd beendigte er ihn, während in seinem Innern doch nichts als Sorge und Angst war. Da kam ihm eines Tages der Gedanke: du verschwindest einfach, wenn die Schwachheit kommen will. Das tat er denn nun auch häufig. Kaum war der gemeinsame Gesang verklungen, so verließ er das Zimmer, nahm im Flur die Petroleumlampe und begab sich nach dem kleinsten Räumchen des Hauses, um erst wieder zu erscheinen, wenn die Andacht zu Ende war. Völlig ruhig und gelassen beteiligte er sich am Aufräumen des Zimmers, womit der Tag zu enden pflegte und sagte mit den andern gute Nacht. Die Tante gewöhnte sich an dieses Verfahren. Sie durchschaute es nicht ganz, aber sie ahnte es doch: er flieht nicht vor dem Gebet, er flieht vor sich selbst, vor seiner Schwachheit.


In Reinharts Lebensgang hat die Religion eine große Rolle gespielt. Immer wieder ist sie werbend an ihn herangetreten. Wie hat sich Reinhart das Kind mit ihr auseinandergesetzt?

Was das Elternhaus still und zurückhaltend in ihm gepflanzt hatte, wurde von Tante Konstanze reichlich begossen. Kein Morgen ohne gemeinsames Gebet, kein Abend ohne ausführlichere Andacht, keine Mittags- und Abendmahlzeit ohne Tischgebet, und als er lesen konnte, kein Sonntag ohne Besuch des Gottesdienstes, mochte das Wetter sein, wie es wollte.

In der schönen großen gotischen Kirche von Worningen kannte er jeden Winkel. Als Volksschüler hatte er seinen angewiesenen Platz auf der Orgelempore, leider viel zu weit von der Kanzel entfernt, fast außerhalb des Hörbereichs. Er konnte sich an Gesang und Liturgie beteiligen, aber von der Predigt kaum etwas verstehen, doch saß er ruhig und war keiner von den Schwätzern. Er wunderte sich, wenn der Organist bei Beginn der Predigt die Augsburger Abendzeitung aus der Tasche zog und zu lesen begann, oder wenn der Turnlehrer Hurtig vorn an der Emporenbrüstung während der ganzen Textverlesung mit seinem Nachbar plauderte. Er beobachtete aber auch, wie der schwarzgekleidete, höckerige, zusammengezogene Blasbalgtreter Linke sofort nach dem Verklingen des Spieles von seinem Blasbalg herabkletterte, möglichst weit vortrat und während der ganzen Predigt die Hand ans Ohr hielt, um nichts zu verlieren.

Als Lateinschüler hatte er mit den Kameraden unten im Chor zu sitzen zwischen dem nur bei Abendmahlsfeiern benützten Hochaltar und dem kleineren regelmäßig gebrauchten Altar. Der Blick ging zu den wappengeschmückten Schlußsteinen empor und zu den prächtigen, üppigen Früchteguirlanden, die neben den Rippen einherliefen, hinüber zu dem zierlichen Maßwerk der schlanken Fenster, die im Morgenlicht funkelten.

Den Schülern gegenüber, die Mauer entlang, befand sich der Kirchenstuhl der Lehrer, die sämtlich evangelisch waren. Der Rektor hatte seinen Ehrenplatz ganz nahe der Sakristeitüre unter der Kanzel. Die Herren waren im allgemeinen ohne Ausnahme gute Kirchgänger. Kantor Georgi fehlte fast nie. Gerade saß er da, sang jede Note mit, neigte sein Haupt beim Gebet, die ganze Predigt hindurch war sein frischrasiertes, hageres Gesicht der Kanzel zugewendet, von der er wenigstens ein Stückchen sehen konnte. Sein Angesicht war aber selbst die beste Predigt. Neben ihm saß – nicht so regelmäßig – Rötlich, nicht immer bei der Sache, nicht immer wach, oft ein regelrecht schlafender Jünger. Hofer kam seltener, nahm aber dann in strammer Haltung und sichtlicher Aufmerksamkeit am Gottesdienste teil. Scherzer trug auch hier ein Käppchen, und zwar zu Ehren des Sonntags ein schwarzsamtenes. Er hatte auch hier Schnupfdose und Taschentuchmäuschen neben sich liegen, er schlug auch hier auf die Büchse und blies die braunen Brösel vom Rock und pustete und räusperte sich und spuckte und ruderte mit dem Arm. Er brauchte lange, bis sein Rücken die richtige Lage fand, dann aber folgte er aufmerksam der Feier.

Wie schwül konnte es schon um zehn Uhr morgens im Gotteshause sein, wie kalt im Winter auf den feuchtangelaufenen Steinfliesen, – aber wer hätte davon gesprochen? Wer hätte nach Kirchenheizung verlangt? Die Sitte, daß die Schüler unter allen Umständen den Gottesdienst zu besuchen hatten, war durchaus ungebrochen. Keiner schloß sich aus, auch die nicht, die ihre Hände in Glacéhandschuhe steckten und darin im Winter am meisten froren.

Frühzeitig wurde Reinhart angehalten, sich von der Predigt etwas zu merken. Von der vierten Klasse an forderte der Religionslehrer mindestens Thema und Teile. Nicht selten ist es Reinhart gelungen, sie herauszufinden und zu behalten, nicht selten mußte er sie sich von Roth, dem nachmaligen Kemptener, sagen lassen. Viel, viel von dem, was da von der Kanzel gesprochen wurde, hat er nicht verstanden. Vieles aber hat er erfaßt, wieder vergessen und doch nicht verloren. Jedenfalls hat er hier allerlei in sich aufgenommen, was später den Kern seines Wesens hat bilden helfen.

Zwischen Reinhart und seinem Religionslehrer, dem zweiten Pfarrer, bestand ein eigentümliches Verhältnis. Wenn er die von Nervenkrankheit geschwächte, hagere, schiefgezogene Gestalt Rothers die Mühlstraße herabkommen sah, so nahe an den Häusern, daß sie diese fast berührte, als wolle sie sich bei jedem Schritt ein wenig anlehnen, so kam kein Lächeln über seine Lippen. Es griff ihm an die Seele, daß Leibesschwäche den Menschen so unansehnlich machen kann. Wenn er ihn zum Altare schreiten oder neben seinem stimmgewaltigen jüngeren Amtsbruder im Pfarrstuhl hinter dem vordern Altar sitzen sah, so war in ihm nichts als Ehrerbietung gegen den wahrhaft geistlichen Mann. Wenn am Fronleichnamstag die Mehrzahl der evangelischen Schüler gar zu gern noch das Eintreffen der Prozession bei dem am Schlosse aufgerichteten Altar abgewartet hätte, kaltblütig des Schulbeginnes nicht achtend, und Rother dann ernst und mit blitzenden Augen sagte: »wie könnt ihr Protestanten bei dieser Gelegenheit Spalier bilden?« – dann fühlte Reinhart: es ist doch Kraft in ihm.

Dabei hatte er immer wieder das deutliche Gefühl, daß Rother ihn nicht recht leiden könne. Gewiß, er hätte manchmal besser lernen können, aber er lernte gerade für ihn gern. Die Fülle von Psalmen, mindestens zwanzig, Liedern und Sprüchen und biblischen Geschichten war ihm nicht zu viel. Namentlich die Psalmen lernte er mit Lust und hat sie später auf einsamen Wanderungen gut brauchen können. Auch billigte er es, daß er wie so viele andere, wenn es beim Verhören in der Schule dennoch nicht nach Wunsch ging, von Rother in dessen Wohnung zum Hersagen bestellt wurde. Er spürte die Gewissenhaftigkeit des Mannes, der nicht locker ließ. Aber er meinte immer, bei diesen Besuchen, von denen keine Tante und kein Vormund etwas wissen durfte, würde sich einmal des Lehrers Herz öffnen und er ihn in des Vormundes Art auf das Sofa sitzen lassen und ihm ein wenig in sein Bubenherz hineinblicken wollen. Allein nichts dergleichen erfolgte. Der Pfarrerssohn wurde von dem Pfarrer genau so behandelt wie die anderen Schüler. Hatte er seine Aufgabe hergesagt, nicht selten hergestammelt, so wurde er entlassen. Kam es aber doch zu seelsorgerlichem Zuspruch, so war er für den Knaben nicht eben ermunternd. »Reinhart, ich halte dich nicht für aufrichtig,« »Reinhart, dein Gesicht gefällt mir manchmal nicht,« – und doch war der Knabe nur bei Ungezogenheiten im Haufen der andern betroffen worden. Da wurde er dem in der Stille verehrten Manne gram und suchte sein Herz nicht mehr. Der Ehrerbietung tat es keinen Abbruch, die hatte ihm Tante Konstanze fest und bleibend anerzogen.

Mancherlei Menschen und Dinge halfen zusammen, Reinhart religiös zu beeinflussen: des Vormunds schlichte, bekennende Frömmigkeit; die kurzen treffenden Ermahnungen alter zugezogener Lehrersleute draußen am Bahnhof, die aber auch Marken für ihn sammelten; die Beobachtung, daß unter den Abendmahlsgästen, die er vor Beginn der Kommunion schnell mit geheimer Scheu überblickte, sich regelmäßig der Goldarbeiter Gottschalk befand.

Unvergeßlich blieb ihm ein Erlebnis in der Dorfkirche zu Berg. Der Pfarrer forderte die Gemeinde auf: »Wer heute nicht zum Tisch des Herrn geht, ist eingeladen, andächtig der heiligen Handlung als Gast beizuwohnen.« Und siehe, die Kirche blieb gefüllt von einer feiernden und einer mitfeiernden Gemeinde. Unvergeßlich blieb ihm, wie für das Missionsfest derselben Gemeinde eine Tochter des Pfarrers mit viel Kunst und Mühe Bilder indischer Götter malte und für einige Pfennige an die Festgenossen verkaufte; wie der Pfarrer selbst bei der Fahrt über Land den auf dem Felde Arbeitenden zurief: »Nehmt und lest!« und ihnen Traktate und Blätter zuwarf. Unvergeßlich blieb ihm, wie der mit Kindern gesegnete Mann nach Worningen kam, Reinhart und seine Geschwister an das Gedächtnis ihres Vaters erinnerte und als Liebesopfer für die Familie des Freundes beim Weggehen verstohlen fünfzig Mark, für ihn eine große Summe, auf die Kommode neben das weiße Marmorkreuz legte. Wie kann man das tun? grübelte Reinhart. – Bleibenden Eindruck machte auf ihn auch folgendes kleine Erlebnis. Er stand im gepflasterten Saal des Worninger protestantischen Waisenhauses und feierte das Jahresfest der Anstalt mit. Beim Schlußgebet ließ er, eingekeilt in die stehende Menge, die Hände ungefaltet auf dem Rücken liegen. Da stellte ihn ein neben ihm stehender Bauersmann zur Rede: »Legt man bei euch zum Beten die Händ' auf'm Hintern z'samm?!«

Auch fremde Religionsform lernte er kennen. Als er in einer Christnacht zur Mette mit in die katholische Kirche genommen wurde, rührte ihn der Eindruck des Liebesopfers der Menschen, die den besten Teil der Nachtruhe zu Ehren des Kindes von Bethlehem drangegeben hatten, wenn ihn auch die Unruhe der teilnahmslosen, ungebildeten Halbwüchsigen ärgerte. Am großen Versöhnungstage der Juden, dem »langen Tag«, ging er regelmäßig in die Synagoge und sah, den Hut auf dem Kopfe, dem fremdartigen Gottesdienst zu und gedachte seines Vaters, der Judenfreund und Judenmissionar war. Von Scherzers Schulzimmer sah man in den Hof eines kleinen jüdischen Bankiers. Da flatterten an gewissen Tagen mit blutenden Hälsen die geschächteten Enten und Gänse mit schwerfälligem Flügelschlag umher, bis sie endlich verendet liegen blieben – ein Blick in eine fremdartige Welt der Gesetzesverehrung.

Einen der stärksten religiösen Eindrücke gewährte dem Knaben das erste Kirchenkonzert, das Kantor Georgi nach vielen Proben wagte. Es fand nachmittags statt, also zu einer Zeit, da sonst die Kirche nur mäßig besucht war. Trotzdem aber war das ganze Gotteshaus bis auf den letzten Platz gefüllt. Und mitten in dem schwarzen Gewimmel, auf einem Teppich hinter dem vordern Altar, unter dem Worninger Wappen, saß das fürstliche Paar mit seinem Gefolge. Ein Gast aus der benachbarten, größeren Stadt führte die frischgestimmte Orgel vor. Dann trat Georgi mit leuchtenden, gotterfüllten, musikgesättigten Augen an das Dirigentenpult und gab mit seinem Chor sicher und schwungvoll das Beste, was sie zu bieten hatten. Der Turnlehrer Hurtig ließ seine brave Tenorstimme in den weiten, stillen Raum hinausströmen, ruhig und sicher, nur der Oberkörper bebte unter dem tiefen Atemholen ein wenig. Und dann kam das Herrlichste von allem. Georgis einzige und Scherzers älteste Tochter ließen ihre Soprane zusammenklingen im Vortrag des Mendelssohn'schen Lobgesangs »Ich harrete des Herrn«. Das war nach der Karlsruher Parkmusik der zweite starke musikalische Eindruck in Reinharts Leben. Er wagte nicht nach den Sängerinnen zu sehen, obschon sie ihm den Rücken zuwandten, denn er fürchtete, er könne etwas verderben, wenn er sich im geringsten rühre. Um so gieriger sog er die süße Flut der Töne ein, um so stärker erschütterte ihn das schlichte, durchaus verständliche Erklingen der gottinnigen Seele: »Ich harrete des Herrn und er neigte sich zu mir und hörte mein Flehn.« Er hat den Zwiegesang später noch oft gehört, oft vollendeter, aber nie mit so grundlegendem inneren Erleben.

Und etwas hat er auch nimmer vergessen: die Feier des Reformationsfestes auf dem Worninger Kirchturm. Mehrere Wochen vor dem Feste begann Georgi mit seinen Schülern das Lied »Ein feste Burg« zu üben, zweistimmig, bis es vollkommen saß. Am Nachmittag des Festtages, um vier Uhr, gegen Schluß des Gottesdienstes, stiegen die Sänger mit dem Lehrer sowie der Stadtkapelle die vielen, vielen Treppen des Kirchturms hinauf. Vier Strophen hat die »feste Burg«. Nach jeder Seite des viereckigen Turmkranzes wurde eine über die Stadt ins Land hinausgesungen. Reinhart gingen die Augen über, als die Musikanten neben ihm dröhnend mit der gewaltigen Weise einsetzten. Erst bei Beginn der Wiederholung, bei der zweiten Wiederholung des dreimaligen C, hatte er sich gefaßt, um mit aller Kraft seinen Alt in das Tonmeer zu werfen. Ob nicht die Instrumente der Zinkenisten den ganzen Knabenchor verschlingen würden? Den Sängern schien es so, den Zuhörern aber tönten Bläser und Sänger gar lieblich ineinander. Die Kirchgänger, die tief unten aus dem Gotteshause traten, blieben stehen, die Männer entblößten das Haupt, die Fürstin drüben öffnete das Fenster, da und dort traten sie aus den Häusern auf die Straße oder in den Garten hinaus und lauschten dem weihevollen Klingen. Sie verstanden die Worte aus solcher Entfernung nicht, aber die Protestanten kennen sie ja und in Worningen lernte man Sprüche und Lieder nicht nur reichlich, sondern auch genau. Dann stieg man scherzend die vielen Treppen hinab, ermaß an dem von der Brüstung des Kranzes zum Pflaster herabhängenden Seile, an dem der Brotkorb des Türmers befestigt war, die stattliche Höhe, die man erklommen hatte und fragte jeden Bekannten: »Habt ihr uns deutlich hören können? Wie hat es geklungen?« Seitdem steht Reinhart still, wenn man vom Kirchturm singt oder bläst, ob es nun Nördlingen oder Cannstatt oder Emskirchen oder ein anderer Ort ist und lauscht der lieblichen Predigt und vernimmt ein Rauschen aus dem Quell der Kinderzeit.


Auch an sein Kinderherz klopfte immer wieder, über die Gegenwart hinausweisend, der Unermüdliche, dem sie alle gleich sind, der Tod. Daß auch Herr Reiter sterben mußte! Wenn Reinhart an dem langen gut gehaltenen Gitter vorbeiging, das den stattlichen rotbraunen Wohnsitz Reiters, das einzige villenartige Gebäude Worningens, von der Straße trennte, unterließ er es, den Stock durch die Eisenstäbe klappern zu lassen. Wenn er die Vogelhäuser und Glaskugeln betrachtete, die den ausgedehnten Garten zierten, hatte er die Vorstellung des Wohlstandes. Wenn Reiters einzige Tochter, ein bildhübsches Mädchen, selbst kutschierend, mit den Eltern aufs Land fuhr, tat es ihm fast leid um den Fürsten, der mit solchem Aufwand immerhin verglichen werden konnte. Und nun starb eines Tages auch Herr Reiter, ganz wie andere Menschen. Eines war ja anders bei diesem Todesfall. Wer wollte, durfte den stillen kleinen Mann, der im Leben selten zu sehen war, auf seinem letzten Lager »anschauen«, aufgebahrt unter vielen Kerzen, und sich seine Gedanken über die Rücksichtslosigkeit des Todes machen. –

Etwas später begannen alle Glocken des Städtchens, die katholischen und die protestantischen, zu einem halbstündigen abendlichen Sterbegeläute zusammenzuklingen, das mehrere Wochen hindurch verkürzt fortgesetzt wurde: der greise Fürst von Worningen war gestorben. Reinhart verfehlte nicht, den hohen Toten auf dem Paradebett mehrmals genau zu betrachten und die ganze Aufbahrung, das Benehmen der fürstlichen Familie und der Gäste, der Beamten und Diener und der Ortsbevölkerung, alle Einzelheiten der großartigen Beisetzung zu studieren. Er wich aus dem Aufbahrungszimmer erst, als man ihn vertrieb. Mit hohem Ernst trug er inmitten der Lateinschülerschar seine flackernde Kerze im Leichenzuge. Als der letzte verließ er die Grabkammer der Beisetzungskapelle in der unteren Stadt. Er hegte im stillen die Meinung, die Menschen würden durch solche Ereignisse stark beeinflußt, in ihrem Wesen wenigstens auf eine Weile umgestaltet. Diese Erwartung erfüllte sich nicht. Nicht nur die anderen Leute, auch er selbst konnten sehr bald wieder ganz leichtherzig und fröhlich sein. An die Stelle des verstorbenen alten »Herrn Fürsten« war eben der neue getreten.

Nur am fürstlichen Paar gewahrte er eine lange nachhaltende Trauer. Die tiefe Verschleierung der Fürstin, den allabendlichen Gang des Paares zur Gruftkapelle beobachtete Reinhart mit ehrerbietiger Zustimmung. Er spielte gerade mit den Kameraden Freischlagen, als sie wieder zur Gruft gingen. Da wußte er es einzurichten, daß er an der schmalen Stelle zwischen dem roten und dem gelben Hause neben der Kirche ihnen ganz nahe kam. Er grüßte mit einem von Konstanze für den Empfang von Besuchen einstudierten »Diener«, der offenbar gut ausfiel. Sie sprachen ihn an, gaben ihm die Hand und fragten nach seinem Namen. Ohne Stottern, als befände er sich in seinem Element, gab er Bescheid. Was der Fürst meinte, als er zu seiner Gemahlin sagte: »Der Bursche hat fast etwas wie Rasse,« verstand er erst später. –

Eines Tages kam die telegraphische Nachricht, der älteste Bruder, der seit Jahren lungenkrank in der Schweiz lebte, sei gestorben. Reinhart und besonders die kleineren Geschwister kannten ihn kaum, so viel auch von ihm, dem »fernen kranken Bruder«, gesprochen worden war. Man hatte ihm ab und zu einen Brief schreiben müssen, um ihn zu »erfreuen«. Einmal war er auch zu Besuch dagewesen. Er war still im Garten in der Sonne gesessen, lesend oder übersetzend, ohne die Kraft, auf die lebhaften, jüngeren Brüder näher einzugehen. Und er hatte Marken mitgebracht, besonders Schweizer und Japaner und Chinesen. Nach einigen Wochen reiste er still und mühsam ab. Als nun die Nachricht vom Tode des Sechsundzwanzigjährigen eintraf, stand vor Reinharts Augen der Stuhl mit dem blassen Kranken, der so sehnsüchtig ihrem wilden Spiele zugesehen hatte. Da erfaßte ihn das Erbeben vor der vernichtenden Gewalt des Todes. Mehr dieser Gedanke als der Schmerz um den Bruder trieb ihn in die Einsamkeit. Lange lag er im Grase unter der Kastanienburg, wunderte sich, daß keine Träne kommen wollte, sah nur immer die müden, fragenden, um Leben bittenden Augen des blonden Jünglings, die feinen Adern der weißen, auf der Lehne des Fahrstuhls ruhenden Hand, die so wundervoll zu schreiben verstand, und empfand die Unnatur des Vergehens.

Die Einrichtung des Leichensingens sorgte dafür, daß der Knabe mit dem Gedanken an den Tod immer vertrauter wurde. Wie viele Särge sind auf dem Worninger Friedhof vor seinen Augen versenkt worden! Er gewöhnte sich daran. Er war bald ganz Angestellter, der der Sitte wegen und um Lohn arbeitete. Nur wenn eines aus dem Bekanntenkreise in die Erde gelegt wurde, drängte er sich möglichst weit vor, um den Lebenslauf zu verstehen und die Leidtragenden genauer zu sehen. Auf dem Heimweg trat meist sofort das Leben in sein Recht. Georgi sogar unterhielt sich mit dem Geistlichen und ließ die Buben plaudern. Man eilte in den Unterricht, der um zwei Uhr begann und nur bei besonders feierlichen Beerdigungen in Mitleidenschaft gezogen werden durfte.

So wirkte das Göttliche und der Ernst des Lebens und Sterbens auf mancherlei Weise und auf mancherlei Wegen auf ihn ein. Es war kein schlechter Boden, aus dem er seine geistliche Nahrung sog.


Was gab ihm die Konfirmation? Da sie Reinhart noch so gar deutlich vor Augen steht, muß sie bedeutsamer für ihn gewesen sein, als es ihm und andern damals vorkommen wollte.

Zwei Winter hindurch war zweimal in der Woche Konfirmandenunterricht. Vorn saßen die Lateiner, hinter ihnen die »deutschen« Schüler; links die Mädchen, rechts die Knaben. Pünktlich ¼12 Uhr trat die hohe Gestalt des dem Greisenalter nahestehenden Geistlichen über die Schwelle. Der Lärm verstummte. Am Katheder, das er nicht verließ, gab Dekan Weißhaar stehend, in würdigster Haltung, mit leiser Stimme, in der Schulstube gerade noch vernehmlich, den Unterricht.

Als Reinhart einmal wegen seines Stotterns vor Beginn des Unterrichts von den Volksschülern verhöhnt worden war und wohlmeinende Mädchen das angezeigt hatten, sagte Weißhaar, unbewegt am Pulte stehen bleibend: »Es ist nicht ausgeschlossen, daß Reinhart Pfarrer wird. Da braucht er seine Zunge. Wie könnt ihr ihm den Mut dazu nehmen?!« Das schlug in des Knaben Seele. Weniger die Mahnung an seine Feinde als das Aussprechen der Möglichkeit, er könnte Pfarrer werden. Das hatte ihm noch niemand gesagt. Von da ab gewöhnte er sich daran, diese Möglichkeit in Rechnung zu ziehen, wenn von der Wahl seines künftigen Berufes die Rede war, und sah in dem Studenten der Theologie Wölflein, einem Schneiderssohn, der die langen Ferien in Worningen verbrachte, ja auch im dritten und zweiten Pfarrer und sogar in dem ehrwürdigen Konfirmator selbst etwas wie zukünftige Kollegen.

Als die Konfirmation nahte, begann Tante Konstanze mit umfassenden Vorbereitungen. Sie hatte den Grundsatz, die wichtigsten Tage im Leben ihrer Kinder so zu feiern, daß sie ihnen im Gedächtnis blieben. Dabei vergaß sie auch die äußere Zurüstung nicht. In einem leeren Zimmer des ersten Stockes reihte sich Kuchen an Kuchen, auch eine Sandtorte war darunter, wie sie Konstanze Freunden zum Geburtstag zu spenden pflegte, und eine von Blätterteig mit Himbeereinlagen, wie sie der Vormund vorgesetzt erhielt, wenn er zu längeren Besprechungen mit ihr im Gaststübchen saß. Ein Festbraten war bestellt. Festgäste waren eingeladen worden. Zu Konstanzes großem Leidwesen erschien jedoch nur eine der geladenen Personen, die älteste Schwester, diese allerdings von weit her, aus dem nördlichsten Deutschland, wo sie in einem adeligen Hause die Hausfrau stützte.

Die Konfirmanden hielten eine lange Beratung, ob sie sich an ihrem Ehrentage mit Rosmarinstengeln schmücken sollten oder mit kleinen weißen Sträußchen. Schließlich lehnte die Mehrzahl den Rosmarin ab, der als bäuerlich befunden wurde. Man zog gemeinsam in den fürstlichen Hofgarten und bestellte die Sträußchen.

Viel schwieriger war die Erledigung der » Abbitte« bei den einzelnen Lehrern. Warum ging man gemeinschaftlich, alle Lateinerkonfirmanden, von Haus zu Haus, warum nicht einzeln? Nun, die Sitte verlangte es so, und die Sitte wurde Reinharts Verderben. Er sah voraus, daß er im entscheidenden Augenblick die rechte Haltung nicht bewahren werde, daß sein Lachen kommen und alles zerstören werde. Sollte er es den Kameraden vorher offen sagen, damit nicht Schimpf auf die ganze Abbitterschar und deren Zorn auf sein Haupt käme? Reinhart wußte, daß das die Gefahr nur vergrößern würde. Wenn alle zusammen in Ängsten sein müßten: wird er nun herausplatzen?, wird es gut ablaufen?, – so wäre die Spannung zu stark und dadurch auch die Wahrscheinlichkeit des Umwerfens nur um so größer. So beschloß er seine Sorge für sich zu behalten, sich hinter die andern zu stellen und Gott walten zu lassen. Roth, das Muster der Klasse, hielt die Ansprache, die bei allen Lehrern ganz gleich lautete: »Da wir demnächst konfirmiert werden und zu Gottes Tisch gehen, möchten wir vorher Sie um Verzeihung bitten, wenn wir Sie beleidigt haben sollten.«

Der erste Gang galt dem Religionslehrer. Als die kleine Schar glücklich in der warmen Studierstube Aufstellung genommen, Reinhart als letzter umständlich die Tür geschlossen hatte und vollkommene Stille eingetreten war, hub Roth seinen Spruch an. Während die andern den Blick halb reumütig, halb verlegen, zu Boden richteten, suchte der Sprecher das Gesicht des Angeredeten. Er vermochte es aber nur von der Seite zu sehen. Rother hatte das Zartgefühl, den Knaben nicht ins Gesicht zu sehen, sondern freundlich und auf jedes Wort achtend über sein Pult, an dem er stehen blieb, hinweg ins Freie zu blicken. Das rettete Reinhart. Er blieb Herr seiner Mienen, ja es war ihm unbegreiflich, daß jemand bei solch ernsten Dingen lachen könnte. Als Rother auch bei seiner Erwiderung die gleiche Stellung und Richtung des Blickes beibehielt, war vollends alle Gefahr vorüber. Mit ehrlicher Reue trat der Knabe vor den zarten Mann und gab ihm die Hand. Der blickte ihn ernst und freundlich an, als wollte er sagen: wir fangen also eine neue Zeit miteinander an.

Von da ging es zu Kantor Georgi. Der sah die Abbitter kommen, putzte die Brillengläser und rüstete sich innerlich, sie gebührend zu empfangen. Wieder schloß Reinhart als letzter umständlich die Tür. Aber Georgi konnte warten. Er stellte sich gerade vor die Buben hin, faßte sie fest ins Auge, so daß sie gezwungen waren, in sein leuchtendes Asketengesicht zu schauen, und hielt, als Roth fertig war, eine regelrechte Erwiderungsrede. Er begann sehr freundlich, mit stillem sanften Sausen, von der Freude zu sprechen, die ihm der Besuch mache, und von der Bedeutung der Konfirmation. Daran aber schloß sich ein kleiner Rückblick auf die Erfahrungen, die er mit den einzelnen gemacht hatte, und bevor er die Absolution erteilte, entlud sich sein Eifer um die jungen Seelen in Feuer und Erdbeben. »Ich weiß, es ist mancher unter euch, der manchmal ein roher … ordinärer Kerl gewesen ist …, ich kann sagen, vor Gott kann ich sagen, … ein rechter Saubengel gewesen ist, und der Sauherdenton, der leider an unserer Anstalt eingerissen ist, hat auch manchen von euch mitgerissen, verführt … verwirrt … Aber der Herr hat gesagt, man soll vergeben, nicht nur siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal. Ihr habt zum Sarge von mir altem Manne manchen Nagel herbeigetragen mit eurem rohen, gemeinen Benehmen, so daß ich oft Gott angefleht habe: laß ein Donnerwetter dreinschlagen und das rohe, gemeine Herz weich werden. Heute aber soll alles …« Da war's um Reinhart geschehen. Das war ja der Georgi, den er immer nachahmte, der nun, vom Heiligsten durchglüht und doch ein schwacher Mensch, vor ihnen stand. Er riß sein Taschentuch heraus und schneuzte rücksichtslos in die Stille der Stube hinein und dann lachte er halt- und hilflos und aus seinem Lachen klang: ich kann das nicht aushalten, bring's zu Ende! Bei anderen Gelegenheiten hätte Georgi den Missetäter gepackt und hinausgeworfen oder mit ihm seelisch gerungen. Heute aber rührte er kein Glied. Er ließ den Schwachen gewähren, als bemerkte er ihn nicht, reichte allen und zuletzt auch ihm, der über der Großmut wieder ganz ruhig geworden war, die Hand, sah ihn nur verwundert und fragend an, als wollte er sagen: ich begreife dich nicht recht.

Rötlich war nicht zu Hause. Von ihm gingen sie zum Subrektor Scherzer. Trällernd kam eine der Töchter, aufzuschließen und führte sie in den Salon. Bis auf einen. Das war Reinhart. Als sie bei den Schulaborten vorbei kamen, kam ihm der Gedanke, darin zu verschwinden und sich erst nach Vollendung des Abbitteaktes der Gesellschaft wieder anzuschließen. Die List gelang vollkommen. Weder die Kameraden noch der Rektor merkten etwas davon.

Schließlich mußten sie noch die Marktstraße hinauf in die Wohnung des Studienlehrers Hofer. Auch der sah sie kommen. Er bat Gott nicht um das rechte Wort, statt dessen reckte und streckte er sich und prüfte, ob alle Blechknöpfe seiner Drillichjacke in Ordnung waren. Dann empfing er sie in seiner Wohnstube. Das Unglück wollte es, daß die Frau »Professor« selbst die Türe öffnete und schloß, Reinhart also hier nicht im Hintertreffen bleiben konnte, sondern ganz vorn zu stehen kam. Hofer stand kerzengerade, während er der wohlgesetzten Rede des Sprechers wie einem Rapport aufmerksam lauschte. Er nahm die Sache blutig ernst. Da versagte Reinhart die Widerstandskraft, – schon ehe Roth mit seinem Spruche zu Ende war. Während er das Taschentuch an den Mund preßte und ihm Tränen der Verzweiflung aus den Augen schossen, lachte er sein schreckliches törichtes Lachen. Hofer blieb in seiner Haltung, unterbrach den Redner nicht und antwortete dann kurz und kernig: »Ich wünsche euch allen, liebe Schüler, daß ihr einmal recht tüchtige deutsche Männer und Christen werdet und vergebe euch von Herzen.« Als er Reinhart, der bei der nüchternen Antwort sich wieder gefaßt hatte, die Hand reichte, sagte er ohne Zeichen der Erregung: »Du aber werde ernster!« – –

Zu Beginn der letzten Konfirmandenstunde stand die Tochter des Bürgermeisters mit leuchtenden Augen auf und sagte: »Wir können die Bergpredigt!« In der Tat hatten die Mädchen die berühmten drei Kapitel des Matthäusevangeliums auswendig gelernt und trugen sie nun fließend und mit guter Betonung vor, – ein Dankopfer für den Lehrer, ein kostbarer Besitz für ihr eigenes späteres Leben.

Am Samstag vor Palmsonntag war Beichte. Am Nachmittag des gleichen Tages wurde die Schwester am Bahnhof abgeholt. Gegen Abend ging Reinhart allein ein wenig im Schloßgarten spazieren. Er gedachte dabei besonders gute Gedanken zu spinnen und besondere Offenbarungen und Antriebe zu empfangen, ein wenig einzutauchen in Licht und Liebe. Er wußte noch nicht, daß Hochgefühle sich nicht erwarten lassen. Aber er spürte deutlich, daß ihm ein besonderer Tag bevorstand. Er war kein vorzeitig geförderter Christ, aber seine junge, unverdorbene Seele öffnete sich willig dem Großen, Guten, das sich jetzt über ihn ergießen wollte. Er hatte nicht alles von Grund aus erfaßt, was Weißhaar in den zwei Wintern mit ihnen gelernt und besprochen hatte. Aber er war von Herzen willens, sich von seiner Kirche dienen zu lassen. Was Konstanze und der Vormund und Weißhaar und Georgi – ja vor allem Georgi – priesen, konnte nicht wertlos sein. So wagte er es fröhlich, sich zu seiner Konfirmation zu bekennen. Und als er von seinem Spaziergang durch den vom Frühling noch kaum berührten Garten zurückkam, sah Konstanze an seinen hellen Augen mit heimlicher Freude, daß etwas Gutes in ihm am Werke war.

Unter Glockengeläute zogen sie tags darauf hinter den drei Geistlichen, vorbei an der alten Volksschule und dem roten Hause, zwei wichtigen Stationen im Leben der Worninger Kinder, in das geschmückte Gotteshaus. Die Orgel brauste, die Gemeinde erhob sich ihnen zu Ehren, die Erwachsenen vor den Kindern, hochgestimmt nahmen sie vor dem festlich geschmückten Altar auf dem kostbaren großen, selten benützten Teppich ihre Plätze ein. Der Kirchenchor sang, ehe die zweiundvierzig jungen Menschen zum erstenmal im Leben knieend das Gedächtnismahl empfingen und sich damit ihrem Meister und seiner Gemeinde verlobten. Was ist aus den einzelnen geworden, die damals unter dem Worninger Wappen, unter den quellenden Fruchtguirlanden der schönen weißen Kirchendecke, unter dem Bilde des Gekreuzigten eine einheitliche Schar bildeten?

Nach dem Nachmittagsgottesdienst wurden sie im Studierzimmer Weißhaars verabschiedet. Er gab jedem die Hand und sagte dann: »Und nun geht hin in Frieden und stiftet Gutes!« Es war anfangs April. Am Vormittag war die Frühlingssonne über der Stadt gestanden; nun wirbelte Schnee auf die Straßen und knospenden Bäume, als Reinhart, der Neukonfirmierte, in seinem Schmuck nach Hause kam.

Da war der Kaffeetisch gedeckt, reichlich und sinnig wie zu einer Hochzeitsfeier. Reinhart wurde die erste Tasse Kaffee gereicht, Reinhart mußte das erste Stück Kuchen nehmen. Konstanzes Augen wurden immer von neuem feucht. Es war ein Ehrentag auch für sie. Als sie die Blätterteigtorte anschnitt, brach ein Strom von Tränen aus ihren Augen und sie stieß hervor: »Kinder, Gott der Herr hat uns nun soweit gebracht. Übers Jahr kommt dann schon Eduard an die Reihe.« Als man so saß, weinend und sich freuend und essend, trat Reinharts Religionslehrer ein. Er war müde vom Vormittag, aber er zwang seinen schwachen Körper, bei allen Konfirmanden, die ihm als Schüler oder aus anderen Gründen näher standen, Besuch zu machen. Er brachte ein Buch mit als Geschenk, Spittas Psalter und Harfe, sagte nicht viel, denn er hatte schon viel geredet den Tag über, aß trotz Konstanzes Bitten und gewaltsamen Drängens keinen Bissen, wohl weil er schon in anderen Häusern gewesen war und auf seinen Magen Rücksicht nehmen mußte.

Als am Abend die Bibeln und Gesangbücher aufgeschlagen wurden, kam kein Lachreiz über Reinhart. Die Erlebnisse des Tages füllten beglückend und läuternd seine Seele. Ehe er einschlief – Franz Hart, der Schlafkamerad, war in Ferien abwesend – kam Tante Konstanze, setzte sich, was sie sonst nie tat, auf den Rand seines Bettes und erzählte ihm von seinen Eltern, von der Konfirmation der größeren Geschwister in Freudenau und im Heimatdorf, von ihrer eigenen schweren und lichtarmen Jugend, und bat ihn, den Tag dankbar zu beschließen, der ihn so deutlich erkennen ließ, daß der Segen der Eltern auf dem Häuflein der Waisen ruhte. –


Eine aus dem Norden im Palais eingetroffene Spielsachensendung enthielt neben einer Trommel ein halbes Dutzend Rohrsäbel, mit denen vortrefflich Säbelmensuren ausgefochten werden konnten. Man trat sich gegenüber, kreuzte die biegsamen Klingen und hieb und parierte, und parierte und hieb, bis der eine oder auch beide Kämpfer winselnd vor Schmerz und Kopf und Hände reibend auf einem Bein um die eigene Achse tanzten und vorläufig genug hatten. Das Verbeißen des Schmerzes wurde bis zum äußersten geübt.

Während einer solchen Schlägerei kam Wolfgang Kern in den Garten, ein Klaßkamerad, und sah mit Vergnügen zu. Er stellte sich sofort zum Kampfe und obwohl er viel größer und breiter und stärker war als Reinhart, nahm dieser die Herausforderung an. Kern kam wieder und wieder und aus der Hitze des Kampfes und dem Heldentum der Schmerzüberwindung erblühte eine herzliche Freundschaft.

 

Am Samstag nachmittag nach der Singstunde gingen sie regelmäßig noch ein Weilchen zusammen. Ohne es zu wollen, gelangten sie meist zum Flusse, zur Stadtmühle oder zur Brücke. Da schwammen an mehreren Stellen die Rindshäute, die die Gerber des Städtchens in dem weichen Flußwasser mürbe werden ließen, und neben ihnen an Ketten die Flöße. »Wir fahren Floß!« Nicht umsonst hatte man von den Irrfahrten des Odysseus gehört. Wolfgang, ein Goliath gegenüber dem kleinen, zierlichen Mitreisenden, ergriff die Stange und brachte das Fahrzeug in Bewegung. Reinhart hatte durch beständigen Wechsel seines Standortes für das Gleichgewicht zu sorgen. Was waren das für herrliche Fahrten! Wenn sie weit vom Ufer entfernt im Fluß trieben, bis endlich Wolfgang meinte: »Wir müssen ja auch wieder zurück!« Wenn man fern vom Hafen irgendwo landete, das Floß aufs Schilf zog, sich in die Sonne legte und sich unter den Palmen eines Tropenlandes wähnte oder im Zaubergarten der Circe! Und wenn es dann wieder stromaufwärts ging und man inne wurde, daß auch die sanftfließende Worn sich gegen den Schiffer stemmt. Wenn die Wasser über das zitternde Bretterwerk gingen und die Beine bis zum Knie in der Flut standen, man sich in sicherer Erwartung des Kenterns zum Sprung in die Tiefe bereit machte und doch immer wieder hochkam. Wolfgang, der Kraftmensch, liebte kraftvolle, wilde Vergnügungen, darum gab er sich dem Floßfahren mit solcher Inbrunst hin. Und Reinhart überließ sich gern der kühnen Führung des Freundes. Ja, der war ein Führer! Wenn er ihm in die blitzenden Augen sah und die tadellosen Wolfszähne des lachenden Mundes leuchten sah, wenn seine gespreizten Beine so fest und sicher auf dem schwankenden Floß standen, als wären sie aus ihm herausgewachsen, dann ward er froh und stolz auf ihn: dem kannst du vertrauen, dem bist du gern Freund.

Wie konnte Wolfgang Kern lachen! In der Tat ein kerniges Lachen. Wenn Reinhart seine Witze machte, wenn er Georgi nachahmte und in wilden Übertreibungen allerlei Eigenes hinzutat, wenn er Scherzer auf die Bühne brachte, – dann war keiner so hingerissen, aber auch keiner so sachverständig wie Wolfgang. Er feilte an Reinharts mimischer Arbeit und lehrte ihn das Komische deutlicher sehen und erfassen. Nicht aus Freude am Lachen auf Kosten anderer, auch nicht aus Grausamkeit, sondern aus Freude am Witz. Man wollte seinen Drachen steigen lassen. Man wollte in lösenden, befreienden Gefühlen schwelgen. Daß es auf Kosten eines Lehrers ging, war Zufall, Nebensache, und nun eben einmal unvermeidlich. Bei Wolfgang aber hatte das Bedürfnis, sich in starken Gefühlen und Worten auszutoben, noch zwei besondere Gründe.

Der erste war die Zurückhaltung, die er sich im Elternhaus auferlegen mußte. Sein Vater war ein kleiner Beamter, ein Ehrenmann, untadelig in seinem Beruf, angesehen bei seinen Mitbürgern, mit Ernst darauf bedacht, seine Kinder zu tüchtigen Menschen zu erziehen. Die ganze Häuslichkeit atmete Ordnung und Pünktlichkeit, Anpassung an die verfügbaren kleinen Mittel, Ausnützung aller Möglichkeiten, mit dem Erreichbaren dem Leben die Gaben abzuringen, die ein bescheidenes Dasein lebenswert machen. Wolfgang war gewöhnt, sofort nach der Rückkehr aus der Schule geringere Kleider anzuziehen, die Stiefel mit Hausschuhen zu vertauschen, zur Erhaltung der Hausjacke Ärmelschoner vorzubinden. Reinlichkeit und Genügsamkeit schwebte über der Dürftigkeit. Kam aber ein Gast, so bot man ihm alle Rücksicht und Bequemlichkeit und Wohltat, die man nur irgend aufbringen konnte. So sehr sich Reinhart in Wolfgangs Elternhaus wohl fühlte, wenn er dann und wann dort vorsprach, so sehr er den schlichten, aufrechten Vater und die noch schlichtere, grundgütige Mutter ehrte und liebte, so war Wolfgang glücklich, der Stille und Enge zeitweilig entrinnen und in das heitere Reich entfliehen zu können, das sich ihm im Schwärmen mit dem Freunde auftat.

Und der andere Grund: Wolfgang war im Gegensatze zu Reinhart ein eifriger Leser. Er hatte es durchgesetzt, sein »Leichengeld« in der Hauptsache in Klassikern anlegen zu dürfen. Über Körner und Uhland war er bei Schiller angelangt. Die Aufstapelung so vieler Geistesnahrung aber mußte zur Explosion führen. War es auch nur Geschwätz, was Reinhart in seinen Karikaturen und in seinen Schulvorträgen über Stahlfedern und Papierschnitzel und Schneeflocken und ähnliches hervorbrachte, es war doch ein Strömen der Einbildungskraft, ein geistiges Schaffen, das Wolfgang mit sich riß.

Freund Kern ruhte nicht, bis Reinhart die Klassiker nicht nur von ihm entlehnte, sondern auch las. Er zwang ihn förmlich dazu. In der Steinburg, besonders aber draußen im Hundswinkler Hölzchen, sobald die Leberblumen und Märzenbecherle am Aufbrechen waren, lagen die Freunde und lasen den Teil, den Wallenstein, Maria Stuart, Wolfgang natürlich für sich auch alles andere von Schiller, Turandot nicht ausgeschlossen. –

Da geschah etwas, das beinahe beide um ihren unverdorbenen Geschmack und um ihre reine Vorstellungswelt und kindliche Ruhe gebracht hätte. Kern, der allem Lesbaren nachspürte, entdeckte daheim im Wohnzimmer auf dem Bord über der Tür einen verschnürten Pack unaufgeschnittener vergilbter Hefte eines Lieferungswertes, die dort seit Jahr und Tag schlummerten. Als er merkte, daß es ein Roman war, versteckte er den Fund in seinem Schrank und verschlang ihn in zunehmender Eile. Es war ein richtiger Schundroman gefährlichster Sorte. »Die Knechte des Henkers« lautete der Titel. Ludwig XV., sein Hof, seine Sitten und Sünden, die Ausschweifungen seiner Lüsternheit waren mit wilder Phantasie dargestellt, dabei die Lüsternheit eines ungebildeten, auf derbes Auftragen eingestellten Lesers vorausgesetzt. Als Wolfgang das Buch in sich aufgenommen hatte, trug er es zum Buchbinder und ließ es schön in marmoriertes Papier binden, seine Bibliothek um einen wertvollen neuen Band zu bereichern. Der Buchbinder, im Städtchen als pietistisch-fromm bekannt, hatte offenbar keine Zeit es nebenher zu lesen; er hätte Einspruch erhoben.

Gelegentlich einer herrlichen Wanderung über den Buschel mit Einkehr und Klassikervorlesung im Wirtschaftsgarten von Wornhügel vertraute Wolfgang dem Freunde sein Geheimnis und versprach, ihm das Buch zu leihen, natürlich nur gegen das Gelöbnis strengster Verschwiegenheit und Verwahrung des Schatzes in einem guten Versteck.

Dem Knaben öffnete sich eine neue Welt. Wolfgang hatte nicht zuviel gesagt: so etwas hatte er noch nicht gelesen, noch nichts dermaßen Fesselndes, noch nichts dermaßen Spannendes. Wie die Bremse am Pferd blieb er dran haften und ließ sich durch nichts, auch nicht durch die Peitsche der Schularbeiten stören, wenn er heimlich mit dem dicken Bande ganz hinten im Gebüsch des Gartens oder oben auf dem Speicher lag. Er ward rot und heiß und schämte sich seiner Gier, als er von dem Franzosenkönig und seinen Mätressen und ihren Künsten, den König zu unterhalten, las, von seinem Hirschpark, in dem er als Einsiedler lebte, freilich – wie ein Kapitel bedeutsam begann und schloß – »wie der Hirsch in der Brunst«. Reinhart verlor dadurch keine Stunde seines gesunden Schlafes, – den konnten nur die schrecklichen, nerventötenden Mäuse stören –, aber am Tage erfüllte sich seine Vorstellungswelt immer von neuem mit unzüchtigen Bildern.

Und doch blieb er heil, das Gift drang ihm nur in die Poren, nicht in die Seele. Beim wiederholten Lesen machte er die Beobachtung, daß an den »feinsten« Stellen durch Gedankenstriche, Zeilenkürzungen und ähnliche Raumverschwendung der Leser um sein gutes Geld betrogen wurde. Auch merkte er bald, daß die Dinge übertrieben sein mußten, um stark zu wirken; er ahnte die Mache, den Kitsch. Der Reiz ließ nach. Darum verbarg er den Band auch nicht mehr so sorgsam und, wie so oft in seinem Leben: sein Geheimnis wurde entdeckt, durch seine eigene Sorglosigkeit. Tante Konstanze fand das Buch, las auch darin, doch gottlob an ungefährlichen Stellen. Sie wunderte sich, daß Reinhart, der Langsame, es mit einem so dickleibigen historischen Roman aufnahm, der ihn von der Schularbeit abziehen mußte, und befahl ihm, das Buch sofort Wolfgang zurückzugeben. Er tat es auch, ohne zu wissen, vor welcher Gefahr ihn der gute Geist des Hauses bewahrt hatte. –

Der Geschmack an den Klassikern, der Wolfgang, dem Vielleser und Abgebrühten, nicht gestört worden war, war auf eine Weile verdorben, aber er stellte sich wieder ein. Die Brücke dazu bildeten Bücher, die Reinhart in dem auf dem Speicher aufbewahrten Nachlaß des Bruders fand. Der Verstorbene war ein Freund des Humors gewesen, der ihm wohl über schwere Stunden hinweggeholfen hatte und nun Reinhart aus der Berührung mit dem Schwächlichen, Sinnlichen ins Gesunde zurückführte. Er fand Wilhelm Buschs Büchlein von den Abenteuern des Junggesellen Tobias Knopp, das sich ihm schnell und leicht wörtlich einprägte. Die derbe Art der Karikatur war ihm fremd und nicht ganz nach Wunsch, er fühlte das Gewaltsame der Komik und das Gemachte der Situationen. Aber er hatte doch auch sofort einen starken Eindruck von der sicheren Hand des Zeichners und dem zielsicheren Witz des Dichters. Hingerissen war er vom Trompeter von Säckingen, den er auch unter dem Erbe fand. So wollte er auch einmal dichten, in diesem Versmaß, aus dieser Gedankenwelt heraus. Und dann geriet er über den Ekkehart. Scheffels liebenswürdige, deutsche Art führte ihn vollends aus dem Banne der »Knechte des Henkers« in die Freude am Echten zurück.

Ja er war bald wieder so weit, daß er mit Hochgenuß ein Buch lesen konnte, das ihm, neben Psalter und Harfe und andern religiösen Büchern, von einem verständigen Onkel zur Konfirmation geschenkt worden war: Tapeinon, – die anspruchslose, aber frische Darstellung der Erlebnisse eines frischen Buben in einer Herrnhuter Erziehungsanstalt. Reinhart fand darin mit Freuden die Luft, in der auch er gedeihen konnte, und in den Erlebnissen des Helden Stücke seines eigenen Lebens.

So haben auch allerlei Bücher, gute und andere, Reinharts Seele gestaltet. –


Immer weiter hatte Reinhart mit Constanzes verständnisvoller Erlaubnis seine Wanderungen ausgedehnt.

Die beiden Studenten Feßler, Feriengäste der Frau Seibott, prächtige Menschen mit männlichen, klaren Gesichtern, bestiegen mit ihm den hohen Kirchturm der Nachbarstadt, zeigten ihm die Sammlungen der Fürsten von Worningen in Wolfstein und öffneten ihm auf herrlichen, kameradschaftlichen Gängen die Augen für die schlichte Schönheit der Heimat. Auch tief hinein in den fürstlich worningischen Forst, der hinter Weheberg dunkel aufsteigt, bis Fernbach drang er vor.

Auf dem einsamen, hastigen Rückmarsch von Fernbach, als die gelben Flanken des Hesselberges im grellen Glanze der Abendsonne aufleuchteten, beim Sprung über einen Bach, kam ihm jäh ein Gedanke, dessen überwältigende Herrlichkeit sein ganzes Wesen in Wallung brachte: Wie, wenn du eine größere, mehrere Tage dauernde Wanderung unternähmest? Noch viel weiter als nach Fernbach, weiter als zum Hesselberg, in eine ganz fremde Gegend? Etwa mit Franz Hart? Etwa zu dessen Pflegeeltern nach Oberbach? – Der Gedanke beglückte Reinhart so, daß er mit gesenktem Kopf, mit dem Stock die Beine peitschend, wie ein Träumender durchs Land lief.

Daheim angekommen setzte er sofort den Schlafkameraden von seiner Inspiration in Kenntnis. Der war sogleich Feuer und Flamme. Das süße Geheimnis des stolzen Planes kettete die Herzen der Knaben, die sich sonst mehr vertragen als geliebt hatten, – des Deutsch-Amerikaners und des Deutschen –, in inniger Freundschaft zusammen.

Was war das für eine selige Vorfreude, das Studieren der Wandermöglichkeiten, das Ausmessen des Weges, der Vorschmack der Sehenswürdigkeiten, das Berechnen der Kosten. Es war eigentlich schon alles bis ins kleinste erwogen, als die Tante von dem Plane erfuhr. Sie traf die Knaben über dem Studium der Wanderkarte und frug scherzend: »Wohin gedenkt ihr denn zu reisen?« Da war die Anknüpfung leicht. »Nach Oberbach … ganz zu Fuß … von unserm Leichengeld … mit der gelben Umhängtasche vom seligen Bruder … wir sind zu zweit und fürchten uns nicht.« Seitdem Tante Konstanze auf eigene Faust beschlossen hatte, Reinhart von Steingarten wegzunehmen, nahm sie auch solche Dinge nicht mehr so schwer. Sie sagte: »Ich weist noch nicht, was ich dazu sage. Reinhart, du bist Repetent und kannst leicht ganz Gutes leisten; zeige, was du kannst, dann mögt ihr in den Pfingstferien ziehen.«

Es war also nicht ausgeschlossen, nicht ganz undenkbar. Reinhart legte sich ins Zeug, hielt in aller Herrgottsfrühe den Bäumen und Vögeln Vorträge aus allen Schulfächern und brachte gute Noten. Sein ganzes Wesen verklärte sich im Gefühl der kommenden Wanderherrlichkeit.

Und endlich war er da, der große Tag des Abmarsches. So glücklich ist Reinhart nie über die Wornbrücke gegangen, so neu kam ihm das Längstbekannte nie vor: das Leprosenhaus mit seinem zerfallenen Friedhof, die Lindenallee, der glitzernde Fluß. Schon lagen einige im Wehr neben der Badehütte, – dort das Insele –, nun die Talmühle mit ihren Pfauen und Pfauenfedern. Die Straße lief über eine Erdwelle und nahm eine andere Richtung, – ade mein Worningen! Tu dich auf, liebe Fremde, zeig mir deine Wunder! … Soldaten ritten vorbei im Schritt, der Trompeter auf einem Schimmel, Worningen zu, zur Einquartierung. So haben doch die Brüder daheim auch etwas … Wir aber sehen die Welt!

Es war ein herrlicher Junimorgen, einige Tage vor Pfingsten, die Welt so voll Licht und Wärme und Freude und sprossendem Leben. Das Herz öffnete seine Pforten … Als sie so zogen, griff Reinhart, der Spröde, nach des Kameraden Arm, riß den Überraschten an sich und gab ihm einen Kuß auf sein dichtes, steiles, borstiges Haar.

Sie sahen die Welt.

Sollten sie in Wilfingen bei Bekannten vorsprechen, wie ihnen die Tante aufgetragen hatte? Sie beschlossen, vorüberzugehen, sie waren ja noch in der ersten Wanderlust und bedurften der Menschen nicht. Erst gegen Mittag, als die Gespanne von den Feldern heimkamen und die Mittagsglocken von den Türmen läuteten, hielten sie in einem katholischen Dorfe Einkehr. Sie saßen still an ihrem Tisch, streckten behaglich die staubigen Beine, tranken ein Glas Bier, strichen sich Wurstbröter und klopften Eier auf und dachten, ach so weit, so weit … an die Worninger. Am nächsten Tisch aßen die Wirtsleute mit ihrem Gesinde, nachdem sie lange gebetet hatten; über ihnen hingen Joseph und Maria, der Jesusknabe mit der Erdkugel und Johannes mit dem Lamm. Am dritten Tisch ein paar Bauern, am vierten und letzten ein Jude. Mit seinem Kälberwagen fahren? Ach nein! Alles, alles zu Fuß.

Gegen 2 Uhr wieder ein protestantisches Dorf und dicht dahinter Günzlingen, eine Stadt, doppelt so groß wie die eigene. Die Eisenbahn kam ihnen nach von Worningen her, auf hoher Flutbrücke die Flußniederung überschreitend. Wir brauchen dich nicht! Wir laufen! Alles zu Fuß. Bei Verwandten, sehr entfernten Verwandten Franzens, wurde Besuch gemacht und ein verspätetes Mittagessen erpreßt. Die gütigen Frauen, eine alte Mutter mit Tochter, mahnten, bei ihnen über Nacht zu bleiben. Allein die Knaben wollten weiter. »Morgen ist in Steingarten das fünfzigjährige Jubiläum der Anstalt. Da wollen wir hin. Und es sind noch 5 Stunden.« »Wenn ihr unbedingt wollt …«

Als sie am Bahnhof vorbeikamen, trat der Pikkolo der Bahnhofswirtschaft auf die Straße, eine Badehose schwingend, im Begriff ins Freibad zu gehen. Die Badehose wirkte unwiderstehlich auf die Worninger. »Du, ist hier ein Schwimmbad?« »Allerdings, geht nur mit!« Und so gingen sie miteinander. Am Flusse angekommen, von der Bretterbude des Schwimmbades noch weit entfernt, sagte der kleine Schwarze: »Ich bade immer gleich hier, weil ich nicht so viel Zeit habe.« Also ein neuer Fluß, dachte Reinhart, indem er sich ins Wasser fallen ließ. Er hat immer gern zusammengerechnet, in wieviel Flüssen und Seen er geschwommen. Während des gemeinsamen Badevergnügens, bei dem sich der des Frackes entledigte neue Freund ganz als Mensch und Kind gab, erzählten sie ihm von ihrer romantischen Reise und erregten damit seine höchste Bewunderung. Als sie miteinander der Stadt zugingen, griff er in seine etwas fettige Hosentasche und zog ein Häuflein Kleingeld heraus, das er ihnen schenkte, als Reiseunterstützung. Sie sahen keinen Grund, nicht anzunehmen, was reine Menschlichkeit und unverdientes Glück ihnen in den Schoß warf.

Als sie gegen 7 Uhr abends einen Marktflecken vor sich hatten, der aber noch lange nicht Steingarten war, überkam sie die Müdigkeit und mit ihr etwas wie Furcht und Sorge, sie möchten heute doch nimmer bis Steingarten kommen. Wo werden wir bleiben? Ein kühler Wind setzte ein, sie fühlten sich heimatfern und einsam. Die Herzen zu ermannen, setzten sie sich auf einen Balken, strichen sich Wurstbröter, opferten das letzte Ei und beschlossen, auf keinen Fall feige zu sein. Da trabten zwei wohlgenährte Gäule heran mit einem funkelnagelneuen offenen Wagerl, wie es Juden und Metzger haben. Darauf saßen ein starker schwarzbärtiger Mann und eine dicke Frau. Als der Mann die Kinder erblickte, hielt er. »Wohin?« »Soweit es halt noch geht.« »Wo habt ihr denn eigentlich hin wollen?« »Nach Steingarten.« »Aufs fünfzigste?« »Ja.« »Ich bin auch von Steingarten, steigt auf, ich nehme euch mit!« »Wir wollen aber alles zu Fuß machen.« »Buben, seid gescheit, steigt auf, ihr könnt dann gleich bei mir übernachten und spart euer Geld!« Da stiegen sie halb dankbar, halb mißmutig aus. Sie hätten es gern ganz, jeden Meter, zu Fuß gemacht, und nun war es vorbei damit. Fahren konnte jeder.

Bald aber ergaben sie sich willig in die gütige Hand, die sie von der fremden Straße auflas und zu guten Leuten führte. Da die beiden Sitzplätze besetzt waren, streckten sie sich in dem viereckigen Raum hinter dem Bock, der sonst Tiere oder Waren barg, behaglich aus. In dem vor ihnen liegenden Marktflecken wurde ausgespannt und gefüttert. Als die beiden Knaben sich still in ein Winkelchen gesetzt hatten, trat der Schwarzbärtige auf sie zu und stellte ihnen, ohne etwas zu sagen, Bier und Brot und Pressack hin. Nachts 10 Uhr erreichten sie Steingarten. »Bäckerei von Friedrich Dauscher« stand an dem stattlichen Hause am Markt, vor dem sie hielten. »Ihr müßt erst noch einen Bettbrocken haben.« Er bestand in Kaffee und Semmeln nach Belieben. Dann wies die Frau den Knaben ihre Betten an. Ermattet von ihrer Leistung und erfüllt von den Wundern des ersten Wandertages schliefen sie unter dem fremden Dache so sorglos wie zu Hause.

Am andern Morgen wurden sie wieder reichlich mit zuckersüßem Kaffee und warmen Semmeln bewirtet. Dann sagte die Frau: »Und nun schaut das Juweläum an. Es soll großartig fein werden. Es ist auch der Herr Präsendent aus München da, der ist auch Zögling droben gewesen. Wenn ihr wollt, könnt ihr heut nacht wieder bei uns schlafen.« Mit warmen Semmeln wohlausgerüstet stiegen sie den Anstaltsberg empor. Da kam ihnen Bruder Eduard entgegen, der noch immer und noch immer gern Zögling in der Anstalt war. Er hatte sie erwartet und reichte ihnen freudig die Hand. Da die Wogen des Festes die Brüder immer wieder trennten, wurde aus der erhofften und besonders von Tante Konstanze gewünschten brüderlichen Aussprache nicht viel.

Wäre Reinhart allein gewesen, er hätte sich gefühlvoll an die Leiden der Steingartener Zeit erinnert. Gut, daß er einen dabei hatte, dem er zu zeigen und zu erklären hatte. Man kann nicht sagen, daß er dabei stolz und froh wurde, aber es war ihm doch eine Genugtuung, einen Fremdling einzuführen.

Steingarten war voll von Festgästen, früheren Schülern, jetzt Männer von Amt und Würden, darunter viele Geistliche, viele mit ihren Frauen und erwachsenen Töchtern, einige wenige Schüler aus den höheren Klassen der benachbarten Gymnasien.

In der Kirche beim Festgottesdienst predigte der »Präsendent« der bayerischen protestantischen Landeskirche rechts des Rheins. Reinhart sah mit höchster Ehrfurcht in das Gesicht des kleinen, sprühenden, mit Mund und Händen überaus lebhaft sprechenden Mannes empor, dessen Augen in weite Ferne gerichtet zu sein schienen. Da er aber wider Erwarten nichts aus seiner Steingartener Zeit erzählte, wendete sich Reinharts Aufmerksamkeit von ihm ab auf die gläserne Sanduhr, die noch immer auf der Kanzelbrüstung stand, und auf die Festgäste, die gedrängt und in ehrerbietigster Hingabe dem hohen Redner lauschten.

Beim Festzug, der sich dann durch das geschmückte Städtchen den Anstaltsberg hinauf bewegte, ging er neben Franz Hart mitten unter den zu Amt und Ehren gekommenen früheren Steingartenern und wunderte sich, wie fröhlich sie von den hier verlebten Jahren erzählten. Vor dem Anstaltsgebäude fand ein Festakt statt, die Enthüllung einer schlichten Büste des tapferen Gründers des Hauses. Da Reinhart halb aus Bescheidenheit, halb in Gedankenlosigkeit an den Rand des Menschenhaufens geraten war, verzichtete er auf die Beteiligung und schlenderte mit dem Wandergenossen über die Stickelplätze, die »Grenze« entlang, und zeigte ihm schließlich das Haus. Er erzählte ihm von dem Guten, das er hier genossen: vom Gesang, von der Wichspartei, vom Schussern, von den Gärtchen und den Kolonieen, vom Kofferpacken. Das Herbe verschwieg er. Als er vom oberen Stockwerk aus das Bergschloß Frauenfels herüberfunkeln sah, sagte er nichts von dem denkwürdigen Eingewöhnungsspaziergang. Freundlich und lieblich stand seine kleine Führerin vor ihm unter den Geweihen und Panzern des Rittersaals.

Als er beim Festmahl im Speisesaal die schönen Reden von »seligen Kinderjahren, Stätten des Frohsinns, ausgetretenen Kinderschuhen, Brunnenstube des späteren Wissens, Garten unverwelklicher Jugendfreundschaft …« hörte, wurde er still und verstockt und sprach nicht mehr mit den früheren Schulkameraden, in deren Mitte er saß, auch nicht mehr mit Eduard. Und als sein Blick auf das Klavier fiel, an dem heute keine fastenden Büßer standen, beschloß er, sich den ganzen Tag nicht zu freuen, um deutlich zu zeigen, daß es auch Leute mit anderen Erinnerungen gebe. So saß er grollend auch draußen bei der Nachfeier auf dem Bierkeller am Waldrand in der feiernden Gemeinde. War es nicht eigentlich furchtbar christlich und ein Beweis der Selbstverleugnung von ihm, wenn er hier überhaupt mittat? Nun, Franz Hart sollte doch sehen, wo er 1½ Jahre auf der Schule war. Die Missionsschüler von Freudenau sangen »Harre, meine Seele« und später »Jetzt gang i ans Brünnele«. Fremdtuend und unfreundlich sah und hörte er dem Treiben zu. Ohne Dankbarkeit aß er die Knackwürste mit Weißbrot und Senf, die die Anstalt ihren Gästen spendete.

Da trat Hausvater Kratt auf ihn zu und faßte ihn am Ohr: »Reinhart, warum so fremd? Und wir kennen uns doch so gut. Du und dein Gefährte könnt im großen Schlafsaal übernachten.« Fragend und mit einem Schatten von Trauer in dem bärtigen Gesicht sah er den Knaben an und verschwand wieder im Gewühl. Reinhart wurde rot. Er fühlte sich schuldig, und zwischen der Pflicht der Dankbarkeit und der bitteren Erinnerung an manche in Steingarten erlittene Unbill hin- und hergeworfen verbrachte er den Rest des Tages. Schweigend zog er am Abend inmitten der Lampions schwingenden früheren Kameraden nach der Anstalt zurück. Sie schienen ihn nicht zu vermissen. Nach einigen Fragen über sein Ergehen, über das Gedeihen der Markensammlung, ließen sie ab von ihm. Als er stotterte, ahmten sie ihn nicht einmal nach. Und Firmus Stang, Firmus Stang? Er sagte nichts anderes als die andern auch … Das tat Reinhart wehe … Schnell trieb er seine Gedanken heimwärts, über den Buschel in den Hochwald hinein, nach den Rabennestern zu sehen. Er wollte nicht weich werden. Von Firmus Stang hätte er das nicht gedacht.

Als er, der Aufforderung Kratts gehorchend, neben Franz Hart im großen Schlafsaal lag, nicht weit von Eduards Bett, gedachte er der ersten hier verbrachten Nacht, in der ihm Tante Konstanze erschien und die Heimat mit ihren Freuden am Horizont versank. Wie anders war das heute! Er war frei. Und vor ihm lag ein Tag freien Wanderns hinaus in die unbekannte Welt. Kummerlos schlief er ein.

Am andern Morgen waren sie nicht die einzigen Ausmarschierenden. Ein Teil der in der Nähe beheimateten Schüler zog in die noch einige Tage dauernden Pfingstferien. Als Reinhart unter ihnen am Frühstückstisch saß, trat die Frau des Hausvaters an ihn heran und sagte in ihrer gütigen Weise: »Wir haben dich noch nicht vergessen. Eduard ist gerne bei uns. Grüße deine Tante! So oft du kommen willst, steht dir unser Haus offen.« Wieder machten Scham und Verlegenheit die Wangen des Knaben erglühen. Er dankte unbeholfen für die Gastfreundschaft, verabschiedete sich von dem Bruder und machte sich mit dem Kameraden auf den Weg.

Sie ließen die Gruppen der Anstaltler, die dieselbe Straße einschlugen, vorausstürmen. Reinhart wollte mit dem Wandergefährten allein sein. Ehe Anstalt und »Grenze« und »Städtle« vor ihnen verschwand, wendete er sich und sah zurück. Er wußte nicht, was ihn mehr erfüllte: die Freude, auf diesem Boden nicht mehr Bürger, sondern nur noch Wandersmann zu sein, oder das peinliche Gefühl, sich der Anstalt, deren Jubelfeier so viel Frohsinn und Dankbarkeit in den Festgästen wachgerufen hatte, nicht eingefügt zu haben. »Wir haben dich nicht vergessen. Eduard ist gerne bei uns.« So hatte die Hausmutter gesagt, und er sah deutlich die Mischung von Güte und Vorwurf in ihren hellen Augen. Dann wendete er sich und begann zu singen und befahl auch Franz, mitzusingen. Der gehorchte, obwohl er vollkommen unmusikalisch war. Reinhart schalt sein Gebrumm, und da er dabei in Georgis Sprechweise geriet, kam bald wieder Lustigkeit und Wanderstimmung über ihn.

Sie gingen den Weg nach Freudenau. Durch Hopfgarten, an den Weihern vorbei, auf denen die Tauchentchen dahinschossen, den Wald hinauf. Auf dem Freudenauer Friedhof standen sie an den Gräbern still. Aber über dem Zeigen und Erklären kam Reinhart nicht zur Sammlung. Es war nicht die Stimmung, die ihn hier sonst, früher und später, überkam. Er führte seinen Begleiter am Hause des Herrn Antistes vorbei, zeigte ihm Schwestern und Blöde und Gehilfinnen und die neue Schwesternkirche mit dem heiligen Laurentius und den Anstaltsfriedhof am Waldrand. Als sie hinter den Häusern im Kornfeld gingen, öffnete er seine Seele vollends für neue Eindrücke.

Jedes Dorf und jeden Wald und jeden Menschen als ein Erlebnis begrüßend wanderten sie im Hochgefühl ihrer Jugend und Freiheit der Stadt, der Beamten- und Schulstadt Rosenbach, zu. Das Ulanenregiment rückte eben von seinem hochgelegenen Übungsplatz ein. An der Spitze, auf dicht zusammengedrängten, leichtfüßigen, den Hals hochtragenden Braunen zog die Regimentsmusik, hinter dem gleichmütig dreinschauenden, dem nebenherlaufenden Kinderschwarm kaum einen Blick gönnenden Stabstrompeter. Dann der Kommandeur mit einigen Offizieren, dann das Regiment. Die Knaben staunten über die Pracht der Pferde und überschlugen den Wert der edlen Tiere. Am Schlosse kauften sie sich Obst und sahen essend lange zu den stattlichen Reihen der hohen, statuengeschmückten Fenster empor, – das Worninger Schloß war doch bedeutend kleiner. Essend wanderten sie ohne Aufenthalt durch die Stadt zur Kaserne, wo die freie Landstraße sie wieder aufnahm. Sie wußten es nicht anders, als daß sie beide in diese Stadt zurückkehren würden, um hier ihre Schulzeit zu vollenden. Bei Reinhart traf es ein. Der andere ist vorher in Amerika aus dem Schnellzug gefallen und mit zerschmetterten Gliedern am Fuße des hohen Bahndammes gefunden worden.

In einem Straßenwirtshaus, im Bereiche der ihnen noch unbekannten Gerüche einer Leimfabrik, kauften sie sich eine Flasche Limonade. Dann kam das letzte Stück. Nachmittags 4 Uhr tauchte aus einem im üppigsten Junigrün prangenden Tälchen der Turm von Oberbach auf. Eine halbe Stunde später standen sie vor der Türe des Pfarrhauses.

Es war fast wie in Grüntal. Ein herzensguter älterer Pfarrherr empfing sie mit dem trauten Gruße: »Da seid ihr ja. Trinkt nur gleich Kaffee!« Die Pfarrfrau, eine trotz vorgerückten Alters schöne Frau, deren madonnenhaftes, sanftes, von gewelltem Braunhaar umrahmtes Gesicht Reinhart immer von neuem betrachten mußte, nahm ihnen die Wandertasche ab und konnte sich nicht genug tun in Bewunderung ihrer Wanderleistung. Mit Hochgefühl setzten sie sich an den einladenden Tisch: sie hatten ihr Ziel erreicht, ihren Plan ausgeführt, eine richtige Fußreise gemacht, – die erste ihres Lebens. Ein Gugelhopf prangte auf dem Tisch und der Kaffee war so süß wie in Grüntal. Dann zeigte Franz dem Freunde den Garten, wo die Bienen über den wohlgepflegten Rabatten in Primeln und Goldlack und Lilien hingen, die verschiedenen Lauben, die »Paint«, einen kleinen Park, in dem eine Menge in der Gegend unbekannter seltener Bäume und Büsche gepflegt wurde, den Obstgarten, die Bienenstände, des Pfarrers besondere Freude. Es war eitel Genießen, was Reinhart nun acht Tage lang zuteil wurde und den Stammler zum lustigen Feriengenießer machte.

In den Gottesdiensten der beiden Pfingstfeiertage sah er den Pfarrer, dem das Stehen sauer wurde, sitzend von der Kanzel aus die Predigt halten, er wohnte der bäuerlichen Abendmahlsfeier bei, er sang so laut mit, als er nur konnte, sollten doch die Leute merken, daß auch er ein richtiges, konfirmiertes Gemeindeglied war. In den zahlreichen Weihern der Umgebung fing er mit dem Freunde Molche, im Dorfe machte er die Bekanntschaft des bäuerlichen Jagdpächters und pirschte mit ihm auf Rehe und Habichte, und als dies ergebnislos war, auf Eichkätzchen. In der kleinen rebenumrankten Studierstube gab es Merkwürdigkeiten aller Art, Reliquien aus der Studentenzeit, verblaßte schwarz-rote Bänder, Silhouetten und Photographieen, Steine und Schnitzereien und Schriften und Siegel, Käfer und Schmetterlinge. Mit dünner Stimme, hinter der die freudige Bewegung des Besitzers zitterte, zeigte er die Überbleibsel verblaßter, oder auch noch hell funkelnder Jahre. Die geistesschwache Schwester der schönen Pfarrerin verliebte sich in den »schöi Bau«, was diesen stolz machte. In den Bienenständen durfte man rauchen und Waben herausnehmen und sie dann in der Küche auslassen und Honig essen, soviel man wollte, – Honig, soviel man wollte!

Und dann wanderten sie doch nicht wieder »ganz zu Fuß« nach Worningen zurück, wie sie stolz geplant, sondern genossen das herrliche Haus, bis am letzten Ferientag die Eisenbahn sie wieder heimbrachte. Da lag die Zeitung auf dem Tisch mit der großgedruckten Nachricht, der König habe sich im Starnberger See ertränkt. Ein König sich ertränkt! – bis man das begreifen konnte. –

»Herr Reinhart« hatte die Frau Pfarrer meist zu ihm gesagt. Ja, er war nun in der Fünften und rüstete zum Übergang aufs Gymnasium. –


Die Wanderung hatte seine Seele geweitet. Er hatte sich etwas Ungewöhnliches zugetraut und es durchgeführt. Man hatte ihn in Steingarten als Gast behandelt und in Oberbach als angehenden jungen Mann. Da überkam ihn ein guter Geist. Eine Verinnerlichung ging mit ihm vor und machte ihn reifer und stetiger. Tante Constanze gewahrte es und konnte nicht umhin, ihm ihre Zufriedenheit auszusprechen. Er aber wunderte sich, da er doch gar keinen besonderen Anlauf genommen hatte.

Aus eigenem Antrieb las er allerlei Förderliches: Lenau und Uhland, vor allem Lenau. Die beredte Schwermut des einen berauschte ihn, die männlich-deutsche Art des andern erhob seine gesunde Seele. Einen frommen Roman, »Die Lilie im Tal«, der jahrelang ungelesen in der Gaststube gestanden hatte, las er durch, ohne durch seine Breite und Süße ermüdet zu werden.

Immer mächtiger ergriff ihn die Natur. Er erkor sich ein Lieblingsplätzchen, das er trotz der weiten Entfernung vom Palais so oft als möglich aufsuchte.

Es war der Ort, auf den er sich schon bisher in Gedanken zurückgezogen hatte, wenn ihn die Umgebung bedrückte: über Randendorf auf der Buschelhöhe, rechts vom Wege nach Grüntal, eine mit Blutnelken und Wolfsmilch bestandene Heide oberhalb der Steinbrüche, mit dem Blick über Worningen und den Fluß und die Ebene bis zur Schwabenalb hinüber. Da gaukelten Bläulinge durch die stille, lichtdurchflutete Luft, Zitronenfalter und Tagpfauenaugen setzten sich auf den Fuß und auf die ruhende Hand, die Vögel lockten und schwätzten und lärmten vom Walde herüber, Schafe weideten die Hänge des Hügels entlang. Wenn er da saß, die Beine hinaufgezogen, überkam ihn die Ruhe, die vollkommene Ruhe. Und wenn er zu den blauen Rändern der Ebene hinübersah, auch die Sehnsucht. Wandern? Noch viel, viel weiter als zu Pfingsten mit Franz Hart? »Da wo du nicht bist, da ist das Glück«, sangen die Schwestern. Er hörte sonst nicht, was sie sangen, denn er achtete mehr auf die Klänge. Das aber hatte er aufgefangen. Eine tiefe, drängende Sehnsucht füllte seine Seele so übermächtig, daß sie nach Formen rang, sich auszusprechen. Er dichtete.

Wer tat das sonst noch? Er wußte keinen. Drechsler stenographierte, Wolfgang Kern las, Martin Hesselberger widmete sich dem Gemeinwohl. Er aber dichtete. Er mußte ja. Hatte er nicht Uhland und Lenau und Scheffel und Matthias Claudius und Paul Gerhardt, die einen frühmorgens im Garten, die andern beim Abendschein im Hundswinkler Hölzchen, laut gelesen und sich von ihnen im Innersten ergreifen lassen? Wenn nun auch seine Seele ins Schwingen kam und ausbrechen wollte, sollte er es hindern? Die Sehnsucht war das erste, dann kam irgend ein Rhythmus, zuletzt erst das Wort. Und dann feilte er. Stammelnd und mühsam unter vielem Verbessern vertraute er dem Papier an, was Gott und Natur, Heimat und Fremde, Tagesplage und Abendfriede in ihm lebendig werden ließ. Wenn er so lag und schrieb, ward seine Seele ganz wach und warm; er spürte neues, ungekanntes Leben, die Süßigkeit, alles zu geben, was er hatte und darin zu sich selbst zu kommen. Selig stieg er vom Berge der Verklärung, wenn die Sonne gesunken war. Er empfand das Unvermögen seiner Verse und ihren trägen Fluß, – er kannte ja wirkliche Dichter. Aber auch er liebte die Kinder seiner Feierstunden. Er sammelte sie und trug sie auf seinem Herzen. Tante Konstanze fand das Buch, ein ganz gewöhnliches Präparationsbüchlein; schrieb es heimlich ab, beredete es mit niemandem als mit dem Vormund und freute sich, stolz auf das Kind, das sie so oft schalt.

Reinhart war kein glänzender Schüler. Auch nach dem Repetitionsjahr waren seine Leistungen mäßig. So fingen die Lehrer an, ihn gering zu achten. Seine ungestüme, jäh einsetzende und verschwindende Lustigkeit, die Vorstellungen, die er auf dem Trapez seiner Phantasie den Mitschülern gab, seine lüsterne Kunst und Gier, Personen, auch Respektspersonen, nachzuahmen, … das alles wurde bekannt. Man war geneigt, ihn für nicht ganz normal zu halten. Seine Beliebtheit ließ nach. Man war sich nicht mehr klar, ob man ihm trauen könne. So urteilte der Religionslehrer, so Scherzer, so alle bis auf Georgi, dessen starker Glaube an das, »was man hoffet«, auch seine Buben umschloß.

 

Die Frage, wo Reinhart nach dem Verlassen der Lateinschule das Gymnasium besuchen solle, war leicht zu beantworten. Natürlich in Rosenbach. Das dortige Gymnasial-Internat gewährte bei tadellosem Fleiß und Verhalten eine Freistelle, ihm und wohl auch seinerzeit den kleineren Brüdern. Ebenso selbstverständlich war es, daß Tante Konstanze mit nach Rosenbach zog: So stand also die Auslösung des Haushalts und ein Umzug bevor.

Oder hätte sie ihn in Rosenbach vielleicht doch bei sich behalten können? Wieder in eine Anstalt? War das wirklich nicht zu umgehen? War ihm die Freiheit nicht förderlicher als der Freiplatz? Reinhart wagte nicht zu fragen: was ist mir lieber? Aber er wagte immerhin zu erwägen: was ist mir besser? Der ehemalige Steingartener wußte die Antwort. Lieber die Freiheit, und wenn sie teuer erkauft wäre.

Er bat die Tante um eine regelrechte Besprechung, die sie ihm gerne gewährte. Sie war erstaunt zu sehen, wie richtig und sachverständig er sich über sich selbst aussprach: über seine schwerfällige Natur, seinen Hang zur Einsamkeit, sein Stottern und mühsames Lernen. Dann fügte er errötend hinzu: »Bei dir ist es mir lieber. Du läßt mich fort, wenn ich gern möchte. Bei dir darf ich in den Wald und zum Baden und Angeln und zum Wolfgang und habe Freiheit. Darum war ich auch die letzten Jahre so gern in Worningen und bei dir.« Das gefiel Konstanze. Sie erntete Dank, sie schuf Glück. Das Geständnis des Knaben machte auch sie erröten. Mit kühnem Entschluß, aber scheuen, tastenden Worten, sagte sie, an dem mit dem Vormunde in verschiedenen Aussprachen gefaßten Entschlusse irre werdend: »Mein Reinhart, … das ist recht, daß du das sagst …, meinetwegen brauchst du ja nicht ins Internat. Rede halt mit dem Herrn Vormund, so wie du jetzt mit mir geredet hast! Recht offen. Sag ihm alles! Vielleicht läßt er uns beisammen.« –

Als Reinhart die Mühlstraße hinauf zu Kommerzienrat Bergfried ging, war er gewiß, daß er als Sieger zurückkehren werde. Er paßte in keine Anstalt. Die Freiheit allein hatte etwas aus ihm zu machen vermocht. Alles wollte er dem Vormunde sagen; wenn es sein müßte, auch vom Dichten; schöntun wollte er ihm, wenn es sein müßte, Worningen preisen, an dem der Mann mit Liebe und Stolz hing.

Als er in den Fabrikhof trat und das Sausen der Räder und das Kreischen der Sägen und vom Orgelsaal her das scharfe, unerbittlich genaue Stimmen vernahm, als ihn Ordnung und Regel und Gesetz umfing, entfiel ihm ein Teil seiner besten freiheitlichen Gedanken. Als er dann in der guten Stube auf dem Sofa dem Vormund gegenübersaß, der schlechte Diplomat dem guten, das grübelnde Kind dem Manne der Ordnung und klugen Kalkulation und raschen Entscheidung, nahm die Unterredung einen merkwürdigen, beiden unerwarteten Verlauf.

Bergfried, der Vielbeschäftigte, hatte bei aller Anteilnahme an Konstanzes Pflegekindern Reinharts Steingartener Zeit so gut wie vergessen. Er hatte sich in den letzten Jahren daran gewöhnt, daß die Tante in allerlei Angelegenheiten der Kinder fast selbständig entschied. So wäre es ihm das liebste gewesen, wenn Reinhart ihm den bestimmten Wunsch der Erzieherin überbracht hätte: er komm: nicht aus dem Hause. Da das aber nicht erfolgte, mußte er seine Meinung sagen, und die war in diesem Falle die Vertretung des praktischen Standpunktes. Reinhart stammelte von der verlorenen Zeit in Steingarten, von nötiger Aufsicht auf sein Stottern, von Sparen und Stundengeben, – der Preis der freien Bewegung in Feld und Wald, vollends das Dichten, wie auch das Lob der Stadt Worningen blieben ihm im Halse stecken. Er verschmähte es schließlich doch, den Mann zu rühren oder ihm gar zu schmeicheln.

Bergfried aber konnte nur antworten auf das, was er hörte. »Glaube mir, du bist nun, nachdem du älter und widerstandsfähiger geworden bist, sicher ganz gern im Rosenbacher Internat. Man muß froh sein um solche Anstalten. Wenn einer meiner Söhne dort Aufnahme finden könnte, ich würde ihn ohne Bedenken hintun. Und denke an die Ersparnis! Wir können es uns halt nicht leisten. Du bist gern dort, denk an mich!« Dabei dachte er: Mag sich Konstanze so oder so entscheiden, mir soll es recht sein. Ich als Vormund muß die praktische Seite der Sache betonen, um mein Gewissen zu befriedigen.

Und Reinhart, der Unbeholfene, der seines Vorteils nie recht inne zu werden gewagt hat, weil ihm der zähe Glaube an das gute Recht eigenen Glückes noch nicht aufgegangen war, ihm auch ganz und gar alle Verschlagenheit fehlte, wagte nur Stellung zu nehmen zu dem, was ihm vorgehalten wurde. Still saß er da. Kampfunfähig. Auch war er zur Ehrerbietung erzogen. – »Wir können es uns halt nicht leisten.« – Er rieb den Plüsch des vornehmen Sofas – es war sicher das teuerste aus dem Lager des Sattlermeisters Kirsch am unteren Markt – und hörte kaum, wie der Vormund, durch die Entwaffnung des Knaben sicherer gemacht, noch einmal unterstrich, was er bereits gesagt hatte. Dann stellte er sich aus seine Füße und sagte: »Ich wollte nicht eigentlich bitten, ich wollte Ihnen eigentlich nur meine Gründe sagen, nur nahelegen wollte ich es Ihnen … Dann bleibe ich also nicht bei Tante Konstanze …«

Bergfried ließ sich nicht merken, daß der so leidenschaftslos klingende Nachsatz »dann bleibe ich also nicht bei Tante Konstanze« ihm fast das Konzept verdarb. »Gib acht, es wird recht!« wiederholte er so fest und verbindlich zugleich als möglich. – –

Als Reinhart über den Hof ging, merkte er nicht, wie Leo, der gefürchtete große, braune Bernhardiner, ihn streifte, wie der vor seiner Hütte rastlos hin und her wandernde Fuchs inne hielt und ihn groß ansah, wie die Maschinen arbeiteten und die Orgeln tönten. Und als er die Mühlstraße hinabschritt, sah er nicht, daß die Pensionäter mit nassen Badhosen einrückten. Er wußte nur, daß ein Unglück geschehen war, und daß er das Rad laufen lassen müsse, wie es lief. Oder sich ihm entgegenwerfen? – Nein! – Warum nicht? – Das wußte er selbst nicht recht.

Tante Konstanze wußte Bescheid, ehe sie ihn sah. Er trommelte nicht an die Glastüre, er sang nicht die Tonleiter hinauf und hinab, er schnalzte nicht mit den Fingern, – er kam hinten herein und schloß die Türe langsam und leise. »Es ist also sein Wunsch, daß du ins Internat kommst?« »Ja.« – Sie sprachen mit keinem Wort mehr davon. Wäsche und Betten wurden hervorgeholt und instandgesetzt und die sonstige Aussteuer zusammengebracht, – fürs Internat. –

Konstanze wollte dem Knaben die Schmerzen der Loslösung vom geliebten Jugendland möglichst erleichtern. Darum ließ sie ihn vor dem Eintritt in die Enge und Gebundenheit noch einen Zug aus dem Vollen tun.

Sie schickte ihn mit der jüngsten Schwester Charlotte auf einige Wochen in das Schulhaus zu Schmelzbach, wo ein Verwandter Lehrer war. Sie bat und fragte nicht eigentlich, ob es den Leuten angenehm wäre, zwei große Kinder in ihr kleines Schulhäuschen aufzunehmen; sie hielt ihnen kurz und bündig vor, daß Verwandte sich gegenseitige Hilfe schuldig seien, daß insbesondere kurz gehaltene Waisenkinder gern einmal die Freuden eines reichen Bauerndorfes genießen möchten.

Der Onkel empfing die Reisenden an dem fast zwei Stunden von Schmelzbach entfernten Bahnhof, begrüßte sie mit der männlichen, wortkargen Herzlichkeit des weltabgeschieden lebenden Lehrers, nahm kurz entschlossen ihren Koffer aus die Schulter und trug ihn, nur selten rastend, vor ihnen her bis zum Schulhaus.

Reinhart benützte den Vormittag zum Lernen und Geigen. Daneben studierte er Schillers Geisterseher und einen alten Daheim-Band. Der Nachmittag gehörte der Erholung. Die Geschwister strichen mit den Vettern durch Felder und Fluren. Ein reiches Land! Die Fettigkeit der Erde gab willig, was man von ihr forderte. Die Verwandten teilten ihnen gütig mit von allem, was sie hatten, und freuten sich, wenn die Gäste die Fülle bewunderten.

Der September kam, die Zwetschgen wurden blauer und süßer und drohten in ihrer Fülle die Bäume zu zerbrechen.

Die Staren rauschten in dichten Schwärmen übers Dorf, um in eines der niedrigen, undurchdringlich dichten Gehölze einzufallen, die da und dort als Zufluchtsort für Wild und Vögel den Feldbau unterbrachen. Da begann Reinhart die Tage zu zählen, die ihn vom 1. Oktober, dem Eintritt ins Internat, trennten. Er wurde trotz des Segens trüb gestimmt. Zur Ablenkung nahm der Onkel die Gäste samt den eigenen Kindern mit in befreundete Pfarrhäuser, wo sie sahen, wie herzlich und natürlich der angesehene Lehrer mit den Pfarrern verkehrte. Aber die Starenschwärme! …, sie mahnten doch gar zu deutlich an den Flug der Zeit. Wie merkwürdig geschlossen sie manöverierten. Da mußten alle, alle mit. Wie sie die Richtung einhielten und die Zeit, die Zeit des Einrückens in ein anderes Land! So würden nun auch im Internat zu Rosenbach bald die Staren einfallen, und er mit ihnen. Da suchte er die Einsamkeit.

Er ging, so oft es nur möglich war, nach dem benachbarten Landstädtchen Burgdorf und genoß in seiner Weise Leben und Fürsichsein zugleich. Er setzte sich in das Gärtchen einer Weinwirtschaft, ließ sich einen Schoppen Most geben, verzehrte eine stattliche Anzahl schneeweißer Semmeln, schaute ins Weinlaub, ließ sich von den Schmetterlingen umgaukeln und von der Sonne durchglühen, schloß die Augen, streckte die Beine auf die Bank, ließ Zukunft Zukunft sein und genoß den schönen Augenblick. Ein wohliges Gefühl der Stille und Sorglosigkeit durchdrang seine jungen Glieder und sein Herz und erquickte ihn tiefinnerlich. Merkwürdig gestärkt und geweitet, fast fröhlich trat er den Heimmarsch an.

Eines Morgens ganz früh lief er bis an den nächsten Ausläufer der Steigerwaldberge. Den waldigen Gipfel zu gewinnen, mußte er an dem Schlosse der Freiherrn von Franken vorbei. Lange stand er vor dem geschlossenen Tore, er stand zeitlebens gerne vor Schlössern. Er wartete, ob eine Stimme vernehmbar würde oder eine vornehme Gestalt über den Hof ginge oder ein Teller in der Küche klappern oder ein Klavier angeschlagen würde. Als eine weibliche Singstimme ertönte, sog seine Seele beglückt die Töne in sich. Er hatte einen Gruß empfangen aus einem höheren Reich. Schwitzend kam er bei den Lehrersleuten an, die sich wunderten, daß es den Knaben immer wieder hinauszog, aus der Beschaulichkeit des Dorfes in die Unruhe, aus der gesättigten Wohlhabenheit, der es an nichts gebrach, ins Erleben. – –


Die Heimreise ging nicht mehr nach Worningen, sondern nach Rosenbach. Der Umzug war ohne die beiden Kinder erfolgt. In einer Vorstadtwirtschaft hatte Tante Konstanze eine Wohnung gefunden, eng und unfreundlich, aber wohlfeil. Da standen nun die lieben alten Worninger Möbel, hingen die alten Bilder, – es war zum Heulen. Kein Garten leuchtete und lockte. Bierfässer lagen auf dem Kies bei den wenigen Wirtschaftsbänken im Hof. Der Wirt polterte mit blutbespritzter Schürze in Küche und Gaststube herum.

Reinhart nahm Grammatik und Geometriebuch und wanderte in den Schloßgarten. Unter den Laubhallen der Lindenalleen rüstete er sich auf den neuen Anfang. Aber seine Seele wurde nicht weit. Noch einige Tage, dann war das ein verbotener Aufenthalt. –

Am Vormittag des letzten September ging er in den Wald hinauf. Als er eine verschwiegene Bank gefunden hatte, warf er den Hut ins Gras, legte die Arme auf die Lehne, streckte die Beine und hielt Abrechnung mit dem bisherigen Leben und den Aussichten des künftigen.

Ganz deutlich zogen sie an ihm vorüber: der Vater, die Mutter, der alte Braun, der Vormund, Grallath, Kantor Georgi, der Hausvater, Herr Krauß, Firmus Stang, Werner Felbel und seine Eltern, Stadtpfarrer Weißhaar, Wolfgang Kern, der Lehrer-Onkel und viele andere, ganz deutlich grüßten sie ihn und er wunderte sich über die Fülle der Gestalten. Die waren nun gerade ihm begegnet, ihm gerade diese, andern andere. Er besann sich auf den Kern ihres Wesens und auf die bedeutsamsten ihrer Worte. Es war doch viel Gutes dabei, viel reines Menschentum, viel Segen, viel – Liebe. Ja, das mußte sich Reinhart sagen: viel Liebe, schon wenn er nur an die »fremden« Menschen dachte. Was hinderte ihn, auch fortan mit ihnen in Verkehr zu treten, so oft er ihrer bedurfte?

Und dann wanderte er von seiner Bank aus über das Jungholz, das ihn umgab, hinweg von Ort zu Ort, ging über Rohrachau den Waldrand entlang, stieg schnell über die Freudenauer Friedhofmauer, lugte, ob Frau Seibott den Sturm auf die Steinburg stören könne, horchte in die Karlsruher Gartenlaube hinein, wo sie wieder übten, sah Grallaths Schulzimmer, wo eine Skription zurückgegeben wurde, stand in Steingarten im Sonnenschein und schusserte, kehrte ein wenig in der Worninger Apotheke ein, saß ein Weilchen auf dem Buschel, sah die Grüntaler Kiebitzwiese und das Floß und den Günzlinger Bahnhof, zog rasch und heimlich noch einen Fisch aus der wieder stark nach Kalmus riechenden Worn, geigte ein wenig auf der Staffel des Schmelzbacher Schulhauses … Er war doch herumgekommen im Land und in manchem lieben Ort heimisch geworden. Was hinderte ihn, auch fortan da einzukehren, jeden Augenblick, wenn er es brauchte?

Und der Weg seiner Seele? – Er war nun im sechzehnten Jahr. Andere verließen in diesem Alter die Schule. War er fest genug, es mit dem Leben aufzunehmen? Er, Reinhart, der Befangene, Zaghafte, der so leicht benommen und beklommen und beirrt war, Reinhart der Stammler? Er war nicht mehr der Steingartener Sonderling. Dafür hatten Wolfgang Kern und Tante Konstanze und die Worninger Freiheit gesorgt. Aber er war noch nicht frei. Der Gedanke an das Internat benahm ihm den Atem. Wieder in eine Anstalt! Er fürchtete sich wie vor einem großen Unglück. Ihm graute vor dieser Anstalt. Er war so schön zu sich selbst gekommen. Nun sollte das alles wieder untergehen in einer neuen – Anstalt. Dazu eine neue Schule, die für streng galt. Morgen sollte es angehen mit neuen Lehrergesichtern und neuen Heften und Büchern. Sicherlich gab es auch Skriptionen. Morgen war der schreckliche erste Oktober. Es fror ihn.

Da fiel ihm ein: Würde man ihn nicht fortan »Sie« nennen? Ihn, den Reinhart, »Sie«. Das war allerdings etwas. Würde man ihn nicht dementsprechend behandeln in Anstalt und Schule? Ihn mit »Sie« ansprechen und als »Sie« behandeln? Als angehenden jungen »Menschen«. Er wäre ja so gerne Mensch geworden. Vielleicht halfen sie ihm doch dazu. Sie mußten wohl, wenn sie ihn mit »Sie« anredeten. Sie mußten doch auf ihn eingehen, wenn sie ihn so hoch einschätzten. Hatte es ihn nicht erhoben und beflügelt, als die Pfarrfrau von Oberbach »Sie« zu ihm sagte?

Unwillkürlich setzte er sein Selbstgespräch mit dieser Anrede fort. »Sie« werden sich also nicht fürchten! »Sie« werden an den Vormund denken, der sich aus ganz kleinen Verhältnissen heraufgearbeitet hat, und an Tante Konstanze, die auch immer allein stand, und an den Vater, der ganz allein seinen Weg suchen mußte in seinen besten Bestrebungen! »Sie« werden sich nicht mehr so abschließen wie früher! »Sie« werden das Leben zu meistern suchen! »Sie« werden ein Kämpfer sein! »Sie« werden wohlgemut sein, wenn es irgend möglich ist! »Sie« werden das Beste des Kinderlandes unverlierbar behalten und verwerten! »Sie« werden tun, was Weißhaar beim Verteilen der Konfirmationsscheine sagte: »Geht hin und stiftet Gutes!« »Sie« werden ein rassiger Mensch sein und damit doch wohl einen Freund finden oder wenigstens ein paar Verstehende! »Sie« werden sich getreu bleiben und doch nicht demütig nebenher laufen! Auch in »Ihnen« steckt ein Führer!

Im Schloßgarten drunten, beim Lernen, hatte er aus dem Munde eines vorübergehenden prachtvollen Ulanenoffiziers das Wort aufgefangen: »Man muß fest mit zwei Beinen auf rindsledernen Sohlen stehen. In Gottes Namen Herrenmensch sein, mein Lieber, sonst wird nichts!« Er hatte das Wort verworfen und weiter Grammatik repetiert. Aber es ließ ihn nicht los. »Herrenmensch, sonst wird nichts. Auf rindsledernen Sohlen.« Er legte sich's in seiner Weise zurecht. Nun glaubte er daran. Fürchtet sich aber ein solcher? Fürchtet sich ein solcher vor einer Anstalt? Vor fremden Lehrern? Vor frisch getünchten Schulwänden? Fürchtet er sich vor dem Verlassen der Kinderzeit und dem Eintritt in den Kampf?

Reinhart sprang auf. Als er den Waldrand erreicht hatte und auf die fremde Stadt niedersah, verrichtete er seine Andacht: Du kennst mich und weißt, wie ich es meine. Das Stammeln hört nun auf, es wird nun deutlich geredet. Du wirst mir die Zunge lösen. Das Kapitel Kinderland ist zu Ende, – hiermit wird das Schlußzeichen gesetzt.

Da erfüllte ihn der Getreue, der auch ihn nicht ließ, mit freudigem Geist. Lachend sagte er: »Ich bin bereit – –, es geht!«


Überschriften fehlten im Text. Aus dem Inhaltsverzeichnis ergänzt. Re. für Gutenberg

 


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