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Es kam eine schwere Zeit für Erik Gyldendal. Die Nerven gehorchten ihm nicht mehr. Die Bestie des Geschlechts, einmal erwacht, ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Aber er glaubte nicht an sie. Er wollte und durfte nicht glauben, daß sie in sein Lebenswerk einbrechen sollte. Er arbeitete ohne Rücksicht auf seine Müdigkeit, ohne Rücksicht auf seine schlaflos überhellen Nächte, ohne Rücksicht auf das Gefühl namenloser Schwäche, das ihn jeden Morgen befiel; er wurde brutal gegen sich selbst.
Er begann viel schwarzen Kaffee zu trinken und starke Zigarren zu rauchen. Das machte ihn wach. Abends nahm er Veronal oder Chloralhydrat. Das machte ihn müde. So zähmte er die wildgewordenen Nerven und konnte arbeiten.
Es handelte sich ihm um die Wirkung der Röntgenstrahlen auf Tiere, Pflanzen und chemische Vorgänge, um die mathematische Begründung dieser Art von Strahlungsenergie und um ihre Einreihung in das Weltsystem, in seine Anschauung von der Verteilung der Kraft in der Welt. Er hatte Erfolge, seine Arbeiten wurden bahnbrechend; sie wurden nachgeprüft und von allen Seiten bestätigt; an eine einzige seiner Untersuchungen reihten sich im Laufe eines halben Jahres einundzwanzig Veröffentlichungen großer Autoritäten und ihrer Schüler.
Er selbst war allein. Er konnte sich keinen Assistenten nehmen, er wollte es auch nicht, denn er gönnte keinem den Namen, keinem die Rechte eines Kameraden. Man nannte ihn genial, man nannte ihn borniert. Er war beides, wie jeder Mensch, der ungewöhnliche Anlagen auf ein einzelnes Gebiet konzentriert.
Noch einige Jahre und ein Lebenswerk war getan; einige Jahre Kraft, Klarheit, Gesundheit. Aber all dies wollte erkämpft sein, mußte es sein.
Mit ohnmächtiger Wut sah er, wie andere Leute schlafen, sich über Kleinigkeiten freuen und ihr harmloses Dasein in Heiterkeit genießen konnten; er mußte sich alles, selbst den kleinsten Schritt erzwingen. Kaffee wirkte nicht mehr, nun spritzte er sich Koffein ein, und in der letzten Zeit begann er, jede halbe Stunde aufzustehen und an einer Flasche mit Äther zu riechen. Das machte ihn wieder lebhaft und arbeitsfähig. Auch Veronal und Chloralhydrat halfen nicht mehr sicher. Der Schlaf ließ auf sich warten, wenn er ihn am nötigsten brauchte.
Eins blieb noch, das letzte, das stärkste: Morphium, das dem Menschen Schlaf gibt, und Kokain, das ihn anregt und aufregt. Er kaufte Morphium, aber er hatte es noch nicht verwendet, denn er wußte: von dem Augenblick an, da er sich die erste Morphiumspritze unter die Haut stieß, war er als Mensch, als Gelehrter verloren. Ein Poe, ein Baudelaire, ein Wilde – Poeten, Künstler konnten Morphinisten sein, aber ein Physiker, ein Mensch, der exakt, vorurteilslos, durchdringend beobachten und kombinieren mußte, der durfte es nicht. Karl Unger hatte aufgehört zu experimentieren, weil ihm ein Splitter einer Röntgenröhre das linke Auge zerfetzt hatte; die Angst um das rechte hatte ihn hypnotisiert. Auch Erik Gyldendal hatte Angst, tausendmal mehr Angst vor jeder schlaflosen Nacht, vor jedem Schwächeanfall, der ihn dem gefürchteten Morphium einen Schritt näher brachte.
Aber diese infame Angst lähmte ihn nicht. Mit beiden Händen stemmte er sich gegen das Schicksal. Die Angst regte ihn auf, sie peitschte ihn empor, sie spannte seine Nerven bis aufs äußerste an. Nie hatte er großartigere Arbeiten hervorgebracht, nie zielbewußter experimentiert, nie klarer geurteilt als zu dieser Zeit.
In einer Gesellschaft hatte er zwei Schwestern, Waisen, kennengelernt. Die ältere wollte im nächsten Jahr die Maturitätsprüfung am akademischen Gymnasium ablegen und Medizin studieren, die jüngere hatte starkes musikalisches Talent und war auffallend schön.
Helene Blütner, die ältere, kannte etwas von seinen Arbeiten und bewunderte ihn. Auf eine leichte Anregung kam sie in sein Laboratorium, anfangs wöchentlich einmal, später täglich. Sie half ihm bei den technischen Verbesserungen, an denen er arbeitete, schrieb seine Diktate nach, war stets freundlich, fügsam und von unbegrenzter Arbeitskraft. Die große Idee, das neueroberte Gebiet, großartig über alles Bekannte hinaus, schien sie für ihre Mühe und Zeit zu entschädigen.
Sie erzählte ihm die Geschichte ihres Lebens und ihre traurigen Familienverhältnisse. Ihre Eltern stammten aus reichem Hause, waren aber durch ihre romantischen Ideen und ihr »laisser faire, laisser aller« fast um all ihr Vermögen gekommen. Als sie zu gleicher Zeit starben, hinterließen sie den Kindern bloß eine Rente, von der man gerade noch leben konnte.
Erik begleitete das junge Mädchen oft nach ihrer Wohnung in die Sonnenfelsgasse. Auf dem Wege dahin erzählte er ihr vieles, ohne sich klar zu werden, was ihn eigentlich mit ihr verband; und Helene gab ihre Zeit, ihr Interesse, so freigebig, so generös, daß er vergaß, ihr dafür zu danken. Die jüngere Schwester, die klarer, vernünftiger dachte, machte der älteren Vorwürfe, welche diese von sich abschüttelte, ohne auch nur ein Wort darauf zu antworten. Einmal erst hatten Helene und Erik über Gyldendals Vergangenheit gesprochen; es war damals, als sie Dina Ossonskaja begegnet waren.
»Sie war schlecht zu mir«, sagte Erik, »sie ist eine Person, die sich, ihre Reinheit, verkauft, aber ich konnte ihren Preis nicht zahlen – ich konnte mich nicht binden, und am allerwenigsten konnte ich ein Mädchen heiraten, das mir innerlich fremd war. Es ging zu Ende, und es war gut so«, und dann brachte er viele kleine Züge vor, und ohne es zu wissen und zu wollen, schilderte er das Verhältnis derart, als wäre das Recht ganz auf seiner Seite gewesen. »Sie hat mir eine goldene Geldbörse geschenkt, um mich zu ködern«, sagte er. Sie hörte ihm still zu, als er aber vor der Haustür stand, gab sie ihm nicht die Hand. Er erinnerte sich dessen erst, als es zu spät war, und wollte sie am nächsten Tage fragen; da war aber wieder eine große Versuchsreihe im Gang, und er kam nicht dazu.