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Und dann, hoch über den Flammen von Manhattan Island, kam eine Schlacht, die erste Schlacht in der Luft. Die Amerikaner waren sich klar geworden darüber, was für einen Preis sie ihr Zuwarten kosten konnte, und rückten mit der ganzen Streitmacht, die sie besaßen, aus, um möglicherweise New York noch vor diesem rasenden, eisernen, blutigen Prinzen und vor Feuer und Tod zu retten.
Auf den Flügeln eines großen Sturms, im Zwielicht, unter Donner und Regen kamen sie über die Deutschen. Sie kamen aus den Werften von Washington und Philadelphia, zwei Geschwader in voller Fahrt, und hätte nicht ein Wachtluftschiff dicht bei Trenton sie bemerkt, so wäre die Überrumpelung eine vollständige gewesen.
Die Deutschen, müde und angewidert von ihrem Zerstörungswerk, mit nur noch der Hälfte ihrer Munition, gingen aufwärts gegen das Unwetter an, als die Nachricht von diesem Überfall sie erreichte. New York hatten sie südwestlich hinter sich gelassen – eine dunkel gewordene Stadt mit einer einzigen fürchterlichen roten Flammennarbe. Sämtliche Luftschiffe schlingerten und stampften, Hagelschauer trieb sie nach unten und zwang sie, sich den Weg nach oben wieder zu erkämpfen; es war bitter kalt geworden. Der Prinz war auf dem Punkt, Befehl zu erteilen, auf die Erde zuzuhalten und die kupfernen Blitzableitungskabel schleppen zu lassen, als die Nachricht von der Aeroplanattacke ihn erreichte. Er wandte um, stellte seine Flotte in einer Linie gegen Süden auf, ließ die Drachenflieger bemannen und zum Auswerfen bereithalten und ordnete einen allgemeinen Aufstieg in die frostige Klarheit, die über Nässe und Dunkelheit war, an.
Langsam dämmerte es Bert auf, was bevorstand. Er war eben in der Kantine, und die Abendrationen wurden ausgeteilt. Er hatte Butteridges Überrock und Handschuhe wieder angezogen und außerdem seine Wolldecke um sich gewickelt. Eben tunkte er sein Brot in seine Suppe und biß große Stücke davon ab. Mit weitgespreizten Beinen lehnte er an der Wand, um bei dem Schwanken und Kippen des Schiffs einen Halt zu haben. Die Leute um ihn herum sahen müde und niedergeschlagen aus; ein paar redeten, aber die meisten waren finster und nachdenklich, und einer oder zwei waren luftkrank. Alle schienen sie das seltsame Gefühl des Ausgestoßenseins zu empfinden, das dem Morden dieses Abends gefolgt war, das Bewußtsein eines Landes unter ihnen und einer beschimpften Menschheit, die feindseliger war, als das Meer.
Jetzt kam die Nachricht auch zu ihnen. Ein robuster Mensch mit einem roten Gesicht, hellen Wimpern und einer Narbe darüber erschien unter der Tür und schrie auf deutsch etwas herein, das augenscheinlich alle in Bestürzung versetzte. Bert schrak beim Klang der Stimme zusammen, obgleich er kein Wort von dem, was gesagt wurde, verstand. Der Mitteilung folgte eine Pause und dann ein großes Durcheinander von Fragen und Vermutungen. Sogar die luftkranken Leute bekamen wieder Farbe und sprachen. Ein paar Minuten lang war die Kantine ein wahres Narrenhaus; und dann, wie zur Bestätigung der Nachricht, erklang das schrille Läuten der Klingeln, die die Leute auf ihre Posten riefen.
Bert fand sich mit pantomimischer Plötzlichkeit allein.
»Was ist los?« sagte er, obgleich er es halb erriet.
Er schlang nur noch rasch den Rest seiner Suppe hinunter und rannte dann den schwankenden Gang entlang und – sich krampfhaft anklammernd – die Leiter zu der kleinen Galerie hinunter. Die Luft peitschte ihm ins Gesicht wie kaltes Wasser, das aus einem Schlauch spritzt. Das Luftschiff schickte sich eben gleichsam zu einem neuen Gang atmosphärischen Jiu-Jitsus an. Er zog seine Decke fester um sich, während er sich dabei krampfhaft mit einer Hand festhielt. Er fühlte sich umhergeworfen in einem nassen Zwielicht, in dem nichts zu sehen war, als der Nebel, der an ihm vorüberströmte. Über ihm das Luftschiff war warm erleuchtet und voll vom Leben und Regen der an ihren Dienst gehenden Leute. Dann erloschen die Lichter plötzlich, und unter Stoßen und Drehen und sonderbaren Zuckungen kämpfte die »Vaterland« sich durch die Luft aufwärts.
Er sah in Sekundenschnelle – als die »Vaterland« sich seitwärts neigte – gleich einem flimmernden Acanthus aus Flammen ein paar große, brennende Gebäude dicht unter sich; dann erblickte er undeutlich durch das treibende Wetter ein zweites Luftschiff, das sich wie ein Delphin ebenfalls mühsam aufwärts wälzte. Gleich darauf verschlangen die Wolken es für eine Weile, dann kam es wieder in Sicht – ein dunkles, walfischartiges Ungetüm inmitten des stürzenden Unwetters. Die Luft war erfüllt von Flügelschlag und Gepfeife, von hohlen, sturmverwehten Rufen und Geräuschen; er war ganz verwirrt und betäubt; dann und wann erstarrte seine Aufmerksamkeit zu einem blinden und tauben Balancieren und Festklammern.
»Whupp!«
Neben ihm fiel etwas aus den unermeßlichen Dunkelheiten in der Höhe und verschwand – schräg abwärts sausend – im Tumult der Tiefe. Es war ein deutscher Drachenflieger. Das Ding ging so rasch, daß er nur einen Moment lang undeutlich die dunkle Gestalt des zusammengekauerten, an sein Rad festgeklammerten Aeronauten wahrnahm. Es mochte vielleicht ein Manöver sein; es sah aber aus wie eine Katastrophe.
»Alle Wetter!« sagte Bert.
»Pup-pup-pup« machte irgendwo vorn in der Finsternis eine Kanone; und plötzlich legte die »Vaterland« sich ganz fürchterlich auf die Seite, und Bert und die Schildwache klammerten sich ums liebe Leben ans Geländer an. »Bum!« Ein großer Krach aus dem Zenit, gefolgt von einem zweiten donnernden Rollen; und rings um ihn her blitzten rot und düster die zerrissenen Wolken auf, im Widerschein ungesehener Blitze, und enthüllten unermeßliche Abgründe. Das Geländer stieg senkrecht in die Höhe, und er hing, sich daran festhaltend, frei in der Luft.
Eine Zeitlang war Berts ganzes Denken und Sein nur aufs Anklammern gerichtet. »Ich geh' in die Kabine«, sagte er, als das Luftschiff sich wieder aufrichtete und der Galerieboden unter seine Füße zurückkehrte. Vorsichtig begann er sich nach der Leiter hinzutasten. »Hei-ho!« rief er, als jetzt die ganze Galerie erst senkrecht in die Höhe stieg und dann wieder zurückschlug wie ein kolleriges Pferd.
Krach! Bum! Bum! Bum! Und dann – unmittelbar auf dies kleine Geknatter von Schüssen und Bomben – kam rund um ihn her, ihn einhüllend, ihn in tausend Abgründe stürzend, unermeßlich und überwältigend, ein flimmernder weißer Blitzschein und ein Donnerschlag, der wie das Bersten einer Welt klang.
In dem einen einzigen Augenblick, der dieser Explosion voranging, schien das Weltall stillzustehen in schattenlosem, blendendem Schein.
Und in diesem Augenblick sah er den amerikanischen Aeroplan. Er sah ihn im Licht des Blitzes – etwas vollkommen Regungsloses. Sogar seine Schraube schien stillzustehen, und die Leute glichen starren Puppen. (Es war so nah, daß er die Leute darauf gut sehen konnte.) Das Heck des Schiffs stand nach unten, und die ganze Maschine neigte sich vornüber. Es gehörte zum Colt-Coburn-Langley-Typ, mit doppelten, aufrechtstehenden Flügeln und der Schraube ganz vorn; die Mannschaft war in einer Art netzumspanntem Boot. Aus dem sehr leichten, langen Rumpf sahen auf jeder Seite Schnellfeuergeschütze hervor. Etwas war ganz besonders merkwürdig und wunderbar in diesem Moment der Offenbarung: der linke obere Flügel lohte, nach abwärts, mit einer rötlichen, rauchigen Flamme. Aber das war nicht das wunderbarste an der Erscheinung. Das wunderbarste war, daß der Aeroplan und ein deutsches Luftschiff fünfhundert Ellen tiefer an dem Blitzstrahl, der, wie um sie beide mitzunehmen, von seinem Weg abgewichen war, gleichsam aneinandergefädelt waren, und daß aus allen Ecken und vorstehenden Punkten seiner Riesenflügel kleine, verästelte Blitzdornbüsche wuchsen.
Gleich einem Bild sah Bert all dies – einem durch einen dünnen Schleier sturmzerrissenen Nebels etwas verwischten Bild.
Der Krach des Donnerschlags folgte dem Blitz und schien ein Teil von ihm, so daß sich schwer sagen läßt, ob Bert in diesem Augenblick mehr geblendet oder mehr betäubt war.
Und dann Dunkel, undurchdringliches Dunkel, ein schwerer Knall und ein dünner, kleiner Laut von Stimmen, die wehklagend in den Abgrund der Tiefe schwanden.
Auf dies hin folgte ein langes, tiefes Schwanken des Luftschiffs, und Bert machte wieder den Versuch, sich zu seiner Kabine zurückzukämpfen. Er war naß bis auf die Knochen und kalt und verängstigt über die Maßen, und außerdem jetzt mehr als nur ein bißchen luftkrank. Ihm war, als habe jede Kraft seine Knie und Hände verlassen, und als wären seine Füße von dem Metall, auf das sie traten, geradezu eisig-schlüpfrig. Das kam davon, daß eine dünne Eisschicht auf der Galerie festgefroren war.
Er wußte nicht, wie lang er zu seinem Aufstieg, die Leiter hinauf ins Luftschiff, brauchte; aber wenn es ihm später in seinen Träumen wiederkehrte, so schien ihm dies Experiment stundenlang zu währen. Unten, oben, rings um ihn her ungeheuerliche Abgründe heulenden Sturms und Strudel dunkler, wirbelnder Schneeflocken; und er vor dem allem beschützt durch ein kleines Metallgitter und -geländer, ein Gitter und ein Geländer, die voll toller Wut gegen ihn zu sein schienen, voll leidenschaftlichen Verlangens, ihn loszuzerren und in den Tumult des Raums zu schleudern.
Einmal hatte er die Vorstellung, daß eine Kugel an seinem Ohr vorüberpfiff, und daß die Wolken und Schneeflocken von einem Blitzstrahl erleuchtet wurden; aber er wandte nicht einmal den Kopf, um zu sehen, was für ein neuer Feind in der Leere an ihnen vorüberstürmte. Er wollte hinauf in den Gang! Er wollte hinauf in den Gang! Würde der Arm, mit dem er sich festhielt, aushalten, oder würde er nachgeben und loslassen? Eine Handvoll Hagel peitschte ihm ins Gesicht, so daß er eine Zeitlang atemlos und fast ohne Besinnung war. Halt fest, Bert! Und er verdoppelte seine Anstrengungen.
Endlich fand er sich, mit einem unendlichen Gefühl der Erleichterung und Wärme, im Gang. Der Gang benahm sich wie ein Würfelbecher – er hatte augenscheinlich gerade die Laune, ihn umherzuschlenkern und dann wieder hinauszuschleudern. Bert hing mit dem konvulsivischen Klammern des Instinkts in der Tür, bis der Gang sich wieder abwärts neigte. Dann rannte er blindlings kabinenwärts und klammerte sich wieder fest, während sich das Vorderteil aufs neue in die Höhe hob.
Und siehe da! Er war in der Kabine!
Er drückte die Tür zu; und eine Zeitlang war er kein Mensch mehr, sondern einfach ein Fall von Luftkrankheit. Er hatte nur den einen Wunsch: irgendwo sein, an irgendeinem Ort, der ihn festhielte, damit er sich nicht mehr anzuklammern brauchte. Er öffnete die Truhe, kroch hinein, mitten zwischen die darin liegenden Gegenstände, und streckte alle viere von sich – hilflos – einmal mit dem Kopf an die eine und dann wieder an die andere Seite stoßend. Der Deckel schnappte über ihm ins Schloß. Aber ihm war jetzt gleichgültig, was geschah. Ihm war es ganz einerlei, wer wen bekämpfte, oder wieviel Geschosse abgefeuert wurden oder wieviel Explosionen statthatten. Es war ihm einerlei, ob er erschossen oder in Stücke gerissen wurde. Er war ganz erfüllt von schwächlicher, unklarer, unbestimmter Wut und Verzweiflung. »Verrückt!« sagte er. Das war sein einziger und erschöpfender Kommentar zu den menschlichen Unternehmungen, Abenteuern, Kriegen und dem ganzen Kapitel von Ereignissen, in das er verwickelt worden war. »Verrückt! Uff!« Auch die ganze Weltordnung schloß er in dies umfassende Verdammungsurteil mit ein. Er wünschte sich überhaupt, er wäre tot.
Er sah nichts von den Sternen, als bald darauf die »Vaterland« aus dem Tumult und der Wirrnis des unteren Unwetters emporstieg; er sah auch nichts von dem Duell, das das Schiff mit zwei es umkreisenden Aeroplanen ausfocht, sah nichts davon, wie diese seine zwei hintersten Kammern durchschossen und wie es sich die Feinde mit Explosivgeschossen vom Leib hielt und die Flucht ergriff – auf der es jetzt eben begriffen war …
All der Schwarm und Strom dieser wundervollen Nachtvögel war an ihm verloren; verloren ihr heldenhaftes Anstürmen und Selbstaufopfern. Die »Vaterland« erhielt einen Rammstoß und hing ein paar Augenblicke lang am Rand der Vernichtung; sie sank rasch, zusammen mit dem amerikanischen Aeroplan, der in ihre Propeller verhängt war, während die Amerikaner versuchten, an Bord zu klettern. Für Bert bedeutete es nichts. Für ihn war es einfach ein heftiges Schwanken. Verrückt! Als schließlich das amerikanische Luftschiff mit zum größten Teil verwundeter oder gefallener Mannschaft zurückblieb, empfand Bert in seiner Truhe nichts, als daß die »Vaterland« einen greulichen Satz nach oben gemacht hatte.
Aber dann kam Erleichterung, unendliche, unglaubliche, wundervolle Erleichterung! Das Rollen, das Kippen, das Kämpfen hörte auf – augenblicklich und vollständig. Die »Vaterland« kämpfte nicht mehr gegen den Sturm an; ihre zerschmetterten, explodierten Maschinen pulsierten nicht mehr; sie war steuerlos und trieb so glatt vor dem Wind wie ein Ballon, eine riesige, sturmverwehte, zerfetzte Wolke von Luftschiffstrümmern.
Für Bert war es weiter nichts als das Ende einer ganzen Reihe von unangenehmen Empfindungen. Er war absolut nicht neugierig, zu erfahren, was mit dem Luftschiff geschehen, noch was aus der Schlacht geworden war. Eine lange Weile lag er in banger Erwartung, daß das Kippen und Stoßen und damit seine Übelkeit wiederkehren könnte; und schließlich – eingekeilt in die Truhe – schlief er ein.
Er erwachte – ruhig, aber äußerst verdrießlich, zugleich auch äußerst verfroren und gänzlich außerstande, sich zu entsinnen, wo er eigentlich war. Der Kopf tat ihm weh. Er konnte nicht recht atmen. Er hatte – höchst verworren – von Edna geträumt, und von Wüstenderwischen und von sehr abenteuerlichen Rundfahrten durch die Luft inmitten eines Feuerwerks von Fröschen und bengalischen Lichtern – alles zum höchsten Verdruß einer aus dem Prinzen und Mr. Butteridge zusammengesetzten Persönlichkeit. Schließlich begannen – aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen – Edna und er jammervoll nacheinander zu weinen, und er erwachte – mit nassen Wimpern – in der dumpfen Dunkelheit der Truhe. Nie würde er Edna wiedersehen – nie würde er Edna wiedersehen!
Er glaubte, er sei in der Schlafstube hinter dem Laden in Bun Hill, und er war ganz überzeugt, daß die Vision von der Zerstörung einer wundervollen Stadt, einer geradezu unglaublich großen und prächtigen Stadt durch Bomben nichts weiter war als ein besonders lebhafter Traum.
»Grubb!« rief er, voll Eifer, zu erzählen.
Die Stille, die antwortete, und der dumpfe Widerhall seiner Stimme, dazu die drückende Luft, brachten ihn plötzlich auf einen neuen Gedanken. Er streckte seine Hände und Füße aus und begegnete einem hartnäckigen Widerstand. Er glaubte, er läge in einem Sarg! Er war lebendig begraben! Und sofort überließ er sich einer wilden Verzweiflung. »Hilfe!« kreischte er. »Hilfe!« Und strampelte mit den Füßen und stieß und fuhrwerkte. »Ich will heraus! Ich will heraus!«
Ein paar Sekunden lang kämpfte er so mit diesem unerträglichen Entsetzen; dann gab die eine Wand seines imaginären Sargs nach, und er flog hinaus ins Tageslicht. Gleich darauf wälzte er sich auf einem – wie es ihm schien auswattierten Boden – mit Kurz, der ihn knuffte und zu allen Teufeln wünschte …
Er richtete sich auf. Seine Kopfbinde hatte sich gelockert und war ihm über das eine Auge gerutscht, und er riß das ganze Zeug herunter. Kurz saß ebenfalls da – einen Meter von ihm – rosig wie immer – in Decken gehüllt – einen Aluminiumtaucherhelm auf dem einen Knie – und starrte ihn, ernsthaft sein flaumiges, unrasiertes Kinn reibend, an. Sie befanden sich beide auf einem abschüssigen Boden mit roter Polsterung, und über ihnen war eine Öffnung, die aussah wie ein langes, niederes Kellerloch und in der Bert – nach einiger Anstrengung – die Kabinentür in halb umgekippter Richtung erkannte. Die ganze Kabine hatte sich auf die Seite gelegt.
»Was, zum Henker, fällt Ihnen denn ein, Smallways?« sagte Kurz. »Hopsen da aus der Truhe heraus, wo ich doch so sicher dachte, Sie wären mit den übrigen über Bord gegangen? Wo waren Sie denn?«
»Was ist los?« fragte Bert.
»Unser Luftschiff ist los, mehr als mir lieb ist! Und im übrigen – stecken wir!«
»Ist eine Schlacht gewesen?«
»Jawohl.«
»Wer hat gewonnen?«
»Ich hab' die Zeitungen noch nicht gelesen, Smallways. Wir sind vor dem Ende fortgesegelt. Wir sind kampfunfähig und steuerlos, und unsere Kameraden waren fast alle zu beschäftigt, um sich um uns zu kümmern, und der Wind wehte uns – weiß der Himmel, wohin der Wind uns weht! Er hat uns glatt aus der Aktion geweht – mit einer Geschwindigkeit von achtzig Meilen die Stunde oder so. Herrgott! Was für ein Sturm! Und was für ein Kampf! Und – hier sind wir nun!«
»Wo?«
»In der Luft, Smallways – in der Luft! Wenn wir wieder einmal auf die Erde kommen, so werden wir überhaupt nicht mehr wissen, was mit unseren Beinen anfangen.«
»Aber was ist unter uns?«
»Kanada, soviel ich vermute – und ein herzhaft unfreundliches, ödes, ungastliches Land, seinem Aussehen nach!«
»Aber warum steht das Schiff so schief?«
Kurz blieb eine Weile stumm.
»Ich weiß – das letzte, was ich gesehen habe, war eine Art Flugmaschine in einem Blitzstrahl«, sagte Bert. »Alle Wetter! Das war fürchterlich! Kanonen, die losgingen! Dinger, die explodierten! Wolken und Regen! Ein Gekippe und Gestoße! Ich war so erschrocken und verzweifelt – und krank … Sie wissen nicht, wie der Kampf geendet hat?«
»Kein Stück! Ich war mit meinen Leuten im Taucheranzug in den Gaskammern, mit Seidenstoff, zum Kalfatern. Wir sahen überhaupt nichts von draußen, außer die Blitze. Keinen einzigen von diesen amerikanischen Aeroplanen hab' ich gesehen. Sah nur die Schüsse durch die Kammern schlagen und schickte meine Leute nach den verschiedenen Rissen aus. Wir haben auch ein bißchen Feuer gefangen – nicht viel, wissen Sie. Wir waren zu naß – das Feuer ging aus, ehe wir auseinanderknallten. Und dann fiel eins von ihren höllischen Dingern aus der Luft herunter und rammte uns. Haben Sie's nicht gespürt?«
» Alles hab' ich gespürt«, sagte Bert. »Ich hab' keinen einzelnen Stoß mehr gemerkt …«
»Die müssen schön verzweifelt gewesen sein, wenn's wirklich mit Absicht geschah. Wie ein Messer fuhren sie auf uns herunter, schlitzten die Achtergaskammern glatt auf, wie man einen Hering ausweidet, und zertrümmerten Maschinen und Schraube. Die meisten von den Maschinen fielen über Bord, als die Amerikaner von uns abließen, sonst wären wir auf den Grund gegangen – der Rest baumelt noch so. Wir streckten einfach die Nase gen Himmel, und so blieben wir. Elf Leute sind von verschiedenen Stellen über Bord gerollt, und der arme, alte Winterfeld ist durch die Tür in der Kabine des Prinzen ins Arbeitszimmer gefallen und hat sich den Knöchel gebrochen. Auch unsere elektrische Batterie ist zerschossen oder weggekommen – niemand weiß wie. So steht's, Smallways. Wir treiben durch die Luft wie ein ganz gewöhnlicher Aerostat, ein Spielball der Elemente – fast direkt nordwärts – wahrscheinlich zum Nordpol. Wir wissen nicht, was für Aeroplane die Amerikaner haben, wir wissen überhaupt nichts von ihnen. Aller Wahrscheinlichkeit nach haben wir ihnen den Garaus gemacht. Einer hat uns havariert, einen hat der Blitz getroffen, einen dritten haben ein paar von unseren Männern umkippen sehen – augenscheinlich einfach zum Scherz. Jedenfalls gingen sie reißend. Auch wir haben die meisten von unsern Drachenfliegern verloren. Einfach in die Nacht hinausgeschlittert. Keine Stabilität in den Dingern. Das ist alles. Wir wissen nicht, ob wir gewonnen haben oder verloren. Wir wissen nicht, ob wir schon Krieg haben mit dem britischen Reich oder noch Frieden. Infolgedessen getrauen wir uns nicht zu landen. Wir wissen nicht, wie's um uns steht oder was wir weiter tun. Unser Napoleon ist allein – vorn –, ich vermute, er arbeitet seine Pläne um. Ob New York unser Moskau war, wird sich zeigen. Wir haben jedenfalls eine großartige Zeit gehabt und ungezählte Menschen gemordet! Krieg! Edler Krieg! Ich hab' ihn gründlich satt heut morgen! Ich mag gern aufrecht und gerade in Zimmern sitzen und nicht auf glitschigen Wänden! Ich bin ein zivilisierter Mensch. Ich muß an meinen alten Albrecht und die ›Barbarossa‹ denken! … Ich hab' das Gefühl, als hätt' ich gründlich das Waschen nötig und freundliche Worte und ein ruhiges Heim! Wenn ich Sie ansehe, so weiß ich, daß ich das Waschen nötig hätte! Herrgott« – er unterdrückte ein heftiges Gähnen –, »was für ein jämmerlicher Waschlappen von einem Gauner Sie doch sind!«
»Ob's was zum Futtern gibt?« fragte Bert.
»Weiß der Himmel!« sagte Kurz.
Er sann noch einen Augenblick über Bert nach. »Soweit ich die Geschichte beurteilen kann, Smallways«, sagte er, »wird der Prinz wahrscheinlich Lust haben, Sie über Bord zu werfen – sobald er wieder einmal an Sie denkt. Jedenfalls, sobald er Sie zu Gesicht bekommt … Schließlich, wissen Sie, sind Sie als Ballast mitgekommen … Und wir werden das Schiff bald ausgiebig entlasten müssen. Ich müßte mich sehr täuschen, wenn der Prinz nicht binnen kurzem aufwachen und mit fürchterlicher Energie wieder anfangen wird, sich zu betätigen … Ich hab' nun einmal Sympathie für Sie. Es ist die englische Ader in mir. Sie sind ein drolliger, kleiner Kauz. Es würde mir keinen Spaß machen, mit anzusehen, wie Sie durch die Luft hinuntersausen … Wissen Sie, machen Sie sich lieber nützlich, Smallways. Ich denke, ich werd' Sie für meine Abteilung requirieren. Sie werden arbeiten müssen, wissen Sie, und höllisch intelligent sein und all so was. Und werden auch ein bißchen zuoberst nach unterst herumhängen müssen. Immerhin – es ist Ihre einzige Chance. Passagiere werden wir auf dieser Tour nicht mehr viel weiter mitführen, schätz' ich. Der Ballast geht über Bord – falls wir nicht, eh' wir's denken, stranden und gefangen genommen werden wollen! Und dazu läßt es der Prinz jedenfalls nicht kommen. Er wird sich wehren bis aufs äußerste.«
Mit Hilfe eines Klappstuhls, der noch an seinem Platz hinter der Tür war, gelangten sie ans Fenster und schauten abwechlungsweise hinaus; sie sahen drunten ein spärlich bewaldetes Land – ohne Eisenbahnen, ohne Straßen, mit nur vereinzelten Anzeichen von Besiedlung. Dann erklang ein Horn, das Kurz als Signal zum Essen deutete. Sie kamen glücklich zur Tür hinaus und kletterten mit einiger Schwierigkeit den fast vertikalen Gang hinauf, indem sie sich verzweiflungsvoll mit Zehen und Fingerspitzen an den Ventilationslöchern im Boden festklammerten. Die Stewards hatten ihre feuerlosen Kochapparate intakt vorgefunden, und es gab für die Offiziere heißen Kakao und für die Mannschaft heiße Suppe.
Bert empfand das Seltsame der ganzen Situation so stark, daß alle Furcht, die er sonst vielleicht gefühlt hätte, rein weggewischt war. Das Interesse überwog jetzt bei weitem die Furcht. Es war, als hätte er in dieser Nacht die Tiefen der Angst und Verzweiflung erschöpft. Er gewöhnte sich so nach und nach an den Gedanken, daß er in der nächsten Minute wahrscheinlich tot – daß diese ganze seltsame Reise in der Luft aller Wahrscheinlichkeit nach seine Todesfahrt sein würde. Kein Mensch kann in einem Zustand permanenter Angst verharren; die Furcht tritt schließlich in den Hintergrund, als etwas Ständiges, Verbuchtes, und also Abgetanes. Er hockte vor seiner Suppe, tunkte sie mit seinem Brot auf und betrachtete seine Kameraden. Sie waren alle ziemlich gelb und schmutzig – mit viertägigen Bärten – und alle gruppierten sich in einer matten, gleichgültigen Weise, wie Männer auf einem Wrack. Gesprochen wurde wenig. Die ganze Situation war zu neu – zu seltsam für jeden eigentlichen Gedanken. Drei von der Mannschaft waren beim Verpichen des Schiffs – während des Kampfes – verwundet worden; einer hatte eine bandagierte Schußwunde. Es war ganz unglaublich, daß dieser kleine Haufe von Menschen Mord und Gemetzel in einem so unerhörten Maßstab begangen haben sollte. Keiner von ihnen allen, wie sie da mit dem Suppennapf in der Hand auf der abschüssigen, gasgepolsterten Wand hockten, sah aus, als könnte er so etwas tun, als könnte er auch nur einem Hund mutwillig wehtun. Sie waren alle so augenfällig für trauliche Häuser auf solidem Erdboden, für pünktlich bebaute Felder, für blonde Frauen und heitere Kurzweil geschaffen. Der derbe Mensch mit dem roten Gesicht und den hellen Wimpern, der die ersten Nachrichten von der Luftschlacht in die Kantine gebracht hatte, war mit seiner Suppe fertig und brachte mit dem Ausdruck mütterlicher Sorgfalt den Verband eines Kameraden in Ordnung, der einen verrenkten Arm hatte.
Bert krümelte eben sein letztes Stückchen Brot in sein letztes bißchen Suppe, indem er seine Mahlzeit soviel wie nur möglich in die Länge zog, als er plötzlich bemerkte, daß alles nach einem Paar Füße blickte, das über der querliegenden Tür baumelte. Kurz erschien und rutschte über die Angel. Auf irgendeine geheimnisvolle Weise hatte er sich rasiert und sein lichtgoldenes Haar gebürstet. Er sah wie der reine Cherub aus. »Der Prinz!« sagte er.
Ein zweites Paar Stiefel, das unter breiten und großartigen Gesten den Türrahmen zu erwischen suchte, folgte. Kurz leitete es zu einer Fußstütze, und der Prinz, rasiert und gebürstet und gewichst und sauber und groß und fürchterlich, glitt herab und saß rittlings auf der Tür. Alle Leute, auch Bert, erhoben sich und salutierten.
Der Prinz überblickte sie in der Haltung eines Mannes, der zu Pferde sitzt. Hinter ihm erschien der Kopf des Kapitäns.
Jetzt kam für Bert ein fürchterlicher Moment. Die blaue Flamme des prinzlichen Auges fiel auf ihn, der große Finger deutete auf ihn, eine Frage wurde gestellt. Kurz intervenierte erklärend.
»So!« sagte der Prinz; und Bert war erledigt.
Hierauf hielt der Prinz in kurzen, heroischen Sentenzen eine Ansprache an die Leute, wobei er sich mit einer Hand an der Türangel festhielt und die andere in einer schön variierten Reihenfolge von Gesten bewegte. Was er sagte, verstand Bert nicht; aber er bemerkte, daß das Aussehen der Leute sich veränderte, daß ihre Rücken sich strafften. Sie fingen an, die Reden des Prinzen mit Beifallsrufen zu interpunktieren. Am Schluß fing der Anführer an zu singen, und alle Leute sangen mit. »Ein' feste Burg ist unser Gott«, sangen sie in tiefen kraftvollen Tönen, unter unendlicher, moralischer Gehobenheit. Es war ein schreiender Widerspruch zu diesem beschädigten, halb gekenterten, sinkenden Luftschiff, das, nach einem Bombardement, wie es grausamer die Weltgeschichte nicht kannte, kampfunfähig aus der Aktion geweht, dahintrieb; aber dennoch war es unendlich packend. Bert war tief ergriffen. Die Worte des großen Lutherchorals konnte er nicht mitsingen; aber er tat seinen Mund auf und gab laute, tiefe und teilweise sogar harmonische Töne von sich … Tief unten drang das dröhnende Singen an die Ohren eines kleinen Zeltlagers von getauften Mestizen, die hier beim Holzfällen waren. Sie waren gerade beim Frühstück, stürzten aber sogleich voll Freude hinaus, in Erwartung des zweiten Kommens des Herrn. In wortlosem Erstaunen starrten sie zu der vor dem Sturm treibenden, zerfetzten und verbogenen »Vaterland« empor. In vieler Beziehung war es so ganz, wie sie sich das Kommen des Herrn dachten, und dann wieder in so vieler Beziehung so gar nicht. Von heiliger Scheu ergriffen, bestürzt über alle Beschreibung, starrten sie ihrem Flug nach. Der Choral hörte auf. Dann, nach einer langen Pause, kam eine Stimme vom Himmel – eine englische Stimme: »Wie nennt sich dieser Ort hier? Wie?«
Sie antworteten nicht. Sie verstanden nicht, obgleich die Frage wiederholt wurde.
Und schließlich trieb das Ungetüm davon nach Norden, über einen Hügel voll Tannenwald, und ward nicht mehr gesehen. Und ein langer und hitziger Wortwechsel entstand …
Der Choral war zu Ende. Die prinzlichen Beine baumelten weiter nach oben, und jedermann war voll Eifer bereit zu heroischer Kraftanstrengung und sieghaften Taten. »Smallways!« rief Kurz, »kommen Sie her!«
Jetzt machte Bert, unter Kurz' Aufsicht, seine ersten Erfahrungen in der Arbeit eines Luftschiffers.
Die Aufgabe, die zunächst vor dem Kapitän der »Vaterland« lag, war, sein Schiff in der Luft zu halten. Der Wind, obgleich seine frühere Heftigkeit sich gelegt hatte, blies noch immer scharf genug, um das Landen einer so schwerfälligen Masse äußerst gefährlich zu machen, selbst wenn es für den Prinzen wünschenswert gewesen wäre, in unbewohntem Gebiet zu landen und eine Gefangennahme zu riskieren. Es war notwendig, daß das Luftschiff in der Höhe gehalten wurde, bis der Wind sich legte, um dann, wenn möglich, in irgendeinem einsamen Distrikt des Territoriums niederzugehen, wo man hoffen durfte, die Schäden zu reparieren oder durch irgendeinen umherstreifenden Kameraden gerettet zu werden. Um dies zu bewerkstelligen, mußte Ballast ausgeworfen werden; und Kurz wurde mit einem Dutzend Leute angewiesen, in die Trümmer der entleerten Luftkammern hinunterzuklettern und Stück um Stück – je nachdem das Luftschiff sank – die Fetzen loszutrennen. So kletterte denn Bert, bewaffnet mit einem scharfen Seitengewehr, auf einem Netzwerk, viertausend Fuß hoch in der Luft, umher und versuchte Kurz zu verstehen, wenn er Englisch, und ihn zu erraten, wenn er Deutsch sprach.
Es war ein schwindliges Stück Arbeit, aber nicht halb so schwindlig, wie ein etwas überernährter, im warmen Zimmer sitzender Leser sich vielleicht vorstellt. Bert fand es durchaus möglich, hinabzublicken und die wilde, subarktische Landschaft drunten zu betrachten, die jetzt keinerlei Anzeichen von Bewohntheit mehr zeigte – ein Land felsiger Gebirge und stürzender Wasserfälle und breiter, wirbelnder, öder Ströme, ein Land voller Bäume und Dickichte, die immer verkrüppelter und armseliger wurden, je weiter der Tag vorrückte. Da und dort auf den Hügeln lagen Flecken und Wehen von Schnee. Und hoch über all dem arbeitete er, hackte auf die zähe, schlüpfrige geölte Seide los und klammerte sich wacker an sein Netz.
Bald hatten sie ein Gewirr von verbogenen Stahlstangen und Drähten und einen großen Ballen Seidenhülle vom Skelett losgelöst und hinuntergeworfen. Das war peinlich. Denn das Luftschiff flog sofort in die Höhe, als diese lose Luftzelle hinabstürzte. Es sah fast aus, als ließen sie ganz Kanada fallen. Die Seide breitete sich aus, schwebte abwärts und blieb schließlich, widerlich zusammengeknüllt, am Rand einer Schlucht hängen. Bert klammerte sich wie ein erfrierender Affe an seine Taue und regte fünf Minuten lang keinen Muskel …
Trotzdem, fand er, lag etwas ungemein Auffrischendes in dieser gefahrvollen Arbeit, und vor allem – sie gab ein Gefühl der Kameradschaft. Er war nicht länger ein isolierter und mit Mißtrauen betrachteter Fremdling unter den anderen, er hatte jetzt etwas mit ihnen gemeinsam, er arbeitete in freundschaftlichem Wetteifer drauflos, mit seiner Aufgabe früher fertig zu werden als sie. Und er empfand immer mehr eine große Achtung und Anhänglichkeit Kurz gegenüber, die seither nur in ihm geschlummert hatten. Kurz, wenn er ein Stück Arbeit zu dirigieren hatte, war geradezu bewundernswert: er war erfinderisch, hilfreich, einsichtsvoll, schnell. Es schien, als wäre er überall. Man vergaß seine Rosigkeit, seine leichtherzige, muntere Art. Sobald man in Not kam, war er da, mit praktischem und sicherem Rat. Wie ein älterer Bruder war er zu seinen Leuten. Alles in allem lösten sie drei erhebliche Knäuel Fetzen los; und dann freute sich Bert doch, als er wieder zu den Kabinen emporklettern und einer zweiten Abteilung Platz machen durfte. Er und seine Gefährten erhielten heißen Kaffee; und wirklich – wenn sie auch Handschuhe angehabt hatten – es war ein kaltes Stück Arbeit gewesen! Sie saßen umher und tranken und betrachteten einander voll Befriedigung. Einer redete freundschaftlich in Deutsch auf Bert ein, und Bert nickte und lächelte. Durch Kurz' Vermittlung erhielt Bert, dessen Knöchel beinahe erfroren waren, ein Paar Schaftstiefel von einem der Verwundeten.
Nachmittags legte sich der Wind fast ganz, und kleine, vereinzelte Schneeflocken trieben vorbei. Auch unten lag jetzt reichlicher Schnee, und die einzigen Bäume waren Kiefern und Schimmelfichten in den tieferen Tälern. Kurz ging mit drei von den Leuten in die noch intakten Gaskammern, ließ eine gewisse Quantität Gas ausströmen und bereitete eine Reihe der Füllungen zum Aufschlitzen vor für den Abstieg. Auch der Rest von Bomben und Granaten im Magazin wurde über Bord geworfen und fiel, laut detonierend, in die Wildnis drunten. Und gegen vier Uhr nachmittags, auf einer weiten, felsigen Ebene, angesichts schneebedeckter Berge, landete die »Vaterland« …
Es war dies – notgedrungen – eine schwierige und böse Sache; denn die »Vaterland« war nicht auf die Notfälle eines Ballons eingerichtet. Der Kapitän ließ eine Füllung zu früh aufreißen und die andere nicht früh genug. Das Luftschiff fiel schwer zu Boden, prallte ungeschickt wieder ab und zerschmetterte dabei die Hängegalerie vorn, wobei Winterfeld tödlich verletzt wurde. Dann, nachdem es ein paar Augenblicke lang auf der Erde geschleift hatte, fiel es plötzlich, sich überkollernd, um. Der Schild vorn und das Maschinengeschütz stürzten auf die Dinge, die unter ihnen waren. Zwei Männer wurden durch umherfliegende Stangen und Drähte schwer verwundet, der eine brach sich ein Bein, der andere trug innere Verletzungen davon – und Bert war eine Zeitlang unter der Flanke des Luftschiffs eingeklemmt. Als er endlich wieder frei war und sich die Situation betrachten konnte, lag der große schwarze Adler, der sechs Tage vorher so stolz aus Franken aufgestiegen war, platt, alle viere von sich streckend, auf den Kabinen des Luftschiffs und den kalten Felsen dieses öden Ortes. Mehrere von der Mannschaft standen schweigend herum und besahen sich das Wrack und die Wildnis, in die sie geraten waren. Andere hantierten unter dem improvisierten Zelt herum, das aus den leeren Gaskammern hergestellt worden war. Der Prinz hatte sich ein paar Schritte von dem Luftschiff entfernt und suchte durch seinen Feldstecher die fernen Höhen ab. Sie sahen aus wie ehemalige Seeklippen; da und dort standen kleine Gruppen von Koniferen, an zwei Stellen stürzten Wasserfälle herab. Die nähere Umgebung war von vereistem Geröll bedeckt und zeigte nichts als eine kümmerliche alpine Vegetation von niederen Stämmen und stengellosen Blumen. Kein Fluß war zu sehen; aber die Luft war erfüllt vom Brausen und Tosen eines nahen Stroms. Ein kalter, schneidender Wind blies. Ab und zu trieb eine Schneeflocke vorbei. Die harte gefrorene Erde unter Berts Füßen fühlte sich seltsam tot und schwer an nach dem elastischen federnden Luftschiff.
So kam es, daß der große und allmächtige Prinz Karl Albert eine Zeitlang aus dem gewaltigen Konflikt, den er doch hauptsächlich heraufbeschworen hatte, herausgeschleudert war. Kriegs- und Wettergeschick taten sich zusammen, ihn im öden Labrador ans Land zu setzen, und da tobte er nun, sechs endlose Tage lang, während Krieg und Bestürzung die Welt erfüllten. Nation erhob sich gegen Nation, und Luftflotte kämpfte gegen Luftflotte; Städte flammten auf und Menschen starben in ungezählten Mengen; aber in Labrador hätte man träumen können, daß – ausgenommen ein bißchen Gehämmer – die Welt voll Frieden sei.
Das Lager war aufgeschlagen; von fern sahen die mit der Seide des Ballons überdeckten Kabinen aus wie ein Zigeunerlager etwas außergewöhnlichen Charakters, alle verfügbaren Hände waren geschäftig, aus dem Stahl des Rahmenwerks einen Mast zu bauen, an dem die Elektrotechniker der »Vaterland« die langen Antennen des Apparats für drahtlose Telegrafie aufhängen konnten, der den Prinzen wieder mit der Welt in Verbindung setzen sollte. Es gab Zeiten, in denen es schien, als würden sie diesen Mast niemals auftakeln können. Von Anfang an erduldeten sie viel Ungemach. Sie waren nicht allzu reichlich verproviantiert und wurden auf kleine Ration gesetzt, und trotz der dicken Kleidungsstücke, die sie hatten, waren sie nur schlecht gegen den schneidenden Wind und die ungastliche Rauheit dieser Wildnis ausgerüstet. Die erste Nacht wurde im Dunkeln und ohne Feuer zugebracht. Die Maschinen, die Kraft erzeugt hatten, lagen zertrümmert irgendwo fern im Süden, und unter der ganzen Gesellschaft fand sich nicht ein einziges Streichholz. Streichhölzer mit sich zu führen hatte Tod bedeutet. Alle Geschosse waren aus dem Magazin geworfen worden; und erst gegen Morgen gestand der vogelgesichtige junge Mann, den Bert einst aus seiner Kabine vertrieben hatte, daß er ein paar Duellpistolen und Patronen mit sich führte, vermittelst derer ein Feuer angezündet werden konnte. Später fand man in den Behältern des Maschinengeschützes einen Vorrat unverbrauchter Munition.
Es war eine böse, fast endlos scheinende Nacht. Kaum einer schlief. Sieben Verwundete waren an Bord, und Graf Winterfeld, der am Kopf verletzt war, fieberte und delirierte, rang mit seinem Wärter und schrie mit lauter Stimme allerlei seltsame Dinge über den Brand von New York. Die Männer in der Kantine, eingehüllt in alles, was sie eben erwischen konnten, rückten im Dunkel dichter aneinander, tranken Kakao von den feuerlosen Kochapparaten und lauschten seinem Schreien. Am Morgen hielt ihnen der Prinz eine Rede über die Vorsehung und den Gott seiner Väter und was für ein Glück und Ruhm es sei, sein Leben für sein Herrscherhaus zu lassen, und eine Anzahl ähnlicher Betrachtungen, auf die die Leute sonst vielleicht in dieser öden Wildnis nicht verfallen wären. Sie riefen ohne Begeisterung ihr Hurra! Und in der Ferne heulte ein Wolf.
Dann machten sie sich an die Arbeit, und eine Woche lang mühten sie sich damit ab, einen Stahlmast zu errichten und einen Rost von Kupferdrähten – zweihundert Fuß bei zwölf – daran aufzuhängen. Das Hauptthema dieser ganzen Zeit war Arbeit, Arbeit, Arbeit, ununterbrochene, angestrengte, mühsame Arbeit; und der Rest war – mit Ausnahme einer gewissen wilden Großartigkeit im Sonnenauf- und -untergang, in den Strömen und treibenden Wolken, in der ganzen Einöde um sie her – grimmiges Ungemach und böse Abenteuer. Sie errichteten und unterhielten einen Ring Tag und Nacht brennender Feuer, einzelne Trupps streiften nach Holz umher und stießen auf Wölfe, und die Verwundeten in ihren Betten wurden aus den Luftschiffkabinen geholt und in Zelten um die Feuer gelagert. Der alte Graf Winterfeld tobte und delirierte, bis er schließlich still wurde und starb. Und drei der Verwundeten siechten aus Mangel an guter Nahrung hin, während ihre Kameraden sich erholten. All das ging sozusagen in den Kulissen vor sich; der Hauptzug jener Zeit war – in Berts Bewußtsein – immer und vor allem Arbeit, unaufhörliche Arbeit, ein Halten und Heben, ein Zerren an schweren und schwerfälligen Massen, ein endloses [Feilen] und Winden von Drähten, und – in zweiter Linie – der Prinz, aufstachelnd, drohend, sobald einer der Leute nachließ. Er pflegte sich neben ihnen aufzustellen und über ihre Köpfe weg südwärts in den leeren Himmel zu deuten. »Dort, die Welt«, sagte er, »wartet auf uns. Fünfzig Jahrhunderte haben dort ihr Ende gefunden!« Bert verstand die Worte nicht, aber er deutete sich die Gebärde. Verschiedene Male wurde der Prinz zornig. Einmal über einen Mann, der zu langsam arbeitete, ein andermal über einen, der einem Kameraden die Ration gestohlen hatte. Den ersten schalt er und schickte ihn an eine noch mühseligere Arbeit; der zweite wurde körperlich gezüchtigt. Er selbst arbeitete nicht. In der Nähe der Feuer war ein offener Platz, auf dem er oft zwei Stunden lang mit gekreuzten Armen hin und her zu gehen pflegte, sich selbst etwas von seinem Schicksal und von Geduld vormurmelnd. Zeitweilig brach dieses Gemurmel in lautes Reden, in Rufe und Gesten aus, so daß die Arbeitenden innehielten; dann starrten sie zu ihm hinüber, bis sie merkten, daß seine blauen Augen sie anfunkelten. Stets deutete seine Hand nach den südlichen Bergen. Sonntags wurde die Arbeit auf eine halbe Stunde eingestellt, der Prinz hielt eine Predigt über Gottvertrauen und Gottes Freundschaft für David, und nachher sangen alle: »Ein' feste Burg ist unser Gott!«
Langsam, mühselig, wurde der große Mast aufgetakelt und Fuß um Fuß aufgerichtet. Die Elektrotechniker hatten in dem nahen Strom eine Schleuse und ein Rad zuwege gebracht – denn der kleine Mülhausener Dynamo mit seiner Turbinenwelle, dessen sich die Telegrafisten bedienten, ließ sich leicht durch Wasser treiben –, und am Abend des sechsten Tages war der Apparat fertig und der Prinz rief – schwach zwar, aber er rief doch – über den leeren Weltenraum seine Luftflotte an. Eine Zeitlang rief er ungehört. Das Bild dieses Abends sollte lang in Berts Erinnerung haften. Dicht bei den arbeitenden Elektrotechnikern sprühte und flammte ein rotes Feuer, und rote Funken huschten an dem vertikalen stählernen Mast und den Kupferdrähten zum Zenit empor. Der Prinz saß auf einem Felsen dicht daneben, das Kinn in die Hand gestützt, und wartete. Hinter ihm, gegen Norden, war der Hügel, der den Grafen Winterfeld deckte, überragt von einem stählernen Kreuz. Aus übereinandergestürzten Felsblöcken in einiger Entfernung funkelten rot die Augen eines Wolfs. Auf der anderen Seite lag das Wrack des großen Luftschiffs; und um eine zweite düsterrote Flamme biwakierten die Leute. Sie verhielten sich alle sehr schweigsam, als warteten sie auf die Nachrichten, die bald zu ihnen dringen mußten. Und weit in der Ferne – über Hunderte von Meilen der Öde weg ticktackten und klapperten vielleicht in vibrierender Erwiderung andere Apparate. Vielleicht auch nicht. Vielleicht verloren sich diese Pulsschläge gegen den Äther, in eine stumme und taube Welt. Wenn die Leute sprachen, so sprachen sie mit leiser Stimme. Dann und wann schrie in der Ferne ein Vogel; und einmal heulte ein Wolf. Und das alles im Rahmen der endlosen, kalten Weite der Wildnis.
Bert erfuhr die Neuigkeiten zuletzt – größtenteils in gebrochenem Englisch – von einem Sprachkundigen unter seinen Kameraden. Erst spät in der Nacht erhielten die müden Telegrafisten Antwort auf ihr Anrufen; aber von da ab kamen die Nachrichten kräftig und klar. Und was für Nachrichten!
»He!« sagte Bert beim Frühstück inmitten des allgemeinen Lärms, »erzählen Sie doch ein bißchen!«
»Die ganze Welt führt Krieg!« sagte der Sprachbeflissene, indem er zur Verdeutlichung seinen Kakao schwenkte – »die ganze Welt führt Krieg.«
Bert starrte nach Süden, ins Tagesdämmern. Es sah nicht so aus.
»Die ganze Welt führt Krieg. Sie haben Berlin eingeäschert; sie haben London eingeäschert; sie haben Hamburg und Paris eingeäschert. Wir haben ein Lager aufgeschlagen in Niagara. So sagen sie. China hat eine Unzahl von Drachenfliegern und Luftschiffen. Die ganze Welt führt Krieg!«
»Alle Wetter!« sagte Bert.
»Ja!« sagte der Sprachbeflissene, seinen Kakao trinkend.
»London eingeäschert, sagen Sie? So wie wir New York?«
»Ein richtiges Bombardement.«
»Sie erwähnen nichts von einem Ort, der Clapham heißt – oder Bun Hill – was?«
»Ich habe nichts gehört«, sagte der Sprachbeflissene.
Das war alles, was Bert vorläufig erfahren konnte. Aber die Aufregung all der Leute um ihn herum wirkte ansteckend. Bald darauf sah er Kurz, die Hände auf dem Rücken, einsam dastehen und unverwandt nach einem der fernen Wasserfälle blicken. Er ging zu ihm hin und salutierte militärisch. »Herr Leutnant werden entschuldigen.«
Kurz wandte ihm sein Gesicht zu. Es war diesen Morgen ungewöhnlich ernst. »Ich dachte eben, ich möchte mir diesen Wasserfall aus der Nähe besehen«, sagte er. »Er erinnert mich – was wollen Sie?«
»Ich kann mir keinen Vers machen aus dem, was die Leute sagen, Herr Leutnant! Wären Sie so gut und sagten mir, wie es steht?«
»Zum Henker steht's!« sagte Kurz. »Sie werden schon noch zur Genüge erfahren, wie's steht, ehe der Tag herum ist. Das Ende der Welt ist's. Sie schicken die ›Graf Zeppelin‹ nach uns aus. Morgen wird sie hier sein – oder wird ewige Vernichtung sein … Ich möchte mir den Wasserfall ansehen. Kommen Sie mit! Haben Sie ihre Ration gehabt?«
»Zu Befehl, Herr Leutnant.«
»Schön. Also kommen Sie!«
Und in tiefem Sinnen schritt Kurz voraus – den Weg über die Felsen zum fernen Wasserfall. Bert wanderte eine Weile hinterdrein, wie eine Eskorte; dann, als sie aus dem Bereich des Lagers waren, mäßigte Kurz seinen Schritt, bis Bert ihn eingeholt hatte.
»In zwei Tagen sind wir wieder mitten drin«, sagte er. »Und ein höllischer Krieg ist's! So steht's! Die Welt ist verrückt geworden. Unsere Flotte hat die Amerikaner in der Nacht, in der wir havariert wurden, geschlagen – das ist klar. Wir haben elf Luftschiffe verloren – elf – und ihre Aeroplane sind sämtlich zertrümmert. Gott weiß, wie viele wir vernichtet und wie viele wir getötet haben! Aber das war nur der Anfang. Unser Ausrücken war, wie wenn man ein Pulvermagazin in Brand setzt. Über ganz Europa – über die ganze Welt weg kämpfen sie in der Luft! Die Japaner und Chinesen mitten drin. Das ist das Überwältigende! … Daß die sich in unsere kleinen Händel gemischt haben! … Daß die gelbe Gefahr schließlich doch eine Gefahr war! Tausende von Luftschiffen haben sie! Über die ganze Welt hin sind sie! Wir haben London und Paris bombardiert, und die Franzosen und Engländer haben Berlin vernichtet. Und jetzt ist Asien hinter uns allen her – und ist obenauf! … Es ist einfach verrückt! Wahnsinn! China obenauf! Und sie wissen nicht, wo aufhören. Es ist einfach schrankenlos. Es herrscht die äußerste Verwirrung. Sie bombardieren Städte, sie zertrümmern Werften und Fabriken, Minen und Flotten …«
»Haben sie London schlimm zugerichtet, Herr Leutnant?« fragte Bert.
»Weiß der Himmel …«
Eine Weile sagte er gar nichts mehr.
»Dieses Labrador scheint ein stiller Ort zu sein«, begann er endlich wieder. »Fast möcht' ich hier bleiben. Aber es geht nicht. Nein! Ich muß aushalten. Ich muß aushalten. Und Sie auch. Alle … Und doch – weshalb? … Ich sag' Ihnen, unsere Welt ist dahin. Es gibt keinen Weg hinaus – es gibt keinen Weg zurück … Wir sind, wo wir sind! Wir sind wie Ratten, die in einem brennenden Haus eingesperrt sind – wir sind wie Vieh, das eine Sturmflut überrascht. Bald wird das Unheil uns eingeholt haben, und wir müssen zurück … in den Kampf … Wir werden wieder töten und vernichten – vielleicht. Diesmal ist's eine chino-japanische Luftflotte, und die Chancen sind gegen uns. Auch an uns kommt die Reihe. Was mit Ihnen wird, weiß ich nicht. Aber was mit mir wird, weiß ich. Ich werde fallen.«
»Es wird schon gutgehen mit Ihnen!« sagte Bert nach einer eigentümlichen Pause.
»Nein!« sagte Kurz. »Ich werde fallen. Vorher hab' ich es nicht gewußt, aber heut' morgen – beim Tagesgrauen – wußt' ich es – als ob es mir einer gesagt hätte.«
»Wieso?«
»Ich sag' Ihnen, ich weiß es.«
»Aber wieso können Sie es wissen?«
»Ich weiß es.«
»Als ob einer es Ihnen gesagt hätte?«
»Ich weiß es.«
»Ich weiß es«, wiederholte er noch einmal, und eine Weile wanderten sie stumm dem Wasserfall zu
Kurz ging, in Sinnen versunken, rasch dahin. Schließlich fing er wieder an: »Ich bin mir immer jung vorgekommen, Smallways. Aber heut' morgen komm' ich mir alt vor – alt! So alt! … Näher dem Tode als die meisten alten Leute. Immer hab' ich gedacht, das Leben sei ein Spaß – Aber das ist es nicht … All das ist ja immer gewesen – wahrscheinlich – Krieg und Erdbeben, all das, was über alle Ordnung des Lebens hinwegfegt. Es ist nur, als wär' ich zum erstenmal zu all dem aufgewacht. Jede Nacht – seit wir in New York waren – hab' ich davon geträumt … Und immer war das so … immer ist das so gewesen … Das ist das Leben! Die Menschen werden weggerissen von denen, die sie lieben; Heimstätten zerstört, Geschöpfe voller Leben und Erinnerungen und kleiner Eigenarten werden zerquetscht und verbrannt und in Stücke gerissen, dem Hungertod ausgesetzt, vernichtet. London! Berlin! San Francisco! Denken Sie bloß – all die Menschenschicksale, denen wir in New York ein Ende gemacht haben! … Und die andern leben einfach weiter, als ob all so was unmöglich wäre! Wie ich weitergelebt habe! Wie die Tiere! Genau wie die Tiere!«
Eine lange Weile sagte er nichts mehr; dann entfuhr es ihm: »Der Prinz ist wahnsinnig!«
Sie gelangten an eine Stelle, wo sie klettern mußten, und hierauf zu einem langen Strich Moor neben einem Bach. Eine Anzahl kleiner, zarter, roter Blüten fesselte Berts Auge. »Wetter!« sagte er und bückte sich, um eine zu pflücken. »An einem Ort wie hier!«
Kurz blieb stehen und wandte sich halb ab. Ein Zucken ging über sein Gesicht.
»Ich habe nie solche Blumen gesehen«, sagte Bert. »So zierlich!«
»Pflücken Sie nur mehr, wenn Sie wollen«, sagte Kurz.
Das tat Bert, während Kurz daneben stand und ihm zusah. »Komisch, daß man Blumen immer pflücken muß!« sagte Bert. Kurz erwiderte nichts darauf.
Zuletzt kamen sie zu einer felsigen Anhöhe, von wo aus sich der Blick auf den Wasserfall öffnete. Hier blieb Kurz stehen und setzte sich auf einen Felsen. »Weiter wollte ich nicht sehen«, erklärte er. »Es ist nicht ganz so, aber doch ähnlich genug.«
»Ganz wie?«
»Wie ein anderer Wasserfall, den ich kenne.«
Plötzlich fragte er unvermittelt: »Haben Sie ein Mädchen, Smallways?«
»Komisch«, sagte Bert, »vermutlich sind's die Blumen – ich dachte gerade an sie.«
»Ich auch!«
»Was! An Edna?«
»Nein! Ich dachte an meine Edna. Wir haben jeder unsere Edna, vermute ich, mit der unsere Phantasie beschäftigt ist. Aber das ist ja doch alles zu Ende – für immer. Es ist hart, zu wissen, daß ich sie nicht mehr sehen kann – nur wenigstens eine Minute – nur eben sie wissen lassen, daß ich an sie denke.«
»Aller Wahrscheinlichkeit nach«, sagte Bert, »werden Sie sie vergnügt wiedersehen.«
»Nein«, sagte Kurz mit Bestimmtheit, »ich weiß.«
»Ich traf sie«, fuhr er fort, »an einem Ort, wie dieser hier – in den Alpen – auf der Engstlenalp. Es ist ein Wasserfall dort – ungefähr wie der hier – ein breiter Wasserfall – nach Innertkirchen zu. Darum bin ich heut morgen hierhergegangen. Wir machten uns damals heimlich fort und verbrachten da einen halben Tag zusammen. Und wir pflückten Blumen. Genau solche Blumen, wie Sie sie gepflückt haben. Dieselben, glaube ich. Und Gentianen.«
»Ich weiß«, sagte Bert, »– ich und Edna – wir haben das auch gemacht. Blumen. Und all so was. Kommt mir vor, als lägen Jahre dazwischen!«
»Sie war schön und keck und scheu. O Gott! … Ich kann's fast nicht aushalten vor Sehnsucht, sie noch einmal zu sehen und ihre Stimme zu hören, ehe ich sterbe. Wo ist sie? … Sie, Smallways, ich werd' so was wie einen Brief schreiben … Und da habe ich ihr Bild.« Er berührte seine Brusttasche.
»Sie werden sie ganz sicher wiedersehen«, sagte Bert.
»Nein, ich werd' sie nie wiedersehen … Ich verstehe nicht, warum die Menschen einander begegnen müssen, bloß um auseinandergerissen zu werden. Aber ich weiß, sie und ich, wir werden einander nie wiedersehen. Das weiß ich so sicher, wie daß die Sonne wieder aufgehen und der Wasserfall dort funkelnd über die Felsen herabstürzen wird, wenn ich längst tot und vergessen bin … Oh! Es ist alles Dummheit und Gehetze und Gewalttätigkeit und grausame Torheit und blinder Haß und selbstsüchtiger Ehrgeiz – alles, was die Menschen getan haben – alles, was sie je tun werden! Herrgott, Smallways! Was für ein Unsinn und Wirrwarr das Leben doch immer gewesen ist – mit seinen Schlachten und Metzeleien, mit all seinem Verderben und Haß und Mord und Fieber und Trug und seinen Gewalttätigkeiten! Ich hab' heut morgen die ganze Geschichte so satt, als wär' ich überhaupt jetzt erst dahintergekommen. Ich bin auch dahintergekommen. Wenn ein Mann des Lebens müde ist, so wird es wohl Zeit sein für ihn zu sterben. Ich hab' alle Freudigkeit verloren; der Tod ist mir nahe. Der Tod steht ganz dicht hinter mir, und ich weiß, ich bin am Ende. Aber denken Sie, all die Hoffnungen, die ich noch vor einer ganz kurzen Weile hatte, das Gefühl, am Anfang eines schönen Lebens zu stehen! … Es war alles Wahn! Es war gar kein Anfang … Wir sind einfach Ameisen in Ameisenstädten, in einer Welt, die nichts zu bedeuten hat, die einfach weitergeht und ins Nichts taumelt … New York – nicht einmal New York kommt mir besonders schrecklich vor. New York war nichts als ein Ameisenhaufen, den eines Narren Fuß über den Haufen geworfen hat!
»Denken Sie doch, Smallways! Überall ist Krieg. Sie vernichten ihre Zivilisation, ehe sie sie überhaupt aufgebaut haben. Was die Engländer in Alexandrien, die Japaner in Port Arthur, die Franzosen in Casablanca getan haben, wird überall getan! Überall, auf der ganzen Welt! In Südamerika kämpfen sie untereinander. Kein Ort ist sicher – kein Ort hat Frieden. Es gibt keinen Ort, wo eine Frau mit ihrer Tochter sich verbergen und im Frieden leben könnte. Der Krieg kommt durch die Luft, Bomben fallen des Nachts. Ruhige Menschen gehen morgens aus und sehen über sich Luftflotten vorüberziehen, aus denen es Tod regnet – Tod …«