Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweiter Teil
Leben und Tod des Harry Mortimer Smith

Fünftes Kapitel
Fanny tritt wieder auf

1

»Und nun«, sagte Sarnac, »komme ich auf das Wesentliche im Leben jener Zeit zu sprechen und kann euch schildern, was Liebe in jener übervölkerten, schmutzigen, furchterfüllten Welt, in jenem London des Nebels und des bernsteinfarbigen Sonnenlichtes gewesen ist. Sie war ein karges, wildes, scheues und dabei waghalsiges Gefühl in einem dunklen Walde der Grausamkeit und Unterdrückung und alterte schnell, verkümmerte, wurde bitter und düster. Mich aber ereilte der Tod so früh, daß ich mit einer lebendigen Liebe im Herzen starb ...«

»Um zu neuem Leben zu erwachen«, sagte Heliane leise.

»Zu neuem Leben und zu neuer Liebe«, sagte Sarnac und klopfte sie aufs Knie. »Doch hört weiter ...«

Er nahm ein Stück Holz, das aus dem Feuer gefallen war, warf es in die hellen Flammen und sah zu, wie es zu brennen begann.

»Ich glaube, das erste Wesen, in das ich mich verliebte, war meine Schwester Fanny. Als Knabe von elf oder zwölf Jahren war ich bestimmt in sie verliebt. Um dieselbe Zeit war ich aber auch in eine nackte Gips-Nymphe verliebt, die tapfer auf einem wasserspeienden Delphin in einem öffentlichen Garten von Cliffstone saß. Sie lächelte mit zurückgeworfenem Kopf, den einen Arm winkend hochgehoben, und ihr Lächeln war das Süßeste, ihr Körper das Lieblichste, was man sich vorstellen konnte; ihr Rücken schien mir besonders reizend. An einer bestimmten Stelle konnte man sie von hinten betrachten und dabei die sanfte Kurve ihrer lächelnden Wange sehen, ihre lustige kleine Nasenspitze und die sanfte Rundung ihrer Brust unter dem erhobenen Arm. Ganz heimlich schlich ich immer wieder an diesen Platz, denn das Gefühl von Scham, mit dem man in jener Zeit vollgesogen war, verbot einem, dergleichen harmlos und frei zu betrachten, und ich konnte mich nicht satt sehen an ihr.

Eines Tages, als ich meine Nymphe in dieser Weise anbetete – halb gegen sie, halb gegen ein Blumenbeet gewendet, so daß ich sie von der Seite sehen konnte –, bemerkte ich einen ältlichen Herrn mit breitem, bleichem Gesicht auf einem Gartenstuhl, der sich nach vorne beugte und mich mit einem Ausdruck ekelhafter List betrachtete, als ob er mich ertappt und mein Geheimnis erraten hätte. Er sah aus wie der Fleisch gewordene Geist der Lüsternheit. Da ergriff mich wilder Schrecken, ich stürzte fort und ging nie wieder in jenen Garten. Es war, als ob ein Engel mit flammendem Schwert mich von ihm ferngehalten hätte, oder die Angst, dem scheußlichen alten Kerl wieder zu begegnen ...

Nachdem ich nach London übersiedelt war, wurde Miß Beatrice Bumpus die Beherrscherin meiner Phantasie. Sie war mir Venus und alle Göttinnen, und das Gefühl für sie nahm sogar zu, als sie schon fort war. Denn sie war von uns weggezogen, um, wie ich glaube, den jungen Mann zu heiraten, den ich so sehr haßte. Sie gab die Arbeit für das Frauenstimmrecht auf und wurde ohne Zweifel von der jagdliebenden Familie Bumpus in Warwickshire freudig willkommen geheißen, wahrscheinlich schlachtete man einen fetten Fuchs zur Feier ihrer Heimkehr. Doch ihr fröhliches, offenes, knabenhaftes Gesicht blieb lange noch in meinen Träumen lebendig. Immer wieder rettete ich ihr bei wilden Abenteuern in allen Weltteilen das Leben, und manchmal befreite auch sie mich aus Gefahr. Über fürchterlichen Abgründen und auf steilen Klippen klammerten wir uns aneinander, bis ich müde einschlief. Und wenn ich der siegreiche Mahomet war, dann trat sie nach der Schlacht aus der Schar gefangener Frauen hervor und antwortete auf meine Behauptung, ich würde sie niemals lieben, durch Zigarettenrauch hindurch mit dem Worte ›Lügner!‹

Ich hatte keinen Umgang mit Mädchen meines Alters, so lange ich Laufbursche bei Mr. Humberg war; die Abendschule und meine Lektüre hielten mich von Bekanntschaften auf der Straße ab. Nur wenn ich manchmal meine Aufmerksamkeit nicht auf meine Bücher konzentrieren konnte, schlüpfte ich aus dem Hause und begab mich in die Victoria Street, wo im Glanz elektrischer Lampen ein nächtlicher Bummel abgehalten wurde. Schulmädchen, kleine Dirnen, Laufburschen und Soldaten promenierten dort und sprachen einander an. Obwohl ich mich von manch einer der Mädchengestalten, die an mir vorüberhuschten, angezogen fühlte, war ich doch zu scheu und zu wählerisch, um mich in diese Gesellschaft zu mischen. Ein heftiges Verlangen in mir trieb mich etwas Starkem und Schönem entgegen, das immer wieder verschwand, sobald ich auf eine Verwirklichung meiner Wünsche zu hoffen begann.«

2

»Noch vor Ablauf eines Jahres waren in der Pension in Pimlico verschiedene Veränderungen eingetreten. Die armen alten Moggeridges bekamen Influenza – eine Epidemie, die in jenen Tagen dauernd, wenn auch bald stärker, bald schwächer herrschte – und erlagen einer als Folge der Krankheit auftretenden Lungenentzündung. Sie starben kurz nacheinander, in einem Abstand von drei Tagen, und meine Mutter und Prue waren die einzigen Trauernden bei ihrem armseligen Begräbnis. Frau Buchholz verschwindet aus meiner Geschichte – ich weiß nicht genau, wann sie das Haus verließ, noch wer ihr Nachfolger wurde. Miß Beatrice Bumpus ließ die Sache des Frauenstimmrechts im Stich und zog fort; das erste Stockwerk wurde von einem nur zeitweilig auftauchenden Paar gemietet, das meiner Mutter äußerst verdächtig erschien und sie zu bösen Auseinandersetzungen mit Matilda Good veranlaßte.

Die neuen Mieter zogen nämlich nicht richtig, mit großem Gepäck ein, sondern erschienen für einen oder zwei Tage, um dann für eine Woche oder länger wieder zu verschwinden; auch kamen oder gingen sie meist nicht miteinander. Das löste moralische Betrachtungen bei meiner Mutter aus, sie begann anzudeuten, daß die beiden am Ende nicht richtig verheiratet seien, und verbot Prue, die Zimmer des ersten Stockwerkes zu betreten. Darüber kam es zu einem Streit mit Matilda.

›Was ist das für eine Geschichte mit Prue und dem ersten Stock?‹ fragte Matilda. ›Du bringst das Mädchen ja auf Gedanken.‹

›Ich bemühe mich, sie davor zu bewahren,‹ erwiderte Mutter; ›sie hat doch Augen.‹

Und Finger‹, sagte Matilda bedeutungsvoll. ›Und was hat Prue denn gesehen?‹

›Allerlei.‹

›Was zum Beispiel?‹ fragte Matilda.

›Zum Beispiel, daß seine Sachen ein Monogramm haben und ihre ein anderes. Aber keines von beiden hat ein M, und sie haben sich doch als Milton eingeschrieben. Und dann die Art, wie die Frau mit einem spricht; als ob sie fürchtete, daß man etwas bemerken könnte, freundlich und etwas schüchtern. Aber das ist noch nicht alles, lange noch nicht alles; ich bin nicht blind; und Prue ist nicht blind. Das ist ein Geküsse und Getue zu den verschiedensten Tageszeiten, oft gleich, nachdem sie gekommen sind. Sie können kaum erwarten, bis man aus dem Zimmer draußen ist. Ich bin doch nicht ganz dumm, Matilda. Ich bin doch verheiratet gewesen.‹

›Was geht das uns an? Wir sind doch ein Logierhaus! Und wenn das Ehepaar Milton seine Wäsche auch mit hundert verschiedenen Monogrammen gezeichnet hätte, was schert es uns? In meinem Buch steht bei ihrem Namen immer »im voraus bezahlt«, und das genügt mir in Bezug auf ihre Moral. Du taugst wirklich nicht zur Angestellten in einer Pension, Martha, wirklich nicht, du bist verständnislos und schwerfällig, du hast kein »savoir – faire«. Was für Geschichten du gemacht hast wegen des Jungen und Miß Bumpus, geradezu lächerlich war das! Und nun scheinst du dich wegen Prue und Mrs. Milton noch mehr aufregen zu wollen. Sie ist eine Dame, verstehst du? – was du auch sagen magst, und obendrein eine liebenswürdige Frau. Ich wünschte, du würdest dich mehr mit deinen Angelegenheiten beschäftigen, Martha, und Mr. und Mrs. Milton in Frieden lassen. Und wenn sie schon nicht richtig verheiratet sind, so wirst du es doch nicht zu verantworten haben. Du kannst dich ja dann beim Jüngsten Gericht mit ihnen auseinandersetzen. Vorläufig tun sie eigentlich niemandem etwas Böses, ein ruhigeres und angenehmer zu bedienendes Paar habe ich schon lange nicht in meinem Hause gehabt.‹

Meine Mutter antwortete nichts.

›Habe ich vielleicht nicht recht?‹ fragte Matilda herausfordernd.

›Es ist bitter, ein so schamloses Weib bedienen zu müssen‹, sagte meine Mutter trotzig und mit weißen Lippen.

›Es ist noch bitterer, ein schamloses Weib geheißen zu werden, nur weil man auf einigen Wäschestücken noch das Monogramm aus der Mädchenzeit hat‹, erwiderte Matilda. ›Rede doch nicht solchen Unsinn, Martha.‹

›Und wieso hat er verschiedene Monogramme? Hat er vielleicht auch seinen Mädchennamen auf seinen Pyjamas?‹ fragte meine Mutter nach einer Pause.

›Du verstehst gar nichts, Martha‹, sagte Matilda, ein Auge gehässig auf meine Mutter gerichtet, indes das andere, die Frage überdenkend, in die Ferne blickte. ›Ich habe mir das schon oft gedacht, nun aber sag' ich es dir einmal: Du verstehst rein gar nichts. Ich habe die Absicht, Mr. und Mrs. Milton so lange als möglich bei mir zu behalten, und wenn du zu zimperlich bist, sie zu bedienen, dann wird sich jemand anderer dafür finden. Ich wünsche nicht, daß meine Mieter beleidigt werden, ich wünsche nicht, daß man ihnen ihre Wäsche vorwirft. Und überhaupt, vielleicht hat er sich seine Pyjamas ausgeliehen, oder hat sie geschenkt bekommen – von jemandem, dem sie nicht paßten. Oder er hat plötzlich seinen Namen geändert, das geschieht oft, du kannst es in der Zeitung lesen. Oder in der Wäscherei wird was verwechselt, bei manchen Wäschern ist das gang und gäbe. Mr. Plaice zum Beispiel kam mit einem Kragen vom Urlaub zurück, der war mit F gezeichnet. Und so was ist für dich ein verdächtiges Anzeichen! Ich hoffe, du wirst jetzt nicht auch gegen Mr. Plaice Anklage erheben und sagen, er führt am Ende ein Doppelleben und ist kein richtiger Junggeselle. Überleg' dir die Sachen doch besser, Martha, und denk' nicht immer gleich was Böses. So leicht kann jemand einem verdächtig vorkommen und doch unschuldig sein. Aber du denkst gern Schlechtes von den Leuten, ich hab' das oft und oft bemerkt, du schwelgst förmlich darin. Du hast nicht die Spur christlicher Nächstenliebe in dir.‹

›Was soll man tun, wenn man mit der Nase auf gewisse Dinge gestoßen wird? Man kann nicht anders, als sie sehen›, sagte meine Mutter schon etwas kleinlaut.

Du kannst nicht anders‹, sagte Matilda. ›Es gibt Leute, die können nicht weiter sehen als ihre Nase, und trotzdem sehen sie zu viel. Und je besser ich dich kennen lerne, desto mehr komme ich zu der Ansicht, daß du zu dieser Sorte gehörst. Auf jeden Fall bleiben die Miltons hier; wenn einer geht, so ist das wer anderer. Ich hoffe, du hast mich verstanden, Martha.‹

Meine Mutter war sprachlos. Sie beherrschte sich und ließ von ihrem Thema ab. Während mehrerer Tage blieb sie verstimmt und sprach nur, wenn es unbedingt notwendig war oder wenn man sie etwas fragte. Matilda schien das weiter nicht zu rühren. Ich bemerkte, daß meiner Mutter steife Haltung noch steifer wurde, als Prue bald nach der geschilderten Auseinandersetzung zu den Miltons hinaufgehen mußte, doch erhob sie keinen weiteren Einspruch.«

3

»Bald darauf trat Fanny aufs neue in meinen Gesichtskreis.

Ein bloßer Zufall schenkte sie mir wieder. All unsere früheren Beziehungen waren gelöst worden, als wir von Cliffstone nach London zogen. Mein Bruder Ernst war Fannys Herold.

Wir saßen im Kellerzimmer beim Abendbrot. Dieses Mahl war gewöhnlich sehr gemütlich, Matilda Good verschönte es meist durch gebratene oder geröstete Kartoffeln oder irgendein anderes Gemüse in Butter; solche Leckerbissen waren erfreuliche Beigaben zu Speck, Brot, Käse und Dünnbier. Und gewöhnlich las sie uns irgend etwas aus der Zeitung vor und besprach das Gelesene – sie war wirklich von lebhaftem Geist –, oder sie holte mich über meine Lektüre aus. Sie hatte großes Interesse an Mordfällen und ähnlichem, und von ihr angeregt, lernten wir über Prozesse und Verbrecher nachzudenken. ›Du magst meine Ansicht krankhaft nennen, Martha,‹ sagte sie, ›aber es gibt keinen Mord, der nicht ganz und gar in der menschlichen Natur begründet ist. Ganz und gar. Und manchmal kommt mir vor, daß wir gar nicht wissen, wessen ein Mensch fähig ist, ehe er nicht einen bis zwei Morde begangen hat.‹

Dergleichen Reden hatten fast immer die beabsichtigte Wirkung auf meine Mutter. ›Es ist mir unbegreiflich, wie du so etwas sagen kannst, Matilda‹, pflegte sie auszurufen ...

Wir hörten den Lärm eines Autos oben auf der Straße. Mein Bruder Ernst kam die Küchentreppe herunter, und Prue öffnete ihm die Tür. Er erschien in Chauffeuruniform, Lederjacke und Gamaschen, die Mütze in der Hand.

›Hast du heut' abend frei?‹ fragte Matilda.

›Court Theatre. Erst um elf Uhr aus‹, sagte Ernst. ›Und so dachte ich, ich könnte herkommen, mich wärmen und ein wenig schwatzen.‹

›Willst du nicht einen Bissen essen?‹ fragte Matilda. ›Prue, hol' einen Teller, Messer und Gabel und ein Glas. Ein Glas von diesem Bier wird dem Chauffeur nicht schaden. Nun, wir haben dich ja seit endloser Zeit nicht mehr gesehen!‹

›Ich danke Ihnen vielmals, Miß Good‹, sagte Ernst, der immer sehr höflich mit Matilda war. ›Ich bin viel herumgefahren in letzter Zeit, aber ich hätte Sie gern schon längst besucht.‹

Es wurde ihm ein Imbiß gereicht, und das Gespräch schlief eine Weile ein; man machte ein oder zwei Mal den Versuch, es in Gang zu bringen, aber es gelang nicht. Ernsts Miene verriet Nachdenklichkeit, und Matilda betrachtete ihn durchdringend.

›Und was hast du uns mitzuteilen, Erni?‹ fragte sie plötzlich unvermittelt.

›Nun,‹ sagte Ernst, ›das ist aber merkwürdig, daß Sie mich das fragen, denn ich hab' tatsächlich was mitzuteilen. Etwas – wie soll ich mich ausdrücken – etwas sehr Merkwürdiges.‹

Matilda füllte sein Glas von neuem.

›Ich hab' Fanny gesehen‹, sagte Ernst nach heftiger Anstrengung.

›Nein‹, entfuhr es Mutter, und einen Augenblick schwiegen alle.

›So?‹ sagte Matilda, legte die Arme auf den Tisch und neigte sich vornüber. ›Du hast Fanny gesehen! Sie war ein hübsches, kleines Geschöpf, ich erinnere mich ihrer ganz gut. Und wo hast du sie gesehen, Erni?‹

Ernst hatte rechte Mühe, seine Geschichte in Worte zu kleiden. ›Es war Dienstag vor einer Woche‹, sagte er nach einer Pause.

›Ist sie etwa so eine aus der Victoria Street?‹ fragte Mutter, nach Atem ringend.

›Hast du sie zuerst gesehen oder sie dich?‹ fragte Matilda.

›Dienstag war es gerade eine Woche‹, wiederholte mein Bruder.

›Hast du mit ihr gesprochen?‹

›Bis jetzt noch nicht, nein!‹

›Hat sie etwas zu dir gesagt?‹

›Nein.‹

›Wie hast du denn gewußt, daß es unsere Fanny war?‹ fragte Prue, die aufmerksam zugehört hatte.

›Ich hab' geglaubt, sie ist ins Ausland gegangen, da wir doch so nah von Boulogne waren‹, sagte meine Mutter. ›Ich hab' gedacht, die weißen Sklavenhändler hätten wenigstens die Anständigkeit, ein Mädchen aus seiner Heimat wegzubringen... Fanny in London auf der Straße! In unserer Nähe! Ich hab' ihr vorausgesagt, wie weit es mit ihr kommen wird, immer und immer hab' ich ihr's gesagt. Heirate einen ehrlichen Mann, hab' ich ihr gesagt, sie aber war habgierig und dickköpfig... dickköpfig und eitel... Sie hat doch nicht etwa versucht, dir nachzugehen und herauszufinden, wo wir wohnen?‹

Ernsts Gesichtsausdruck verriet Hilflosigkeit. ›Es war nichts Derartiges, Mutter,‹ sagte er, ›es war ganz anders. Gar nicht so, wie du denkst –‹

Er begann umständlich in der Brusttasche seiner enganliegenden Lederjacke etwas zu suchen und brachte schließlich einen ziemlich schmutzigen Brief zum Vorschein. Er hielt ihn in der Hand, hatte aber offenbar weder Lust ihn vorzulesen, noch ihn uns auszuliefern. Doch die Tatsache, daß er ihn in der Hand hielt, schien sein sehr dürftiges Erzählertalent zu beleben. ›Es ist am besten, wenn ich mit dem Anfang beginne‹, meinte er. ›Es war gar nicht so, wie ihr vermutet. Dienstag vor einer Woche war es.‹

Matilda legte die Hand beschwichtigend auf meiner Mutter Arm. ›Es war wohl am Abend?‹ fragte sie.

›Ich hatte jemanden zu einem Dinner und wieder zurückzufahren‹, sagte mein Bruder. ›Ihr dürft nicht vergessen, ich habe Fanny seit fast sechs Jahren nicht mehr gesehen. Sie aber hat mich erkannt.‹

›Du mußtest also Leute zu einem Dinner hinbringen und dann wieder abholen?‹

›Ja, auf Bestellung‹, sagte Ernst. ›Ich sollte nach Nummer 102 Brantismore Gardens fahren und eine Dame und einen Herrn abholen, um sie nach Church Row zu bringen, und sie dann um halb elf dort wieder abholen. So fuhr ich also nach Brantismore Gardens und sage dem Portier – es war eines von den großen Häusern, wo die Portiers Livree tragen –, daß ich unten bin und warte. Der Portier telephoniert hinauf. Nach einer Weile kommen eine Dame und ein Herr aus dem Haus, und ich stelle mich zum Auto und öffne den Schlag, wie ich das immer mache. Bis dahin war alles ganz wie gewöhnlich. Der Herr hatte einen Frack an, wie die meisten abends, und sie einen pelzbesetzten Mantel; und sie war schön frisiert, mit etwas Glänzendem im Haar. Ganz eine Dame.‹

›Und das war Fanny?‹ fragte Prue.

Ernst kämpfte einige Augenblicke stumm mit seinem schwierigen Thema. ›Nein, noch nicht‹, sagte er dann.

›Du willst wohl sagen, daß du sie nicht gleich erkannt hast?‹ meinte Matilda.

›Nein. Aber sie sah mich an, schien ein wenig zurückzufahren und stieg ein. Ich sah, daß sie sich im Auto nach vorne beugte und mich anguckte, während er einstieg. Tatsache ist, daß ich mir gar nichts dabei gedacht habe. Ich hätte das alles wieder vergessen, wenn sich nicht nachher noch einiges ereignet hätte. Es war auf dem Rückweg, und ich bemerkte, wie sie mich wieder anguckte... Ich fuhr wieder nach Brantismore Gardens Nummer 102. Er steigt aus und sagt zu mir: »Warten Sie hier noch einen Augenblick«, und hilft ihr aus dem Wagen. Es sah zuerst so aus, als ob sie Lust hätte, mit mir zu sprechen, aber dann tat sie es doch nicht. Doch dieses Mal denke ich mir: »Meine Dame, dich habe ich schon einmal wo gesehen.« Komisch genug, an Fanny hab' ich dabei keinen Augenblick gedacht; nur, daß sie unserem Harry ein bißchen ähnlich sieht, fuhr mir durch den Kopf, doch daß es Fanny sein könnte – nein. Sie gingen die Stufen zum Tor hinauf – es ist dort so eine Vorhalle, wie man sie in den Häusern mit mehreren Wohnungen hat. Dann besprachen sie sich ein Weile unter dem Licht drinnen und sahen mich dabei immer wieder an. Dann gingen sie hinauf.‹

›Und da hast du sie immer noch nicht erkannt?‹ fragte Prue.

›Ungefähr eine Viertelstunde später kommt er die Stufen herunter, im Frack, den Mantel über dem Arm, und sieht nachdenklich drein. Er gibt mir eine Adresse in der Nähe der Sloane Street an, dort steigt er aus, reicht mir ein Trinkgeld – ein ziemlich großes Trinkgeld – und bleibt dann vor mir stehen, als ob er etwas sagen wollte und nicht recht wüßte, was. »Ich habe mein Konto beim Garagebesitzer,« beginnt er, »lassen Sie die Fahrt aufschreiben.« Und dann: »Sie sind nicht mein gewöhnlicher Chauffeur, wie heißen Sie?« »Smith«, sagte ich. »Ernst Smith?« fragt er. »Ja«, sage ich. Und erst, wie ich schon wegfahre, frage ich mich: Wie zum Teufel... entschuldigen Sie, Fräulein Good.‹

›Macht nichts, macht nichts,‹ sagte Matilda, ›weiter.‹

›Wie zum Kuckuck weiß der Mann, daß ich Ernst heiße? Fast wäre ich mit einem Taxi auf dem Sloane Square zusammengefahren, so verdutzt war ich. Und erst um drei Uhr früh, als ich wach im Bett lag und über die Geschichte nachdachte, kam mir in den Sinn –‹ Ernsts Gesichtsausdruck zeigte, daß er nun den überraschenden Höhepunkt seiner Geschichte erzählen wollte, –daß die junge Dame, die ich gefahren hatte, niemand anderer war als –‹

Er hielt einen Augenblick inne.

›Fanny‹, flüsterte Prue.

›Euere Schwester Fanny‹, rief Matilda.

›Unsere Fanny‹, sagte Mutter.

Niemand anderer als unsere Fanny!‹ sagte Ernst triumphierend, und blickte um sich, ob auch alle erstaunt genug seien über diese verblüffende Eröffnung.

›Ich hab' mir schon gedacht, daß es Fanny sein wird‹, meinte Prue.

›War sie sehr geschminkt?‹ fragte Matilda.

›Lang' nicht so geschminkt wie die meisten Damen‹, sagte Ernst. ›Fast alle schminken sich heutzutage, Leute von Namen, Gemahlinnen von Bischöfen, Witwen, alle, und an ihr fiel mir nicht auf, daß sie besonders geschminkt war. Im Gegenteil: frisch sah sie aus, wenn auch etwas blaß, so wie Fanny immer ausgesehen hat.‹

›Und war sie wirklich wie eine Dame angezogen?‹

›Fabelhaft fein,‹ sagte Ernst, ›geradezu fabelhaft. Aber nicht im geringsten auffallend.‹

›Und das Haus, zu dem du sie geführt hast, das war wohl sehr lärmend, wie? Gesang und Tanz und offene Fenster?‹

›Nein, es war ein ruhiges, vornehmes Haus; geschlossene Läden und gar kein Lärm, ein Privathaus. Die Leute, die die Gäste ans Tor begleiteten, waren sehr fein. Ich hab' auch einen Diener gesehen, er kam zum Auto heraus, das war nicht so einer, der nur für den Abend gemietet ist, sondern ein richtiger Diener. Die anderen Gäste hatten ein Privatauto mit einem ältlichen, würdigen Chauffeur, alles feine Leute, sag' ich euch.‹

›Das sieht nicht nach Auf-der-Straße-sein aus‹, meinte Matilda, zu meiner Mutter gewendet. ›Was für einen Eindruck machte denn er?‹

›Ich will von ihm nichts hören‹, sagte meine Mutter.

›Wohl so eine Art liederlicher Lebemann, wie? Und etwas beschwipst?‹ fragte Matilda.

›Jedenfalls war er nüchterner als die Herren, die man sonst von Dinners abholt. Ich kann das beim Trinkgeldgeben bemerken. Die meisten von ihnen, oh! oft ganz hohe Herrschaften, sind – so in der Nacht – wie soll ich es nur sagen – ein wenig komisch, wissen mit der Wagentür nicht recht Bescheid und mit ihrer Brieftasche auch nicht. Er hingegen – nein, ich kenn' mich nicht recht aus mit ihm. Und dann ist hier dieser Brief.‹

›Ja, der Brief‹, sagte Matilda. ›Lies ihn doch, Martha.‹

›Wie hast du diesen Brief bekommen?‹ fragte meine Mutter, ohne ihn anzurühren. ›Sie hat ihn dir doch nicht etwa selbst gegeben?‹

›Er kam letzten Donnerstag mit der Post. An mich adressiert: »Ernst Smith«. In die Garage. Es ist ein merkwürdiger Brief. Sie fragt nach uns allen. Ich kann aus der ganzen Geschichte nicht klug werden, ich hab' mir den Kopf darüber zerbrochen, und weil ich weiß, wie böse Mutter auf Fanny ist, hab' ich mich lange nicht entschließen können ...‹

Seine Stimme erstarb.

›Jemand,‹ sagte Matilda inmitten der eingetretenen Stille, ›jemand wird den Brief wohl vorlesen müssen.‹

Sie sah auf meine Mutter, lächelte sonderbar mit herabgezogenen Mundwinkeln und streckte Ernst die Hand hin.«

4

»Es war Matilda, die den Brief las. Meiner Mutter Abscheu davor war zu offenkundig. Ich entsinne mich noch, wie Matilda ihr rotes Gesicht über den gedeckten Tisch und dabei ein wenig zur Seite neigte, um bei dem schwachen Gasflämmchen, das das Zimmer erhellte, besser sehen zu können. Neben ihr stand Prue, neugierig und immer wieder unruhig zu Mutter hinüberblickend. Die Mutter saß zurückgelehnt, mit einem abweisenden Ausdruck in ihrem bleichen Gesicht, und Ernst, breit auf seinen Stuhl gepflanzt, zeigte eine zu nichts verpflichtende Miene, die gleichsam seinen Ausspruch von vorhin bekräftigte: Ich kann aus der Geschichte nicht klug werden.

›Also, laßt einmal sehen‹, sagte Matilda, und überflog das Schriftstück zunächst, um der Aufgabe des Vorlesens besser gewachsen zu sein...

Mein lieber Erni, schreibt sie ...

Mein lieber Erni!

Es war wunderbar, Dich wiederzusehen. Ich konnte es kaum glauben, auch noch, nachdem Mr. – Mr. – Sie hat den Namen zuerst geschrieben und hat dann wohl gefunden, es sei besser, ihn wieder auszustreichen. Also, Mr. Soundso – Dich nach Deinem Namen gefragt hatte. Ich hatte schon gefürchtet, ich hätte Euch alle für immer aus dem Gesicht verloren. Wo lebt Ihr? Und wie geht es Euch? Du weißt, ich war in Frankreich und Italien. In sehr vielen schönen Orten. Als ich zurückkam, fuhr ich nach Cliffstone, ich wollte Euch alle wiedersehen. Der Gedanke, Euch ohne ein Wort des Abschieds verlassen zu haben, war mir unerträglich.‹

›Das hätte ihr früher einfallen können‹, sagte meine Mutter.

›Mrs. Bradley erzählte mir von dem Unglück unseres armen Vaters und von seinem Tod, ich hatte nichts davon gewußt. Ich ging auf den Friedhof zu seinem Grab und weinte mich dort gründlich aus; ich konnte nicht anders. Armer, alter Vater! Und so ein grausamer Tod. Ich habe ihm Blumen hingelegt und mit Ropes, dem Friedhofswärter, abgemacht, daß er das Gras regelmäßig abmäht.‹

›Und er, der Ärmste,‹ sagte meine Mutter, ›der da drunten liegt, er wollte sie lieber tot zu seinen Füßen sehen, als lebendig und in Schande, hat er immer gesagt.

Und nun legt sie Blumen auf sein Grab! Er wird sich drin umgedreht haben.‹

›Vielleicht denkt er nun anders, Martha‹, sagte Matilda beschwichtigend. ›Man kann das nicht wissen. Vielleicht ist man im Himmel nicht mehr so grausam und wünscht einem Menschen nicht gleich den Tod, vielleicht wird man dort oben gütiger. Nun, wo bin ich stehen geblieben? Hier – regelmäßig abmäht.

Niemand weiß dort, wo Mutter und Ihr alle wohnt, niemand hat Euere Adresse. Ich fuhr sehr traurig nach London zurück, voll Bekümmerung, Euch so ganz verloren zu haben. Frau Bradley sagte mir, daß Mutter, Prue und Morty zu Bekannten nach London gezogen seien, aber wohin, wußte sie nicht. Und nun auf einmal, nach fast zwei Jahren, taucht Ihr wieder auf. Es ist fast zu schön, um wahr zu sein. Wo sind die anderen? Besucht Morty eine ordentliche Schule? Prue muß ja schon ganz erwachsen sein. Ich möchte sie gerne alle wiedersehen und ihnen, wenn möglich, helfen. Lieber Erni, bitte, sag' Mutter und den anderen, daß es mir gut geht und daß ich glücklich bin. Ein Freund hilft mir. Es ist der, den Du gesehen hast. Ich bin weder verkommen noch schlecht. Ich führe ein sehr ruhiges Leben. Ich habe eine winzige Mietswohnung, und ich lese eine Menge und bilde mich. Ich arbeite sehr fleißig; ich habe eine Prüfung gemacht, eine Universitätsprüfung, Erni. Ich kann schon recht gut Französisch, Italienisch und ein wenig Deutsch. Ich habe ein Klavier und möchte Dir und Morty einmal etwas vorspielen. Morty hat doch Musik immer so gern gehabt! Wie oft denke ich an Euch. Erzähle Mutter von mir, zeige ihr den Brief, und lass' mich bald von Euch hören. Denk' nichts Häßliches von mir. Weißt Du noch, wie lustig es oft war in der Kinderzeit, Erni? Wie wir uns zu Weihnachten im Laden verkleidet haben und Vater uns nicht erkannte? Und wie Du mir zum Geburtstag ein Puppenhaus machtest? Oh! Erni, und dann »Käsekuchen«, weißt Du noch?!

›Was war das, Käsekuchen?‹ fragte Matilda.

›Das war irgendein dummes Spiel mit Passanten auf der Straße, ich erinnere mich nicht mehr genau daran, aber wir lachten viel dabei, manchmal kugelten wir uns geradezu.‹

›Nun kommt sie nochmal auf Morty zurück‹, sagte Matilda.

›Ich möchte Morty gern helfen, wenn er immer noch studieren will. Ich könnte das jetzt sehr gut. Ich vermute, daß er kein Kind mehr ist. Vielleicht hat er schon viel gelernt. Sag' ihm alles Liebe. Auch Mutter grüße von mir und bitte sie, nicht allzu böse von mir zu denken.

Fanny.

Fanny. Gedruckte Adresse auf dem Briefpapier. Schluß.‹

Matilda ließ den Brief auf den Tisch fallen. ›Nun?‹ wandte sie sich in herausforderndem Ton an meine Mutter. ›Mir scheint, daß diese junge Frau auf den richtigen Mann gestoßen ist, den einen anständigen unter zehntausend. Er scheint besser für sie zu sorgen als ein gewöhnlicher Ehemann. Was beabsichtigst du zu tun, Martha?‹

Matilda richtete ihren vorgebeugten Oberkörper langsam auf, lehnte sich in den Stuhl zurück und betrachtete meine Mutter mit einem etwas boshaft ironischen Ausdruck.«

5

»Ich wandte den Blick von Matildas spöttischem Gesicht den gespannten Zügen meiner Mutter zu.

›Sag', was du willst, Matilda, das Mädchen lebt in der Sünde.‹

›Das ist nicht einmal unbedingt bewiesen‹, meinte Matilda.

›Du glaubst doch nicht etwa, daß er –?‹ begann Mutter und brach wieder ab.

›Es gibt auf dieser Welt doch auch Menschen mit Seelengröße‹, sagte Matilda.

›Nein,‹ rief meine Mutter, ›wir brauchen ihre Hilfe nicht. Ich würde mich schämen, etwas von ihr anzunehmen, solange sie mit diesem Manne lebt.‹

›Anscheinend lebt sie ja gar nicht mit ihm. Aber sprich weiter.‹

›Schandgeld,‹ fuhr Mutter fort, ›Geld, das sie von ihm hat. Das Geld einer Mätresse!‹

Sie redete sich in Wut: ›Ich würde lieber sterben, als ihr Geld berühren.‹

Schließlich fand sie Worte, um ihre Auffassung zum Ausdruck zu bringen. ›Sie verläßt ihr Vaterhaus, sie bricht ihres Vaters Herz, sie tötet ihn. Ja, ja, sie bringt ihn ums Leben; nachdem sie fort war, war er nicht mehr derselbe. Sie begibt sich in Schande und Wollust. Sie entblödet sich nicht, sich von ihrem eigenen Bruder zum Haus ihrer Schande fahren zu lassen.‹

›Das hat sie wohl nicht beabsichtigt‹, warf Matilda ein.

›Er hat ja nicht anders können, der Arme. Und dann schreibt sie diesen Brief! Diesen Brief! Frech nenne ich ihn, frech und unverschämt. Ohne ein Wort der Reue, nicht ein einziges Wort der Reue. Hat sie etwa den Anstand, zu sagen, sie schäme sich ihrer selbst? Nein. Sie gibt zu, daß sie noch immer mit einem liederlichen Kerl lebt und gar nicht die Absicht hat, dieses Leben aufzugeben. Sie prahlt noch damit und bietet uns ihre freundliche Hilfe an! Uns, die sie in Schmach und Schande gestoßen hat! Weshalb haben wir Cherry Gardens verlassen und uns in London verstecken müssen? Ihretwegen! Und nun möchte sie in einem Auto daherkommen, die Stufen heruntertänzeln, aufgedonnert und angestrichen, und ihrer armen Mutter freundlich guten Tag sagen. Haben wir ihretwegen nicht schon genug gelitten? Jetzt will sie uns noch besuchen, um mit ihrem Reichtum zu protzen. Es ist unerhört! Wenn sie hierher kommen will – aber ich bezweifle, daß sie es wagt –, dann muß sie in härenem Gewand kommen, Asche auf dem Haupt und auf den Knien rutschend.‹

›Das wird sie nicht tun, Martha‹, sagte Matilda.

›Dann soll sie bleiben, wo sie ist. Wir brauchen ihre Schande nicht. Sie hat ihren Weg gewählt. Aber hierher kommen! Was soll man denn den Leuten sagen?‹

›Das lass' mich nur machen‹, meinte Matilda, ohne jedoch Gehör zu finden.

Was soll ich den Leuten sagen? Hierher kommen! Und Prue? Und Mr. Pettigrew, den sie im Geselligkeitsverein kennen gelernt hat und zum Tee einladen will? Wie soll sie dem erklären, was für eine feine Dame sie zur Schwester hat? Ein Kebsweib! Ja, Matilda, das ist der richtige Name für sie. Ein Kebsweib! Hübsch, sie so Mr. Pettigrew vorzustellen. Meine Schwester – ein Kebsweib! Er würde auf und davon rennen; er würde außer sich sein vor Entsetzen. Prue dürfte sich im Geselligkeitsverein nicht mehr blicken lassen. Und Erni! Was soll der sagen, wenn seine Kollegen in der Garage ihm nachrufen, daß seine Schwester ein Kebsweib ist?‹

›Sorge dich darum nicht,‹ sagte Ernst sanft, aber fest, ›niemand ruft mir in der Garage irgendetwas nach. Das traut sich keiner, außer er hat Lust, seine Zähne zu schlucken.‹

›Und dann haben wir noch Harry. Er geht in seine Schule. Wenn jemand das dort erfährt – seine Schwester ein Kebsweib – man würde ihn wahrscheinlich die Kurse nicht mehr besuchen lassen.‹

›Das würde ich mir nicht gef...‹, begann ich, meinen Bruder nachahmend. Doch Matilda schnitt mir das Wort mit einer Gebärde ab. Und diese Gebärde reichte weit und galt auch meiner Mutter, die übrigens am Ende ihrer Rede zu sein schien.

›Ich weiß nun, Martha,‹ sagte Matilda, ›wie du die Sache auffaßt. Es ist ja schließlich ganz natürlich. Doch dieser Brief –‹

Sie nahm den Brief wieder auf. Sie spitzte die Lippen und wiegte ihren großen Kopf hin und her. ›Nie im Leben wird man mich glauben machen, daß das Mädchen, das diesen Brief schrieb, ein schlechtes Herz hat. Du bist sehr bitter gegen Fanny, Martha, sehr bitter.‹

›Trotz allem –‹, hob ich von neuem an, doch Matildas Hand unterbrach mich wieder.

›Bitter!‹ schrie meine Mutter. ›Ich kenne sie! Sie kann so unschuldig tun, als ob nichts geschehen wäre. Und alles so drehen, als ob nicht sie, sondern der andere Unrecht hätte ...‹

Matilda nickte. ›Ich verstehe, ich verstehe‹, sagte sie. ›Aber warum sollte sich Fanny die Mühe genommen haben, diesen Brief zu schreiben, wenn sie kein ehrliches Gefühl für euch hätte? Als ob sie es notwendig hätte, sich um euch zu kümmern! Ihr seid ihr doch keine Hilfe! In ihrem Brief steckt Güte, Martha, und noch etwas mehr als Güte. Willst du sie zurückstoßen? Sie und die angebotene Hilfe? Auch wenn sie nicht auf den Knien rutscht und bereut? Willst du nicht wenigstens ihren Brief beantworten?‹

›Ich will ihr nicht schreiben und nichts von ihr hören. Nein! So lange sie ein Kebsweib ist, ist sie meine Tochter nicht. Ich wasche meine Hände in Unschuld. Und was ihre Hilfe anbetrifft – alles Schwindel! Wenn sie uns hätte helfen wollen, dann hätte sie Herrn Crosby geheiratet, der ein braver, anständiger Mann war.‹

›Also schön, da kann man nichts machen‹, sagte Matilda.

Mit einem Ruck wandte sie sich zu Ernst: ›Und was willst du tun, Erni? Bist du auch dafür, Fanny links liegen zu lassen? Willst du die Käsekuchen für immer vergessen haben und von deiner Schwester nie mehr etwas wissen?‹

Ernst lehnte sich zurück, steckte die Hände in die Hosentaschen und blieb einige Augenblicke in Nachdenken versunken. Dann sagte er: ›Es ist sehr peinlich.‹

Matilda half ihm nicht weiter.

›Ich muß auch an meine Braut denken‹, fuhr er fort und wurde über und über rot.

Meine Mutter wandte den Kopf heftig gegen Ernst und sah ihn scharf an. Er zeigte eine unbewegliche Miene und vermied ihren Blick.

›Oh, oh,‹ rief Matilda, ›das ist ja eine große Neuigkeit. Und wer ist deine Auserwählte, Erni?‹

›Hm! Ich hab' eigentlich nicht die Absicht gehabt, heute schon von ihr zu erzählen. Ihr Name tut vorläufig nichts zur Sache; sie hat ein kleines Modenwarengeschäft, mehr will ich nicht verraten. Ich habe nie ein klügeres und hübscheres Mädchen gesehen; wir haben uns bei einer kleinen Tanzunterhaltung kennen gelernt, wir sind einig, wenn auch nicht öffentlich verlobt. Aber wann wir heiraten wollen, ist noch unbestimmt. Ich habe ihr Verschiedenes geschenkt, einen Ring und so weiter, aber selbstverständlich habe ich ihr nie etwas von Fanny erzählt, Familienangelegenheiten hab' ich mit ihr noch nicht besprochen. Sie weiß nur, daß wir ein Geschäft hatten, daß wir Verluste erlitten haben und daß der Vater durch einen Unglücksfall umgekommen ist. Das ist alles. Aber Fanny – über Fanny mit ihr zu sprechen, wär' mir sehr peinlich. Ich möchte aber auch nicht hart gegen Fanny sein.‹

›So, so‹, sagte Matilda. Sie schaute Prue stumm fragend an und las die Antwort aus deren Gesicht. Dann nahm sie den Brief wieder auf und wiederholte langsam und mit starker Betonung: ›102 Brantismore Gardens‹, als ob sie sich die Adresse ins Gedächtnis einprägen wollte. ›Im obersten Stockwerk, sagtest du, Erni?‹ ...

Dann wandte sie sich zu mir: ›Und was denkst du in dieser Sache zu tun, Harry?‹

›Ich möchte Fanny besuchen gehen‹, sagte ich. ›Ich glaube nicht –‹

›Harry,‹ sagte meine Mutter, ›ich verbiete dir ein für alle Mal, ihr in die Nähe zu kommen. Ich will nicht, daß du verdorben wirst.‹

›Verbiete es ihm nicht, Martha‹, sagte Matilda, ›das hat keinen Zweck, denn er wird doch hingehen. Jeder Junge mit einem Funken Gefühl und Mut wird auf diesen Brief hin zu ihr gehen. 102 Brantismore Gardens‹ – noch einmal hob sie die Adresse hervor –, ›das ist nicht sehr weit von hier.‹

›Ich verbiete dir, sie zu besuchen, Harry‹, wiederholte meine Mutter. Zu spät erfaßte sie die ganze Bedeutung des Briefes. Sie griff nach ihm. ›Ich will nicht, daß dieser Brief beantwortet wird. Ich werde ihn verbrennen, wie es sich gehört, und seinen Inhalt zu vergessen trachten, ihn aus meinem Gedächtnis streichen. Da!‹

Sie stand auf, und ein Schluchzen unterdrückend, warf sie Fannys Brief ins Feuer. Dann nahm sie die Feuerzange, um ihn tiefer in die Ofenglut hineinzustoßen. Wir alle starrten schweigend auf den Brief, der sich zusammenrollte, braun wurde, in einer hellen Flamme aufloderte und im Augenblick darauf raschelnd zu Asche zerfiel. Mutter setzte sich schweigend wieder hin. Nach einem wilden Kampf mit ihrer Rocktasche zog sie ein armseliges, schmutziges, altes Taschentuch hervor und begann zu weinen, leise zuerst, dann immer heftiger. Wir anderen sahen entsetzt diesem Ausbruch zu. ›Du darfst Fanny nicht besuchen, Harry, wenn Mutter es dir verbietet‹, sagte Ernst schließlich ruhig, aber nachdrücklich.

Matilda schaute mich herausfordernd an.

›Ich werde sie doch besuchen‹, sagte ich, und empfand heftige Angst, daß mir im nächsten Augenblick unmännliche Tränen aus den Augen stürzen würden.

›Harry,‹ schrie Mutter schluchzend, ›du wirst mir das Herz brechen! Erst Fanny, dann du!‹

›Siehst du!‹ sagte Ernst.

Mutter hielt im Schluchzen inne, als ob sie meine Antwort abwarten wolle. Mein dummes, kleines Gesicht muß sehr rot gewesen sein, und die Stimme wollte mir nicht gehorchen, aber ich sagte doch, was ich sagen wollte:

›Ich werde zu Fanny gehen und sie geradeheraus fragen, ob sie wirklich ein schlechtes Leben führt.‹

›Und wenn sie ja sagt?‹ fragte Matilda.

›Dann will ich ihr Vorstellungen machen‹, sagte ich. ›Ich werde alles tun, um sie zu retten. Auch – – – auch wenn ich arbeiten muß, um sie zu erhalten ... Sie ist doch meine Schwester ...‹

Und nun weinte ich ein Weilchen.

›Ich kann nicht anders, Mutter,‹ schluchzte ich, ›ich muß zu ihr.‹

Ich bemühte mich, mein Schluchzen zu unterdrücken.

›So, so‹, sagte Matilda und blickte mich an. In ihrem Blick lag mehr Ironie und weniger Bewunderung als ich meiner Meinung nach verdiente. Sie wandte sich zu meiner Mutter: ›Man könnte nicht schöner sprechen, als Harry gesprochen hat. Ich glaube, du mußt ihn gehen lassen. Er wird alles tun, um sie zu retten, sagt er. Weiß Gott, vielleicht gelingt es ihm, Reue in ihr zu erwecken.‹

›Gerade das Gegenteil wird geschehen‹, sagte Mutter und trocknete sich die Augen. Ihr Tränenstrom war versiegt.

›Ich kann mir nicht helfen,‹ sagte Ernst, ›ich halte es für verkehrt, wenn Harry zu ihr geht.‹

›Auf keinen Fall darfst du von deinem Vorhaben lassen, weil du die Adresse vergessen hast‹, sagte Matilda. ›Das wäre schäbig. Wenn du Fanny aufgeben willst, mußt du es aus freiem Willen tun, aber nicht aus Vergeßlichkeit. 102 Brantismore Gardens. Schreib' dir's lieber auf.‹

Ich ging zu dem Tisch in der Ecke, auf dem meine Bücher lagen, und tat, wie sie mir geraten. Und zwar schrieb ich die Adresse auf das Vorsatzblatt des Elementarbuchs der lateinischen Sprache von Smith.«

6

»Mein erster Besuch bei Fanny fiel ganz anders aus, als die rührenden Szenen, die ich mir vorher in der Phantasie ausgemalt hatte. Ich ging am zweitnächsten Tag nach Ernsts Erzählung etwa um halb acht Uhr abends, auf dem Heimweg von der Apotheke, zu ihr. Das Haus kam mir sehr würdig vor. Ich stieg über eine mit Teppichen belegte Treppe zu ihrer Wohnung hinauf und läutete; sie öffnete selbst.

Es war mir sofort klar, daß die lächelnde junge Frau unter der Tür jemand anderen erwartet hatte als den tölpelhaften Jüngling, der vor ihr stand. Sie hatte zunächst nicht die leiseste Ahnung, wer er sei, und ihre strahlende Miene wurde kühl ablehnend. ›Was wünschen Sie, bitte?‹ sagte sie, indes ich sie schweigend anstarrte.

Sie hatte sich sehr verändert, sie war gewachsen. Allerdings war ich nun noch größer als sie. Ihr welliges braunes Haar war von einem schwarzen Samtband zusammengehalten, das auf der einen Seite einige funkelnde Steine aufwies; Gesicht und Lippen hatten frischere Farben als ehedem. Sie trug ein leichtes Kleid von grünblauer Farbe mit weiten Ärmeln; man sah ihren hübschen Nacken und Hals und ihre weißen Arme. Sie erschien mir wie ein zauberhaft schönes Wesen, sanft, strahlend und duftend – für einen Barbaren der Londoner Straßen gleich mir war sie eine Märchengestalt, ihre Anmut bewegte mich. Ich räusperte mich. ›Fanny,‹ sagte ich heiser, ›kennst du mich nicht?‹

Sie zog die Brauen prüfend zusammen, und schon hatte sie wieder ihr entzückendes altes Lächeln. ›Das ist ja Harry‹, rief sie, zog mich in ihr kleines Vorzimmer und umarmte und küßte mich. ›Mein lieber, kleiner Bruder Harry! Wie groß bist du geworden! Ich kann es kaum glauben!‹

Dann ging sie von mir weg, schloß die Tür, kam zurück und betrachtete mich nachdenklich.

›Warum hast du mir nicht geschrieben, daß du zu mir kommen willst? Da möchte ich nun mit dir über vieles plaudern, erwarte aber Besuch. Der kann jeden Augenblick da sein. Was soll ich nun tun? ... Hm.‹

Der kleine Vorraum, in dem wir standen, war hell und freundlich, die weißen Wände waren mit hübschen japanischen Bildern geschmückt. Ein Ständer für Mäntel und Hüte und ein alter Eichenschrank standen darin, auch bemerkte ich einige Türen, von denen zwei halb offen standen. Durch die eine sah ich flüchtig ein Sofa und einen Tisch mit Kaffeegeschirr, durch die andere einen Spiegel und einen mit Kattun überzogenen Lehnstuhl. Fanny schien zu überlegen, in welches dieser beiden Zimmer sie mich führen solle. Schließlich schob sie mich in das erste und machte die Tür hinter uns zu.

›Du hättest mir schreiben sollen, daß du mich besuchen willst‹, sagte sie. ›Ich möchte für mein Leben gern jetzt mit dir plaudern, aber es kommt jemand zu mir, der für sein Leben gern mit mir plaudert. Aber einerlei, nützen wir die Zeit schnell aus. Wie geht es dir? Aber das kann ich dir ansehen. Doch wie steht's mit deinen Studien? Und wie geht's Mutter? Was ist aus Prue geworden? Und ist Ernst noch immer so jähzornig wie früher?‹

Ich versuchte alle ihre Fragen zu beantworten. So gut es ging, schilderte ich ihr Matilda Good und deutete ihr Mutters Unversöhnlichkeit an. Dann begann ich ihr von meiner Beschäftigung in der Apotheke zu erzählen und von meinen Studien in Latein und Chemie, doch inmitten meines Berichtes sprang sie auf und horchte.

Man hörte das Geräusch eines Schlüssels in der Eingangstür.

›Mein anderer Besuch‹, sagte sie, zögerte einen Augenblick und schlüpfte dann aus dem Zimmer. Ich betrachtete mir die Möbel und die Kaffeemaschine, die auf dem Tisch summte. Sie hatte in der Eile die Tür ein wenig offen gelassen, und so hörte ich nur zu deutlich das Geräusch eines Kusses und dann eine männliche Stimme. Ich fand diese Stimme angenehm.

›Ich bin müde, kleine Fanny. Oh, ich bin todmüde; die neue Zeitung ist des Teufels. Wir haben alles ganz falsch angepackt, aber ich werde sie doch durchdrücken. Wenn ich nicht diese Freude, diese Ruhe hier bei dir hätte, müßte ich verrückt werden. Der Kopf brummt mir vor lauter Artikel-Überschriften. Bitte, nimm meinen Mantel. Danke. Ich rieche Kaffee ...‹

Es kam mir vor, als hielte Fanny ihren Besucher mit heftiger Bewegung davon ab, das Zimmer, in dem ich stand, zu betreten. Ich hörte, wie sie sehr schnell etwas über einen Bruder sagte.

›Ach, zum Kuckuck!‹ rief der Mann aus vollem Herzen. ›Schon wieder einer! Wieviel Brüder hast du denn, Fanny? Schick' ihn weg. Ich habe nicht länger als eine Stunde Zeit, Liebste –‹

Die Tür schloß sich heftig – Fanny mußte bemerkt haben, daß sie offen gestanden hatte. Das weitere Gespräch konnte ich nicht mehr hören.

Bald erschien Fanny wieder, rosig angehaucht, glänzenden Auges und etwas verlegen. Man sah ihr an, daß sie eben nochmals geküßt worden war.

›Harry,‹ sagte sie, ›es ist mir verhaßt, dich wegzuschicken und dich zu bitten, ein anderes Mal wiederzukommen. Du mußt aber verstehen, dem anderen Besuch habe ich den heutigen Abend schon früher versprochen. Macht's dir was, Harry? Ich sehne mich nach einer langen Plauderstunde mit dir. Hast du Sonntag frei, Harry? Nun, dann komm Sonntag um drei zu mir, ich werde ganz allein sein, und wir können uns einen richtigen guten Nachmittagstee gönnen. Ist's dir recht, Harry?‹

Ich sagte, daß mir alles recht sei. Meine ethischen Wertungen waren offenbar innerhalb dieser kleinen Wohnung andere als draußen.

›Du hättest wirklich erst schreiben sollen, anstatt so unvermittelt aus der Dunkelheit aufzutauchen.‹

Als ich mit ihr durch den Vorraum ging, war niemand zu sehen, nicht einmal ein Mantel oder ein Hut. ›Gib mir einen Kuß, Harry‹, sagte sie. Und ich küßte sie bereitwillig. ›Macht's dir bestimmt nichts, daß ich dich wegschicke?‹ fragte sie unter der Tür nochmals.

›Nicht das geringste‹, sagte ich. ›Ich hätte schreiben sollen!‹

›Sonntag um drei‹, rief sie mir noch nach, als ich die teppichbelegte Treppe hinunterging.

›Sonntag um drei‹, rief ich zurück.

Unten in der Halle des Treppenhauses brannte ein Feuer in einem Kamin, und ein Mann saß da, bereit, einen Wagen oder ein Auto herbeizurufen, falls jemand es wünschte. Der Wohlstand und die Behaglichkeit des Ganzen machten großen Eindruck auf mich, ich war geradezu stolz, aus einem so schönen Hause auf die Straße treten zu können. Erst als ich ein Stück Weges zurückgelegt hatte, fiel mir ein, daß ich meinen eigentlichen Plan ganz und gar nicht verwirklicht hatte.

Ich hatte Fanny nicht gefragt, ob sie ein schlechtes Leben führe, und ihr nicht die geringsten Vorstellungen gemacht. Die Rolle, die ich mir zurechtgelegt hatte, die Rolle des starken, schlichten und entschlossenen jüngeren Bruders, der die schwache, aber liebenswerte Schwester aus entsetzlicher Erniedrigung rettet, war mir in dem Augenblick, da Fanny mir die Tür geöffnet hatte, gänzlich aus dem Gedächtnis entschwunden. Da stand ich nun, den ganzen langen Abend vor mir, und meiner Familie hatte ich nichts weiter als die Erkenntnis mitzuteilen, daß zwischen Romantik und Wirklichkeit ein ungeheurer Unterschied besteht. Ich beschloß, meiner Familie vorläufig gar nichts zu erzählen, sondern lieber einen langen Spaziergang zu unternehmen und dabei über mein Erlebnis mit Fanny gründlich nachzudenken. Ich wollte so spät heimkommen, daß meine Mutter keine Gelegenheit mehr zu einem Kreuzverhör und zu langem Ausfragen hätte.

Ich schlug den Weg zum Themsekai ein. Dort waren wenige Leute, und das würdige, stellenweise sogar schöne Straßenbild paßte gut zu einem nachdenklichen Spaziergang.

Ich muß mich wundern, wenn ich mir nun die verschiedenen Phasen meiner Stimmung an jenem Abend ins Gedächtnis zurückrufe. Zuerst beherrschte mich die fröhliche Wirklichkeit, aus der ich kam: Fanny, hübsch, wohlhabend, freundlich und selbstsicher, in ihrer schön erleuchteten, geschmackvoll möblierten Wohnung, und die freundliche und vertrauenswürdige Stimme, die ich gehört hatte –: das waren Tatsachen, die ich hinnehmen und respektieren mußte. Es war erfreulich, nach mehr als zwei Jahren scheußlicher Phantasiegespinste die Schwester in Wirklichkeit vom Schicksal unbesiegt, geliebt und gehegt wiederzufinden. Und dann die Aussicht auf eine lange Plauderstunde am Sonntag! Ich wollte ihr alles erzählen, was ich inzwischen getan und was ich zu tun gedachte. Wahrscheinlich waren die beiden miteinander verheiratet, aber aus irgendeinem dunklen Grunde nicht imstande, diese Tatsache der Welt mitzuteilen – vielleicht würde mir Fanny am Sonntag in tiefstem Vertrauen davon erzählen, und ich würde dann nachhause gehen, Mutter das Geheimnis zuflüstern und sie in das größte Erstaunen versetzen. Aber noch während ich diesen Gedanken freudig ausspann, wuchs in meinem Gemüt klar und kalt die bedeutungsvolle Gewißheit empor, daß die beiden nicht verheiratet seien, und die Schatten langgehegter Mißbilligung begannen sich über den ersten hellen Eindruck von Fannys kleinem Heim zu senken. Unzufriedenheit mit der Rolle, die ich gespielt hatte, stieg in mir auf; ich hatte mich ja in einer Weise behandeln und vor die Tür setzen lassen, als wäre ich ein kleiner Junge und nicht ein hilfreicher und moralisch überlegener Bruder. Ich hätte unbedingt irgendetwas, wenn auch nur ein kurzes Wort über meine moralischen Überzeugungen sagen sollen. Ich hätte auch dem Mann gegenübertreten müssen, dem Bösewicht, der ohne Zweifel in dem Zimmer mit dem Spiegel und dem kattunüberzogenen Lehnstuhl gelauert hatte. Er hatte es vermieden, mir zu begegnen, weil er mir nicht ins Gesicht zu sehen wagte. Von dieser plötzlich veränderten Auffassung ausgehend, begann ich nun einen neuen Traum der Anklage und Rettung zu erdichten. Was hätte ich wohl zu dem Bösewicht sagen müssen? ›Und so, mein Herr, sehe ich Sie endlich –‹

Etwas dergleichen.

Meine Phantasie begann mich in tollen Sprüngen fortzureißen. Ich stellte mir vor, wie der Bösewicht, in tadelloser Abendtoilette, die, wie meine Romane mich gelehrt hatten, meist ein Zeichen allerärgster Verderbtheit war, unter der Flut meiner schlichten Rede erzittern würde. ›Sie haben sie‹, wollte ich sagen, ›aus dem bescheidenen, aber reinen Heim ihrer Familie gerissen, Sie haben ihrem Vater das Herz gebrochen‹ – ich bildete mir tatsächlich ein, daß ich etwas Derartiges sagen würde! ›Und was haben Sie aus ihr gemacht? Ein Spielzeug, eine Puppe, die nun verzärtelt wird, so lange es Ihrer Laune gefällt, und die Sie schließlich achtlos beiseite werfen werden –‹ oder: ›beiseite schleudern werden!‹

Ich entschloß mich für ›schleudern‹.

Gestikulierend und halblaut vor mich hinsprechend, wanderte ich das Themseufer entlang.«

»Aber im Grunde wußtest du damals schon, daß das Unsinn war?« fragte Iris.

»Ja, im Grunde wohl. Doch in jenen alten Tagen arbeitete das Gehirn des Menschen auf solch erstaunliche Art und Weise.«

7

»Auch mein zweiter Besuch bei Fanny«, fuhr Sarnac fort, »war voll unerwarteter Erfahrungen und unerprobter Begebnisse. Der Teppich in dem schönen Treppenhaus schien alle moralisierende Taktlosigkeit aus mir wegzuzaubern. Als die Tür sich öffnete und ich meine liebe Fanny wiedersah, freundlich und froh, da vergaß ich die ernsten Fragen, mit denen ich unsere zweite Unterredung hatte einleiten wollen. Sie zog mich an den Haaren, küßte mich, nahm mir Hut und Mantel ab, sagte, daß ich ungeheuer groß sei, und maß sich mit mir im Spiegel. Dann schob sie mich in das helle, kleine Wohnzimmer. Dort war ein Teetisch vorbereitet, wie ich noch nie im Leben einen gesehen hatte. Es gab kleine Sandwiches mit Schinken, andere mit Pastete, Stachelbeermarmelade, zwei Sorten Kuchen und obendrein noch kleine Biskuits. ›Lieb von dir, Harry, daß du gekommen bist. Aber ich weiß nicht, irgendwie hatte ich das Gefühl, daß du ganz bestimmt kommen würdest.‹

›Wir zwei haben immer zusammengehalten‹, sagte ich.

›Immer‹, stimmte sie ein. ›Mutter und Erni hätten mir wirklich eine Zeile schreiben können. Nun, vielleicht tun sie es später. Hast du je einen elektrischen Kochtopf gesehen, Harry? Das hier ist einer. Bitte, stecke den Kontakt an – hier, siehst du.‹

›Ich weiß, ich kenne das‹, sagte ich und tat, wie sie gebeten. ›Ich hab' in meinem Abendkurs eine Menge über Elektrizität und Chemie gelernt. Und in der Tothill Street ist ein Laden voll solcher Sachen.‹

›Ich dachte mir, daß du über derlei Bescheid weißt‹, sagte sie. ›Ich hoffe, du hast schon recht viel gelernt.‹ Und damit waren wir bei der mir so wichtigen Frage angelangt, was ich gelernt hatte und noch zu lernen gedachte.

Es war eine Freude, mit jemandem sprechen zu können, der wirklich Verständnis für meine Bestrebungen hatte. Ich erzählte von mir, von meinen Träumen, meinen Zielen, und während ich sprach, griff mein Arm – ich war ein Jüngling im Wachstum – immer wieder nach den verlockenden Schüsseln. Fanny beobachtete mich lächelnd und regte mich durch Fragen zu immer neuen Mitteilungen an. Und als wir genug geschwatzt hatten, führte sie mich zu ihrem Pianola, ich suchte mir unter den vorhandenen Rollen ein Stück von Schumann heraus, das ich schon längst durch Mr. Plaice kannte, und hatte nun die Freude, es unter Fannys Anleitung selbst spielen zu können. Diese Pianolas waren ganz leicht zu handhaben. Bald konnte ich mit bewußtem Ausdruck darauf spielen.

Fanny lobte meine rasche Auffassung. Sie räumte das Teegeschirr ab, während ich spielte, dann setzte sie sich zu mir, und wir stellten fest, daß wir in den zwei Jahren der Trennung beide viel Musik kennengelernt hatten. Wir waren beide entzückt von Bach – ich bemerkte zu meiner Beschämung, daß ich seinen Namen falsch ausgesprochen hatte – und von Mozart. Bald kam Fanny wieder auf meine Arbeit zu sprechen und fragte mich, was ich zu werden gedächte. ›Du sollst nicht mehr allzu lang bei dem alten Drogisten bleiben‹, meinte sie. ›Was würdest du dazu sagen, wenn ich dir eine Arbeit verschaffte, bei der du es mit Büchern zu tun kriegtest? Zum Beispiel Bücher verkaufen oder in einer Bibliothek mithelfen oder eine Beschäftigung in einer Firma, die Bücher und Zeitungen veröffentlicht? Hast du nie daran gedacht, selbst etwas zu schreiben?‹

›Ich habe schon öfter Verse gemacht,‹ gestand ich, ›auch habe ich einmal einen Artikel über Abstinenz an die Daily News geschickt. Aber sie haben ihn nicht gedruckt.‹

›Hast du dir nie gewünscht, Schriftsteller zu werden?‹

›Du meinst, ein Bücherschreiber, wie Arnold Bennett? Oh! ja.‹

›Du wußtest aber nicht, wie du das anfangen sollst?‹

›Ja, es ist so schwer, anzufangen‹, sagte ich, als ob das das einzige Hindernis gewesen wäre.

›Du solltest deine alte Apotheke aufgeben‹, begann sie wieder. ›Wenn ich jemand wüßte, der eine interessantere Arbeit für dich hätte, Harry, würdest du sie annehmen?‹

›Ich glaube schon.‹«

»Warum sagtest du nicht einfach ja?« unterbrach Iris.

»Ach! das war eine damals gebräuchliche Wendung, eine gezierte Abschwächung des Empfindens in der Rede«, erklärte Sarnac.

»Aus meiner Schilderung könnt ihr sehen, wie völlig ich mich wieder von meiner vorgefaßten Meinung und meinen Plänen entfernt hatte. Wir plauderten den ganzen Abend und nahmen in Fannys kleinem Speisezimmer ein köstliches kaltes Abendessen ein. Fanny zeigte mir, wie man mit ganz feingeschnittenen Zwiebeln, Weißwein und Zucker einen wunderbaren Salat zurechtmacht. Nachher setzten wir uns wieder an das Pianola. Schließlich nahm ich – sehr ungern – Abschied. Als ich auf der Straße stand, hatte ich, wie das vorige Mal, das Gefühl, plötzlich in eine andere Welt gestoßen worden zu sein, in eine kältere, leerere, härtere Welt mit völlig andersgearteten moralischen Wertungen. Wieder empfand ich eine heftige Abneigung dagegen, gleich nachhause zu gehen und mir die Erinnerung an den schönen Abend durch erbarmungslose Fragen trüben und zerstören zu lassen. Und als ich endlich doch nachhause kam, log ich: ›Fanny wohnt sehr hübsch und ist sehr glücklich. Und nach allem, was sie mir andeutete, vermute ich, daß der Mann sie binnen kurzem heiraten wird.‹

Unter dem feindseligen Blick meiner Mutter bekam ich heiße Wangen und Ohren.

›Hat sie dir das gesagt?‹

›So ungefähr‹, log ich. ›Ich hab' es so halb und halb aus ihr herausbekommen.‹

›Aber er ist doch schon verheiratet!‹ meinte Mutter.

›Ja, ja, ich glaube, es ist da noch irgendein Hindernis.‹

›Irgendein Hindernis!‹ rief Mutter zornig. ›Sie hat einer anderen Frau den Mann weggenommen. Er gehört seiner angetrauten Frau immer und ewig, gleichgültig, was sie angestellt haben mag. »Was Gott zusammengegeben hat, soll der Mensch nicht trennen.« Das hab' ich gelernt, und daran glaub' ich. Er ist älter als sie, er hat sie auf Abwege geführt. Aber so lange sie bei ihm bleibt, ist ihre Sünde so groß wie die seine. Hast du ihn gesehen?‹

›Nein, er war nicht da.‹

›Er hatte wohl nicht den Mut. Das spricht immerhin für die beiden. Und wirst du noch einmal hingehen?‹

›Ich habe es so gut wie versprochen.‹

›Das ist gegen meinen Willen, Harry. Bedenke, jedesmal, wenn du zu ihr gehst, bist du ungehorsam. Verstehst du? Lass' dir das gesagt sein, ein- für allemal.‹

Ich wurde störrisch. ›Sie ist doch meine Schwester‹, sagte ich.

›Und ich bin deine Mutter. Obwohl heutzutage eine Mutter nicht mehr ist als Dreck unter den Füßen ihrer Kinder. Sie heiraten? Sie? Warum denn? Das hat er doch nicht notwendig! Er wird die nächste heiraten. Prue, nimm den Rest der Kohlen aus dem Feuer und dann komm' zu Bett.‹«

8

»Und nun«, sagte Sarnac, »muß ich euch von einem merkwürdigen geschäftlichen Unternehmen erzählen, von der Firma Crane & Newberry im Thunderstone House. Auf Fannys dringende Vorstellungen hin ließ ich nämlich Mr. Humberg samt seinen Flaschen und Tiegeln im Stich und nahm eine Stelle bei Crane & Newberry an. Diese Firma war ein Verlag, der Zeitungen, Zeitschriften und Bücher veröffentlichte, und Thunderstone House glich einem Springquell bedruckten Papiers, der tagtäglich eine riesenhafte Flut von Lesestoff über das englische Volk ergoß.«

»Vergeßt nicht, ich spreche von der Welt vor zweitausend Jahren«, sagte Sarnac. »Ihr seid ohne Zweifel allesamt fleißige Kinder gewesen und habt brav Geschichte gelernt. Doch aus großer Entfernung gesehen, erscheinen die Dinge stark verkürzt: Veränderungen, die sich nur ganz langsam, im Verlaufe mehrerer Menschenalter, und inmitten dichter Wolken des Zweifels, der Mißverständnisse und des allgemeinen Widerstandes vollzogen, dünken uns heute leicht bewerkstelligte und selbstverständliche Übergänge. Man hat uns gelehrt, daß die wissenschaftliche Methode zunächst im Bereich materieller Dinge und erst später auf dem Gebiete der Psychologie und der Beziehungen der Menschen untereinander angewandt wurde; daß also eine vielfältige Verarbeitung des Stahles, Eisenbahnen, Automobile, der Telegraph und Flugmaschinen, mit einem Wort die materiellen Grundlagen des neuen Zeitalters, bereits zwei oder drei Generationen bestanden, ehe soziale und politische Ideen und Erziehungsmethoden den Bedürfnissen der neuen Zeit angepaßt wurden. Der Handel hatte eine überraschende Steigerung erfahren, die Bevölkerung der Erde in ungeahntem Maße zugenommen, und es gab Wirren und Streitigkeiten, böse soziale Nöte, Revolutionen und große Kriege, ehe man auch nur die Notwendigkeit einer Neugestaltung der menschlichen Beziehungen auf wissenschaftlicher Grundlage erkannte. Es ist leicht, diese Entwicklung etwa in einem Geschichtsbuch in allgemeinen Ausdrücken darzustellen, aber sehr schwer zu schildern, welche Angst, wieviel Leid und welche Not der Prozeß blinder Anpassung für die zahllosen Millionen Menschen bedeutete, die mitten in den Wirbel jener Übergangsphase hineingeboren wurden. Wenn ich jetzt auf das Zeitalter zurückblicke, in dem mein früheres Leben sich abspielte, muß ich immer wieder an eine Menschenmenge in dem in Pimlico so häufigen Nebel denken. Keiner konnte seinen Weg überblicken, jeder tastete sich langsam und schwerfällig von einem sichtbaren Ding zum anderen weiter, und alle fühlten sich unbehaglich und waren gereizt.

Uns ist es heute völlig klar, daß in jenem fernab liegenden neunzehnten Jahrhundert die Zeit ungebildeter Arbeitssklaven, unwissender Schwerarbeiter bereits vorbei war; Maschinenkraft war an Stelle der Menschenkraft getreten. Das neue Zeitalter mit seinem weit vielfältigeren und gefährlicheren Leben, diese viel reicher und mannigfaltiger gewordene Welt, erforderte eine geistig und moralisch gebildete Bevölkerung. Damals aber war dies durchaus nicht klar. Widerwillig nur und in ungenügendem Maße ließen die gebildeten und wohlhabenden Stände der sich rasch vermehrenden Menge des Volks Wissen und Aufklärung zukommen und bestanden überdies darauf, daß der Volksunterricht eine besondere Form habe, sich in einer neuen Art von Schule vollziehe. Ich habe euch ja erzählt, was für Kenntnisse mir in der Schule beigebracht wurden, Lesen, Schreiben, die Anfangsgründe des Rechnens, sogenannte Geographie und so weiter. Dieser Unterricht wurde durch die Notwendigkeit eines möglichst frühen Gelderwerbs im Alter von dreizehn oder vierzehn Jahren abgebrochen, gerade in dem Zeitpunkte also, da Wißbegier und Forschungstrieb sich zu regen beginnen. Mehr hatte die Menschheit auf dem Gebiet der Volkserziehung und -Bildung bis zum Anbruch des zwanzigsten Jahrhunderts nicht erreicht. Scharen von Menschen konnten gerade eben lesen und schreiben, sie waren vertrauensselig und unkritisch und dabei von einem heftigen Verlangen erfüllt, mehr zu lernen, mehr Einsicht und Wissen zu erwerben. Das Gemeinwesen als solches tat nichts, um das unklare Streben der halberwachten Menge zu befriedigen; es blieb dem Privatunternehmen überlassen, aus dem dumpfen Wissensdrang des Volkes Gewinn zu schlagen. Eine ansehnliche Zahl großer Verlagsfirmen war entstanden und lebte von dem neuen Lesepublikum, das dieser sogenannte Elementarunterricht geschaffen hatte.

Zu allen Zeiten haben die Menschen Geschichten gerne gelesen, deren Stoff aus dem wirklichen Leben gegriffen ist. Die Jungen sind stets begierig, mehr von der Bühne zu erfahren, auf der sie eben eine Rolle zu spielen beginnen, sie wollen ein Bild von den Aussichten und Möglichkeiten des Daseins gewinnen, ein lebhaft und dramatisch bewegtes Bild, das sie ihre eigenen Erlebnisse vorausahnen läßt. Und ältere Leute wollen mit Hilfe von Erzählungen, Schilderungen und Diskussionen ihre Erfahrungen ergänzen und ihr Urteil erweitern. Die Dichtkunst besteht nicht erst, seit die Menschheit Schriften zu entwickeln begann, nein, eigentlich hob sie schon an, als die Sprachen so weit ausgebildet waren, daß Rezitation und Geschichtenerzählen möglich wurden. Und stets hat der Erzähler vor allem das vorgebracht, was die Menschen zu hören bereit waren, stets hat er seinen Gegenstand nicht so sehr in der Wildnis der Wirklichkeit gesucht, als vielmehr im erwartungsvollen Gemüt seiner Hörer oder Leser, der Personen also, von denen ihm der Lohn für sein Bemühen wird. Aus diesem Grunde sind viele Werke der Literatur jedes Zeitalters wertlos und vergänglich und nur insoferne, als sie die Wünsche und geistigen Beschränkungen der betreffenden Generation beleuchten, für den Historiker oder den Psychologen späterer Zeiten von Interesse. Die volkstümliche Literatur des Zeitalters, in dem Harry Mortimer Smith lebte, war umfangreicher, stärker von zynischer Unaufrichtigkeit durchsetzt, schlechter in ihrer Flüchtigkeit und ihrer billigen Minderwertigkeit und alles in allem hohler als irgendeine, die die Welt bis dahin gesehen hatte.

Ihr werdet mich possenhafter Übertreibung zeihen, wenn ich euch erzähle, wie eine beträchtliche Schar von Leuten dadurch reich wurde, daß sie, den unklaren Bedürfnissen der Scharen von neuen Lesern entgegenkommend, die übergroßen Städte der atlantischen Welt mit Lesestoff versorgte. Ein gewisser Newnes zum Beispiel soll eines Tages im Kreise seiner Familie eine interessante kleine Anekdote vorgelesen und daraufhin bemerkt haben: ›Diese Geschichte ist wirklich ein Leckerbissen!‹ Diese witzige Namengebung brachte ihn auf den Gedanken, eine Wochenschrift zu gründen, die interessante kleine Geschichtchen, Ausschnitte aus Büchern und Zeitungen und dergleichen mehr enthalten sollte, und eine hungrige Menge war gerne bereit, ihren Wissensdrang und ihre Neugier mit dieser Art von geistiger Nahrung zu stillen. Auf diese Weise entstand eine der meist gelesenen Londoner Zeitschriften mit dem Titel ›Tit-Bits‹, das heißt ›Leckerbissen‹, deren Inhalt von einem emsigen und ziemlich schlecht bezahlten Stab von Mitarbeitern aus tausenderlei Quellen zusammengestellt wurde, und Newnes erwarb ein Vermögen und wurde in den Adelsstand erhoben. Sein erster Erfolg stachelte ihn zu weiteren Experimenten mit dem neuen Lesepublikum an. Er gründete eine Monatszeitschrift, in der er hauptsächlich Erzählungen ausländischen Ursprungs veröffentlichte. Sie wurde anfangs nicht sehr viel gekauft, bald aber begann ein gewisser Doktor Conan Doyle für sie zu schreiben, und zwar Geschichten über Verbrechen und deren Entdeckung, die das Blatt und ihn selbst berühmt machten. In jenen Tagen hatte fast jeder nur halbwegs geistig regsame Mensch Interesse an Morden und ähnlichen Verbrechen, die noch sehr häufig vorkamen. Sie waren auch tatsächlich ein sehr fesselndes Thema für die damaligen Menschen, denn richtig behandelt, beleuchteten solche Fälle besser als sonst irgendetwas die Probleme der Gesetzgebung, Erziehung und Regierung, nach deren Lösung unser sozialer Wirrwarr dringend verlangte. Auch die ärmsten Leute hielten sich wenigstens eine wöchentlich einmal erscheinende Zeitung, um an geheimnisvollen Mord- und Ehebruchsgeschichten ihre Einsicht zu schärfen; jedermann hatte das instinktive Bedürfnis, die inneren Beweggründe, die den Verbrecher zur Tat trieben, erkennen und die bestehenden Verbote beurteilen zu lernen. Conan Doyles Geschichten jedoch enthielten nicht viel Psychologie; er verwirrte die Fäden seiner Geschichte, um sie in überraschender Weise wieder entwirren zu können, und über der gespannten Neugier auf den Ausgang vergaßen seine Leser das eigentliche Problem.

Unmittelbar auf Newnes folgte eine ganze Schar weiterer Zeitungsgründer, darunter ein gewisser Arthur Pearson und die Gebrüder Harmsworth, die von ganz bescheidenen Anfängen zu Ansehen und Reichtum emporstiegen; ihrer ersten Zeitung, einer kleinen Wochenschrift, die den Titel ›Antworten‹ führte, lag die Idee zugrunde, daß man gerne die Briefe anderer Leute liest. Aus unseren Geschichtsbüchern könnt ihr erfahren, daß zwei dieser Harmsworths, Männer von großer Tatkraft, in den Adelsstand erhoben wurden und eine bedeutende Rolle in der Politik spielten; ich aber habe euch von ihnen nur zu erzählen, daß sie eine Unzahl von Zeitungen und Zeitschriften ins Leben riefen und damit das schallende Gelächter des Laufburschen, das Herz des Fabrikmädels, den Respekt der Aristokratie und das Vertrauen der Neuen Reichen für sich gewannen. Ihr Unternehmen war ein riesenhafter Betrieb. Unsere Firma im Thunderstone House war älter als die Newnes-, Pearson- und Harmsworth-Konzerne. Schon im achtzehnten Jahrhundert hatte sich ein allgemeiner Wissensdrang geltend gemacht, und ein gewisser Dodsley, ein ehemaliger Bedienter, der Verleger geworden war, brachte unter dem Titel ›Der Gefährte des jungen Mannes‹ ein volkstümlich lehrhaftes Werk heraus. Unser Gründer, Crane, tat ein Gleiches in den frühen Tagen des Zeitalters der Königin Victoria. Sein ›Hauslehrer‹, in monatlichen Lieferungen, hatte großen Erfolg, ebenso ein weiteres Werk, betitelt ›Kreis der Wissenschaften‹, ferner eine Wochenschrift und anderes mehr. Seine beiden Hauptrivalen waren die Verleger Cassell und Routledge; doch obwohl er mit einem viel geringeren Kapital arbeitete als sie, hielt er sich jahrelang auf gleicher Höhe mit ihnen. Dann kam eine Zeit, da die Gründung zahlreicher neuer volkstümlicher Verlage Crane und seine Zeitgenossen in den Hintergrund schob. Schließlich aber wurde die Firma von einem gewissen Sir Peter Newberry umgestaltet, gewann neues Leben und gelangte bald wieder zu ansehnlichem Wohlstand, indem sie einen ganzen Schwarm von Zeitschriften herausbrachte, in denen kleine Novellen erschienen, und billige Zeitungen für Frauen, junge Mädchen und Kinder. Der ›Hauslehrer‹ erlebte eine moderne Erneuerung und enthielt nun eine besondere Anleitung zur Ausbildung des Gedächtnisses, daneben brachte Sir Peter Newberry ein weiteres Werk heraus, betitelt ›Der Weg zum Erfolg‹, und schließlich wandte sich der Verlag sogar der Veröffentlichung leicht verständlicher wissenschaftlicher Handbücher zu.

Ihr könnt euch kaum vorstellen, welche Unmenge von gedrucktem Zeug es in der damaligen Welt gab, die Menschheit erstickte fast unter all dem gedruckten Schund, wie sie ja auch an einem Überschuß von minderwertigen Menschen und von schlechten Gebrauchsgegenständen, Kleidern und anderem krankte; in allem und jedem gab es zuviel des Mittelmäßigen und Schlechten. Und das Gute war unglaublich selten! Ich kann euch nicht schildern, wie wunderbar es mich dünkt, aufs neue hier unter euch zu sitzen, nackt und einfach, in einem schönen und zweckmäßigen Zimmer, und klar und ungeschminkt zu sprechen. Das Gefühl, einer schaudervollen Umgebung entronnen zu sein, befreit zu sein von allem möglichen üblen und nutzlosen Kram, ist herrlich. Wir lesen dann und wann ein Buch, sprechen und lieben natürlich und ehrlich, arbeiten, denken und forschen mit Hilfe eines richtig ernährten und wohlgelüfteten Gehirns, leben mit allen unseren Sinnen und all unseren Fähigkeiten und haben das Dasein fest und sicher in der Hand. Das zwanzigste Jahrhundert aber stand unter einem schweren Druck. Diejenigen, die Mut genug besaßen, kämpften mit aller Kraft, um Wissen zu erringen und vorwärts zu kommen, und ihnen verkauften wir unseren weder sehr lichtvollen, noch nützlichen ›Hauslehrer‹ und unsern ›Weg zum Erfolg‹, ein Machwerk von durchaus niedriger Gesinnung. Die große Mehrzahl der damaligen Menschen jedoch verlor den Zusammenhang mit dem wirklichen Leben auf eine Art und Weise, die heute nur mehr den Seelenärzten bekannt ist. Sie wandten ihre Aufmerksamkeit von den tatsächlichen Vorgängen ab und gaben sich Hirngespinsten hin. In einem Tag-Traum befangen, gingen sie ihres Weges, einem Tag-Traum, in dem sie nicht sie selbst waren, sondern weit edlere und sehr romantische Wesen, und der besagte, daß die Dinge um sie herum sich alsbald völlig ändern und zu einer dramatischen Szene gestalten würden, in der sie selbst die Hauptrolle zu spielen gedachten. Die Novellen und populären Romane, die in den Zeitschriften von Crane und Newberry veröffentlicht wurden und die Haupteinnahmsquelle der Firma bedeuteten, förderten jene Träumereien, waren sozusagen Betäubungsmittel des Geistes. Heliane, hast du jemals irgendwelche Novellen aus dem zwanzigsten Jahrhundert gelesen?«

»Die eine oder die andere«, erwiderte Heliane. »Es ist, wie du sagst. Ich glaube, ich besitze etwa ein Dutzend solcher Geschichten. Ich will dir meine kleine Sammlung gelegentlich zeigen.«

»Höchstwahrscheinlich ist etwa die Hälfte von uns, ich meine von Crane & Newberry. Es wird lustig sein, sie wieder zu sehen. Der größte Teil des phantastischen Zeugs, das Crane & Newberry herausbrachten, wurde von Mädchen und Frauen und von einem gewissen Typ schwächlicher Dichterlinge geschrieben. Diese sogenannten Autoren lebten in London oder auf dem Lande und sandten ihre Manuskripte per Post an das Thunderstone House, und die Firma veröffentlichte die Erzählungen teils in ihren Zeitschriften, teils in Buchform. Thunderstone House war ein sehr weitläufiges Gebäude in der Tottenham Court Road und hatte einen großen Hof, in dem riesige Lastwagen Papierrollen abluden, während andere unsere fertigen Produkte davonführten. Das ganze Gebäude bebte von dem Lärm und dem Gestampfe der Druckereien. Mein erster Besuch dort ist mir bis auf den heutigen Tag in lebhafter Erinnerung. Der Haupteingang befand sich in einer engen Seitenstraße; auf dem Wege dahin kam ich an einem schmutzigen Wirtshause und am Bühneneingang eines Theaters vorbei.«

»Welche Arbeit solltest du übernehmen – Bücher einpacken? Oder Botengänge tun?« fragte Beryll.

»Ich sollte mich betätigen, wie ich konnte. Und binnen kurzem gehörte ich dem Redaktionspersonal an.«

»Dem Redaktionspersonal, dessen Aufgabe es war, Wissen unter das Volk zu bringen?«

»Jawohl.«

»Warum aber stellte man einen ungebildeten jungen Kerl gleich dir an?« fragte Beryll. »Ich kann wohl verstehen, daß die Belehrung der neuen Klassen von Lesern und die Beantwortung ihrer ersten rohen Fragen sich notwendigerweise in einer Art von improvisiertem Großbetrieb vollziehen mußten, es gab aber doch gewiß an den damaligen Universitäten gebildete Männer genug, die diese Publikations- und Belehrungsarbeit hätten auf sich nehmen können!«

Sarnac schüttelte den Kopf. »Erstaunlicherweise war dem nicht so«, sagte er. »Wohl gingen Leute genug aus den Universitäten hervor, doch waren sie für jene Arbeit nicht geeignet.«

Seine Zuhörer sahen höchst verwundert drein.

»Die Masse der Männer, die, mit schönen Titeln versehen, aus Oxford und Cambridge hervorgingen, glichen den Flaschen des Mr. Humberg, in denen sich trotz der Aufschriften in Goldbuchstaben weiter nichts befand als abgestandenes Wasser. Der pseudo-gebildete Mann der älteren Ordnung konnte weder lehren, noch schreiben, noch irgendetwas erklären. Er war aufgeblasen, herablassend, langweilig, furchtsam und unklar in seinen Darlegungen, er hatte keinerlei Verständnis für die Bedürfnisse oder das Wesen der Allgemeinheit. Die Herausgeber der neuen Zeitschriften und Tagesblätter entdeckten, daß der Laufbursche, der sich zu einem gewissen Bildungsgrad durchgerungen hatte, ein klügerer und besserer Arbeiter, dabei verhältnismäßig bescheiden und sehr fleißig war, und bemüht, selbst zu lernen und sein Wissen andern mitzuteilen. Die Herausgeber unserer Zeitschrift, die Redakteure unserer Publikationen in Teillieferungen und so weiter waren fast alle aus den niedrigen Ständen hervorgegangen, kaum einer von ihnen besaß eine sogenannte akademische Bildung, dafür hatten die meisten einen begeisterten Bildungseifer, und einem wie dem anderen war eine Kühnheit eigen, die dem Gelehrten fehlte ...«

Sarnac dachte eine Weile nach. »In Großbritannien, ebenso wie auch in Amerika, gab es zu der Zeit, die ich euch schildere, zwei Bildungswelten nebeneinander, zweierlei Traditionen geistiger Kultur. Da war einmal der große in Gärung begriffene Wirrwarr des neuen Publikations- und Zeitungswesens, des Kinos usw., ein noch recht rohes geistiges Getriebe, das den neuen Elementarschulen des neunzehnten Jahrhunderts sein Entstehen verdankte. Daneben bestand das alte aristokratische Bildungswesen des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, dessen Tradition in das augustische Zeitalter Roms zurückreichte. Die beiden Richtungen vermengten sich nicht. Auf der einen Seite standen Leute aus dem Volk, ausgestattet mit dem geistigen Mut und der geistigen Kraft – sagen wir eines Aristoteles oder Plato, so mangelhaft auch ihr tatsächliches Wissen sein mochte; auf der anderen die akademisch Gebildeten, durch eine affektierte Vorliebe für alles Griechische ausgezeichnet und dem käuflichen Gelehrten aus den Tagen der römischen Sklaverei vergleichbar. Dieser akademisch Gebildete besaß die feinen Sitten des einstigen Haushaltssklaven, dieselbe unterwürfige Ehrfurcht vor einem Gönner, einem Fürsten oder Patrizier, dieselbe pedantisch zaghafte Sorgfalt in kleinen Dingen und dieselbe Furcht vor der unbegrenzten weiten Wirklichkeit. Er kritisierte gleich einem Sklaven in höhnischen Anspielungen, er stritt wie ein Sklave und verachtete, wen seine sklavische Gesinnung zu verachten wagte. Er war nicht imstande, der Menge zu dienen. Die Schar neuer Leser, die arbeitenden Massen, die ›Demokratie‹, wie man damals zu sagen pflegte, mußte sich ohne ihn zu Einsicht und Wissen durchdringen.

Der Gründer unserer Firma, Crane, hatte die erzieherische Aufgabe solcher Unternehmungen wie das seine wohl erkannt. Sir Peter Newberry aber war durch und durch Geschäftsmann gewesen und einzig und allein darauf bedacht, den Vorsprung, den neuere Verlagsfirmen uns abgewonnen hatten, wieder wett zu machen. Er hatte angestrengt gearbeitet, seine Leute schlecht bezahlt und Erfolg gehabt. Nun war er seit einigen Jahren tot, und der Hauptteilhaber und Direktor der Firma war sein Sohn Richard. Dieser trug den Spitznamen ›die Sonne‹, wohl wegen seines im Gegensatze zum Vater sehr heiteren und herzlichen Wesens. Er hatte ein sehr lebhaftes Empfinden für die moralische Verantwortlichkeit, die hinter der äußerlichen Unverantwortlichkeit eines volkstümlichen Verlegers der damaligen Zeit lag. Er arbeitete wenn möglich noch angestrengter als sein Vater, aber er bezahlte seine Leute gut; er war bemüht, dem neuen Lesepublikum ein wenig voranzueilen, anstatt hinter ihm zurückzubleiben; die Zeiten wandelten sich in einem ihm günstigen Sinne, und er hatte noch mehr Erfolg als sein Vater. Ich arbeitete einige Monate bei Crane & Newberry, ehe ich ihn zu Gesicht bekam, Spuren seiner Persönlichkeit jedoch konnte ich schon bei meinem Antrittsbesuch im Thunderstone House entdecken. Gleich im ersten Bürozimmer, das ich betrat, hingen nämlich Sprüche an der Wand, in klaren schwarzen Lettern gedruckt und auf Karton aufgeklebt. Es war das seine Methode, der Gesinnung des Hauses eine bestimmte Richtung zu geben.

Da stand zum Beispiel: ›Wir führen – die anderen ahmen uns nach.‹ Oder: ›Wenn du im Zweifel darüber bist, ob etwas am Ende zu gut sein könnte, dann drucke es beruhigt.‹ Ein dritter Spruch lautete: ›Wenn einer auch weniger weiß als du, so ist das noch lange kein Grund, ihn so zu behandeln, als wäre er ein Tor oder ausgemachter Narr; sei versichert, daß es etwas gibt, was er doch besser versteht als du.‹«

9

»Ich brauchte einige Zeit, bis ich aus dem Hof des Thunderstone House in das Büro gelangte, an dessen Wänden jene Sprüche hingen. Fanny hatte mir aufgetragen, nach Mr. Cheeseman zu fragen. Als ich nach längerem Suchen eine Tür zu einer Treppe fand – sie war mir zuerst durch zwei große Lastwagen verborgen gewesen –, stellte ich meine Frage an eine sehr kleine junge Dame, die in einer Art Glaskasten saß. Sie hatte ein rundes Gesicht und eine fröhliche rote Knopfnase. Wie mir langsam klar wurde, war sie damit beschäftigt, eine ausländische Marke von einem Briefumschlagstückchen abzulösen, indem sie die Kehrseite des Papiers emsig beleckte. Sie ließ von ihrem Tun nicht ab, sondern fragte mich nur mit den Augen nach meinem Begehr.

›Sisibebell?‹ sagte sie schließlich, immer noch leckend.

›Wie, bitte?‹

›Osibebellsin?‹

›Ich kann Sie leider nicht verstehen‹, erwiderte ich.

›Der Junge muß taub sein‹, sagte sie, legte die Marke hin und schöpfte Atem für einen deutlich gesprochenen Satz. ›Ob Sie bestellt sind?‹

›Ach so,‹ sagte ich, ›gewiß doch, ja. Ich soll heute zwischen zehn und zwölf nach Mr. Cheeseman fragen.‹

Sie nahm den Kampf mit der Briefmarke wieder auf. ›Sammeln Sie auch Marken?‹ fragte sie. ›Es ist sehr interessant. Mr. Cheeseman hat ein kleines Handbuch darüber geschrieben. Sie suchen Arbeit, wie? Da werden Sie wohl noch etwas warten müssen. Wollen Sie bitte diesen Fragebogen ausfüllen. Eine Formalität, auf der wir bestehen müssen. Hier ein Bleistift.‹

Der Zettel verlangte die Angabe meines Namens und meines Anliegens. Ich schrieb, daß ich eine literarische Tätigkeit anstrebte.

›Ach Gott, ach Gott‹, rief die junge Dame, als sie das las. ›Ich dachte, Sie wollten in die Expeditionsabteilung. Hörst du, Florence,‹ wandte sie sich an ein anderes, weitaus größeres Mädchen, das eben die Treppe herunterkam, ›sieh dir den einmal an, der sucht literarische Beschäftigung.‹

›So eine Unverschämtheit!‹ sagte die zweite junge Dame, nachdem sie mich angeguckt hatte, und setzte sich mit einem Stück Kaugummi im Mund und einer eben vom Verlag herausgebrachten Novelle in der Hand in den Glaskasten. Die junge Dame mit der Knopfnase widmete sich wieder ihrer Marke. Zehn Minuten lang stand ich da, bis die Kleinere sich herbeiließ zu bemerken: ›Nun muß ich den Zettel wohl zu Mr. Cheeseman hinauftragen‹, und mit meinem Formular verschwand.

Nach ungefähr fünf Minuten kehrte sie zurück. ›Mr. Cheeseman hat nur einen Augenblick Zeit für Sie‹, sagte sie und führte mich die Treppe hinauf und einen Gang entlang, durch dessen Glasfenster man in eine Druckerei sehen konnte, dann wieder eine Treppe hinunter und einen dunklen Gang entlang in einen kleinen Raum mit einem großen Schreibtisch, einigen Stühlen und Bücherregalen voll Broschüren. Die Tür in ein anschließendes Zimmer stand offen. ›Setzen Sie sich hier‹, sagte das Mädchen mit der Knopfnase.

›Ist das Smith?‹ fragte eine Stimme. ›Kommen Sie herein.‹ Ich trat ein, und das Mädchen mit der Knopfnase verschwand aus meinem Gesichtskreis.

Ich erblickte einen Herrn, der in einem tiefen Lehnstuhl vor seinem Schreibtisch saß und in die Betrachtung einiger recht kräftiger Zeichnungen versunken war, die auf einem Brett längs der Mauer aufgestellt waren. Sein rotes Gesicht war ernst, er runzelte die Brauen und kniff den breiten Mund fest zusammen. Sein borstiges Haar stand nach allen Windrichtungen in die Höhe; er hielt den Kopf zur Seite geneigt und kaute am Ende eines Bleistiftes. ›Ich weiß nicht,‹ sagte er halblaut vor sich hin, ›ich weiß nicht.‹ Ich wartete darauf, angesprochen zu werden. ›Smith‹, murmelte er, sah mich aber immer noch nicht an. ›Harry Mortimer Smith. Smith, haben Sie eine Volksschule besucht?‹

›Ja, Mr. Cheeseman‹, sagte ich.

›Sie sollen literarische Neigungen haben?‹

›Ja, Mr. Cheeseman.‹

›Dann kommen Sie mal her, stellen Sie sich neben mich und sehen Sie sich diese verdammten Bilder da an. Haben Sie dergleichen schon gesehen?‹

Ich stellte mich neben ihn hin und verharrte in prüfendem Schweigen. Die Zeichnungen waren, wie ich nun merkte, Entwürfe für das Deckblatt einer Zeitschrift, und auf jedem von ihnen stand in großen Buchstaben: ›Die neue Welt.‹ Eines der Blätter war von Flugmaschinen, Dampfern und Automobilen bedeckt, zwei andere zeigten nur je ein Flugschiff, ein weiteres stellte einen knieenden Mann dar, der die aufgehende Sonne begrüßte, doch ging sie hinter ihm auf. Das nächste zeigte eine zur Hälfte beleuchtete Erdkugel und das letzte einen Arbeiter, der in der Morgendämmerung zur Arbeit schreitet.

›Smith,‹ sagte Mr. Cheeseman, ›Sie sind es, der diese Zeitung kaufen soll, nicht ich. Welches von diesen Deckblättern gefällt Ihnen am besten? Sie sollen die Wahl treffen. Fiat experimentum in corpore vile.‹

›Womit ich gemeint bin?‹ fragte ich belustigt.

Des Mannes gesträubte Augenbrauen verrieten ein flüchtiges Erstaunen. ›Heutzutage sind offenbar dieselben Sätze in aller Leute Mund‹, bemerkte er. ›Welches Blatt also finden Sie am anziehendsten?‹

›In diesem da mit den Aeroplanen scheint mir die Idee ein wenig zu plump zum Ausdruck gebracht‹, sagte ich.

›Hm,‹ meinte Mr. Cheeseman, ›das findet »die Sonne« auch. Dieser Umschlag würde Sie also nicht zum Kauf reizen?‹

›Ich glaube nicht. Die Sache ist zu grob aufgetragen.‹

›Und die Erdkugel?‹

›Das erinnert mich zu sehr an einen Schulatlas, Mr. Cheeseman.‹

›Geographie und Reisebeschreibungen sind aber doch interessant?‹

›Interessant wohl, aber nicht verlockend.‹

›Hm, hm, interessant, aber nicht verlockend. Aus dem Munde der Kinder ... Dann müssen wir also den Arbeiter nehmen. Würden Sie sich den kaufen?‹

›Es soll eine Zeitung über Erfindungen, Entdeckungen und den Fortschritt im allgemeinen sein, nicht wahr?‹

›Ganz richtig.‹

›Ich finde die Morgendämmerung ganz gut, aber ich glaube nicht, daß der Arbeiter besondere Anziehungskraft ausüben wird. Er sieht aus, als hätte er Rheumatismus, und ist recht plump. Warum lassen Sie ihn nicht lieber weg und begnügen sich mit der Morgendämmerung?‹

›Nur diese blaßrosa Wolkenstreifen? Dann würde das Blatt wie ein Stück Schinken aussehen, Smith.‹

Mir kam ein Einfall. ›Wie, wenn man die Morgendämmerung in eine frühere Jahreszeit versetzte? Knospen an den Bäumen und schneeige Berge im Hintergrund. Und mitten drin eine Hand, eine große Hand – mit ausgestrecktem Zeigefinger.‹

›Eine Hand, die nach oben weist?‹

›Nein, nicht nach oben, sondern vorwärts und vielleicht ein wenig aufwärts. Ich glaube, dergleichen würde Neugierde erwecken.‹

›Ja, das glaube ich auch. Eine Frauenhand?‹

›Irgend eine Hand.‹

›Würden Sie das kaufen?‹

›Ich würde mich darauf stürzen, wenn ich Geld in der Tasche hätte.‹

Mr. Cheeseman kaute einige Augenblicke hindurch mit nachdenklichem, aber freundlichem Gesicht an seinem Bleistift. Dann spuckte er eine Menge kleiner Holzspänchen über den Tisch und bemerkte: ›Was Sie sagen, Smith, gibt genau mein Empfinden, meine Ansicht wieder. Es ist ganz merkwürdig.‹ Er drückte auf die Klingel neben seinem Tisch, und ein Mädchen erschien. ›Bitten Sie Mr. Prelude zu mir ... Also, Sie möchten hierher ins Thunderstone House kommen, Smith? Man sagt mir, daß Sie einige wissenschaftliche Bildung besitzen. Lernen Sie tüchtig weiter. Unser Publikum interessiert sich immer mehr für Wissenschaft. Ich habe hier einige wissenschaftliche Bücher stehen, lesen Sie die durch, und streichen Sie an, was Ihnen interessant scheint.‹

›Werden Sie Arbeit für mich haben, Mr. Cheeseman?‹

›Ich muß Arbeit für Sie haben. Befehl ist Befehl. Sie können sich in jenem Zimmer niederlassen ...‹

Wir wurden durch Mr. Prelude, einen langen, dünnen Menschen mit blassem Gesicht und melancholischer Miene, unterbrochen.

›Mr. Prelude,‹ sagte Cheeseman und deutete mit einer Handbewegung nach den Skizzen hin, ›das Zeug taugt nichts. Es ist – es ist zu banal. Wir brauchen etwas Frischeres, etwas Phantasievolles auf dem Deckblatt. Ich stelle mir ungefähr folgendes vor: ein einfaches, ruhiges Bild. Hauptsächlich Farbenwirkung. Eine ferne Gebirgskette, über der die Sonne aufgeht. Ein stilles, blaues Tal und rosig gefärbte Wolken. Verstehen Sie? Im Vordergrund vielleicht Bäume, knospende Bäume. Ein Frühlingsmorgen – verstehen Sie? Und all das ganz zart, gewissermaßen nur als Hintergrund gemeint. Dann eine große Hand quer über das ganze Blatt, eine Hand, die nach etwas Fernem weist. Verstehen Sie?‹

Er sah Prelude mit einem Ausdruck schöpferischer Begeisterung an. Dieser blickte mißbilligend drein. ›»Die Sonne« wünscht etwas dergleichen?‹ fragte er.

›Es ist das Richtige‹, entgegnete Mr. Cheeseman.

›Warum nicht dieses hier mit den Flugmaschinen?‹ fragte Prelude.

›Warum nicht gleich lieber eine Schar Mücken?‹

Prelude zuckte die Achseln. ›Ich finde, daß eine Zeitschrift über den Fortschritt unbedingt eine Flugmaschine oder einen Zeppelin auf dem Titelblatt haben muß‹, sagte er. ›Doch wie Sie meinen.‹

Cheeseman schien etwas bestürzt über die Zweifel seines Kollegen, hielt jedoch an seiner Idee fest. ›Wir wollen eine Skizze machen lassen‹, sagte er. ›Wie ist's mit Wilkinson?‹

Die beiden sprachen eine Zeitlang darüber, ob dieser Wilkinson als Deckblattzeichner in Frage komme. Dann wandte sich Cheeseman wieder zu mir.

›Nebenbei bemerkt,‹ sagte er, ›diesen jungen Mann hier sollen wir beschäftigen. Ich weiß noch nicht, welche Arbeit ihm liegt, aber er scheint recht klug zu sein. Ich denke, er könnte zuerst einmal diese wissenschaftlichen Bücher da durchlesen. Was ihm gefällt, wird auch das Publikum interessieren. Ich kann das Zeug nicht lesen, ich hab' keine Zeit dazu.‹

Mr. Prelude betrachtete mich prüfend. ›Man weiß nie, was man kann, ehe man nicht allerlei Versuche anstellt‹, sagte er. ›Haben Sie sich mit wissenschaftlichen Studien befaßt?‹

›Nicht sehr viel‹, sagte ich. ›Ein wenig Physiographie, Chemie und Geologie habe ich getrieben, und ich habe eine Menge gelesen.‹

›Sie brauchen hier nicht viel zu wissen‹, sagte Prelude. ›Es ist sogar besser für Sie, wenn Sie nicht zu viel wissen. Bildung macht leicht dünkelhaft; und dünkelhafte Leute taugen für ein Lesepublikum von zehntausend Köpfen, Crane & Newberry jedoch arbeiten für Hunderttausende. Nicht etwa, daß wir hier in unserem Haus auf einer niedrigen Stufe stünden. »Erzieherisch und fortschrittlich«, ist unsere Devise – aber nicht mehr, als dem Profit günstig ist. Schauen Sie sich diesen Spruch hier an: »Wir führen.« Trotzdem aber, Mr. Cheeseman, seien wir ehrlich: was am besten zieht, ist ein hübsches Mädchen auf dem Titelblatt, so wenig bekleidet, wie aus Schicklichkeitsgründen gerade noch möglich. Sehen Sie einmal her – wie heißen Sie?‹

›Smith ist mein Name.‹

›Smith, stellen Sie sich einmal vor, Sie finden all diese Titelblätter auf einem Zeitungsstand. Und nun würde Ihnen noch dies hier gezeigt. Was würden Sie kaufen?‹

Er hielt mir die Sommernummer einer Zeitschrift hin, deren Deckblatt zwei junge Damen in eng anliegendem Badekostüm, am Meeresstrand gelagert, aufwies.

›Ich schwöre, Smith kauft sich dies‹, sagte Prelude triumphierend.

Ich schüttelte den Kopf.

›Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß Ihnen das nicht gefällt?‹ sagte Mr. Cheeseman, während er sich in seinem Stuhl herumdrehte und mit dem abgekauten Bleistiftende auf das Bild wies.

Ich überlegte.

›In der Zeitschrift selbst steht dann doch nichts über die jungen Damen‹, sagte ich schließlich.

›Ha,‹ rief Cheeseman, ›da sind Sie geschlagen, Prelude.‹

›Keineswegs. Er hat ja sicher ein halbes Dutzend gekauft, ehe er zu dieser Weisheit gelangte. Und die meisten Leser vergessen das Titelblatt über dem Text.‹«

10

»Meine Einführung in das Thunderstone House war weitaus weniger schwierig, als ich befürchtet hatte. Daß meine Meinung über jene Deckblatt-Skizzen der Mr. Cheesemans so nahe gekommen war, bedeutete einen guten Anfang, und einige Fälle ähnlicher Übereinstimmung stärkten meinen Mut. Die Arbeit im Verlag interessierte mich sofort, und meine geistige Entwicklung machte, wie das in der Jugendzeit oft zu geschehen pflegt, einen plötzlichen Ruck nach vorwärts. Als ich Mr. Humberg verließ, war ich noch ein kleiner Junge; nachdem ich etwa sechs Wochen bei Crane & Newberry gewesen war, fühlte ich mich schon als tüchtigen und verantwortungsvollen jungen Mann. Ich gewann eigene Meinungen und lernte bald mit Zuversicht schreiben, sogar meine Handschrift verlor die knabenhaft unausgeprägten oder überpedantischen Züge und wurde fest und charakteristisch. Ich begann auf meine Kleidung Wert zu legen und darüber nachzudenken, was für einen Eindruck ich wohl auf andere machte.

Sehr bald schon schrieb ich kurze Beiträge für unsere kleineren Wochen- und Monatshefte und machte Entwürfe für die Artikel und sogenannten ›Umrisse‹, die Mr. Cheeseman verfaßte. Die achtzehn Shilling wöchentlich, mit denen ich begonnen hatte, wurden ruckweise auf drei Pfund erhöht; das war damals ein recht hohes Gehalt für einen Jungen von noch nicht achtzehn Jahren. Fanny interessierte sich lebhaft für meine Arbeit und legte ein außerordentliches Verständnis für den Zeitungsbetrieb an den Tag. Sie schien Cheeseman ebenso wie Prelude und meine anderen Kollegen vom Hörensagen zu kennen, denn wenn ich sie im Gespräch erwähnte, wußte sie stets sofort, um wen es sich handelte.

Eines Tages waren ich und ein anderer Junge, namens Wilkins, im Zimmer neben Mr. Cheeseman mit einer sonderbaren Arbeit beschäftigt. Eine der Autorinnen, die für unsere Firma arbeitete, hatte für unsere Zeitschrift ›Das Paradies des Lesers‹ eine Erzählung geschrieben, und diese war vom Drucker bereits gesetzt, als man entdeckte, daß die Verfasserin aus Versehen einem der Hauptbösewichte darin den Namen eines bekannten Advokaten gegeben hatte, der noch dazu gleich seinem erdichteten Namensvetter ein Landhaus in einem Dorf besaß, das ebenfalls ganz ähnlich hieß, wie der betreffende Ort in der Geschichte. Der berühmte Advokat hätte dieses sonderbare Zusammentreffen als Beleidigung auffassen und Skandal machen können. So hatten Wilkins und ich den Bürstenabzug durchzusehen – einer kontrollierte den anderen – und den Namen des berühmten Advokaten, so oft er vorkam, abzuändern. Um uns die Arbeit zu erleichtern, machten wir ein Spiel daraus: jeder las Seite um Seite seines Bürstenabzugexemplares so schnell als möglich, rief den Namen ›Reginald Flake‹ laut aus, sobald er auf ihn stieß, und wer zuerst rief, bekam jedesmal einen Punkt. Ich war um einige Punkte voran, als ich auf dem Gang eine Stimme hörte, die mir merkwürdig bekannt vorkam. ›Sie liegen alle auf meinem Schreibtisch. Wenn Sie vielleicht eintreten wollen ...‹, hörte ich Mr. Cheeseman sagen.

›Oh, oh,‹ rief Wilkins, ›das ist »die Sonne«.‹

Ich wandte den Kopf, als die Tür sich öffnete, und sah, wie Mr. Cheeseman einen vornehm aussehenden jüngeren Mann mit regelmäßigen, schönen Zügen und einem braunen Haarschopf über der Stirn eintreten ließ. Er trug eine Brille, deren große, runde Gläser leicht gelblich gefärbt waren. Als er mich erblickte, kam ein Ausdruck des Erkennens in sein Gesicht, verschwand aber gleich wieder. Entweder kannte er mich, oder ich hatte ihn an irgend jemanden erinnert. Er folgte Cheeseman durch das Zimmer, plötzlich wandte er sich scharf um.

›Ach, natürlich‹, sagte er lächelnd und ging ein paar Schritte auf mich zu. ›Sie sind der junge Smith. Wie geht es Ihnen hier?‹

›Ich arbeite hauptsächlich für Mr. Cheeseman‹, sagte ich, indem ich aufstand.

Er drehte den Kopf zu Cheeseman.

›Sehr zufriedenstellend, Herr Direktor, lebhafte Auffassung, Interesse, wird sich hier gut einarbeiten.‹

›Es freut mich, das zu hören, freut mich sehr. Jeder hat hier die besten Aussichten, aber bevorzugt wird keiner. Auf Tüchtigkeit allein kommt es an. Es wäre schön, wenn Sie es bis zum Direktor brächten, Smith. Wir werden Sie mit Freude bei uns oben begrüßen.‹

›Ich werde mein Bestes tun.‹

Er zögerte noch einen Augenblick, lächelte wieder sehr freundlich und ging dann in Cheesemans Zimmer ...

›Wo sind wir?‹ fragte ich. ›Mitte der Seite zweiunddreißig? Und wir stehen 22 zu 29.‹

›Kennen Sie ihn denn?‹ fragte Wilkins in erregtem Flüsterton.

›Ich kenne ihn nicht‹, sagte ich und wurde rot. ›Ich habe ihn nie gesehen.‹

›Nun, er aber kennt Sie.‹

›Er hat wohl von mir gehört.‹

›Von wem denn?‹

›Wie zum Kuckuck soll ich das wissen?‹ fragte ich mit überflüssiger Heftigkeit.

›Oh‹, sagte Wilkins. Er dachte nach. ›Aber –‹

Er blickte in mein verwirrtes Gesicht und fragte nicht weiter.

Bei dem Reginald-Flake-Spiel jedoch überholte er mich und schlug mich am Ende 67 zu 42.«

11

»Meiner Mutter verheimlichte ich, wie ich zu meiner Stellung im Thunderstone House gekommen war. So konnte sie ein wenig stolz auf mich sein und sich über mein wachsendes Gehalt freuen. Bald war ich in der Lage, meinen Beitrag zum Unterhalt zu verdoppeln, später erhöhte ich ihn noch weiter. Ich trat mein Dachstübchen an Prue ab und bekam dafür das Zimmer, das einst die alten Moggeridges bewohnt hatten. Es wurde für mich als Wohn- und Schlafzimmer neu eingerichtet, und bald besaß ich mehrere dicht besetzte Bücherborde und einen eigenen Schreibtisch.

Ich verheimlichte meiner Mutter auch meine häufigen Besuche bei Fanny – warum hätte ich sie nutzlos quälen sollen? Wir machten kleine Ausflüge miteinander, denn Fanny fühlte sich, wie ich bald bemerkte, recht oft einsam. Newberry war ein sehr beschäftigter Mann, und es war nichts Seltenes, daß er sie zehn oder vierzehn Tage nicht sehen konnte. Sie hatte zwar einige Freundinnen und besuchte Kurse und Vorlesungen, trotzdem hätte sie manchmal tagelang mit niemand anderem als dem Dienstmädchen gesprochen, das jeden Morgen zu ihr kam, wenn ich nicht gewesen wäre. Ich bemühte mich, den Umgang mit Fanny meiner Mutter völlig zu verbergen, aber dann und wann deckte ihr Argwohn meine Schwindeleien auf. Doch Erni und Prue konnten ihre Liebesangelegenheiten, von der Schande der Familie unberührt, weiterführen. Bald waren sie beide verlobt, und seine Braut, sowie ihr Bräutigam wurden eines Sonntags in den ersten Stock zum Tee geladen – Mr. und Mrs. Milton hatten dies freundlich erlaubt, da sie wie gewöhnlich fort waren. Ernis Freundin – ihren Namen habe ich gänzlich vergessen – war eine hübsch gekleidete, selbstgefällige junge Dame mit einer ungeheuren Kenntnis von Leuten aus der damaligen sogenannten ›Gesellschaft‹. Sie sprach ungezwungen, nahm den größten Teil der Konversation auf sich und erwähnte in ihrer Rede recht oft die großen Pferderennen, Monte Carlo und den Hof. Prues Mr. Pettigrew war von ernsterer Art; von seinen Aussprüchen weiß ich nur noch die Behauptung, daß die Menschheit in wenigen Jahren dahin gekommen sein werde, Umgang mit den Toten pflegen zu können. Er war ein sogenannter Chiropodologe und in chiropodologischen Kreisen recht angesehen.«

»Halt!« rief Beryll. »Was ist denn das? Du redest ja Unsinn, Sarnac. Was ist chiropodologisch – Hand? – Fuß? – Wissenschaft?«

»Ich dachte mir, daß ihr das fragen würdet«, sagte Sarnac lächelnd. »Chiropodologie hieß die Kunst der Hand- und Fußpflege, des Hühneraugenschneidens insbesondere.«

»Was sind Hühneraugen?« fragte Stella.

»Hühneraugen waren schmerzlich verwachsene Schwielen, die die Menschen durch schlechtsitzende Schuhe an den Füßen bekamen. In Mr. Humbergs Laden wimmelte es von Mitteln gegen Hühneraugen. Wir können uns dieses Übel heute kaum mehr vorstellen, damals aber verbitterte es das Leben zahlloser Menschen.«

»Aber warum trug man denn schlechtsitzende Schuhe?« fragte Beryll. »Doch nein – verzeih'. Ich weiß schon. Es war eine verrückte Welt, in der man aufs Geratewohl Schuhe herstellte, ohne sich vorher die betreffenden Füße anzusehen. Und dann zog man die schmerzenden Dinger zu Anlässen an, bei denen heutzutage kein vernünftiger Mensch mehr Schuhe tragen würde. Fahr' fort, Sarnac.«

»Wo war ich nur stehengeblieben?« sagte dieser. »Ach ja, ich erzählte von der Familiengesellschaft im ersten Stock. Man sprach von allem Möglichen, nur nicht von meiner Schwester Fanny. Kurze Zeit darauf wurde meine Mutter krank und starb.

Es kam ganz plötzlich. Sie hatte sich erkältet und wollte nicht zu Bett. Als sie sich dann doch hinlegte, hielt sie es nicht lange im Bett aus, denn sie mußte wissen, was Prue im Hause tat oder nicht tat. Die Erkältung artete in eine Lungenentzündung aus, dieselbe Krankheit, die die Moggeridges dahingerafft hatte, und drei Tage später war sie tot.

Als das Fieber sie befiel, verwandelte sie sich aus einer blassen, harten, unnahbaren Frau in ein erbarmungswürdiges Geschöpf mit heißen, roten Wangen. Ihr Gesicht wurde kleiner und sah jünger aus, die Augen glänzten und bekamen einen Ausdruck, der mich an Fanny erinnerte, wenn sie unglücklich war. All mein trotziger Widerstand gegen die Mutter schmolz dahin, als ich sah, wie sie, durch hochaufgetürmte Kissen gestützt, nach Atem rang. Ich fühlte, daß es mit ihrem mühseligen Leben und all ihrem Haß zu Ende gehe. Matilda Good wurde wieder zu der guten, alten Freundin aus der Jugendzeit, sie nannten einander aufs neue mit ihren Kosenamen ›Tilda‹ und ›Marty‹. Trotz ihrer Krampfadern lief Matilda fünfzigmal am Tag die Treppen auf und ab, und sie schickte um teuere Dinge – je teuerer, desto besser –, um alles Mögliche, wovon sie dachte, daß es meiner Mutter Freude machen könnte. Doch die verschiedenen Gaben standen traurig unberührt auf dem Tischchen neben dem Bett. Ein- oder zweimal, als das Ende nahte, verlangte Mutter nach mir; als ich gegen Abend kam und mich über sie beugte, flüsterte sie heiser: ›Harry, mein Junge, versprich mir ... versprich mir ...‹

Ich setzte mich zu ihr und nahm die Hand, die sie mir hinstreckte, und so schlief sie ein.

Was ich ihr versprechen sollte, sagte sie mir nie. Ob sie mir ein Gelübde abzuzwingen wünschte, das mich für immer von Fanny trennen sollte, oder ob sie ihre Meinung von der Tochter im Schatten des Todes geändert und ihr noch eine Botschaft schicken wollte, das weiß ich bis auf den heutigen Tag nicht. Vielleicht wußte sie selber nicht recht, was ich ihr versprechen sollte, vielleicht hatte sie nur den Wunsch, noch einmal ihre Herrschaft über mich zu üben. Noch einmal bäumte sich der Wille in ihr auf, um gleich darauf in nichts zusammenzusinken. ›Versprich mir.‹ Fannys Namen sprach sie nicht aus, und wir hatten nicht den Mut, meine Schwester zu ihr zu bringen. Ernst kam und küßte sie, kniete an ihrem Bette nieder und brach plötzlich in lautes Schluchzen aus, denn er war ein großes Kind. Und wir alle mußten mit ihm weinen. Er war ihr Erstgeborener und ihr Lieblingskind; er hatte sie in frohen, weniger verbitterten Tagen gekannt und war ihr stets ein guter Sohn gewesen.

Bald lag sie steif und still da, unheimlich still, wie meines Vaters Laden an Sonntagen. Alle Arbeit und Mühe, aller Kummer des Lebens war für sie vorbei. Nun war ihr Antlitz weder jung noch alt, ein marmornes Bild des Friedens. Alle kleinliche Gehässigkeit war daraus geschwunden. Es war mir nie eingefallen, darüber nachzudenken, ob sie schön sei oder nicht. Nun aber fand ich Fannys feine, regelmäßige Züge in ihrem Gesicht; sie sah wie Fanny aus, nur unbeweglich, unbewegt.

Ich stand neben ihrem leblosen Körper und empfand einen Kummer, der zu groß und zu tief war, als daß ich hätte Tränen vergießen können, einen Schmerz, der nicht ihrem Dahinschwinden, sondern dem Elend ihres Lebens galt. Denn nun begriff ich, daß in ihr nie irgendetwas Hassenswertes gewesen war; zum ersten Mal erkannte ich ihre Hingabe, ihre irregeleitete Leidenschaft für das Rechte und die stumme, strauchelnde, gequälte und quälende Liebe ihres Herzens. Sogar ihr Groll gegen Fanny war Liebe, wenn auch verkehrt und verschüttet; die gefallene Tochter war ihr ein abscheulicher Wechselbalg, den man ihr an Stelle des hübschen und klugen kleinen Mädchens untergeschoben hatte, jenes Mädchens, das ein Muster weiblicher Tugend hätte werden sollen. Und wie bitter und unentwegt hatten wir alle, Ernst ausgenommen, die Mutter in ihren unerschütterlich strengen Grundsätzen beleidigt, Fanny und ich offen, Prue heimlich! Prue hatte nämlich kleine Diebereien begangen – ich will euch nicht mit einem Bericht darüber langweilen, wie Matilda den Unfug eines Tages entdeckte.

Aber lange vor der Zeit, da wir Kinder die Mutter zu kränken begannen, muß sie eine noch viel schlimmere Enttäuschung erlebt haben. Mit welchen Träumen von männlicher Würde und prächtigen Charaktereigenschaften mochte sie wohl die Gestalt meines armen, faselnden, tölpelhaften und schwachmütigen Vaters umgeben haben, in den Tagen, da die beiden in Sonntagskleidern miteinander spazieren gegangen waren und das Beste und Schönste voneinander gedacht hatten? Er muß damals ein großgewachsener und hübscher Junge gewesen sein und dürfte durch seine Art, sich fromm und bieder zu geben, ihr Vertrauen gewonnen haben. Wie entsetzlich muß der derbe, plumpe, schrullige, unwissende und unzulängliche Mensch, so lieb er war, ihre sehr bestimmten und engumrissenen Erwartungen enttäuscht haben!

Und dann Onkel John Julip, der wunderbare, angebetete ältere Bruder mit den Manieren eines sporttreibenden Barons, der langsam zur Gestalt eines betrunkenen Diebes herabgesunken war. Alle ihre Ideale waren zusammengebrochen – arme Seele! In den Straßen Londons verkaufte man damals bunte, aufgeblasene Ballons, ein Kinderspielzeug, das dem kleinen Besitzer in kurzer Frist eine schlimme Enttäuschung bereitete. Das Leben, das meiner Mutter zuteil geworden war, glich jenen bunten Dingern. Es war zusammengeschrumpft und nichts davon übrig geblieben als ein verrunzeltes, nutzloses Etwas. Vorzeitig gealtert, müde, stets geschäftig, nur von dem einen gehorsamen Sohn geliebt, hatte sie ihre letzten Lebensjahre verbracht.

Ja, der Gedanke an Ernst war mir ein Trost. Sein Gehorsam und seine Anhänglichkeit hatten ihr einziges Glück ausgemacht.«

Sarnac hielt inne. »Es ist mir unmöglich,« sagte er dann, »die Erinnerung an meiner Mutter Sterbebett von einer Reihe von Betrachtungen über ihr Wesen zu trennen, die sich mir in jener Stunde aufdrängten. Ich habe sie euch bisher nur als meine, als unser aller Widersacherin geschildert, als eine harte, fast lieblose Frau; das war ihre Rolle in meiner Geschichte. Im Grunde aber war sie nichts anderes als das Geschöpf und das Opfer ihrer Zeit; eine verworrene Welt hatte aus der ihrer Natur eigenen, zähen Ausdauer blinde Unduldsamkeit gemacht und ihr leidenschaftlich-sittliches Empfinden auf häßliche und unfruchtbare Ziele gerichtet. Wenn Fanny, Ernst und ich den Unbilden des Lebens Widerstandskraft entgegensetzten, wenn wir aus eigenem Antrieb nach Wissen strebten und Ehrfurcht vor allem Großen und Edlen erwarben, so hatten wir solche Charakterfestigkeit von ihr geerbt; alle Rechtschaffenheit in uns stammte von ihr. Und wenn unsere Jugend durch ihre moralische Strenge verbittert worden war, so hatte die leidenschaftliche Mütterlichkeit in ihr unsere Kindheit beschützt. Unser Vater allein hätte uns wohl lieb gehabt und bestaunt und sich nicht viel um uns gekümmert. Sehr früh schon hatte jene haßerfüllte Furcht vor dem Geschlechtsleben, die das ganze christliche Zeitalter verdunkelte, und die angstvolle Flucht in den drückenden Zwang einer stereotypen Ehe – einer Ehe in ihrer strengsten Form, der man, leicht hineingeraten, ebenso schwer zu entrinnen vermochte wie einer eisernen Falle mit listig verborgenen Widerhaken – den freien Geist meiner Mutter unbarmherzig in Fesseln geschlagen und ihre glücklicheren Lebensimpulse verkümmern lassen. Sie war bereit, alle ihre Kinder in das Feuer dieses Molochs zu schleudern, wenn sie dadurch nur ihre Seelen retten konnte, und sie tat dies mit um so bittererem Grimm, als sich in den Tiefen ihres Wesens vieles dagegen wehrte.

Solche Betrachtungen, etwas unklarer vielleicht, als ich sie jetzt vorbringe, wurden im Gemüt des Harry Mortimer Smith, meines einstigen Ich, lebendig, als er am Totenbett seiner Mutter stand. Das Gefühl sinnloser Trennung und der Gedanke an entschwundene Möglichkeiten quälten ihn – quälten mich. So vieles hätte ich zu sagen gehabt und hatte es nicht gesagt. Günstige Augenblicke, die meine Mutter und mich einander hätten näher bringen können, hatte ich ungenützt verstreichen lassen. Ich hatte meine, den ihren entgegengesetzten Ansichten stets allzu rauh vorgebracht; ich hätte so viel gütiger mit ihr sein und trotzdem meinen eigenen Weg gehen können. Da lag sie nun, ein schwaches, kleines, altes Frauchen, mager, abgenützt und vorzeitig gealtert. Wie oft hatte ich sie in trotziger Auflehnung verletzt, nicht ahnend, daß niemand eine Mutter so tief verwunden kann, wie das Kind, das sie in die Welt gesetzt hat. In der Dunkelheit hatte ich so gehandelt, nichts begreifend, und auch sie begriff nicht recht, was sie tat. Und nun war es zu spät – die Tür zwischen uns hatte sich geschlossen, für immer geschlossen. Für immer ...«

12

»Die einundeinhalb Jahre, die zwischen dem Tod meiner Mutter und dem Anfang des ersten Weltkrieges lagen – das ist der Krieg vor dem Giftgaskrieg und der großen Verwüstung –, bedeuteten für mich schnelles Wachstum, geistig ebenso wie körperlich. Ich blieb bei Matilda Good, weil ich diese schwerfällige, weise und freundliche Frau fast wie eine zweite Mutter lieben gelernt hatte. Ich war nun reich genug, um den ganzen zweiten Stock zu bewohnen, ich hatte ein eigenes Wohnzimmer neben meinem Schlafzimmer, aber zum Frühstück oder Abendessen kam ich immer noch ins Erdgeschoß hinunter, weil ich gern mit Matilda plauderte. Prue hatte Mr. Pettigrew geheiratet, und an ihrer und Mutters Stelle taten nun zwei emsige graue Frauchen die Hausarbeit – sie waren Schwestern, die eine eine alte Jungfer, die andere die Frau eines heruntergekommenen Preisboxers.

Mein bester Kamerad war in jenen Jahren meine Schwester Fanny. Das Bündnis aus der Kindheit wurde erneuert und verstärkt. Wir brauchten einander, wir konnten einander besser helfen, als ihr oder mir sonst irgendjemand. Bald hatte ich herausgefunden, daß Fannys Leben in zwei sehr ungleiche Teile zerfiel. Sie hatte Stunden, manchmal auch Tage frohen Glückes mit Newberry, der sie sehr liebte und ihr alle Zeit widmete, die er erübrigen konnte. Er machte sie auch mit Freunden bekannt, von denen er wußte, daß sie ihr Achtung entgegenbringen und ihr Geheimnis bewahren würden. Daneben aber verbrachte sie viele, viele Tage in ereignisloser Einsamkeit und war dann ganz sich selbst überlassen. Sie war tapfer, treu und hingebungsvoll, aber ehe sie mich wieder traf, dürfte sie diese langen Zwischenzeiten öde, gefährlich, ja manchmal fast unerträglich gefunden haben. Oft und oft hatte sie nichts, wofür es sich zu leben lohnte, nichts Freudiges, nichts Beglückendes, außer dem Briefchen, das Newberry ihr fast täglich schrieb, ein paar hastige Worte, eilig aufs Papier geworfen. Und je liebevoller er mit ihr war, desto schwerer wurde ihr die Wartezeit. Gerade weil er sie innig liebte, weil er fröhlich und reizend und das Zusammensein mit ihm eine Freude war, schienen ihr die langen Trennungszeiten um so düsterer und öder.«

»Hatte sie denn keine Arbeit?« fragte Heliane.

»Und keine Studiengenossinnen oder Freundinnen?« fügte Iris hinzu.

»In ihrer Lage war das nicht möglich. Eine unverheiratete Frau einfacher Herkunft mit einem Liebhaber – nein.«

»Aber gab es denn nicht viele, die in derselben Lage waren wie sie? Ohne Zweifel doch!«

»Gewiß, aber sie bildeten keine geschlossene Klasse, weil ja ihre Lebensführung als schmählich galt. Newberry und Fanny waren Liebende von der Art der heutigen; sie überwanden die Schwierigkeiten, die sich ihnen in den Weg stellten, und schließlich heirateten sie auch, glaube ich, gemäß der Sitte ihrer Zeit. Aber sie waren eine Ausnahme, sie wußten, was ihnen taugte, und hatten Mut. Die meisten dieser ungesetzlich miteinander lebenden Paare unterlagen der Langeweile und den Versuchungen der Trennungszeiten. Vergessen und Eifersucht waren die Klippen, an denen ihr Glück zerschellte. Die Mädchen knüpften in Zeiten, da sie allein waren, Beziehungen zu irgendeinem anderen Manne an, der erste Liebhaber argwöhnte solche Untreue und machte sich aus dem Staube. Von der Eifersucht der damaligen Menschen werde ich euch noch viel zu berichten haben; sie galt nicht als etwas Häßliches, sondern vielmehr als eine hohe und rühmliche Leidenschaft. Man gab sich ihr hin und war noch stolz darauf. Sehr viele jener ungesetzlichen Bündnisse entsprangen nicht einmal wirklicher Liebe, sondern waren unehrlich und lasterhaft. Menschen, deren Leben zwischen übergroßer Erregung und öder Langeweile geteilt war, und die überdies unter der allgemeinen Mißachtung litten, griffen nur zu leicht zu Betäubungsmitteln oder verfielen dem Genuß des Alkohols. Trotzige Herausforderung war die leichteste Pose in ihrer Lage. Die in sogenannter ›freier Liebe‹ lebten, waren aus der Gesellschaft ausgestoßen und wurden anderen sozial Geächteten, die schlechter und unglücklicher waren als sie selbst, in die Arme getrieben. Ihr versteht nun wohl, warum meine Schwester Fanny einsam war und sich von anderen Menschen fern hielt, obwohl sie einer recht zahlreichen Klasse angehörte?

Die gesetzliche Ehe der alten Welt verfolgte zweifellos den Zweck, Liebende dauernd aneinander zu fesseln. In zahllosen Fällen hielt sie aber die falschen Leute zusammen und trennte wirklich Liebende. Doch darf man nicht vergessen, daß Kinder damals als eine Schickung Gottes galten, und sie waren in der Tat nur Zufälle des Geschlechtsverkehrs. Das rückt die Frage in ein anderes Licht. Es gab keine anständigen Schulen für die Kinder, sie hatten keine Zufluchtsstätte, wenn die Eltern sich trennten und das Heim auflösten. Wir, die wir so geborgen sind, können uns kaum vorstellen, wie unsicher das Leben in jenen Tagen war. Es ist entsetzlich, sich auszudenken, welche Gefahren ein unbeschütztes Kind damals bedrohten. Auch wir leben heutzutage meist zu zweit; früher oder später findet jeder einen Gefährten, und die Ehe ist eine natürliche und notwendige, nicht aber eine durch Gesetze erzwungene Beziehungsform. Kein Priester und keine Religion könnte mich fester an Heliane binden, als ich an sie gebunden bin. Bedarf es eines Buches oder eines Altars, um die Axt und den Griff zusammenzufügen? ...

Diese Betrachtungen ändern nichts an der Tatsache, daß meine Schwester Fanny entsetzlich unter ihrer Einsamkeit litt, ehe sie mich wiederfand.

Sie war voll Wissensdrang und Unternehmungslust. Meine freie Zeit benützten wir dazu, alle möglichen Sehenswürdigkeiten inner- und außerhalb Londons zu besuchen. Wir gingen in Museen und Bildergalerien und durchstreiften Parks, Gärten und Heideland. Ohne sie hätte ich das alles wohl nicht kennengelernt, auch Fanny allein hätte kaum etwas davon gesehen, denn in jener Welt des irrsinnigen Zwangs konnte sie ohne Begleitung nicht gut ausgehen. Überall gab es verstohlene Liebesjäger, blödsinnige Kerle, die ein so hübsches Mädchen wie Fanny belästigten; sie wäre unbegleitet beständig der Gefahr ausgesetzt gewesen, verfolgt und angesprochen zu werden, und das hätte ihr alle Freude an der Kunst und der Natur verdorben.

Zu zweit jedoch genossen wir mannigfaltige interessante Eindrücke. Das alte London besaß viele Parks und Gärten, sie waren von besonderem Reiz und ungeahnter Anmut. Da gab es zum Beispiel einen gewissen Richmond Park, den wir oft besuchten, mit vielen schönen alten Bäumen, weiten Rasenplätzen und von Farnkraut überwucherten Winkeln, die im Herbst in bunter Farbenpracht leuchteten, und eine Menge Wild lebte darin. Wenn man euch zweitausend Jahre zurück in jenen Park versetzte, so würdet ihr das Gefühl haben, in einem nordländischen Garten von heute zu sein. Zwar waren die großen Bäume, so wie fast alle Bäume jener Zeit, von Schwamm und Moder angegriffen, jedoch Fanny und ich bemerkten das nicht. Uns schienen sie gesunde Bäume. Von dem Gipfel eines Hügels hatte man einen wundervollen Ausblick auf die Windungen der Themse. Dann gab es in Kew eigentümliche alte Gärten und Blumenkulturen. Ich entsinne mich noch sehr deutlich eines wirklich schönen Felsengartens und prächtiger Glashäuser – die herrlichsten Blumen der damaligen Welt waren dort vereinigt. Es gab Fußpfade durch ein dschungelartiges Gewirr von Rhododendren – primitive kleine Rhododendren – in allen Farben, die Fanny und mir ein Quell des Entzückens waren. Dann war dort ein Gasthaus, wo man an kleinen Tischen im Freien Tee trinken konnte. In jener frostigen, von Keimen geschwängerten Welt hatte man entsetzliche Angst vor Zugluft, Erkältungen und Husten, und es war ein ganz besonderes und seltenes Vergnügen, wenn man im Freien etwas zu sich nahm.

Wir besuchten Museen und Gemäldesammlungen und besprachen den Eindruck, den die Kunstwerke auf uns machten. Wir besprachen tausenderlei Dinge miteinander. Ich erinnere mich eines Gespräches im Hampton Court, einem wunderlichen alten Palast, aus roten Ziegeln erbaut und von wildem Wein bewachsen, der in einem alten Garten an der Themse stand. Es gab da Blumenbeete, die ganz von halbwilden Krautgewächsen überwuchert waren. Wir gingen an ihnen vorüber bis zu einer niedrigen Mauer, die sich längs des Flusses hinzog, und setzten uns dort nieder. Nach einer kleinen Weile begann Fanny plötzlich – wie jemand, der lang unter erzwungenem Stillschweigen gelitten hat – von der Liebe zu sprechen.

Sie fing damit an, mich über die Mädchen, die ich da oder dort, insbesondere im Thunderstone House kennengelernt hatte, auszufragen. Ich schilderte ihr einige. Meine beste Freundin war Milly Kimpton, die bei uns im Kontor arbeitete. Wir gingen öfters miteinander Tee trinken oder unternahmen dergleichen mehr gemeinsam. ›Das ist nicht Liebe,‹ sagte Fanny, die Weise, ›wenn man einander Bücher leiht. Du hast noch keine Ahnung davon, was Liebe ist. Aber die Reihe kommt auch an dich, Harry, auch an dich. Warte nur nicht zu lange, Harry. Es gibt nichts Wunderbareres auf der Welt, als jemanden lieb zu haben. Man spricht nicht darüber. Viele Menschen wissen gar nicht, was sie entbehren. Es ist ein Unterschied, wie zwischen nichts sein und etwas sein, wie zwischen Tod und Leben. Wenn du jemanden wirklich liebst, so scheint dir alles schön und gut, und niemand kann dir etwas anhaben; liebst du aber keinen, dann ist alles schlecht, alles verkehrt. Doch ist es seltsam, Harry, die Liebe kann ebenso schrecklich wie wunderbar sein. Manchmal scheint sie plötzlich erloschen, und das ist dann fürchterlich. Sie entgleitet einem irgendwie, sie verläßt einen, und man bleibt elend und klein zurück, o wie elend! Man kann nicht zurück zu ihr, und man möchte auch gar nicht; man ist kalt und freudlos, das Leben hat keinen Sinn mehr. Dann kommt sie mit einem Mal wieder wie die aufgehende Sonne, und man ist wie neugeboren.‹

Mit einer Art verzweifelter Schamlosigkeit begann sie nun von Newberry zu sprechen und zu schildern, wie sehr sie ihn liebe. Sie streute kleine, unbedeutende Einzelheiten über seine Wesensart in ihre Rede ein. ›Er kommt zu mir, so oft er kann‹, sagte sie und wiederholte das immer wieder. ›Er ist mein ganzes Leben. Du ahnst nicht, was er mir ist ...‹

Dann gewann die ständig in ihr schlummernde Furcht vor einer Trennung die Oberhand.

›Vielleicht‹, sagte sie, ›wird es immer so weitergehen wie jetzt ... wenn es immer so weitergeht, dann ist es mir ganz gleich, ob er mich heiratet oder nicht. Das ist mir überhaupt gleichgültig, selbst wenn er mich am Ende doch verläßt. Ich würde das Ganze ein zweites Mal auf mich nehmen und mich dabei glücklich preisen, selbst wenn ich im vorhinein wüßte, daß ich weggestoßen und allein gelassen würde.‹

Sonderbare kleine Fanny! Ihr Gesicht war gerötet und Tränen standen ihr in den Augen. Ich fragte mich, was wohl geschehen sein mochte.

›Er wird mich nie verlassen, niemals. Er kann es nicht, er kann es nicht. Er ist fast doppelt so alt wie ich, und trotzdem kommt er zu mir, wenn er Kummer hat. Einmal – einmal weinte er sogar bei mir. Ihr Männer seid so stark und trotzdem so hilflos ... Ihr braucht eine Frau, zu der ihr flüchten könnt ... Vor einiger Zeit – hm, vor kurzer Zeit war er – war er krank. Sehr krank. Er hat oft Augenschmerzen, und zuweilen befällt ihn deswegen schreckliche Angst. Das letzte Mal hatte er plötzlich sehr arge Schmerzen, und da bildete er sich ein, er könne nicht mehr sehen. Er kam sofort zu mir, Harry, er rief einen Wagen herbei und kam zu mir, er tastete sich die Treppe hinauf und bis an meine Tür. Ich pflegte ihn in meinem verdunkelten Zimmer, bis der Schmerz vorüber war. Er ging nicht nachhause, Harry, wo ihn Diener erwartet hätten und er eine Pflegerin und ärztliche Hilfe hätte haben können, er kam zu mir. Zu mir! Er ist mein Mann, er weiß, daß ich mein Leben für ihn hingeben würde. Das würde ich, Harry, ich würde mich in Stücke schneiden lassen, wenn ihn das glücklich machen könnte. Die Schmerzen waren es eigentlich nicht, weißt du. Er ist nicht einer von denen, die Schmerzen nicht ertragen können oder sich vor allem Möglichen fürchten, aber mit einem Mal hatten ihn Angst und Schrecken befallen. Nie hatte er sich vor etwas gefürchtet, nun fürchtete er sich vor dem Blindwerden. Er hatte nicht den Mut, zum Spezialisten zu gehen. Er, der große, starke Mann, war wie ein kleines Kind, Harry, das sich vor der Dunkelheit grault. Er hatte Angst, daß man ihn in seiner Wohnung festhalten und er vielleicht nicht mehr zu mir kommen können würde. Er dachte, er würde seine geliebten Zeitungen und Schriften nicht mehr wiedersehen. Der Schmerz peinigte ihn, und er suchte Hilfe bei mir. Ich brachte ihn dazu, zum Spezialisten zu gehen. Ich führte ihn einfach hin, ohne mich wäre er nicht gegangen. Er hätte dem Übel seinen Lauf gelassen, und trotz all seines Geldes und seiner angesehenen Stellung hätte ihn keine Menschenseele betreut. Und dann wäre er vielleicht wirklich blind geworden, ich meine, wenn er nicht rechtzeitig zum Arzt gegangen wäre. Ich gab vor, seine Sekretärin zu sein, und wartete im Wartezimmer auf ihn. Ich hatte große Angst, daß sie ihm wehtun würden, und horchte die ganze Zeit mit klopfendem Herzen. Ich schaute die alten illustrierten Zeitungen dort an und tat so, als wäre es mir ganz gleichgültig, was ihm im Nebenzimmer geschehe. Und dann kam er lächelnd heraus, mit einem grünen Schirm über den Augen, und ich mußte steif und kalt dastehen und warten, was er sagen würde. Der grüne Schirm jagte mir einen Schrecken ein, o Gott! Ich hielt den Atem an, ich dachte, das Gefürchtete sei eingetreten. »Es ist lange nicht so schlimm, wie wir dachten, Miß Smith«, sagte er leichthin. »Haben Sie das Auto warten lassen? Ich fürchte, Sie werden mir den Arm reichen müssen.« »O bitte sehr«, sagte ich in bescheidenem Tone und streckte ihm höflich-kühl den Arm hin. Es waren nämlich Leute im Wartezimmer, und man kann nie wissen. Ich benahm mich ehrfurchtsvoll! Ich, die ich ihn wohl tausendmal in meinen Armen gehalten habe! Als wir endlich sicher im Auto saßen, rückte er den Augenschirm in die Höhe, schlang die Arme um mich, drückte mich an sich und weinte. Seine Tränen benetzten mich, und er hielt mich fest. Er war so froh, weil er mich wieder hatte und noch sehen konnte und wieder an seine Arbeit denken durfte. Der Arzt hatte ihm gesagt, daß für seine Augen allerhand zu geschehen habe, daß aber sein Augenlicht nicht gefährdet sei. Und nun geht es ihm seit Monaten ganz gut.‹

Sie saß da und blickte in die Ferne, über den glänzenden Fluß hin.

›Wie könnte er mich je verlassen, nach einer so schweren, gemeinsam verlebten Zeit?‹

Ihr Ton klang zuversichtlich, trotzdem aber erschien sie selbst meinen jugendlich unerfahrenen Augen klein und einsam, als sie da oben auf der alten, roten Mauer saß.

Ich dachte an den unermüdlich arbeitenden Mann mit der großen Schildpattbrille und an allerlei, was man sich im Thunderstone House über ihn zuflüsterte. Und da schien es mir, als ob kein Mann jemals gut genug sei für die Frauen auf dieser Welt.

›Wenn er müde ist oder Kummer hat,‹ sagte Fanny zuversichtlich und ruhig, ›dann wird er immer wieder zu mir zurückkommen.‹«


 << zurück weiter >>