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Die Alm lag in sehr bedeutender Höhe, unmittelbar am Fuße der Egidienwand, die wie eine mächtige Felsenkrone den Berg überragte. Beide waren nur durch die schmale, aber tiefe Egidienschlucht getrennt, welche die Bergsteiger umgehen mußten, ehe sie den Weg aufwärts nehmen konnten. Die Sonne war inzwischen höher gestiegen und brannte heiß hernieder auf die Matten. Die anfangs so morgenklare Aussicht begann, sich allmählich zu verschleiern, der heiße Dunst der nahenden Mittagsstunde legte sich auf Täler und Höhen, und hier und da sammelten sich leichte, weiße Wolken um die Häupter der Berge.
»Ich fürchte, gnädiges Fräulein, Sie werden keine günstige Beleuchtung haben, wenn Sie die Aussicht aufnehmen wollen«, sagte Siegbert. »Je höher die Sonne steigt, desto mehr verschleiert sich die Ferne. Nur die Egidienwand ist nahe genug, um sich in voller Klarheit zu zeigen.«
»Ich beabsichtige auch nur, die Wand selbst zu zeichnen,« entgegnete Alexandrine. »Wollen Sie mir einen passenden Standpunkt aussuchen? Nein, ich danke«, wehrte sie ihm hastig, als er ihr die Skizzenmappe abnehmen wollte. »Ich trage sie schon allein. Bitte, nehmen Sie statt dessen mein Plaid!«
Siegbort gehorchte, etwas befremdet darüber, daß die junge Dame darauf bestand, die schwere Mappe allein zu tragen. Er wußte freilich nicht, daß sie auch seine eigenen, so schmerzlich vermißten Skizzen einschloß, die man vor einer zufälligen Entdeckung bewahren wollte!
Der geeignete Platz war bald gefunden. Unter einem jener niedrigen Tannengebüsche, die hier und da den Rand der Matte säumten, wurde ein Rasensitz improvisiert, der den Vorteil hatte, im Schatten zu sein, und anderseits den vollen Ausblick frei ließ. Hier begann die Schlucht, die sich immer mehr verengte, je weiter sie sich in den Berg hinein erstreckte, und gerade da, wo sie endigte, erhob sich das Kreuz, das nur aus Holz gezimmert, aber von riesigen Dimensionen, überall sichtbar und dadurch gewissermaßen zum Wahrzeichen des Berges geworden war. Es war auf einem felsigen Vorsprung, unmittelbar am Rande der Schlucht errichtet, die hier fast senkrecht abfiel, und wenige Schritte seitwärts wand sich der Weg steil empor, der auf die Egidienwand führte. Ernst und dunkel ragte das Wahrzeichen in die sonnige Luft, es hatte ja noch seine besondere, unheimliche Bedeutung gewonnen durch den Unglücklichen, der gerade an dieser Stelle den Tod gefunden. Es mochte allerdings leicht sein, in der Hast und Dunkelheit den schmalen Weg zu verfehlen, und ein Fehltritt brachte hier unabwendbares Verderben.
Alexandrine hatte sich niedergelassen und begann zu zeichnen, während Siegbert neben ihr stand und schweigend die Linien verfolgte, die ihr Stift auf dem Papier zog. Er schien in der Tat keine Idee von den Pflichten eines Kavaliers zu haben, denn er machte nicht den geringsten Versuch, ein Gespräch anzuknüpfen.
»Sie zeichnen nicht, Herr Holm?« fragte die junge Dame endlich. »Freilich, die Landschaft ist ja nicht Ihr eigentliches Fach. Sie haben sich von jeher wohl hauptsächlich dem Porträt zugewendet?«
»Jawohl, gnädiges Fräulein,« war die einsilbige Antwort.
»Ich meine, Sie könnten trotzdem hier oben Ihr Skizzenbuch bereichern. Haben Sie den kleinen Hirtenbuben bemerkt, der mir bei der Ankunft das Pferd abnahm? Ein allerliebstes, keckes Knabengesicht! Ist es Ihnen nicht aufgefallen?«
»In der Tat nein; ich dachte an andere Dinge!«
»Ganz unverzeihlich für einen Künstler! Professor Bertold würde Ihnen sicher einen Vorwurf daraus machen. Ich bin überzeugt, seinem scharfen Auge entgeht nichts Derartiges, und Sie haben sich doch jedenfalls Ihren Lehrer zum Vorbilde genommen, das Sie einst zu erreichen hoffen.«
»Zum Vorbilde allerdings! Aber ich habe nie gehofft, die Meisterschaft eines Bertold zu erreichen.«
»Weshalb nicht?« fragte Alexandrine halb unwillig. »Sein Schüler sollte doch diesen Ehrgeiz haben, sein Lisblingsschüler zumal, und das sind Sie ja doch.«
»Ich war es einst!« sagte Siegbert mit schwerer Betonung. »Und seine Liebe hat er mir nicht entzogen, sonst aber –.« Er brach ab. Was sollten diese Erörterungen der jungen Dame, die er freilich seit Wochen kannte, die ihm aber noch ebenso fern und hoheitsvoll gegenüberstand, als am ersten Tage. Was kümmerte sie das Los eines Fremden! Freilich, sie schien heute zum erstenmal Anteil an diesem Fremden zu nehmen. Ihre Stimme klang so eigentümlich weich, und ihre Augen blickten so fragend ernst zu ihm auf, aber Siegbert kannte zu gut die Gefahr, die ihm von dieser Stimme und diesen Augen drohte, um sie nicht zu fliehen. Er wußte, daß er das Gespräch nicht aus der gewöhnlichen Bahn lenken durfte, wenn er seine Selbstbeherrschung behaupten sollte.
Seine stumme Abwehr wurde verstanden, mißdeutet wurde sie nicht mehr, dafür hatte der Professor mit seiner Mitteilung gesorgt. Aber auch Alexandrine schien für jetzt das Gespräch nicht fortsetzen zu wollen, sie begann wieder zu zeichnen, und das frühere Schweigen trat wieder ein.
Die Alm lag einige hundert Schritte hinter ihnen, und dort eröffnete sich auch die weite Aussicht über das Gebirge mit all seinen Tälern und Höhen, über die Ebene mit ihren Städten und Ortschaften. Die Szenerie aber, die sich vor den beiden auftat, zeigte nur die weltverlorene Einsamkeit des Hochgebirges in ihrer ganzen starren und wilden Größe.
Die kleine, grüne Matte, die sich so eng an die rauhen Felsen schmiegte, war das letzte, was die Natur hier oben ihnen abringen konnte; weiter hinauf wucherte nur Moos und Felsengestrüpp in den Spalten, da erstarb alles Leben in dem eisigen Hauche der Höhe. Nackt und kahl ragten die riesigen Schroffen der Egidienwand empor, wild zerklüftet und zerrissen starrte das zackige Gestein nach allen Seiten. Der gigantische Felskoloß schien in fast greifbare Nähe gerückt zu sein, jede Linie trat scharf und deutlich hervor. Auf den höchsten Spitzen lag weißleuchtend der Schnee, und nur unten über der Schlucht, die wie ein dunkler, klaffender Riß den Berg spaltete, flatterte noch ein leichter Nebelstreif. Das Auge unterschied hier nichts als ein Chaos von Tannen und Felstrümmern, aus denen hin und wieder der weißschäumende Gischt des Wildwassers aufblinkte, das sich dort in der unheimlich dämmernden Tiefe sein Bett wühlte. Die Felswand selbst stand im hellen Sonnenglanz, und darüber wölbte sich klar und wolkenlos der Himmel, aber selbst das blendende Licht vermochte es nicht, dieser Felsenwüste das Tote, Eisige zu nehmen, das wie ein starrer Zauber sie umfing. Der Wildbach, der drüben von der Höhe niederstürzte und sich in der Schlucht verlor, schien das einzige Leben hier oben zu sein, sein einförmig mächtiges Rauschen der einzige Laut, der die Stille unterbrach, sonst regte sich nichts in dieser schweigenden Öde.
Und dort drüben in jener unzugänglichen Felsenburg hatte sich der Adler seinen Horst ersehen. In halber Höhe der Wand, auf einem jener Zacken, die wie versteinerte Riesengebilde in wild phantastischen Formen aufragten, hing das Nest, dem Auge deutlich erkennbar. Unter sich die jähe, schwindelnde Tiefe, über sich Kluft an Kluft, erschien es unerreichbar und unnahbar für Menschenhand.
Alexandrine hatte zu zeichnen aufgehört, sie mochte wohl fühlen, daß die Großartigkeit dieses Bildes sich auch nicht annähernd wiedergeben ließ. »Das also ist der Horst des Adlers!« sagte sie hinüberblickend. »Die Burg, die er sich dort geschaffen hat, ist in der Tat uneinnehmbar.«
»Sir Conway denkt sie doch zu nehmen,« warf Siegbert ein. Es lag noch ein Nachhall der früheren Bitterkeit in den Worten; die junge Dame schien das nicht zu bemerken, sie lächelte nur.
»Im Angesicht dieser Felsen und Klüfte wird er seine Idee wohl aufgeben, er findet auch sicher keinen, der sie ihm verwirklicht. Sir Conway kannte jedenfalls nicht den Umfang der Gefahr, so wenig ich ihn kannte, als ich, halb im Scherz, jenen Wunsch aussprach.«
»Taten Sie das?« fragte Siegbert betroffen. Er konnte sich jetzt die Hartnäckigkeit erklären, mit der Sir Conway an seiner Idee festhielt, und wenn irgend etwas imstande war, den jungen Mann noch mehr zu erbittern, so tat es diese Entdeckung. Alexandrine dagegen, die nur flüchtig von der Sache gehört hatte, ohne die näheren Umstände zu kennen, fuhr unbefangen fort:
»Gewiß! Ich leugne nicht, daß es mir große Freude gemacht hätte, den jungen Adler zu besitzen, der sich in dem Nest befinden soll. Es wäre ja nicht das erstemal, daß es gelänge, ein solches Tier aufzuziehen und zu zähmen.«
»Für den Käfig!« brach Siegbert aus. »Jawohl, da wird der Gefangene gepflegt und gefüttert und ist versorgt sein Leben lang, aber er darf nie mehr die Schwingen regen, nie wieder emporsteigen zum Licht – besser, er wird von der Kugel eines Jägers getroffen! Nein, nein, lassen Sie den jungen Adler frei da oben auf seiner Felsenhöhe, glauben Sie mir, – es ist etwas Hartes um die Gefangenschaft!«
»Haben Sie das vielleicht schon erfahren?« fragte Alexandrine langsam.
»Ich?« Siegbert schrak zusammen. Er hatte in völliger Selbstvergessenheit gesprochen und fühlte erst jetzt, wie jäh und unvermittelt jener Ausbruch gekommen war. »Ich sprach nur aus, was wohl ein jeder fühlt«, setzte er mit sinkender Stimme hinzu.
»Vielleicht,« aber es klang wie der Aufschrei eines Gefangenen, der sich nach der Freiheit sehnt. Der junge Mann schwieg und wandte sich ab.
»Erscheint Ihnen meine Teilnahme zudringlich, Herr Holm? Dann will ich schweigen.«
»Nein, nein!« rief Siegbert aufwallend. Er begriff es nicht, wie die stolze, unnahbare Alexandrine von Landeck auf einmal dazu kam, sich fast gewaltsam seines Vertrauens zu bemächtigen, aber seine Verschlossenheit hielt nicht stand vor der ernsten Frage dieser dunklen Augen, die heute einen so rätselhaft milden und weichen Ausdruck hatten, wie er ihn noch nie darin gesehen.
»Ich glaubte nur, daß das Schicksal eines Fremden Ihnen kein Interesse abgewinnen könnte,« erwiderte er, noch kämpfend mit der alten, scheuen Zurückhaltung.
Alexandrinens Blick ruhte fest auf dem blassen, träumerischen Antlitz des jungen Mannes, als versuche sie, darin zu lesen.
»Ich weiß durch Professor Bertold, daß Sie in beengenden, unwürdigen Verhältnissen festgehalten werden, die Sie und Ihr Talent nicht zur Entwicklung kommen lassen. Weshalb haben Sie sich nicht längst diesen Banden entwunden und sich frei gemacht?«
»Weil ich schwach und feig bin,« sagte Siegbert mit tiefer Bitterkeit. »Wenigstens meint Professor Bertold das. Er hat es mir oft genug anzuhören gegeben, er wird es auch Ihnen gesagt haben, und Sie werden es glauben.«
»Niemals!« rief Alexandrine in einem Tone, von dessen Wärme sie selbst nichts wußte.
»Nicht? Wirklich nicht?«
»Ich glaube, daß Professor Bertold eine große, bedeutende, aber auch eine rücksichtslose Künstlernatur ist, gewohnt, jedes Band zu zerreißen, das ihn hindert. Er hat nur eins im Auge, das Ziel, dem er zustrebt, und fragt nicht danach, was er auf seinem Wege verletzt oder zertritt. Er wird das gleiche auch von Ihnen gefordert haben, und Sie haben es nicht gekonnt.«
»Nein, ich konnte es nicht,« sagte Siegbert mit einem tiefen Atemzuge. »Mein Fräulein, ich möchte wenigstens vor Ihnen nicht als Schwächling dastehen, vor Ihnen nicht! Und doch werden Sie es vielleicht am wenigsten begreifen, wie Wohltaten und Dankbarkeit zu einer Kette werden können, die unlösbar, weil sie unsichtbar ist. Man muß das selbst durchgemacht haben, um zu fühlen, wie solche Fesseln jeden Mut lähmen, jede Kraft entnerven, wie sie unerbittlich am Boden festhalten, wenn auch die ganze Seele verzweifelnd empordrängt. Ich habe das siebzehn Jahre lang ertragen, – ich weiß, wie solche Ketten drücken!«
Er hatte in steigender Erregung gesprochen und stieß die letzten Worte mit so leidenschaftlicher Heftigkeit hervor, daß Alexandrine fast erschrak. Sie sah es jetzt, welch ein qualvolles Kämpfen und Ringen sich hinter jener träumerischen Ruhe barg, die sie, wie alle anderen getäuscht hatte.
»Sie danken Ihrem Pflegevater viel?« fragte sie zögernd.
»Ich danke ihm alles, die ganze Existenz, die Erziehung, selbst das Studium, das mir die ersten Schritte auf der Künstlerbahn ermöglichte. Es ist nichts, was ich nicht aus seiner Hand empfangen hätte. Ich war in Armut und Niedrigkeit geboren und hatte im Elternhause nichts kennen gelernt, als das ewige Einerlei des Elends und Schlimmeres noch – die Verbitterung des Elends. Da starben die Eltern und ließen mich als zehnjährigen Knaben zurück, der nichts besaß als sein Zeichentalent, das die Lehrer über Gebühr lobten. Es erregte die Aufmerksamkeit meines Pflegevaters, und er nahm mich an Kindes Statt an. Aus den tiefsten Entbehrungen wurde ich plötzlich in das reichste und angesehenste Haus der Stadt versetzt, aber ich konnte des Wechsels nicht froh werden. Es wurde mir ja täglich vorgehalten, welch große, überschwengliche Wohltat mir zuteil geworden war, und wie dankbar ich mich dafür zeigen müsse, und das vergiftete mir die Dankbarkeit.«
»Aber, Sie kamen doch zu Professor Bertold,« warf Alexandrine ein. »Sie brachten zwei Jahre bei ihm in der Residenz zu?«
»Ja, es war der einzige Sonnenblick in meinem Leben! Möglich, daß ich damals am Wendepunkte dieses Lebens stand, daß ein rücksichtsloser Entschluß mich emporgeführt hätte. Professor Bertold wollte mich gewaltsam von jenen Verhältnissen losreißen; er forderte den offenen Bruch mit dem Manne, dem ich alles verdankte, und hat es mir noch heute nicht verziehen, daß ich dessen Ruf folgte. Er wußte nicht, wie meine Rückkehr gefordert wurde, mit der Berufung auf meine Kindespflicht, auf meinen schuldigen Gehorsam, mit Klagen, Vorwürfen, Bitten! Mein Pflegevater ahnte ja nicht, welch ein Fluch mir die Abhängigkeit geworden war, er bestand nur auf seinem Rechte. Wäre ich wirklich schwach und feig gewesen, ich hätte mich in den Schutz meines Lehrers geflüchtet, der bereit war, mit seiner ganzen Energie für mich einzutreten. Statt dessen riß ich mich von ihm los, trotzdem ich alles zurücklassen mußte, woran mein Herz hing, trotzdem ich das Leben kannte, das meiner wartete. Wenn das ein Irrtum war, – ich habe ihn schwer genug gebüßt in den letzten vier Jahren!«
Er schwieg, überwältigt von der Erregung. Alexandrine schüttelte leise den Kopf.
»Ich begreife es, daß man Märtyrer seines Pflichtgefühls werden kann, aber Sie taten dennoch unrecht. Mit dem Märtyrertum, mit dem bloßen Dulden, erringt man nichts Großes im Leben, das fordert die volle Kraft und oft genug auch die volle Härte des Charakters. Sie hatten eine Künstlerlaufbahn einzusetzen, und für diese ist die Freiheit so notwendig, wie für uns andere die Luft zum Atmen. Sie mußten und müssen sich diese Lebenslust erkämpfen. um jeden Preis, wenn Sie ein echter Künstler sind!«
– » Wenn ich es bin!« sagte Siegbert düster. »Das ist eben die Frage.«
»Halten Sie sich nicht dafür?«
»Nein.« Es war nur ein einziges, kurzes Wort, aber das ganze Weh eines verfehlten und verlorenen Lebens lag in diesem Nein.
Alexandrine erhob sich und trat an seine Seite.
»Da tun Sie sich selbst das schwerste Unrecht, Herr Holm. Wenn Sie nicht an Ihr Talent glauben, so glauben andere daran, und diesen dürfen Sie vertrauen.«
»Wer glaubt an mich?« fragte Siegbert, sie erstaunt anblickend.
»Ihr Lehrer, dessen Urteil Ihnen doch wohl am höchsten steht.«
»Professor Bertold? Unmöglich!«
»Weshalb unmöglich?«
»Weil er sich trotz all seiner Vorliebe für mich doch nie zu einer Unwahrheit herablassen wird. Ich habe bereits sein Urteil über meine letzten beiden Gemälde empfangen. Es war verdient, ich weiß es, aber es hat mich doch vernichtet.«
Alexandrine blickte auf ihre Skizzenmappe nieder, und ihre Stimme gewann eine eigentümliche Unsicherheit, als sie antwortete:
»Ich kenne jene Gemälde nicht, sie mögen verfehlt sein, es ist aber auch von ihnen nicht die Rede. Es handelt sich um gewisse – Studien und Zeichnungen, die Professor Bertolt für genial erklärt.«
»Um Studien? Aber er hat ja nicht einmal einen Blick in meine Skizzen getan, und es war auch nichts darunter, was ich –«
Er hielt inne, denn wie ein Blitz kam ihm auf einmal die Erkenntnis des wahren Zusammenhanges. »Mein Gott, jenes Buch, das ich im Walde verlor – der Professor war dort, er leugnete es mir zwar ab – sollte er es dennoch gefunden haben?«
Alexandrine neigte nur bejahend das Haupt, sie konnte der glühenden Röte nicht wehren, die ihr Antlitz überflutete.
»Und Ihnen hat er davon gesprochen, hat es Ihnen vielleicht sogar –?« Er vollendete nicht, denn er sah es, daß hier nichts mehr zu verbergen und abzuleugnen war, daß Bertold ihn und sein Geheimnis verraten hatte.
Es folgte eine sekundenlange Pause, die mit beklemmender Gewalt auf beiden lastete. Keines sprach, keines wagte zu sprechen, endlich beugte sich Alexandrine zu der Mappe nieder und zog das vermißte Buch hervor.
»Hier sind Ihre Zeichnungen, Herr Holm. Sie wurden mir anvertraut, wollen Sie dieselben von mir zurücknehmen?«
Er nahm das Buch nicht, das sie ihm reichte, sein Auge hing in atemloser Spannung an ihren Zügen. »Aus Ihren Händen! Und Sie zürnen mir nicht? Zürnen diesen Blättern nicht? Es ist nicht meine Schuld, daß Sie davon Kenntnis erhielten, ich hielt sie verborgen, selbst vor Bertolds Augen.«
»Daraus eben macht er Ihnen einen Vorwurf. Er meint –«
»Ich frage nichts danach,« fiel ihr Siegbert ungestüm ins Wort. »Ich frage nur nach Ihrem Urteil und sonst nach nichts auf der ganzen Welt! Sprechen Sie ein Wort, und ich vernichte vor Ihren Augen diese Blätter, vernichte mit ihnen meinen letzten Künstlertraum, mein letztes Sehnen nach Leben und Glück. Sprechen Sie mein Urteil, Alexandrine: ob es auf Leben oder Tod lauten mag, – ich beuge mich Ihrem Spruch!«
Alexandrine hob den gesenkten Blick empor, es schimmerte feucht darin, aber durch diesen feuchten Schleier strahlte ein Glanz, der die Antwort gab, noch ehe ihre Lippen sie aussprachen.
»Sie dürfen diese Skizzen nicht vernichten! Ich will es nicht, aber ich will sie auch nicht in anderen Händen wissen, als in den meinen. Lassen Sie mir das Buch, ich werde es Ihnen zurückgeben, wenn –«
»Wenn –« wiederholte Siegbert mit stockendem Atem, als könne jedes seiner Worte den Zauber zerstören, der ihn wie mit berauschender Gewalt umfing.
»Wenn Siegbert Holm eingelöst hat, was er bis jetzt noch seinem Talent und seiner Zukunft schuldig geblieben ist, wenn er das geworden ist, was sein Lehrer und ich von ihm erwarten, ein wahrer, ein großer Künstler! Dann lösen Sie auch diese Blätter wieder ein, ich – werde sie Ihnen nicht verweigern!«
Ein halb unterdrückter Ausruf des Jubels brach von den Lippen des jungen Mannes. Das Skizzenbuch fiel unbeachtet zu Boden, er selbst aber hatte die Hand der Geliebten ergriffen und drückte stürmisch seine Lippen darauf. Er wußte es ja jetzt, was ihm verheißen war und was er zu erringen hatte.
Da löste sich etwas Dunkles von dem grauen Gestein dort drüben und schwebte über den Abgrund hinaus. Es war der Adler, der einige Sekunden lang fast regungslos über der Schlucht hing, die gewaltigen Schwingen weit ausgebreitet, dann begann er langsam zu kreisen, und endlich stieg er in mächtigem Fluge empor. Immer weiter zog er seine Kreise, immer höher hob er sich, über Felsen und Schnee hinaus der Sonne entgegen, als werde er von ihren Strahlen emporgezogen. Bald erschien er nur noch wie ein dunkler Punkt dort oben in unerreichbarer Höhe, und endlich verschwand er ganz im blauen, sonnigen Äther.
»Der Adler!« sagte Siegbert, dessen Augen unverwandt mit einem seltsamen Aufleuchten seinem Fluge gefolgt waren. »Er steigt empor!«
»Zum Lichte!« ergänzte Alexandrine. »Und seine Schwingen tragen ihn über Felsen und Abgründe.«
Siegbert wandte sich zu ihr, sein Blick tauchte tief in den der Geliebten, als suche er dort allein den Mut und die Kraft.
»Sie sollen mich nicht umsonst gerufen haben, Alexandrine. Mein alter Lehrer hatte recht, als er die Mahnung auf Ihre Lippen legte, er wußte es wohl, da würde sie nicht ungehört verhallen. Ich habe gezagt und gezweifelt ein halbes Leben hindurch und der Zweifel an meiner eigenen Kraft hielt mich am Boden. Jetzt will ich es versuchen, ob die Schwingen mich tragen, und versagen sie, – nun, dann besser im Sturze erliegen, als langsam ersticken in einem Leben, wie ich es in den letzten Jahren führte.«
»Sie werden nicht erliegen,« sagte Alexandrine stolz und siegesgewiß. »Wagen Sie den Flug! Nur wer das Höchste wagt, kann das Höchste gewinnen! Ich glaube an Ihren Sieg!«