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Der Egoist
Es war in den Nachmittagsstunden eines sonnigen Frühlingstages. Die tiefe Sonntagsruhe und Stille, die in dem bewegten Treiben der großen See- und Handelsstadt keine Stätte fand, herrschte um so ungestörter in der Umgebung eines Landhauses, das abseits von dem großen Häusermeer in der Nähe des Strandes lag, und dessen parkähnliche Anlagen sich bis an die See hinunter erstreckten. Es war eine jener vornehmen, elegant und luxuriös eingerichteten Villen, wie sie die reichen Städter zu bewohnen pflegten, die nicht von dem Straßenlärm gestört sein wollten und doch die Stadt ohne großen Zeitverlust zu erreichen wünschten.
In dem Salon, dessen Glasthüren auf die Gartenterrasse hinausgingen, befanden sich ein Herr und eine Dame in lebhafter, sichtlich ernster Unterhaltung. Die Wangen der jungen Dame glühten in heißer Erregung, und sie kämpfte augenscheinlich mit den mühsam zurückgehaltenen Thränen, während der Herr vollkommen gleichgültig und unbewegt erschien. Es war ein Mann in mittleren Jahren, aber mit schon völlig ergrauten Haaren und ernsten, kalten Zügen, dessen ganzes Aeußere den Geschäftsmann kennzeichnete. Die kühle Ruhe und Gemessenheit seines Wesens verlor sich auch im erregtesten Gespräche nicht einen Augenblick, und selbst seine Art zu sprechen war trocken und geschäftsmäßig, ohne jeden wärmeren Ausdruck.
»Wahrhaftig, Jessy, ich bin es müde, immer wieder die alten Einwendungen und Lamentationen zu hören!« sagte er. »Als dein Vormund und Verwandter habe ich auch die Sorge für deine Zukunft übernommen, und ich dächte, die Zukunft, die ich dir vorlege, wäre annehmbar genug. Daß ein so thörichter, romantischer Mädchenkopf doch nie einsehen will, was zu seinem Glücke dient!«
Der ›thörichte, romantische Mädchenkopf‹ entbehrte wenigstens nicht der Anmut. Ohne regelmäßig schön zu sein, hatte dieser blonde Kopf mit den zarten aber sehr ausdrucksvollen Zügen und den blauen, ein wenig schwärmerischen Augen doch etwas ungemein Fesselndes. In diesem Moment aber trug das jugendliche Antlitz den Ausdruck leidenschaftlicher Erregung, und dieselbe Erregung bebte auch in der Stimme bei der Antwort.
»Mein Glück? Was du so nennst, Onkel Sandow, das liegt unendlich fern von allem, was mir Glück heißt.«
»Willst du mir vielleicht sagen, welchen nebelhaften und phantastischen Begriff du mit dem Worte verbindest?« fragte Sandow in sarkastischem Tone. »Glück ist eine glänzende Lebensstellung, inmitten des Reichtums, an der Seite eines Gatten, der dir unter allen Verhältnissen eine Stütze sein kann. Das wird dir geboten mit der Hand eines Mannes –«
»Den ich noch nicht einmal kenne!« fiel Jessy ein.
»Das wird bereits in der nächsten Stunde geschehen. Ueberdies ist mein Bruder kein Fremder mehr für dich, auch wenn du ihn noch nicht gesehen hast. Dem Bilde nach läßt sein Aeußeres nichts zu wünschen übrig und du selbst hast mir erklärt, daß keine anderweitige Neigung dich fesselt. Wozu also dies eigensinnige Widerstreben gegen eine Verbindung, zu der Gustav sofort bereit war?«
»Eben weil er so schnell dazu bereit war! Ich kann und will meine Zukunft nicht einem Manne anvertrauen, der sich nicht einen Augenblick bedenkt, seinen selbsterwählten Beruf, seine so glänzend begonnene Laufbahn aufzugeben, sich von seinem Vaterlande, seinem Volke loszureißen, weil ihm die Aussicht auf eine reiche Partie geboten wird.«
Sandow zuckte die Achseln. »Das sind wieder die überspannten Ansichten, die deine deutsche Erziehung dir eingeprägt hat. Du hast ohnehin genug Anlage zur Sentimentalität. Selbsterwählter Beruf! Glänzende Laufbahn! Du scheinst einen sehr hohen Begriff von der Stellung eines deutschen Journalisten zu haben. Gustavs Feder ist beliebt und gesucht, so lange die Laune des Publikums und die jetzige politische Strömung vorhält. Nimmt das früher oder später ein Ende, so ist es vorbei mit seiner Karriere. Hier in Amerika bietet sich ihm Unabhängigkeit, Reichtum und die vielbeneidete Stellung als Chef eines großen Handlungshauses. Er wäre mehr als ein Narr, wenn er das ausschlagen wollte, um nach wie vor Leitartikel zu schreiben.«
»Das ist Geschmacksache, und übrigens versichere ich dir, Onkel Sandow, es wäre mir sehr gleichgültig, wen du zu deinem Kompagnon wählst, wenn du nur nicht mich in den Kreis deiner geschäftlichen Berechnungen ziehen wolltest.«
»Das thue ich in deinem eigenen Interesse. Du weißt, daß es der Lieblingswunsch deines verstorbenen Vaters war, dein Vermögen dem Geschäfte erhalten zu sehen. Er hoffte stets, daß seine Stelle dereinst von einem Schwiegersohn eingenommen werde. Es war ihm nicht vergönnt, den Zeitpunkt zu erleben.«
»Nein,« sagte Jessy leise, »denn er hatte nicht das Herz, mich zu einer Wahl zu zwingen, wie du es jetzt thust.«
Sandow machte eine ungeduldige Bewegung. »Was das für übertriebene Ausdrücke sind! Ich denke nicht daran, dich zu zwingen, aber ich fordere mit aller Entschiedenheit, daß du der Vernunft Gehör gibst und diese Verbindung nicht so ohne weiteres abweisest, nur weil sie deinen romantischen Ideen nicht entspricht. Du bist neunzehn Jahre und mußt jetzt an eine Heirat denken. Ideal-Ehen, wie du sie dir träumst, existieren überhaupt nicht. Für jeden, der sich um dich bewirbt, spielt dein Vermögen die Hauptrolle. Die Zeiten der uneigennützigen Liebe sind längst vorüber, und wenn dir der eine oder der andere eine Komödie davon vorspielt, so thut er es nur, um dein Geld hernach desto sicherer zu verschwenden. Es ist notwendig, daß du dir das vorher klar machst, die unausbleibliche Enttäuschung möchte dich sonst später allzuhart treffen.«
Es lag eine unglaubliche Herzlosigkeit in der eisigen Ruhe, mit der er das alles seinem Mündel vorrechnete und den Schritt, an den sich all die Träume und Illusionen, all die Zukunftshoffnungen des jungen Mädchens hefteten, in ein nüchternes Rechenexempel auflöste, dessen Fazit ihr Vermögen war. Jessys Lippen zuckten schmerzlich bei dieser schonungslosen Auseinandersetzung, denn die unfehlbare Sicherheit, mit der sie ausgesprochen wurde, zeigte ihr, daß Sandow damit wirklich seine innerste Ueberzeugung vertrat. Hatte sie es doch schon selbst erfahren, was es heißt, eine reiche Partie zu sein und damit den Eigennutz und die Berechnung all der Männer zu entfesseln, mit denen sie in Berührung kam. Auch der Vormund sah und respektierte in ihr ja nur die Erbin – ein bitterer Gedanke für ein junges Wesen, dessen Herz leidenschaftlich nach Glück und Liebe verlangt!
»Hier hast du dergleichen nicht zu fürchten,« fuhr Sandow fort, der ihr Verstummen als eine Art von Zustimmung ansah. »Die Heirat bietet euch beiden die gleichen Vorteile. Gustav empfängt mit deiner Hand ein Vermögen und eine hervorragende Stellung in der hiesigen Handelswelt, du bleibst durch ihn Teilnehmer in dem Geschäft deines Vaters und hast die Sicherheit, daß dein Vermögen von dem eigenen Gatten verwaltet und gemehrt wird. Die Sache ist so klar und einfach, daß ich deinen hartnäckigen Widerstand wirklich nicht begreife, um so weniger, als du dich von jeher für Gustav interessiert hast. Du hast seine Artikel stets mit einer förmlichen Begeisterung gelesen.«
»Weil ich an den glaubte, der sie schrieb! Weil ich es nicht für möglich hielt, daß all diese glühende Vaterlandsliebe, all diese Begeisterung für das Schöne und Große nur Phrasen sein sollten, die man mit der Gesinnung über Bord wirft, sobald der Vorteil es erheischt.«
»Die Herren von der Feder sind auf schöne Redensarten angewiesen,« sagte Sandow wegwerfend. »Das ist Geschäftssache! Es wäre schlimm, wenn sie jedes ihrer Worte mit der That vertreten müßten. Gustav hat geschrieben, wie es seine Stellung und die Zeitströmung erforderten, und jetzt handelt er, wie es die Vernunft fordert. Thäte er das nicht, so könnte ich ihn überhaupt nicht als Kompagnon brauchen. – Und nun, laß uns den Streit darüber endigen! Ich dringe nicht heute und morgen auf Entscheidung, erwarte aber schließlich mit aller Bestimmtheit dein Jawort.«
»Niemals!« rief Jessy aufflammend. »Einem Manne angehören, der in mir nur einen der Paragraphen des Geschäftskontraktes sieht! Einem Egoisten, der alles, was anderen teuer und heilig ist, seinen materiellen Zwecken opfert! Nun und nimmermehr!«
Sandow nahm wenig oder gar keine Notiz von diesem leidenschaftlichen Proteste. Wäre Jessy seine Tochter gewesen, so würde er einfach befohlen und sie gezwungen haben, sich seinem Willen zu fügen, aber er kannte die Grenzen seiner vormundschaftlichen Gewalt zu gut, um hier dergleichen zu versuchen. Er wußte überdies, daß seine langgewohnte und gefürchtete Autorität auch eine Art von Zwang für das junge Mädchen war, und war entschlossen, sie zu gebrauchen.
»Wir wollen es abwarten, »sagte er aufstehend. »Ich fahre jetzt nach dem Bahnhofe und denke dir in einer Stunde meinen Bruder vorzustellen. Du wirst dich herablassen, ihn vor allen Dingen kennen zu lernen und das Uebrige wird sich finden. Adieu!«
Damit verließ er das Zimmer und gleich darauf hörte man draußen den Wagen fortrollen, der ihn erwartet hatte.
Jessy blieb allein zurück, und jetzt, wo sie sich nicht mehr unter dem Banne jener kalten, strengen Augen wußte, brachen die lang zurückgehaltenen Thränen hervor. Das junge Mädchen gehörte offenbar nicht zu den energischen Naturen, die Willen gegen Willen setzen. In diesen Thränen verriet sich die ganze Weichheit eines Charakters, der es gewohnt ist, sich führen und leiten zu lassen, und bei dem ersten Kampfe, zu dem er sich aufrafft, auch schon seine Ohnmacht fühlt.
Es war auch in der That der erste Kampf ihres Lebens. In den glücklichsten Verhältnissen aufgewachsen, von zärtlicher Elternliebe beschützt und gehütet, war ihr der Schmerz erst nahe getreten, als die Mutter starb und zwei Jahre darauf der Vater ihr folgte. In dem Testament war Sandow, der langjährige Freund und Kompagnon des Verstorbenen, zum Vormund der Waise ernannt, und ihre Vermögensinteressen konnten in keinen besseren Händen liegen. Aber Jessy hatte es nie vermocht, ein Herz zu dem Onkel zu fassen, obgleich sie ihn von ihrer Kindheit an kannte. Er war ein naher Verwandter ihrer Mutter und stammte wie diese aus Deutschland. Vor mehr als zwölf Jahren war er fast mittellos nach Amerika gekommen und hatte in dem Geschäfte seines Vetters eine Stellung gesucht und gefunden. Es hieß, Unglück und bittere Erfahrungen hätten ihn aus Europa fortgetrieben; was es eigentlich gewesen, hatte Jessy nie erfahren können, denn auch die Eltern schienen darüber nur teilweise unterrichtet zu sein, und Sandow selbst berührte diesen Punkt niemals.
Man hatte ihm anfangs nur aus verwandtschaftlichen Rücksichten eine untergeordnete Stellung im Kontor gegeben, aber er entwickelte dadurch eine so rastlose Thätigkeit, eine solche Umsicht und Energie, daß er bald genug den ersten Platz unmittelbar hinter dem Chef einnahm, und als eine drohende Geschäftskrisis einzig und allein durch sein rechtzeitiges und energisches Eingreifen abgewendet wurde, trat er als Teilnehmer der Handlung ein, die unter seiner Leitung bald einen ganz andern Aufschwung nahm. Eine Reihe ebenso kühner als glücklicher Spekulationen hoben die bis dahin bescheidene Firma zu einer der ersten der Stadt empor, und der neue Chef wußte das Uebergewicht, das diese Erfolge ihm gaben, so nachdrücklich zu gebrauchen, daß er fast zum Alleinherrscher wurde und jedenfalls überall die erste und entscheidende Stimme hatte.
Auf diese Weise war auch Sandow in verhältnißmäßig kurzer Zeit ein reicher Mann geworden. Da er allein stand, lebte er nach wie vor im Hause seiner Verwandten, aber trotz des langjährigen Zusammenlebens und der Gemeinsamkeit aller Interessen war er doch nie in ein herzliches Verhältnis zu ihnen getreten. Sein kaltes, schroffes Wesen schloß jede wirkliche Annäherung aus. Er kannte überhaupt nichts Anderes als die Geschäftsinteressen, als das rastlose Arbeiten dafür und suchte niemals Ruhe und Erholung im Familienkreise, Dinge, deren er gar nicht zu bedürfen schien. Jessys Vater hatte nichts dagegen, daß sein Kompagnon den größten Teil der Arbeit und Sorge auf die eignen Schultern nahm, er selbst neigte mehr zum heiteren Lebensgenuß, zum behaglichen Familienleben. Da sich ihre Wünsche auf diese Weise entgegenkamen, so war das Verhältnis zwischen ihnen stets das beste gewesen, wenn es sich auch freilich mehr auf gegenseitige Unentbehrlichkeit als auf wirkliche Freundschaft gründete.
Jetzt lag die Leitung des Geschäftes, und die Verwaltung des Vermögens der jungen Erbin in Sandows Händen allein, aber bald genug dehnte er seine vormundschaftlichen Rechte so weit aus, auch über Jessys Zukunft bestimmen zu wollen. Mit demselben rücksichtslosen Egoismus, der all seine Unternehmungen kennzeichnete, entwarf er auch den Heiratsplan zwischen seinem Mündel und seinem Bruder und war ebenso erstaunt als entrüstet, als sein Plan, der auf der einen Seite unbedingt angenommen wurde, auf der anderen Widerstand fand. Er legte indessen diesem Widerstande gar kein Gewicht bei und war fest überzeugt, das junge Mädchen, das bisher noch niemals Neigung oder Kraft zum selbständigen Handeln gezeigt hatte, werde sich auch hierin seinem Willen fügen.
Die zur Fahrt nach dem Bahnhofe bestimmte Stunde war noch nicht ganz verflossen, als der Wagen draußen wieder vorfuhr, und gleich darauf traten die beiden Herren in den Salon, wo Jessy sich noch befand.
Sandow schien durch das Wiedersehen des Bruders, von dem er doch lange Jahre hindurch getrennt gewesen war, nicht im mindesten erregt zu sein. Seine Miene war ebenso unbewegt, sein Ton ebenso kühl wie gewöhnlich, als er Herrn Gustav Sandow und Miß Jessy Clifford einander vorstellte. Der neue Ankömmling näherte sich mit einer artigen Verneigung der jungen Dame.
»Darf ich auch bei Ihnen auf einen freundlichen Empfang rechnen, Miß Clifford? Ich komme zwar als ein Fremder, aber ich bringe Ihnen den Gruß des Landes, dem Ihre Mutter angehörte. Lassen Sie dies meine Empfehlung auch bei Ihnen sein!«
Das klang nicht bloß verbindlich, sondern warm, beinahe herzlich. Jessy sah überrascht auf, aber der forschende, durchdringende Blick, der dem ihrigen begegnete, erkältete sie sofort wieder, denn er rief ihr den eigentlichen Grund dieser Bekanntschaft zurück. Sie entgegnete daher mit kühler Höflichkeit:
»Ich hoffe, Sie haben eine gute Ueberfahrt gehabt, Mr. Sandow.«
»Eine ausgezeichnete! Wir hatten die ruhigste See, die angenehmste Fahrt, und auch während meiner Landreise bis hierher wurde ich von dem schönsten Wetter begünstigt.«
»Deshalb hast du sie wohl auch so lange ausgedehnt?« mischte sich Sandow in das Gespräch. »Du bist ja kreuz und quer durch das Land gefahren wie ein Tourist. Wir haben dich schon vor vierzehn Tagen erwartet.«
»Nun, man muß doch Land und Leute kennen lernen,« warf Gustav hin. »Wünschtest du meine beschleunigte Ankunft?«
»Nicht doch, ich bin ganz damit einverstanden, daß du dich in den größeren Städten aufgehalten hast. Es ist immer vorteilhaft, persönlich Beziehungen mit den dortigen Geschäftsfreunden anzuknüpfen. Mir fehlt leider die Zeit dazu, aber ich habe dich ja mit hinreichenden Empfehlungen versehen. – Was gibt es? Eine Depesche?«
Die letzten Worte waren an den Diener gerichtet, der hinter den beiden Herren eingetreten war und jetzt ein inzwischen eingetroffenes Telegramm überreichte. Während Gustav Sandow mit Miß Clifford die ersten allgemeinen Höflichkeitsreden wechselte, öffnete der ältere Bruder die Depesche, durchflog sie und wandte sich dann zu den beiden:
»Ich muß euch auf eine halbe Stunde verlassen. Eine Geschäftssache, die schleunigst erledigt werden muß.«
»Heute, am Sonntag?« fragte Gustav. »Gönnst du dir denn dann nicht einmal Ruhe?«
»Wozu das? Es könnte irgend etwas versäumt werden. Ich pflege mir am Sonntage, wo die Büreaus geschlossen sind, die dringlichen Sachen hier hinaussenden zu lassen. Du hast doch Jenkins und Kompanie in New York aufgesucht, Gustav? Das Telegramm kommt von ihnen. Ich spreche später noch mit dir darüber, einstweilen lasse ich dich in Jessys Gesellschaft. Auf Wiedersehen also!«
Er faltete die Depesche zusammen und ging. Der jüngere Bruder sah ihm mit höchst erstaunter Miene nach.
»Nun – verwöhnt wird man hier gerade nicht mit der verwandtschaftlichen Liebe!« bemerkte er trocken, zu Miß Clifford gewandt.
»Sie müssen Ihren Bruder ja doch einigermaßen kennen,« entgegnete diese, die es längst gewöhnt war, daß bei ihrem Vormunde das Geschäft allem Anderen voranging.
»Allerdings, aber etwas rücksichtsvoller pflegte er denn doch in Europa zu sein. Ich glaubte wenigstens Anspruch auf die erste Stunde des Zusammenseins zu haben.«
»Sie werden von der Reise ermüdet sein,« sagte Jessy, die nach einem Vorwande suchte, dies ebenso unerwartete als unerwünschte tête-à-tête zu vermeiden. »Ihre Zimmer sind bereit, wenn Sie vielleicht –«
»Ich danke!« fiel Gustav ein. »Ich bin nicht im geringsten ermüdet, und im Grunde habe ich alle Ursache, Jenkins und Kompanie dankbar zu sein, daß sie mir das Vergnügen verschaffen, Ihnen Gesellschaft leisten zu dürfen.«
Damit zog er einen Sessel herbei und nahm ihr gegenüber Platz. Aber weder sein heiterer zwangloser Ton, noch seine einnehmende Persönlichkeit vermochten es, die kalte Zurückhaltung der jungen Dame zu besiegen. Es überraschte sie nicht, daß der neue Hausgenosse so bedeutend jünger war als ihr Vormund, denn sie wußte, daß er aus der zweiten Ehe des Vaters stammte. Der ältere Bruder war in der That schon über die Mitte des Lebens hinaus, während der jüngere erst im Anfang der dreißig stand. Im Uebrigen entsprach das Aeußere des letzteren vollständig dem Bilde, das in Sandows Arbeitszimmer hing. Eine kräftige, männliche Erscheinung, mit angenehmen, intelligenten Zügen, dunklem Haar und Bart und lebhaft blitzenden dunkeln Augen, die entschieden ausdrucksvoll und schön waren. Aber gerade diese Augen mißfielen Jessy, denn sie fühlte instinktmäßig, daß sie ihnen mit ihrem ganzen Wesen Rede zu stehen hatte. Derselbe scharf beobachtende Blick, der sie gleich im ersten Moment der Bekanntschaft getroffen, ruhte auch jetzt unausgesetzt auf ihrem Antlitz. Herr Sandow junior prüfte offenbar, wie Paragraph eins des Geschäftskontraktes sich denn eigentlich anließ, und das war hinreichend, um den vollsten Widerwillen der jungen Dame zu erwecken.
»Ich bin leider noch ganz unbekannt mit Ihrer Heimat,« eröffnete er die Unterhaltung. »Ich komme als unerfahrener Europäer wie vom Himmel geschneit in die neue Welt und rechne auf Ihren gütigen Beistand, um mich einigermaßen auf dem fremden Boden zu orientieren.«
»Auf meinen Beistand? Ich glaube, Sie werden die Orientierung bei Ihrem Bruder besser und zuverlässiger finden, als ich sie Ihnen zu geben vermag.«
»Ohne Zweifel, soweit es die geschäftlichen Verhältnisse betrifft. In jeder andern Hinsicht aber scheint er mir sehr unzugänglich zu sein, und es gibt doch noch einige andere Beziehungen, mit denen ich mich nebenbei vertraut machen möchte.«
Nebenbei! Ja wohl, so ganz nebenbei sollte ja auch eine Heirat stattfinden, ein Bund für das Leben, der andern Menschen als das Höchste und Heiligste zu gelten pflegt. Der unerfahrene Europäer schien durchaus auf dem Standpunkte seines amerikanischen Bruders zu stehen und dergleichen für vollständige Nebendinge zu erachten.
»Es sind ja doch wohl ausschließlich geschäftliche Verhältnisse, die Sie herführten,« sagte Jessy nicht ohne Ironie. »So viel ich weiß, beabsichtigen Sie, in unsere Firma einzutreten.«
»Allerdings. Mein Bruder hat mir das zur unerläßlichen Bedingung gemacht.«
»Zur Bedingung? Waren Sie denn nicht unabhängig, Mr. Sandow? Doch, ich vergaß – es handelt sich wahrscheinlich um die Erbschaft meines Vormundes.«
Der Stich wurde gefühlt, das sah man an dem plötzlichen Aufblitzen jener dunkeln Augen, aber eine Wirkung äußerte er nicht, denn Gustav Sandow entgegnete mit der harmlosesten Unbefangenheit:
»Ganz recht, um die Erbschaft! Sie stand wirklich auf dem Spiele bei einer Weigerung meinerseits. Mein Bruder wäre im stande gewesen, sein ganzes Vermögen irgend einer philanthropischen Anstalt zu vermachen, wenn ich mich nicht seinem Willen gefügt hätte.«
Jessy wußte nicht, ob sie mehr erstaunt oder entrüstet sein solle über die Offenheit, mit der dieser Mann eingestand, daß er einzig und allein des Geldes wegen gekommen sei. Und er sprach das vor der Dame aus, deren Hand und Vermögen ihm gleichfalls bestimmt war, bei der aber die Entrüstung die Oberhand gewann, als sie entgegnete:
»Ich wußte bisher nicht, daß man auch in Deutschland so gut zu rechnen versteht.«
»Ja, Gott sei Dank, wir sind endlich praktisch geworden!« sagte Gustav mit unverwüstlicher Ruhe. »Es hat etwas lange gedauert, aber nun machen wir auch bedeutende Fortschritte darin. Sie scheinen uns das freilich als einen Vorwurf anzurechnen, Miß Clifford.«
»Nein, aber ich habe das Land, dem meine Mutter angehörte, und das sie auch mich als ein zweites Vaterland lieben lehrte, von einer ganz anderen Seite kennen gelernt.«
»Von der idealen Seite vermutlich! Nun, ich will nicht leugnen, daß auch diese noch existiert. Im großen und ganzen räumt man jetzt gewaltig bei uns auf mit den Idealen. Es gibt nur sehr wenige, die sich noch in Wort und That dazu bekennen.«
»Eben deshalb sollten diese wenigen sich um so fester um die bedrohte Fahne scharen und Blut und Leben einsetzen für ihre Rettung!«
Die Phrase klang etwas eigentümlich in dem Munde eines jungen Mädchens, aber sie wurde offenbar verstanden. Wieder blitzten die dunkeln Augen auf, diesmal aber in unverhehlter Ueberraschung.
»Ach wie schmeichelhaft! Ein Citat aus einem meiner Artikel! Sie sind Ihnen also bekannt?«
»Es ist ja eins der größten politischen Journale, das Sie vertraten,« sagte Jessy kühl. »Es wurde stets in meinem Elternhause gelesen. Aber eben, weil ich Ihre Artikel kenne, befremdet es mich, daß Sie es vermochten, sich so schnell und vollständig aus all den Banden zu lösen, die Sie in der Heimat fesselten.«
»Sie meinen meine kontraktlichen Verpflichtungen gegen das Journal,« fiel Gustav ein. »Ja das hatte allerdings seine Schwierigkeiten, aber man fügte sich meinem Wunsche. Es kommt ja auf einen Journalisten mehr oder weniger in Deutschland nicht an, und meine Feder ist längst durch eine andre, vielleicht bessere ersetzt worden.«
Jessy preßte die Lippen zusammen. Dies absichtliche Mißverstehen ärgerte sie unbeschreiblich, und noch mehr ärgerte sie die beharrlich fortgesetzte Beobachtung, die allerdings nichts Aufdringliches hatte, sondern sich unter dem Anschein einer lebhaften Unterhaltung barg. Aber Jessy hatte trotzdem ein Gefühl, als ob sie und ihr ganzer Charakter hier förmlich studiert werde, und das trieb sie allmählich aus ihrer Zurückhaltung und in eine Gereiztheit hinein, die ihr sonst vollständig fremd war.
»Ich ahnte nicht, daß ich eine so aufmerksame Leserin jenseits des Ozeans hatte,« fuhr Gustav in der verbindlichsten Weise fort. »Da mir diese Auszeichnung aber nun zu teil geworden ist, so möchte ich auch um Ihre Kritik bitten. Sie erklärten vorhin, daß Sie meine Heimat wie ein zweites Vaterland lieben. Da darf ich also wohl bei Ihnen auf Sympathien für all das rechnen, was ich mit meiner Feder vertrete.«
»Sie haben die journalistische Laufbahn ja aufgegeben,« warf Jessy ein; »um einer vorteilhafteren willen.«
»Ja, ich gab dem Zwange der Verhältnisse nach. Das scheint nicht günstig beurteilt zu werden, aber vielleicht findet der Schriftsteller mehr Gnade vor Ihren Augen als der künftige Teilhaber des Hauses Clifford und Kompanie.«
»Jedenfalls bewundre ich die Leichtigkeit, mit der der eine sich in den andern verwandelt.«
Es war ein vernichtender Blick, der bei diesen Worten Gustav Sandow streifte, aber dieser ließ sich augenscheinlich nicht so leicht vernichten. Er hielt den Blick ruhig aus, und seine Antwort verriet sogar einen gewissen Humor, der die Gereiztheit der jungen Dame nur noch steigerte.
»Meine Kritik fällt nicht günstig aus, wie ich sehe. Eben deshalb aber muß ich sie kennen. Sie dürfen mir Ihre schlimme Meinung nicht vorenthalten, Miß Clifford. Ich bestehe darauf, mein Urteil zu hören.«
»Rückhaltlos?«
»Ganz rückhaltlos!«
»Nun denn, Mr. Sandow, so gestehe ich Ihnen ganz offen, daß ich alles, was aus Ihrer Feder kam, mit vollster Sympathie und Bewunderung gelesen habe, bis zu dem Augenblick, wo Sie den Vorschlag Ihres Bruders annahmen. Ich habe das nicht für möglich gehalten! Ich meinte, wer so voll und ganz für sein Vaterland eintritt, wie Sie es thaten, wer so energisch dessen Rechte verficht, so mahnend andre zum Bewußtsein ihrer Pflichten aufruft, der müsse auch bei der Fahne bleiben, der er sich nun einmal zugeschworen, und dürfe sie nicht verlassen, um des bloßen Vorteils willen. Ich konnte es nicht glauben, daß die Feder, der so begeisterte Worte entströmten, in Zukunft dazu dienen soll, Zahlen und nur Zahlen zu schreiben, daß der unerschrockne Kämpfer freiwillig die Waffen niederlegt und aus der Bahn tritt, um den bequemen Platz am Kontortisch einzunehmen. Ich habe daran gezweifelt bis zu dem Momente Ihrer Ankunft, und daß ich es schließlich doch glauben muß – das ist eine der bittersten Enttäuschungen meines Lebens!«
So sehr Jessy sich auch von ihrer Erregung fortreißen ließ, so fühlte sie doch, daß sie den Mann, der da vor ihr saß, beleidigte, aber sie fragte in diesem Augenblick nicht darnach. Sie sah in ihm nur den Gegner, nur den aufgedrungenen Bewerber, den sie um jeden Preis fernhalten wollte. Mochte er es gleich in der ersten Stunde fühlen, wie tief sie ihn und seinen Egoismus verachtete; dann blieb ihm wenigstens kein Zweifel mehr, wie sie über jenen Heiratsplan dachte, und sie war sicher vor seiner Bewerbung. Aber er schien gegen Beleidigungen sehr unempfindlich zu sein, denn er behielt seine volle Gelassenheit.
»Miß Clifford, für eine Kaufmannstochter und stille Teilnehmerin eines Handlungshauses hegen Sie sehr respektwidrige Ansichten von den Zahlen und dem Kontortisch,« sagte er mit empörender Gleichgültigkeit. »Mein Bruder würde darüber entsetzt sein, ich – fühle mich unendlich geschmeichelt, daß meine bescheidne Feder es vermocht hat, Ihnen ein solches Interesse abzugewinnen, und was die Enttäuschung betrifft, so gebe ich die Hoffnung nicht auf, daß es mir schließlich noch gelingen wird, Ihnen eine bessere Meinung von meinen Leistungen am Kontortisch beizubringen.«
Jessy blieb die Antwort schuldig; sie geriet völlig aus der Fassung über diese Art, die Beleidigung in ein Kompliment zu verwandeln, und über die lächelnde Ruhe, mit der dies Manöver ausgeführt wurde. Zum Glück öffnete sich jetzt die Thüre und Sandow trat ein.
»Die Depeschen sind expediert,« sagte er. »Jetzt bin ich wieder zu eurer Verfügung. Wir werden aber wohl bald zu Tische gehen, Jessy?«
Die junge Dame erhob sich rasch.
»Ich habe noch eine notwendige Anordnung dafür zu treffen, es soll sogleich geschehen!« und hastig, als gelte es eine Flucht vor dem neuen Hausgenossen, eilte sie davon, nicht ohne ihm noch vorher einen Blick der Entrüstung zugeworfen zu haben.
»Nun wie gefällt dir Jessy?« fragte Sandow, als sie allein waren. »Und wie weit bist du mit ihr?«
»Wie weit ich mit ihr bin? Aber Franz, du verlangst doch nicht etwa, daß ich ihr gleich in der ersten Stunde einen Heiratsantrag mache?«
»Nun einleiten konntest du die Sache aber doch wenigstens.«
»Sie ist ganz vorzüglich eingeleitet,« versicherte Gustav. »Wir haben uns bereits sehr lebhaft gezankt.«
Sandow, der sich neben seinem Bruder niedergelassen hatte, sah auf, als traue er seinen Ohren nicht.
»Gezankt? Was heißt das? Soll das etwa der Anfang deiner Bewerbung sein?«
»Warum nicht? Es schließt wenigstens die Gleichgültigkeit aus. Die habe ich übrigens bei Miß Clifford nicht zu fürchten. Sie ist im höchsten Grade eingenommen gegen mich, und legt es mir als eine Art Verrat am Vaterlande aus, daß ich deinem Rufe gefolgt bin.«
»Ja, das Mädchen hat den Kopf voll Romanideen!« sagte Sandow ärgerlich. »Daran ist die schwärmerisch-sentimentale Erziehung schuld, die die Mutter ihr gegeben hat. Clifford war nie zu bewegen, dagegen aufzutreten, trotzdem er doch genug gesunden Menschenverstand besaß. Er vergötterte seine einzige Tochter und fand alles schön und gut an ihr. Du wirst noch mit diesen Ueberspanntheiten zu kämpfen haben, wenn Jessy erst deine Frau ist.«
Um Gustavs Lippen spielte ein halb ironisches Lächeln, als er erwiderte:
»Hältst du denn für so ausgemacht, daß sie das wird? Vorläufig scheine ich die glänzendsten Aussichten auf einen Korb zu haben.«
»Thörichte Mädchengrillen, nichts weiter; sie hat es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, daß der Heirat notgedrungen ein Liebesroman vorangehen müsse. Dir aber,« – hier streifte Sandows Blick die stattliche Erscheinung des Bruders – »dir wird es nicht allzu schwer werden, trotzdem Terrain bei ihr zu gewinnen, und das übrige thut meine Autorität. Jessy ist viel zu unselbständig, um sich nicht schließlich zu fügen.«
»Nun von dieser Unselbständigkeit habe ich nichts gespürt,« bemerkte Gustav trocken. »Miß Clifford war ziemlich energisch, als sie mir die schmeichelhafte Eröffnung machte, daß meine Bekanntschaft eine der bittersten Enttäuschungen ihres Lebens sei.«
Sandow runzelte die Stirn. »Das hat sie dir gesagt?«
»Wörtlich, und überdies noch mit der nötigen Entrüstungs- und Verachtungsmiene. Es ist eine ganz eigentümliche Mischung von mädchenhafter Zurückhaltung und echt amerikanischem Selbstbewußtsein. In unsrer Heimat würde ein junges Mädchen schwerlich einem Fremden gleich in der ersten Stunde so den Text lesen.«
»Nicht doch, Jessy ist durch und durch deutsch,« sagte Sandow. »Sie ist ganz das Ebenbild der Mutter und hat auch nicht einen Zug von ihrem amerikanischen Vater. Aber lassen wir das jetzt und kommen wir zur Hauptsache. – Ich habe nicht daran gezweifelt, daß du meinen Vorschlag annehmen würdest. Daß es so schnell und rückhaltlos geschah, ist mir angenehm, denn es zeigt mir, daß du dir trotz all deiner idealen Schreibereien doch einen klaren, kühlen Kopf bewahrt hast, der zu rechnen versteht, und das ist es, was hier notthut. Jessy ist eine in jeder Beziehung glänzende Partie, die du unter andern Verhältnissen schwerlich gemacht hättest. Für mich handelt es sich in erster Linie darum, das sehr bedeutende Cliffordsche Vermögen dem Geschäfte zu erhalten. Unsre Interessen sind also die gleichen, und ich hoffe, wir werden mit einander zufrieden sein.«
»Das hoffe ich auch!« sagte Gustav lakonisch. Die rein geschäftliche Auffassung der projektierten Heirat von seiten seines Bruders schien ihn ebensowenig zu befremden, als das Urteil über seine ›Schreibereien‹ ihn verletzte.
»Es bleibt also bei unsrer brieflichen Verabredung,« fuhr Sandow fort. »Du trittst vorläufig als Volontär ein, um deinen neuen Beruf einigermaßen kennen zu lernen. Schwierig ist das nicht für jemand, der wie du die nötige Bildung und Intelligenz mitbringt. Alles übrige ist nur Sache der Uebung und Gewohnheit. Sobald deine Verbindung mit Jessy öffentlich erklärt ist, wirst du Teilhaber der Firma. Also zögere nicht zu lange mit deiner Erklärung. Jessy ist als Erbin natürlich eine vielumworbene Partie und schon im nächsten Jahre wird sie mündig. Ueberdies habe ich gerade jetzt große Unternehmungen im Auge und muß sicher sein, daß ich unumschränkt über das ganze Betriebskapital verfügen kann.«
»Und deshalb haben Miß Clifford und ich uns zu heiraten!« ergänzte Gustav. »Man sieht es, daß du gewohnt bist, die Konjunktur zu benutzen, gleichviel, ob es sich dabei um Dollars oder um Menschen handelt.«
Es lag etwas wie verhaltener Spott in den Worten. Sandow beachtete es nicht, in seiner Antwort lag dieselbe eisige Gleichgültigkeit, die er vorhin im Gespräche mit Jessy gezeigt hatte.
»Man muß mit den Menschen rechnen wie mit Zahlen, darin beruht das Geheimnis des Erfolgs. Jedenfalls hast du alle Ursache, der Konjunktur dankbar zu sein. Sie sichert dir neben all den Vorteilen dieser Heirat auch noch die Aussicht auf mein Vermögen. Du weißt ja, daß ich keinen andern Erben und Verwandten habe als dich.«
»Keinen andern – wirklich?« fragte Gustav mit eigentümlicher Betonung, während er den Blick fest auf den Bruder richtete.
»Nein!« Es lag eine grenzenlose Härte in dem einen kurzen Worte.
»So hast du also deine Ansichten nicht geändert? Ich glaubte, jetzt, wo Jahre vergangen sind, würdest du einer andern Auffassung Raum geben und endlich deine –«
»Schweig'!« fuhr Sandow auf. »Nenne mir den Namen nicht! Die Vergangenheit existiert nicht mehr für mich, soll nicht mehr existieren. Ich habe sie begraben in dem Augenblicke, wo ich Europa verließ.«
»Auch die Erinnerung daran?«
»Auch die! Und ich will auch von andern nicht mehr daran erinnert sein. Du hast das schon verschiedne Male in deinen Briefen versucht und ich dächte, meine Abweisung wäre deutlich genug gewesen. Weshalb kommst du immer wieder darauf zurück? Willst du mich peinigen, oder« – hier traf ein drohender, durchbohrender Blick den Bruder – »liegt dem vielleicht irgend eine Absicht zu Grunde?«
Gustav zuckte leicht die Achseln.
»Warum nicht gar! Ich fragte nur in meinem eignen Interesse. Da die Erbschaftsfrage doch nun einmal zur Sprache gebracht ist, so begreifst du dies Interesse wohl.«
»Gewiß, du bist ungemein praktisch geworden, wie ich sehe. Um so besser für dich, so brauchst du es nicht erst zu lernen, wie ich es thun mußte. Ich habe hartes Lehrgeld gezahlt.«
Gustav wurde plötzlich ernst und legte seine Hand auf den Arm des Bruders.
»Ja, Franz, es muß wohl sehr hart gewesen sein, dies Lehrgeld, denn es hat dich zu einem ganz andern gemacht. Ich finde auch nicht einen Zug von dem wieder, was du einst in Europa gewesen bist.«
Sandow lachte bitter auf. »Nein, Gott sei Dank! Es ist nichts mehr übrig geblieben von dem weichmütigen Thoren, der aller Welt wohlwollte, aller Welt vertraute, und der das schließlich büßen mußte wie ein Verbrechen. Wem das blinde Vertrauen zu den Menschen Ehre, Glück und Existenz gekostet hat, wie mir, der sucht auf andre Weise mit ihnen und mit dem Leben fertig zu werden. Aber nun kein Wort mehr von der Vergangenheit. Ich habe sie von mir geworfen, laß sie ruhen!«
»Miß Clifford läßt bitten,« meldete der Diener, indem er die Thür des Nebenzimmers öffnete. Die Brüder erhoben sich; bei der Wendung, welche das Gespräch schließlich genommen, schien die Unterbrechung beiden willkommen zu sein. Sie traten in das angrenzende Eßzimmer, wo Jessy sie bereits erwartete. Gustav hatte schon in der nächsten Minute seine ganze Laune wiedergefunden, er näherte sich der jungen Dame und bot ihr den Arm, als sei nicht das Geringste zwischen ihnen vorgefallen.
»Miß Clifford, ich habe die Ehre, mich Ihnen in aller Form als Volontär des Hauses Clifford und Kompanie vorzustellen. Ich darf Sie also wohl nunmehr als meinen zweiten Chef betrachten und empfehle mich ehrfurchtsvoll Ihrem Wohlwollen.«
Und ohne sich an die eisige Miene seines »zweiten Chefs« zu kehren, nahm er den Arm, den Jessy nicht zu verweigern wagte, und führte sie zu Tische.
* *
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Das Haus Clifford gehörte, wie schon erwähnt, zu den ersten der Stadt. Das zahlreiche Kontor- und Dienstpersonal, die weitläufigen Geschäftsräume und der rege Verkehr, der dort herrschte, verrieten auch dem Fremden die Bedeutung des großen Handlungshauses, dessen Chef in der That eine hervorragende Stellung in der dortigen Handelswelt einnahm.
Gustav Sandow, der in Zukunft diese Stellung teilen sollte, wenn er sich auch vorläufig noch mit der bescheidnen eines Volontärs begnügte, hatte nun seinen neuen Beruf angetreten, zeigte aber vorläufig noch keine besondre Begeisterung dafür. Sein Bruder bemerkte mit Mißfallen, daß er das Ganze nur als eine Art von Unterhaltung betrachtete, mit der er sich amüsierte und bei der ihn hauptsächlich das Neue und Ungewohnte anzog. Den Ernst und die Würde des künftigen Chefs ließ er einstweilen noch sehr vermissen, dagegen machte er von den Freiheiten des Volontärs einen um so ausgedehnteren Gebrauch. Die Sehenswürdigkeiten der Stadt, ihre Umgebungen und ihre Geselligkeit schienen ihn weit mehr anzuziehen, als die Büreaus seines Bruders. Dieser mahnte in seiner gewohnten scharfen Weise und forderte größere Teilnahme für die Geschäftsinteressen. Gustav gab ihm regelmäßig in allen Stücken recht, that aber ebenso regelmäßig was ihm gefiel, und setzte allen Vorwürfen die hartnäckige Behauptung entgegen, daß er vorläufig nur Gast sei und sich mit den neuen Beziehungen erst vertraut machen müsse.
Zwischen ihm und Miß Clifford hatte sich ein eigentümliches, halb feindseliges, halb vertrauliches Verhältnis herangebildet. Im Grunde standen sie immer auf dem Kriegsfuße und Jessy that ihr Möglichstes, das Verhältnis auf dieser Basis zu erhalten. Aber das wurde ihr schwer genug, denn der Gegner zeigte eine so vollendete Artigkeit und Liebenswürdigkeit, daß sich schlechterdings nicht dagegen aufkommen ließ. Die doch wahrlich nicht schmeichelhafte Beurteilung seines Charakters, die er gleich in der ersten Stunde der Bekanntschaft hinnehmen mußte, hatte ihn offenbar nicht im mindesten abgeschreckt. Er war im Gegenteil voll Aufmerksamkeit, in die er sehr geschickt die Vertraulichkeit des Hausgenossen zu mischen wußte, und Jessy sah mit Schrecken, wie eine Bewerbung, der sie ein- für allemal entgangen zu sein glaubte, sich in aller Form entwickelte.
Es war ungefähr eine Woche nach der Ankunft des neuen Hausgenossen, in den Morgenstunden. Man hatte soeben das Frühstück beendigt; Gustav war noch dabei, Miß Clifford einige seiner Reiseerlebnisse zu schildern, und er that dies mit sprühender Lebhaftigkeit und in so glänzenden Farben, daß Jessy wider ihren Willen angezogen und gefesselt wurde. Sandow dagegen, der in seinem Taschenbuche einige geschäftliche Notizen suchte, hörte nur mit halben Ohren hin und sagte, als sein Bruder geendigt hatte, in spöttischem Tone:
»Man sollte wirklich glauben, du hättest die ganze Reise nur unternommen, um Stoff für deine ehemaligen politischen oder künstlerischen Artikel zu finden. Landschaften, Bauwerke, Volksleben alles Mögliche hast du studiert, aber von den geschäftlichen Beziehungen, die du anknüpfen solltest, ist kaum die Rede. Du bist allerdings überall gewesen, wohin dich meine Empfehlungen wiesen, du scheinst aber nur mit den Herren diniert und mit ihnen über Politik gesprochen zu haben.«
»Nun wir werden doch nicht beim Essen von Geschäftsangelegenheiten sprechen!« sagte Gustav. »Das ist ein Vergnügen, das nur du deinen Gästen bereitest. Ich glaube, du würdest es als eine äußerst segensreiche Erfindung betrachten, wenn das Essen und Schlafen überhaupt abgeschafft würde. Welch ein unendlicher Gewinn an Geschäftsstunden für die vielgeplagte Menschheit!«
Jessy blickte halb erschrocken auf ihren Vormund. Sie wußte, daß er in diesem Punkte sehr empfindlich war, auch Gustav wußte das, trotzdem sagte er ihm täglich dergleichen Dinge in das Gesicht. Er verstand es überhaupt meisterhaft, die herrische und bisweilen etwas verletzende Art seines Bruders zu parieren, so daß er nie als der eigentliche Zurechtgewiesene und Untergeordnete erschien. Sandow, dessen Stärke die Wortgefechte nicht waren, räumte gewöhnlich vor seinen Spöttereien das Feld. Auch jetzt stand er auf und schloß sein Notizbuch, während er sarkastisch entgegnete:
»Nun, du gehörst jedenfalls nicht zu den ›Vielgeplagten‹, du machst dir deinen neuen Beruf leicht genug. Uebrigens wünsche ich dich noch vorher in meinem Zimmer zu sprechen, ehe wir nach dem Büreau fahren. Es betrifft die New Yorker Angelegenheit.«
»Ich komme sogleich,« versicherte Gustav, blieb aber in aller Gemütsruhe sitzen, während jener das Zimmer verließ, und wandte sich dann an seine Nachbarin.
»Haben Sie je eine solche Arbeitsmanie gesehen wie die meines Bruders, Miß Clifford? Beim Frühstück macht er sich geschäftliche Notizen, beim Mittagessen studiert er die Kurse, und ich bin überzeugt, daß er sogar nachts in seinen Träumen spekuliert.«
»Ja, er ist von einer rastlosen Thätigkeit,« entgegnete Jessy. »Aber er verlangt das Gleiche auch von andern. Sie sollten ihn nicht warten lassen, da es sich doch jedenfalls um eine wichtige Angelegenheit handelt.«
Gustav beachtete den sehr deutlichen Wink zur Entfernung nicht im mindesten. »Es handelt sich um Jenkins und Kompanie. Diese liebenswürdige Firma belagert uns jetzt förmlich mit Briefen und Telegrammen wegen einer gemeinsam vorzunehmenden Spekulation. Es eilt mir durchaus nicht mit der Besprechung, und mein Bruder ist sehr nachsichtig, wenn er mich in Ihrer Gesellschaft weiß.«
Das war allerdings der Fall. Sandow begünstigte aus naheliegenden Gründen das Zusammensein seines Bruders mit Jessy in jeder Weise und verzieh ihm deswegen auch einmal eine Unpünktlichkeit. Die Hindeutung darauf aber wurde von der jungen Dame sehr ungnädig aufgenommen. Sie fand für gut, gar keine Antwort zu geben.
»Ueberdies hege ich den dringenden Wunsch, Sie einmal allein zu sprechen,« fuhr Gustav fort. »Ich habe schon in den letzten Tagen vergebens die Gelegenheit dazu gesucht.«
Ein eisiges, langgezogenes »So?« war die einzige Aeußerung, die von Jessys Lippen kam. Also wirklich! nach kaum acht Tagen wagte es dieser Mann, mit seinem Antrage hervorzutreten, trotz ihrer entschieden zurückweisenden Haltung, ihrer deutlich kundgegebenen Abneigung. Er versuchte es trotz alledem, den Geschäftskontrakt zu verwirklichen, der ihm die Hand der Erbin verhieß, und das geschah mit einer so unbefangenen Ruhe, als sei er dabei vollkommen in seinem Rechte.
»Ich habe nämlich eine Bitte an Sie zu richten,« begann er von neuem. »Eine Bitte, durch deren Erfüllung Sie mich unendlich verbinden würden.«
Miß Clifford saß da wie aus Stein gehauen, und ihre Mienen ließen keinen Zweifel darüber, daß sie durchaus nicht gesonnen war, den Bittenden ›unendlich zu verbinden‹. Sie raffte ihre ganze Energie zusammen, um dem nun unvermeidlich kommenden Antrage mit der nötigen Entschiedenheit zu begegnen.
Gustav aber nahm nicht die mindeste Notiz davon, sondern sagte mit seinem liebenswürdigsten Lächeln:
»Es handelt sich um eine junge Landsmännin.«
»Um – eine Landsmännin?« wiederholte Jessy, aufs höchste betroffen von dieser ganz unerwarteten Wendung.
»Ja, eine junge Deutsche, die ich während der Ueberfahrt kennen lernte. Wir machten die Reise auf demselben Dampfer. Sie ging ganz allein nach New York zu einem Verwandten, der die Waise zu sich gerufen hatte, und bei dem sie künftig leben sollte. Bei der Landung aber ergab es sich, daß jener Verwandte seit acht Tagen tot war, und das arme Kind stand nun ganz schutzlos und verlassen da in dem fremden Weltteil.«
»Sie haben sich ihrer angenommen?« warf Jessy mit einer gewissen Schärfe ein.
»Gewiß, ich brachte sie zu einer deutschen Familie, wo sie fürs erste Aufnahme fand. Aber lange kann sie dort nicht bleiben, und für ein Mädchen von kaum sechzehn Jahren, ohne alle Empfehlung, dürfte es schwer, ja unmöglich sein, in dem überfüllten New York eine Stelle als Erzieherin oder Gesellschafterin zu finden. Hier in der Stadt bietet sich diese Möglichkeit vielleicht eher, besonders, wenn ein angesehenes Haus, wie das Cliffordsche, die Empfehlung übernimmt. Meine Bitte geht nun dahin, der jungen Dame für einige Wochen Gastfreundschaft zu gewähren, bis sich irgend eine Stellung für sie gefunden hat.«
Jessy war sonst stets bereit, zu helfen, wo es in ihrer Macht stand, und eine Landsmännin ihrer Mutter hatte von vornherein Anspruch auf ihre Sympathie, aber die Verwendung von dieser Seite erfüllte sie mit tiefem Mißtrauen. In ihren Augen war Gustav Sandow nicht der Mann, der sich aus reiner Uneigennützigkeit eines Mitmenschen annahm. Dieser Egoist hatte jedenfalls noch andere Motive für seine Handlungsweise, und so fiel die Antwort denn sehr zurückhaltend aus.
»Das kommt mir sehr überraschend. Ich soll eine völlige Fremde in unser Haus aufnehmen, die, wie Sie selbst sagen, nicht die mindesten Empfehlungen hat –«
»Ich übernehme jede Bürgschaft!« fiel Gustav lebhaft ein. »Jede, die Sie nur verlangen können.«
»Ach so!« In Jessys Verständnis begann es jetzt zu dämmern. Sie sah den so gefürchteten Antrag in weite Ferne zurückweichen. Es zeigte sich plötzlich ein Ausweg, den sie nie geahnt. »Sie scheinen Ihren Schützling ja sehr genau zu kennen und sich ungemein für ihn zu interessieren.«
»Allerdings thue ich das. Einer Waise gegenüber ist es Christenpflicht.«
»Ich wußte gar nicht, daß Sie so christlich gesinnt sind, Mr. Sandow,« sagte Jessy mit unverhehlter Ironie.
»Da haben Sie mich verkannt, Miß Clifford, wie in so vielen Punkten,« erklärte Gustav feierlich. »Wo es sich um die Humanität handelt, bin ich äußerst christlich gesinnt.«
Die Lippen der jungen Dame zuckten etwas spöttisch bei dem Worte »Humanität«, aber die Sache fing jetzt an, sie zu interessieren, sie fragte deshalb weiter:
»Sie wünschen also eine Einladung in unser Haus für –?«
»Miß Frieda Palm – das ist ihr Name.«
»Ich werde mit meinem Vormunde sprechen, und wenn er einverstanden ist –«
»Nein, bitte, das grade wollte ich vermeiden,« fiel Gustav ein. »Ich wünsche nicht, daß mein Bruder von meiner Verwendung etwas erfährt. Wäre es nicht möglich, Miß Palm als Ihren Schützling auszugeben, den Ihnen irgend eine Bekannte in New York empfohlen hat, und dem Sie Aufnahme gewähren? Die Zumutung ist etwas seltsam, das sehe ich in Ihrer Miene, ich gebe mich aber damit auch auf Gnade und Ungnade in Ihre Hände.«
Jessys Miene zeigte allerdings, wie sehr sie überrascht war; sie maß den Sprechenden mit einem langen, forschenden Blick.
»In der That, eine sehr seltsame Zumutung! Sie verlangen geradezu, daß ich meinem Vormund eine förmliche Komödie vorspiele. Zu welchem Zwecke?«
»Jedenfalls zu keinem schlimmen Zwecke – wenn er auch vorläufig noch mein Geheimnis bleiben muß.«
»Ihr Geheimnis ist nicht schwer zu erraten, wenigstens für mich nicht,« sagte Jessy spöttisch, aber doch mit dem Gefühl unendlicher Erleichterung über diese Wendung der Sache. »Gestehen Sie es nur offen, daß Ihr Interesse an dieser jungen Dame ein viel tieferes und ernsteres ist, als Sie zugeben wollen, und daß Sie mit ihrer Einführung hier ganz bestimmte Zwecke verbinden.«
Gustav senkte anscheinend zerknirscht das Haupt.
»Ich gestehe es.«
»Und Sie fürchten aus mehr als einem Grunde, daß Ihr Bruder sich diesem Interesse feindselig gegenüberstellen wird.«
»Auch das bekenne ich!«
»Deshalb soll Miß Palm unerkannt in unserem Hause erscheinen, um vielleicht durch ihre persönlichen Eigenschaften Sympathie und Nachgiebigkeit zu erwerben, bis Sie es wagen, mit der Wahrheit hervorzutreten.«
»Miß Clifford, Sie haben einen unglaublichen Scharfblick!« sagte Gustav im Tone der tiefsten Bewunderung. »Es ist ganz unmöglich, Ihnen etwas zu verbergen. Da Sie mich aber doch so vollständig durchschaut haben – darf ich auf Ihren Beistand rechnen?«
Die junge Dame nahm eine sehr hoheitsvolle Miene an.
»Ich habe mich noch niemals zu irgend einer Unwahrheit herabgelassen, und ich würde dies auch jetzt nun und nimmermehr thun, wenn nicht –« sie stockte und ein flüchtiges Erröten flog über ihr Antlitz.
»Wenn nicht gewisse Pläne meines Bruders wären,« vollendete Gustav. »Sie sind nicht damit einverstanden, das sah ich schon am Tage meiner Ankunft. Eben deshalb aber dürfen Sie nicht fürchten, daß ich über die Beweggründe Ihrer Bundesgenossenschaft im Zweifel bin. Sie sind allerdings nicht schmeichelhaft für mich, aber in diesem Falle entschieden vorteilhaft.«
»Vorteilhaft!« wiederholte Jessy mit verächtlicher Betonung. »Ganz recht, und das ist allein maßgebend für Sie.
Sie fürchten einen Bruch mit Ihrem Bruder, wenn Sie ohne seine Zustimmung eine Wahl treffen, und wie ich ihn kenne, würde dies auch der Fall sein, da Ihre Erwählte eine arme, vermögenslose Waise ist. Es ist allerdings vorteilhafter, wenn Sie es versuchen, auf Umwegen Ihr Ziel zu erreichen. Männlicher freilich wäre es gewesen, offen vor Ihren Bruder hinzutreten und ihm Ihre Liebe zu bekennen, auf alle Gefahr hin. Doch in solchen Punkten denken wir ja überhaupt verschieden. Benachrichtigen Sie Miß Palm, daß ich sie erwarte. Sie mag sofort nach Empfang Ihres Briefes abreisen.«
»Das ist gar nicht mehr nötig,« erklärte Gustav ruhig. »Ich habe ihr bereits geschrieben. Sie ist auf dem Wege hierher und trifft heute nachmittag mit dem Kurierzuge hier ein.«
Das war Jessy denn doch etwas zu stark, sie sah den kecken Hausgenossen von oben bis unten an.
»Also das war schon im voraus bestimmt? Sie sind ja sehr zuversichtlich, Mr. Sandow!«
»Ich rechnete auf Ihr gütiges Herz,« versetzte dieser mit einer tiefen Verbeugung.
»Sie rechneten wohl vielmehr auf jenen Plan meines Vormundes, der mich halb willenlos zu Ihrer Bundesgenossin macht. Sei es denn! Ich werde das Möglichste thun, um Ihnen die Vorteile einer Uebereinstimmung mit Ihrem Bruder zu erhalten. Sobald Ihre Braut eintrifft, führen Sie sie zu mir, sie soll vorläufig hier im Hause als mein Schützling gelten.«
Und mit einer sehr kühlen und gemessenen Bewegung das Haupt gegen ihn neigend, stand sie auf und rauschte aus dem Zimmer. Gustav sah ihr mit einem eigentümlichen Zucken der Lippen nach.
»Jeder Zoll Verachtung! Aber das steht ihr ganz reizend! Ich spiele freilich eine äußerst klägliche Rolle bei der Geschichte, aber das thut nichts, wenn nur Frieda hier im Hause Fuß faßt, das ist die Hauptsache!«
In ihrem Zimmer ging Jessy in heftigster Erregung auf und nieder. Sie war im Grunde ja sehr froh, daß der gefürchtete Bewerber sich auf diese Weise als völlig unschädlich erwies, daß er selbst die Hand bot zur Vereitelung des auch ihm verhaßten Heiratsplanes; aber das minderte nicht ihre Empörung über den Egoismus und die Habsucht dieses Mannes, die sich soeben wieder in ihrer ganzen Niedrigkeit gezeigt hatten. Er liebte also, und wie es schien, wahr und aufrichtig. Grade auf dem Wege zu der reichen, ungeliebten Braut, die der Bruder ihm so fürsorglich ausgesucht hatte, war es einem jungen, verlassenen und schutzlosen Wesen gelungen, ihm eine wirkliche Neigung einzuflößen. Was hinderte ihn denn, seine Erwählte offen einzuführen und, wenn Sandow sich wirklich starrsinnig und unerbittlich zeigte, mit ihr nach Deutschland zurückzukehren? Er hatte ja dort eine unabhängige Lebensstellung verlassen, die sich ihm sofort wieder öffnete und ihm gestattete, sich ohne fremde Einwilligung zu vermählen. Aber freilich, dann stand das Vermögen, die Erbschaft auf dem Spiele, und die mußten um jeden Preis gesichert werden. Darum mußte die Braut sich zu der Rolle einer Fremden bequemen, es wurden allerlei Schleichwege versucht und eine förmliche Intrige in Szene gesetzt, um dem reichen Bruder die Einwilligung abzuschmeicheln. Und wenn er trotzdem ein hartes Nein sprach – und Jessy wußte, daß ihr Vormund, der die Menschen nur nach ihrem Vermögen schätzte, eine arme Schwägerin nun und nimmermehr willkommen heißen würde – dann wählte der mutige Verfechter des Idealismus zweifellos die Erbschaft und ließ die Braut im Stiche, wie er es schon mit seinem Berufe gethan hatte.
Jessys wahre, offene Natur sträubte sich gegen die auch ihr angesonnene Komödie, dennoch sah sie ein, daß sie jene Verbindung nach Kräften fördern müsse. Sie wollte um jeden Preis einem ernstlichen Kampfe mit ihrem Vormunde entgehen. Es war gewissermaßen ein Akt der Notwehr, wenn sie auf den Vorschlag einging. Gelang es wirklich, Sandow umzustimmen, so löste sich ja das ganze drohende Gewölk in Nichts auf.
Es war merkwürdig, daß das einzige, was zu Gustavs Gunsten sprach, daß er trotz alledem einer wirklichen Liebe fähig war, Jessy grade am meisten verletzte. Sie hatte es ihm so bitter zum Vorwurf gemacht, daß er sich willenlos den geschäftlichen Berechnungen des Bruders fügte, und nun er diese Berechnungen kreuzte, war sie noch mehr gegen ihn eingenommen. Sie war vollkommen einig mit sich, daß dieser Mann zu verachten sei, und das beschloß sie denn auch unter allen Umständen zu thun.
Gustav Sandow hatte sich inzwischen nach dem oberen Stock begeben, wo die Zimmer seines Bruders lagen, der ihn schon sehr ungeduldig erwartete.
»Ich glaubte wirklich nicht, daß du dich noch überhaupt herablassen würdest, zu kommen,« empfing er den Säumigen in seinem allerschärfsten Ton.
»Ich sprach mit Miß Clifford,« verteidigte sich Gustav. »Ich konnte doch unmöglich unsere sehr interessante Unterhaltung in der Mitte abbrechen.«
Die Hindeutung verfehlte nicht ihre Wirkung. Die projektierte Heirat war Sandow zu wichtig und Jessys Abneigung dagegen ihm zu gut bekannt, als daß er der vermeintlichen Bewerbung seines Bruders nicht volle Freiheit lassen sollte. Er entgegnete daher um vieles nachgiebiger:
»Es wird wohl wieder eins von euren beliebten Wortgefechten gewesen sein. Ihr gefallt euch nun einmal in solchen fortwährenden Plänkeleien, aber ich finde nicht, daß du dadurch irgendwie Fortschritte bei Jessy machst. Sie ist sehr zurückhaltend dir gegenüber.«
»Franz, du kannst meine Fortschritte gar nicht beurteilen,« erklärte Gustav mit beleidigter Miene. »Sie sind ganz bedeutend, sage ich dir.«
»Wir wollen es hoffen!« meinte Sandow. »Und nun zu dem Geschäftlichen. Es betrifft die Sache, die ich gemeinschaftlich mit einem New Yorker Geschäftsfreunde in die Hand zu nehmen beabsichtige. Er hat bereits mit dir darüber gesprochen, wie er mir schreibt, und ich habe dir gestern die Korrespondenz zum Einblick gegeben. Du bist also einigermaßen orientiert in der Sache.«
»Allerdings bin ich das.« Gustav war auf einmal ernst geworden, und die Antwort klang ganz anders als der heitere, sorglose Ton, den er bisher angeschlagen. Sandow nahm jedoch keine Notiz davon, er fuhr fort:
»Du weißt, daß wir im Westen ausgedehnte Landstrecken besitzen, die größtenteils noch nicht angebaut sind. Die Ankaufsbedingungen waren damals äußerst günstig, bei der riesigen Ausdehnung des Terrains aber konnte Jenkins die Sache nicht allein mit eigenen Mitteln unternehmen. Er wandte sich deshalb an mich und gewann mich für seinen Plan. Es glückte uns auch in der That, die Ländereien für einen sehr billigen Preis in unsere Hände zu bringen, und es handelt sich nun darum, sie möglichst vorteilhaft wieder zu verwerten; das kann aber nur geschehen, wenn sie der Ansiedlung – speziell der deutschen Ansiedlung – erschlossen werden. Wir haben alles Nötige vorbereitet und denken jetzt die Sache ernstlich in Angriff zu nehmen.«
»Nur eine Frage,« unterbrach Gustav die trockene, geschäftsmäßige Auseinandersetzung. »Kennst du deine Besitzungen aus eigener Anschauung?«
»Nun ich werde doch ein so umfangreiches Geschäft nicht ohne Besichtigung abschließen. Natürlich kenne ich sie.«
»Ich auch!« sagte Gustav lakonisch.
Sandow stutzte und trat einen Schritt zurück.
»Du? Woher? Wie ist das möglich?«
»Auf sehr einfache Weise. Mr. Jenkins, den ich auf deinen ausdrücklichen Wunsch in New York aufsuchte, erklärte mir, als von der Angelegenheit die Rede war, daß dabei hauptsächlich auf mich oder vielmehr auf meine Feder gerechnet werde. Da hielt ich es doch für notwendig, die Sache aus eigener Anschauung kennen zu lernen. Das war übrigens der alleinige Grund meiner verspäteten Ankunft und meiner ›Touristenfahrt‹, wie du es nennst. Ich wollte doch vor allen Dingen wissen, wohin man meine Landsleute zu schicken beabsichtigt.«
Sandow runzelte finster die Stirn.
»Eine ganz überflüssige Mühe, die du dir da gegeben hast! Wir pflegen hier nicht so umständlich zu Werke zu gehen. Ueberdies finde ich es sehr seltsam, daß du mir erst jetzt, eine volle Woche nach deiner Ankunft, Mitteilung davon machst. Doch gleichviel! Wir rechnen allerdings in erster Linie auf dich und deine journalistischen Verbindungen. Unsere Agenten werden freilich das Möglichste thun, aber das genügt nicht. Man ist jetzt sehr mißtrauisch gegen diese Leute geworden, und die Konkurrenz ist zu groß. Die Hauptsache ist, daß eine der großen tonangebenden Zeitungen Deutschlands, die über den Verdacht der Reklame erhaben ist, sich unseren Interessen öffnet. Du bist allerdings nicht mehr Mitarbeiter der C–schen Zeitung, aber man hat dich dort sehr ungern verloren und wird mit Vergnügen auch aus Amerika Beiträge aus deiner Feder annehmen. Eine Reihe von Artikeln, in deinem glänzenden Stil und mit deiner Beredsamkeit geschrieben, verbürgt uns den Erfolg, und wenn du nun noch deine anderweitigen journalistischen Beziehungen geschickt verwertest, um der Sache die möglichste Verbreitung zu geben, so ist kein Zweifel, daß sich im nächsten Jahre die ganze deutsche Auswanderung dorthin wendet.«
Gustav hatte schweigend zugehört, ohne ihn auch nur mit einer Silbe zu unterbrechen, jetzt aber hob er den Blick und richtete ihn fest und ernst auf das Antlitz seines Bruders.
»Du vergißt nur eine Kleinigkeit, daß sich nämlich eure Besitzungen ganz und gar nicht zur Ansiedlung eignen. Das Terrain ist so ungünstig wie nur möglich gelegen, das Klima im höchsten Grade ungesund, in gewissen Monaten geradezu verderblich. Der Boden ist nicht ertragsfähig und lohnt die riesigsten Anstrengungen mit den dürftigsten Resultaten. Die Hilfsmittel der Kultur fehlen gänzlich, und die wenigen Ansiedler, die sich hier und da vereinzelt niedergelassen haben, verkommen in Elend und Krankheiten. Sie sind schutzlos allen nur möglichen feindseligen Elementen preisgegeben, und was ihnen aus Europa folgt, wird zu Grunde gehen, wie sie.«
Sandow hatte mit immer größerem Erstaunen zugehört, so daß ihm anfangs die Worte fehlten, jetzt aber fuhr er zornig auf:
»Was sind das für unsinnige Uebertreibungen! Wer hat dir dergleichen in den Kopf gesetzt, und wie kannst du, als ein völlig Fremder, solche Verhältnisse beurteilen? Was weißt du davon?«
»Ich habe an Ort und Stelle die genauesten Erkundigungen eingezogen. Meine Nachrichten sind verbürgt.«
»Unsinn! Und wenn sie es wären, was kümmert mich das? Willst du, der noch nicht acht Tage am Kontortisch sitzt, mir vielleicht Vorschriften darüber machen, wie ich meine Spekulationen einzurichten habe?«
»Gewiß nicht! Aber wenn eine solche Spekulation die Gesundheit und das Leben von Tausenden kostet, so hat man bei uns daheim einen andern Namen dafür.«
»Und welchen?« fragte Sandow drohend, indem er dicht an seinen Bruder herantrat; aber dieser ließ sich nicht einschüchtern, sondern antwortete in festem Tone:
»Schurkerei!«
»Gustav!« fuhr Sandow wütend empor, »du wagst es –?«
»Das gilt natürlich nur dem Mr. Jenkins allein,« sagte Gustav gelassen. »Die auffallende Liebenswürdigkeit, mit der dieser Ehrenmann mich empfing und immer wieder auf die Popularität meines Namens und die glänzenden Erfolge meiner Feder zurückkam, die auch hier Wunder thun werde, machte mir die Sache von vornherein verdächtig und veranlaßte mich zu der Reise. Du kennst deine Ländereien nicht, Franz, du hast sie beim Ankauf jedenfalls nur sehr flüchtig besichtigt. Jetzt aber, wo ich dir die Augen geöffnet habe, wirst du dir die Beweise für meine Behauptungen holen und dann jene Spekulation fallen lassen.«
Sandow schien wenig geneigt, den Ausweg zu benützen, den sein Bruder ihm offen ließ.
»Wer sagt dir denn das?« fragte er hart. »Denkst du, ich werde die Hunderttausende, die ich in jene Ländereien gesteckt habe, so ohne weiteres aufgeben, nur weil dir einige sentimentale Bedenken aufgestiegen sind? Das Terrain ist so gut oder so schlecht, wie hundert andre, und die Einwandrer haben überall mit den Einflüssen des Klimas und des Bodens zu kämpfen. Mit der nötigen Zähigkeit werden sie das schon überwinden. Es wäre nicht die erste deutsche Kolonie, die sich unter den allerungünstigsten Verhältnissen entwickelt hat.«
»Nachdem Hunderte und aber Hunderte daran zu Grunde gegangen sind! Das heißt denn doch den fremden Boden allzu kostbar düngen mit deutschem Leben!«
Sandow biß sich auf die Lippen. Er hielt augenscheinlich nur mit Mühe an sich, und seine Stimme klang dumpf und grollend, als er erwiderte:
»Wer hieß dich denn überhaupt auf eigene Hand dorthin reisen? Die übertriebene Gewissenhaftigkeit ist hier schlecht am Platze, und übrigens nützt sie auch gar nichts. Wenn ich nicht auf Jenkins' Vorschlag einging, so waren zehn andere da, die das mit der größten Bereitwilligkeit thaten. Von ihm ging die Idee aus, und ich muß es anerkennen, daß er sich gerade an mich zuerst wandte.«
»Gerade an dich – den Deutschen! Das war allerdings ein Zeichen besonderer Hochschätzung von seiten dieses Amerikaners.«
Es war eigentümlich, daß derselbe Mann, der noch vor einer Viertelstunde sich so ängstlich besorgt zeigte, seine Herzenswahl vor dem gestrengen Bruder zu verbergen, weil sie ihm mißfallen konnte, diesem Bruder jetzt so kühn und unerschrocken die Stirn bot in einer Angelegenheit, die ihn persönlich gar nicht berührte. Sandow, obwohl er von jener Unterredung mit Jessy nichts wußte, war doch im höchsten Grade befremdet durch dieses Auftreten.
»Du kehrst ja ganz plötzlich den moralischen Helden hervor,« spottete er. »Das stimmt nicht gerade mit den sehr materiellen Beweggründen, die dich herführten. Du hättest dir die Sache vorher klar machen sollen. Wenn du Teilnehmer meines Hauses sein willst, so mußt du auch sein Interesse über alles setzen, und in diesem Interesse fordere ich, daß du jene Artikel schreibst und dafür sorgst, daß sie an der betreffenden Stelle erscheinen. Hörst du, Gustav? Du wirst das unter allen Umständen thun.«
»Um meine Landsleute in jenen elenden Sumpf- und Fiebergegenden verderben zu lassen – nein!«
»Ueberlege dir die Sache, ehe du ein so entschiednes Nein aussprichst,« mahnte Sandow mit eisiger Kälte, hinter der sich aber eine unverkennbare Drohung barg. »Es ist die erste Forderung, die ich an dich stelle; verweigerst du mir gleich diese, so ist ein Zusammengehen überhaupt nicht möglich. Es liegt in meiner Hand, die Verabredung zwischen uns wieder rückgängig zu machen. Bedenke das!«
»Franz, du wirst mich doch nicht zwingen wollen –«
»Ich zwinge dich zu nichts, ich erkläre dir nur, daß wir geschieden sind, wenn du auf deiner Weigerung beharrst. Willst du die Folgen davon tragen, so thue es, ich bleibe bei meiner Bedingung.«
Er beugte sich über seinen Schreibtisch und nahm einige der dort liegenden Papiere, die er in seine Brieftasche steckte. Gustav stand schweigend da, den Blick auf den Boden geheftet, auf seiner Stirne lag ein finsterer Schatten.
»Und gerade jetzt, wo Frieda auf dem Wege ist!« murmelte er. »Unmöglich, das kann ich nicht opfern.«
»Nun?« fragte Sandow, indem er sich wieder umwandte.
»Laß mir wenigstens Bedenkzeit. Die Sache kommt mir so plötzlich, so unerwartet – ich werde es mir überlegen.«
Der ältere Bruder war sehr befriedigt von diesem Einlenken, er hatte freilich nicht daran gezweifelt, daß seine Drohung ihre Wirkung thun werde.
»Gut, auf eine Woche früher oder später kommt es nicht an. Ich hoffe, du wirst Vernunft annehmen und einsehen, daß man mit den hiesigen Verhältnissen rechnen muß. Aber nun komm, es ist die höchste Zeit, daß wir nach dem Büreau fahren. Und noch eins, Gustav! Ueberlaß dich künftig ausschließlich meiner Leitung und unternimm nicht auf eigene Hand solche Extravaganzen, wie diese Reise. Du siehst, das gibt nur Anlaß zu Streitigkeiten zwischen uns. Du erschwerst dir unnötig deine Stellung damit.«
»Ja wohl,« sagte Gustav halblaut, während er sich anschickte, dem Bruder zu folgen. »Sie ist ziemlich schwer, diese Stellung, schwerer, als ich geglaubt habe!« –
Es war Nachmittag geworden, und Jessy erwartete mit einiger Unruhe und sehr viel Neugierde den angekündigten Besuch. Gustav Sandow hatte sich noch heute morgen vor der Abfahrt benachrichtigt, daß er sich etwas früher freimachen werde, um Miß Palm vom Bahnhofe abzuholen und nach dem Landhause zu führen, noch ehe sein Bruder dort eintraf. Zur festgesetzten Stunde trat er denn auch in den Salon, ein junges Mädchen an der Hand führend.
»Miß Frieda Palm,« sagte er vorstellend. »Mein Schützling, von diesem Augenblick an unser Schützling, da Sie so gütig sein wollen, ihr ein Asyl in Ihrem Hause zu gewähren.«
Jessy fühlte sich peinlich berührt von dieser Art der Vorstellung. Also nicht einmal ihr gegenüber wagte er es, seine Braut als solche einzuführen. »Schützling«, das war ein vieldeutiges Wort.
Er wollte sich damit jedenfalls den Rückzug offen halten, wenn der Bruder sich unerbittlich zeigte. Miß Clifford beklagte von ganzem Herzen das junge Mädchen, das sich einem solchen Egoisten zu eigen gegeben, und infolge dessen fiel ihr Empfang wärmer aus, als sie anfangs beabsichtigte.
»Seien Sie mir willkommen, Miß Palm,« sagte sie freundlich. »Ich bin von allem unterrichtet und sie dürfen sich mir ohne Furcht anvertrauen. Ich pflege meine Schützlinge nicht zu verleugnen.«
Das ›Ich‹ wurde leiser, aber doch merklich hervorgehoben, aber der, an dessen Adresse es gerichtet war, blieb leider gänzlich unberührt davon. Er schien höchst vergnügt, daß sein Plan ihm gelungen war, während die junge Fremde mit leiser, etwas bebender Stimme antwortete:
»Sie sind sehr gütig, Miß Clifford, und ich wünsche nur, daß es mir gelingen möge, diese Güte zu verdienen.«
Jessy ließ den Besuch an ihrer Seite Platz nehmen, und während der ersten allgemeinen Fragen über Reise und Ankunft fand sie Muße, die künftige Hausgenossin näher zu betrachten. Es war allerdings ein noch sehr junges Mädchen, fast noch ein Kind, das kaum erst das sechzehnte Lebensjahr erreicht haben konnte, aber die zarten, kindlichen Züge zeigten einen Ausdruck von Ernst und Willenskraft, der in solchem Alter überraschen mußte. Die großen, dunkeln Augen hafteten meist am Boden, und wenn sie sich einmal emporhoben, so geschah es mit einer eigentümlichen Scheu und Befangenheit, die nicht recht zu jenem energischen Zuge paßte. Das dunkle Haar war einfach zurückgestrichen, und die tiefe Trauerkleidung ließ die junge Fremde noch bleicher erscheinen, als sie in Wirklichkeit war.
»Sie sind eine Waise?« fragte Jessy mit einem Blick auf diese Kleidung.
»Ich habe vor sechs Monaten meine Mutter verloren,« lautete die kurze, ergreifende Antwort.
Das berührte eine verwandte Saite in Jessys Brust. Auch sie trauerte ja um geliebte Eltern, und bei der Erinnerung daran legte sich ein schmerzlicher Ausdruck auf ihre Züge.
»So tragen wir das gleiche Schicksal! Auch ich bin elternlos, und erst vor Jahresfrist ist mir der Vater entrissen worden. Der Ihrige ist wohl schon längere Zeit tot?«
Die Lippen des jungen Mädchens zuckten, als sie fast unhörbar erwiderte:
»Schon seit meiner Kindheit – ich habe ihn kaum gekannt.«
»Armes Kind!« sagte Jessy mit aufwallender Teilnahme. »Es muß traurig sein, so ganz einsam und verlassen im Leben dazustehen.«
»O, ich bin nicht verlassen. Ich habe ja einen Beschützer gefunden, den edelsten, besten der Menschen!«
Es lag eine wahrhaft rührende Hingebung in den Worten, und der Blick, der dabei auf Gustav Sandow fiel, verriet eine beinahe schwärmerische Dankbarkeit; aber dieser nahm das alles mit einer empörenden Gleichgültigkeit hin, mit einer wahren Paschamiene, wie Jessy entrüstet meinte. Er schien es als ein ihm von Rechts wegen gebührendes Kompliment zu betrachten und entgegnete in seinem gewohnten spöttischen Tone:
»Sie sehen, Miß Clifford, in welchem Rufe ich bei Frieda stehe. Ich wäre glücklich, wenn Sie sich auch zu dieser Ansicht bekennen wollten, was ich leider nicht hoffen darf.«
Jessy ignorierte diese Bemerkung. Sie fand die Art, wie er die Hingebung seiner Braut aufnahm und gewissermaßen noch darüber spottete, ganz abscheulich und wandte sich wieder zu Miß Palm.
»Vorläufig kann nur ich Sie willkommen heißen. Mein Vormund kennt Sie ja noch nicht einmal, doch das wird in kürzester Frist geschehen, und ich wünsche von ganzem Herzen, daß es Ihnen gelingen möge, seine Sympathie zu erwerben.«
Frieda gab keine Antwort; sie streifte mit einem seltsam scheuen Blick die Sprechende und sah dann stumm zu Boden. Jessy war etwas befremdet über diese Aufnahme ihrer so freundlich gemeinten Worte, als Gustav sich einmischte.
»Sie werden anfangs noch viel Nachsicht mit Frieda haben müssen. Es wird ihr schwer, sich den fremden Verhältnissen anzubequemen, und die Rolle, die sie notgedrungen hier im Hause spielen muß, drückt und verschüchtert sie.«
»Notgedrungen – auf Ihre Bestimmung!« konnte sich Jessy nicht enthalten, einzuwerfen.
»Ja, das ist nun einmal nicht anders. Jedenfalls kennt sie diese Bestimmung und weiß, daß es der einzige Weg ist, um zu unserm Ziele zu gelangen. Nicht wahr, Frieda, du vertraust mir darin unbedingt?«
Frieda streckte ihm statt aller Antwort die Hand entgegen mit einem Ausdruck, der wohl jeden Liebenden veranlaßt haben würde, die kleine Hand an seine Lippen zu ziehen. Dieser Bräutigam aber behielt sie ganz ruhig in der seinen; er nickte gönnerhaft mit dem Kopfe und sagte: »Das wußte ich ja!«
»Ich werde thun, was nur in meinen Kräften steht, um Ihnen das Peinliche in Ihrer Stellung zu erleichtern,« versicherte Jessy. »Und nun darf ich Sie wohl sogleich hier behalten?«
»Wir möchten das lieber bis morgen aufschieben,« meinte Gustav. »Es würde meinen Bruder doch sehr überraschen, wenn er eine ihm bisher völlig Fremde, von deren Ankunft er noch nicht einmal gehört hat, sogleich als Hausgenossin findet. Das könnte von vornherein sein Mißtrauen wecken. Ich halte es für besser, wenn Frieda für heute nach dem Hotel zurückkehrt, wo ich mit ihr vorgefahren bin, um ihre Sachen abzugeben und sie anzumelden. Im Laufe des Abends wird sich ja wohl Gelegenheit finden, ihrer zu erwähnen und die Uebersiedlung möglichst zwanglos einzuleiten.«
Jessy ärgerte sich über den Vorschlag um so mehr, als sie seine Zweckmäßigkeit anerkennen mußte.
»Sie sind unglaublich vorsichtig, Mr. Sandow! Ich bewundre wirklich diese Umsicht und diese kluge Berechnung aller möglichen Nebenumstände.«
Gustav verbeugte sich, als habe er wirklich ein Kompliment erhalten.
»Ja, ja, Frieda,« sagte er auf den erstaunt fragenden Blick des jungen Mädchens bei diesen fortwährenden Plänkeleien. »Miß Clifford und ich bewundern uns gegenseitig ganz außerordentlich. Du siehst es ja, welche Hochachtung wir für einander haben. Aber nun ist es Zeit, daß wir gehen, sonst überrascht uns mein Bruder noch hier.«
Frieda erhob sich gehorsam; Jessy fühlte ein tiefes Mitleid mit dem armen Kinde, das sich so willenlos den eigennützigen Plänen des Verlobten fügte, und entließ sie mit herzlichem Abschied.
Gustav geleitete Miß Palm zu dem Wagen, der draußen gewartet hatte, um sie nach dem Hotel zurückzubringen; aber gerade, als sie die Treppe hinunterstiegen, fuhr ein zweiter Wagen vor, und Sandow, der nach dem Schluß der Geschäftsstunden aus seinem Büreau zurückkehrte, stieg aus.
»Mein Bruder!« sagte Gustav leise.
Miß Palm mußte diesen gestrengen Bruder wohl sehr fürchten, denn sie wurde plötzlich totenbleich und machte eine unwillkürliche Bewegung, als wolle sie fliehen, während ihr Arm heftig in dem ihres Begleiters bebte.
»Frieda!« sagte dieser in ernstem, vorwurfsvollem Tone.
Die Mahnung fruchtete wenigstens einigermaßen.
Frieda strebte sich zu fassen, aber ihre Furcht war jedenfalls nicht die einer verschüchterten Taube. In dem Blick, mit dem sie dem Kommenden entgegen sah, lag ein düsterer, fast wilder Trotz, und jener energische Zug in ihrem Antlitz trat so deutlich hervor, als gelte es schon jetzt, auf der Stelle, einen Kampf mit dem feindseligen Manne, den sie doch gewinnen sollte.
Sandow war inzwischen näher gekommen und traf im Vestibül mit den beiden zusammen. Er grüßte flüchtig, schien aber sehr überrascht, seinen Bruder an der Seite einer ihm völlig Fremden zu erblicken.
Frieda erwiderte den Gruß, ohne stehen zu bleiben, sie strebte vielmehr mit einer angstvollen Hast vorwärts und vereitelte dadurch jede Möglichkeit einer Vorstellung. Gustav sah ein, daß er ihr diese jetzt nicht zumuten dürfe, so hob er sie denn in den Wagen, schloß die Thüre und gab dem Kutscher das Hotel an.
»Wer war denn dies junge Mädchen?« fragte Sandow, der stehen geblieben war, um den Bruder zu erwarten.
»Eine gewisse Miß Palm,« versetzte dieser leichthin. »Eine Bekannte von Miß Clifford.«
»Und bei der leistest du Ritterdienste?«
»Nicht doch, den Ritterdienst habe ich Miß Clifford geleistet. Ich holte auf ihren Wunsch die junge Dame, für die sie sich sehr zu interessieren scheint, vom Bahnhofe ab und geleitete sie hierher. Du weißt ja, daß ich mich heute früher frei machen mußte.«
»Sieh da, bist du schon so vertraut mit Jessy, daß sie dir dergleichen Aufträge gibt?« sagte Sandow, sehr angenehm berührt von diesem vermeintlichen Fortschritt seines Bruders, während sie zusammen die Treppe hinaufstiegen und den Korridor entlang schritten. Beim Eintritt in den Salon nahm Gustav die Sache sogleich energisch in Angriff.
»Mein Bruder hat Ihren Schützling bereits gesehen, Miß Clifford,« begann er. »Wir trafen unten im Vestibül zusammen.«
»Was ist denn das für eine neue Bekanntschaft, Jessy?« fragte Sandow mit einem bei ihm sonst nicht gewöhnlichen Interesse. »Ich habe ja noch nichts davon gehört.«
Jessy fühlte erst jetzt, wo es die erste Unwahrheit galt, die ganze Schwere der übernommenen Verpflichtung; indessen sie war einmal so weit gegangen und mußte nun notgedrungen vorwärts. Sie entgegnete daher etwas zögernd:
»Es ist eine junge Deutsche, die mir von New York aus dringend empfohlen wurde. – Sie kommt hierher, um sich eine Stellung als Gesellschafterin zu suchen – und da wollte ich – ich dachte –«
»Ja, Sie sind in Ihrer Güte wirklich sehr weit gegangen!« fiel Gustav ein. »Diese Miß Palm scheint sich Ihre Sympathien förmlich im Sturme erobert zu haben. Denke nur, Franz, Miß Clifford hat ihr das eigene Haus angeboten und beabsichtigt im vollen Ernste, sie zu unsrer Hausgenossin zu machen.«
Jessy warf ihm einen entrüsteten Blick zu, konnte aber doch nicht umhin, die ihr gebotene Hilfe anzunehmen.
»Ich habe Miß Palm allerdings für einige Wochen eingeladen,« entgegnete sie. »Wenn du nichts dagegen hast, Onkel Sandow.«
»Ich?« fragte dieser zerstreut, während sein Blick schon wieder die Abendzeitungen suchte, die draußen auf dem Gartentisch der Terrasse lagen. »Du weißt ja, daß ich mich nie in deine häuslichen Angelegenheiten mische. Es wird für dich ganz angenehm sein, eine Zeitlang Gesellschaft zu haben, und wenn das junge Mädchen dir hinreichend empfohlen ist, so richte die Sache ganz nach deinem Belieben ein;« damit trat er auf die Terrasse hinaus und bemächtigte sich der Zeitungen.
»Ich sah, daß ich Ihnen zu Hilfe kommen mußte, Miß Clifford,« sagte Gustav halblaut. »Sie sind doch noch recht unbewandert im Lügen.«
»Sie machen mir wohl gar noch einen Vorwurf daraus?« fragte Jessy mit gleichfalls gesenkter, aber zornbebender Stimme. »Allerdings habe ich es darin noch nicht zu einer solchen Virtuosität gebracht, wie Sie.«
»O, das lernt sich mit der Zeit!« meinte Gustav ganz gelassen. »Wenn Sie in Verlegenheit sind, wenden Sie sich nur immer an mich. Darin stelle ich meinen Mann.«
»Gustav, hast du schon die heutigen Abendzeitungen gelesen?« tönte Sandows Stimme von der Terrasse her. »An den deutschen Börsen geht es sehr lebhaft zu, die Kurse steigen bedeutend. Hier in deinem ehemaligen Journal findest du einen ausführlichen Bericht darüber.«
»Ah, steigen sie wirklich?« fragte Gustav, gleichfalls hinaustretend, indem er die deutsche Zeitung nahm, die sein Bruder ihm hinreichte. Dieser vertiefte sich sofort wieder in ein anderes Blatt, und so sah er es nicht, wie Gustav mit souveräner Verachtung den Kursbericht umschlug, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen, und seine ganze Aufmerksamkeit dem Leitartikel zuwandte, der die politische Lage behandelte.
Jessy folgte ihm mit den Augen, und als sie ihn so eifrig über den vermeintlichen Kursbericht gebeugt sah, warfen sich ihre Lippen verächtlich auf, während sie flüsterte:
»Das arme, arme Kind! Was wird ihr Los sein an der Seite eines solchen Egoisten?«
* *
*
Der ebenso geschickt als glücklich eingeleitete Plan Gustavs war nun wirklich zur Ausführung gekommen. Die Aufnahme der jungen Fremden, die schon am nächsten Tage stattfand, machte sich so einfach und zwanglos, daß Sandow nicht den mindesten Verdacht schöpfte. Aber Frieda war und blieb fremd in dem fremden Hause, so sehr sie auch bestrebt war, sich dankbar zu erzeigen. Vielleicht bedrückten sie die ungewohnten glänzenden Umgebungen, die wohl im schärfsten Gegensatz zu der Einfachheit ihres bisherigen Lebens stehen mochten. Sie blieb schweigsam und verschlossen, und all die Freundlichkeit, mit der Jessy ihr entgegenkam, vermochte es nicht, ihre scheue Zurückhaltung zu besiegen.
Miß Clifford versuchte es vergebens, irgend etwas Näheres über die Familienverhältnisse oder das frühere Leben ihres Schützlings zu erfahren. Frieda schien solchen Gesprächen absichtlich auszuweichen, und selbst die so herzlich kundgegebene Teilnahme entriß ihr kein Wort des Vertrauens. Das befremdete Jessy natürlich, und um so mehr, als sie bald entdeckte, daß das junge Mädchen keineswegs zu jenen weichen Naturen gehörte, die vor allem Ungewohnten und Schweren scheu zurückbeben. Im Gegenteil, Frieda verriet oft unbewußt in einzelnen Aeußerungen eine ganz energische Willenskraft, eine zurückgedrängte aber tiefe Leidenschaftlichkeit. Und dennoch diese sklavische Fügsamkeit und Unterordnung unter einen fremden Willen – es war unbegreiflich!
Gustav spielte seine Rolle um so besser. Er zeigte sich in Gegenwart seines Bruders artig aber vollkommen fremd der neuen Hausgenossin gegenüber. Nie verriet ein Wort, ein noch so leises Zeichen des Einverständnisses, daß sie ihm näher stehe; nie verlor er auch nur einen Augenblick lang seine Selbstbeherrschung. Dabei war er liebenswürdiger und übermütiger als je, und setzte allen Versuchen Jessys, ihn ihre Verachtung fühlen zu lassen, eine so schlagfertige Ironie entgegen, daß sie stets den kürzeren zog.
Sandow selbst beachtete das junge Mädchen wenig. Er hatte ja überhaupt nicht viel Aufmerksamkeit und Interesse für häusliche Angelegenheiten. Den größten Teil des Tages brachte er in der Stadt auf seinem Büreau zu, und während der Morgen- und Abendstunden in seiner Villa, die jeder andere der Erholung gewidmet hätte, pflegte er sich in sein Arbeitszimmer zurückzuziehen und dort seine geschäftliche Thätigkeit fortzusetzen.
Er sah Frieda nur bei den Mahlzeiten und behandelte sie dann mit gleichgültiger Höflichkeit; sie ihrerseits machte nie einen Versuch zur Annäherung; obgleich sie doch gerade deswegen hier war. Aber entweder besaß sie kein Geschick dazu, oder ihr Gehorsam scheiterte gerade hier, wo es sich um die Erfüllung ihrer Aufgabe handelte. Jedenfalls waren sie und der Mann, in dessen Hause sie jetzt lebte, sich nach acht Tagen noch ebenso fremd, wie bei der ersten Begegnung.
Die beiden Herren waren soeben aus der Stadt zurückgekehrt, und man saß bei Tische. Gustav, der wie gewöhnlich die Hauptkosten der Unterhaltung trug, schilderte den Damen in höchst ergötzlicher Weise einen Vorfall, der sich am heutigen Vormittage auf dem Büreau zugetragen hatte. Sandow, der es nicht liebte, wenn irgend etwas, was das Geschäft betraf, ins Lächerliche gezogen wurde, warf einige unmutige Bemerkungen dazwischen, aber der Bruder kehrte sich nicht daran, sondern fuhr fort, seine Zuhörerinnen mit der Erzählung des allerdings komischen Mißverständnisses zu amüsieren.
»Ich versichere Ihnen, meine Damen, er war unvergleichlich, dieser übereifrige Agent von Jenkins und Kompanie, der stehenden Fußes aus New York herkam und in mir einen ansiedelungsbedürftigen Farmer zu entdecken glaubte. Er wollte mir mit aller Gewalt irgend einen Landbesitz am Ende der Welt aufdrängen und sah ganz verzweifelt aus, als mein Bruder endlich eintrat und das Mißverständnis sich löste.«
»Du hast es ja selbst veranlaßt,« sagte Sandow ärgerlich. »Du hast den Mann so mit allen möglichen Fragen und Erkundigungen in die Enge getrieben, daß er schließlich auf den Irrtum verfallen mußte.«
»Sehe ich aus wie ein angehender Farmer?« rief Gustav. »Es ist das erste Mal in meinem Leben, daß man mir eine Begeisterung für Hacke und Spaten zutraut. Das wäre wenigstens ein ganz neues Feld der Thätigkeit, auf dem ich mich versuchte. Ich fürchte nur, ich würde dort noch weniger leisten, als in deinem Büreau.«
»Das möchte schwer sein,« meinte Sandow trocken; aber der jüngere Bruder lachte nur über diese Rüge und bemerkte gegen Miß Clifford, es sei unbegreiflich, daß seine ausgezeichneten Leistungen am Kontortisch von keiner Seite die gebührende Anerkennung fänden.
Frieda war bei den letzten Reden aufmerksam geworden. Sie pflegte sich sonst niemals unaufgefordert in die Unterhaltung zu mischen; diesmal aber hörte sie mit gespanntem Interesse zu und wandte sich plötzlich an Gustav mit der Frage:
»Jenkins und Kompanie? – die große Firma in New York, die jetzt überall Anzeigen erläßt und Agenten ausschickt für die deutsche Auswanderung?«
»Ganz recht, Miß Palm,« bestätigte der Gefragte. »Ist Ihnen die Firma bekannt?«
»Mir nicht, ich war ja überhaupt nur einige Wochen in New York, aber in der deutschen Familie, in der ich dort lebte, war sehr oft davon die Rede. Man sprach mit tiefer Besorgnis davon, und sah es als ein Unglück an, daß dieser Jenkins nun auch die Auswanderung in den Kreis seiner Spekulationen zieht.«
»Wie so? Steht der Herr in keinem guten Rufe?« fragte Gustav anscheinend unbefangen.
»Das muß wohl der Fall sein. Es hieß, er sei einer der gewissenlosesten Spekulanten, der durch allerlei schlimme Manöver reich geworden sei, und sich nicht einen Augenblick bedenken werde, die Wohlfahrt aller, die sich ihm anvertrauen, seiner Gewinnsucht zum Opfer zu bringen.«
Jessy saß in peinlichster Verlegenheit da bei dieser ganz ahnungslosen Bemerkung. So fern sie auch den geschäftlichen Angelegenheiten ihres Vormundes stand, so wußte sie doch aus gelegentlichen Aeußerungen von seiner Geschäftsverbindung mit der genannten Firma. Sandow biß sich auf die Lippen und war im Begriff, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, als sein Bruder mit allem Nachdruck sagte:
»Da müssen Sie wohl falsch berichtet sein, Miß Palm, Jenkins und Kompanie gehören zu unsern intimen Geschäftsfreunden. Wir stehen schon seit Jahren in Verbindung.«
Frieda erbleichte, aber es war nicht Verlegenheit, sondern ein tiefes Erschrecken, das sich in ihren Zügen malte, als könne und wolle sie nicht glauben, was sie soeben gehört hatte. Jetzt nahm auch Sandow das Wort und sagte in scharfem Tone:
»Sie sehen, Miß Palm, wie peinlich es bisweilen werden kann, wenn man solchen böswilligen Gerüchten glaubt und sie sogar nachspricht. Mein Bruder hat recht, Mr. Jenkins ist mein Geschäftsfreund, ist es schon seit längerer Zeit.«
»Dann bitte ich um Verzeihung; ich hatte keine Ahnung davon,« entgegnete Frieda leise, aber ihre Blässe wurde noch tiefer, und plötzlich schlug sie die Augen groß und voll zu dem Manne auf, vor dem sie sich sonst immer scheu senkten. Es stand etwas Seltsames in diesen großen dunkeln Augen, etwas wie ein banger Zweifel, wie eine angstvolle Frage, und Sandow mochte das fühlen, der stolze, starrsinnige Kaufmann, der nie einen Widerspruch duldete und all die Einwendungen seines Bruders so herrisch zu Boden geschlagen hatte; er konnte diesen Blick nicht ertragen. Er wandte sich heftig ab, ergriff das vor ihm stehende Weinglas und leerte es auf einen Zug.
Es war ein peinliches Schweigen eingetreten, das mehrere Minuten dauerte. Jessy versuchte es endlich, ein anderes Thema anzuschlagen, und Gustav unterstützte sie dabei nach Kräften, aber sie sprachen beide fast allein.
Sandow schien seiner Verstimmung nicht Herr werden zu können, und Frieda saß wortlos da und sah auf ihren Teller nieder. Es war allen eine Erleichterung, als die Mahlzeit zu Ende war.
Die Damen verließen das Eßzimmer, und Gustav war eben im Begriff, ihnen zu folgen, als sein Bruder ihn zurückrief.
»Was hältst du eigentlich von dieser Miß Palm?«
»Das ist schwer zu sagen. Ich habe noch nicht viel mit ihr gesprochen, sie scheint sehr scheu und zurückhaltend zu sein.«
»Dem äußeren Anschein nach freilich, aber ich glaube nicht daran. In ihren Augen wenigstens liegt alles andere eher, als Schüchternheit. Seltsame Augen! Ich habe sie heute zum erstenmale recht gesehen und sinne vergebens nach, wo ich ihnen schon begegnet bin. Das junge Mädchen ist erst seit kurzem in Amerika?«
»Seit ungefähr vier Wochen, wie ich von Miß Clifford hörte.«
»Ich erinnere mich, Jessy sagte es mir. Und dennoch liegt etwas Bekanntes für mich in diesen Zügen, wenn ich es auch nicht enträtseln kann.«
Gustav streifte mit einem langen, prüfenden Blicke die Züge seines Bruders, während er anscheinend gleichgültig antwortete:
»Vielleicht ist es eine flüchtige Aehnlichkeit, die dir auffällt.«
»Aehnlichkeit – mit wem?« fragte Sandow zerstreut, indem er den Kopf in die Hand stützte und in tiefes Nachsinnen verloren vor sich hinsah. Auf einmal aber richtete er sich empor und sagte, wie im Aerger über das ihm wider Willen abgezwungene Interesse:
»Ihre Bemerkung bei Tische war im höchsten Grade taktlos.«
»Daran war sie zum mindesten unschuldig,« wandte Gustav ein. »Sie konnte keine Ahnung von deiner Verbindung mit Jenkins haben, sonst hätte sie sicher geschwiegen. Sie sprach eben nur nach, was sie gehört hatte. Du siehst, in welchem Rufe dein ›Geschäftsfreund‹ steht.«
Sandow zuckte verächtlich die Achseln.
»Bei wem denn? Bei einigen sentimentalen Deutschen, die ihre beschränkten, kleinbürgerlichen Begriffe aus Europa mit herübergebracht haben, und es absolut nicht einsehen wollen, daß Handel und Wandel hier bei uns auf ganz anderen Grundlagen beruht. Wer hier gewinnen will, der muß auch wagen und ganz anders wagen, als ihr da drüben, ohne sich von kleinlichen Rücksichten beengen zu lassen. Clifford war auch einer von den Aengstlichen, Bedenklichen. Ich habe oft genug Mühe und Not gehabt, ihn vorwärts zu treiben. Darum hat er auch bis zu meiner Ankunft nur in mäßigem Wohlstande gelebt; erst als die Leitung des Geschäftes in meinen Händen lag, wurde er zum reichen Manne und unsere Firma trat in den Rang der ersten ein. Doch da wir einmal von Jenkins sprechen – du hast nun hinreichend Zeit gehabt, dir meine Forderung zu überlegen, und ich erwarte jetzt endlich deine bestimmte Zusage wegen des besprochenen Artikels.«
»Du bist also noch immer entschlossen, die Sache gemeinsam mit Jenkins zu unternehmen?«
»Gewiß! Denkst du, daß ich meine Geschäftsinteressen von heute auf morgen ändere, oder glaubst du, daß mich ein Kindergeschwätz, wie wir es vorhin hörten, darin irre machen kann?«
»Das glaube ich allerdings nicht, aber eben deshalb befremdete es mich, daß du vor diesem Kindergeschwätz das Auge niederschlugest.«
»Gustav, nimm dich in acht,« mahnte Sandow mit mühsam verhaltener Gereiztheit. »Ich ertrage von dir mehr, als von jedem andern, aber diese Sache wird uns noch ernstlich entzweien. Ich habe es wohl durchschaut, daß du das Mißverständnis mit dem Agenten absichtlich veranlaßt hast, um zu erfahren, wie weit seine Instruktionen gehen, und ich weiß auch, wem die Bemerkung galt, mit der du Miß Palm zurechtwiesest. Aber auf solchem Wege erreichst du nichts bei mir. Was ich einmal beschlossen habe, das wird auch ausgeführt, und ich stelle dir noch einmal die Wahl zwischen dem entweder – oder! Wenn du mir deine Mitwirkung verweigerst –«
»Du irrst,« unterbrach ihn Gustav. »Ich habe bereits vor einigen Tagen an die C–sche Zeitung geschrieben und den Raum für einen längeren Artikel beansprucht, den man aus meiner Feder natürlich sehr gerne annimmt. Er wird wahrscheinlich schon im nächsten Monat erscheinen.«
Sandow stutzte. Diese ganz unerwartete Nachgiebigkeit befremdete ihn doch, und mit einem gewissen Mißtrauen fragte er:
»Du wirst mir den Artikel doch vorlegen, ehe du ihn absendest?«
»Gewiß, du sollst ihn Wort für Wort lesen.«
Die umwölkte Stirn des Kaufmannes begann sich aufzuhellen.
»Das ist mir lieb, sehr lieb! Es wäre mir peinlich gewesen, wenn eine Weigerung deinerseits zu einem Bruche zwischen uns geführt hätte.«
»Meinetwegen oder wegen des Cliffordschen Vermögens, das ich dir sichern soll?« fragte Gustav mit aufwallender Bitterkeit.
»Jessys Vermögen ist bei diesem Unternehmen gar nicht beteiligt,« erklärte Sandow kurz und entschieden. »Es liegt größtenteils fest in sicheren Werten, und Clifford hat im Testamente ausdrücklich bestimmt, daß das Erbteil seiner Tochter bis zu ihrer Mündigkeit oder Vermählung zu keinen Spekulationen herangezogen werden darf. Wenn es also dein zartes Gewissen beruhigt, so kann ich dich versichern, daß deine künftige Frau mit keinem Dollar an der Sache beteiligt ist. Ich habe sie auf eigene Rechnung und Gefahr übernommen und Gewinn wie Verlust sind meine Sache.«
Er stand auf, um zu gehen; Gustav erhob sich gleichfalls.
»Noch eine Frage, Franz; du bist mit sehr bedeutenden Summen beteiligt?«
»Mit der Hälfte meines Vermögens! Du siehst, daß der Erfolg hier für mich eine Notwendigkeit ist, deshalb freut es mich, daß wir in der Hauptsache einig sind. Ich wiederhole es dir, die Begriffe spießbürgerlicher Moral passen nicht für unsere hiesigen Verhältnisse; du wirst das über kurz oder lang selbst einsehen und mir beipflichten.«
»Mit der Hälfte seines Vermögens!« murmelte Gustav, dem Voranschreitenden folgend, »das ist schlimm, sehr schlimm! Da gilt es, mit der größten Vorsicht zu operieren!«
Im Salon befand sich niemand, als die beiden Brüder eintraten, aber draußen auf der Terrasse stand Frieda. Sie mußte die Kommenden wohl nicht bemerkt haben, denn als Sandow zu ihr hinaustrat und sie sich hastig umwandte, sah man es deutlich, daß sie soeben geweint hatte. So rasch sie auch mit dem Taschentuch über das Gesicht fuhr, die Thränen ließen sich nicht verbergen. Es war sonst nicht die Art des Kaufmannes, große Rücksicht zu zeigen; hier mochte er aber wohl die Thränen des jungen Mädchens auf Rechnung jenes peinlichen Vorfalls bei Tische setzen, und in einer Aufwallung von Teilnahme versuchte er, ihr darüber wegzuhelfen.
»Sie brauchen Ihre Thränen nicht so ängstlich zu verbergen, Miß Palm,« sagte er. »Sie haben vermutlich Heimweh hier in dem fremden Lande?«
Er schien damit wider Erwarten das Richtige getroffen zu haben, denn es lag eine überzeugende Wahrheit in dem schmerzdurchzitterten Tone, mit dem Frieda antwortete:
»Ja – ein unsagbares Heimweh!«
»Natürlich, Sie sind ja erst seit einigen Wochen hier,« sagte Sandow gleichgültig. »Das geht allen Deutschen so, aber es verliert sich bald genug. Wenn man nur Glück hat in der neuen Welt, dann vergißt man gerne die alte, und ist schließlich froh, ihr den Rücken gekehrt zu haben. – Sehen Sie mich doch nicht so entsetzt an, als ob ich Ihnen etwas Unglaubliches verkündete. Ich spreche aus eigener Erfahrung.«
Frieda hatte in der That entsetzt aufgesehen. Ihre Augen schimmerten noch feucht, aber es sprühte darin wie Zorn und Unwille, als sie heftig ausrief:
»Das kann nicht Ihr Ernst sein, Mr. Sandow! Ich sollte meine Heimat vergessen, aufgeben, selbst in der Erinnerung? – nimmermehr!«
Sandow schien etwas befremdet von diesem leidenschaftlichen Proteste des stillen Mädchens, aber um seine Lippen spielte ein halb verächtliches, halb mitleidiges Lächeln, während er erwiderte:
»Ich rate Ihnen aber wohlmeinend, das zu lernen. Das Unglück der meisten Deutschen hier in Amerika ist eben, daß sie so eigensinnig an der Vergangenheit festhalten und oft darüber Gegenwart und Zukunft versäumen. Das Heimweh ist auch eine von jenen krankhaften, künstlich aufgeregten Empfindungen, die für sehr poetisch und gemütvoll gelten und im Grunde doch nur ein unnützer Hemmschuh im Leben sind. Wer hier vorwärts kommen will, der muß den Kopf klar und die Augen offen behalten, um jede günstige Chance sofort zu ergreifen und auszunutzen. Sie sind ja auch in die Notwendigkeit versetzt, sich hier eine Existenz suchen zu müssen, und da taugt dies weichliche Sehnen und Träumen nun vollends nicht.«
So hart und herzlos die Worte auch klangen, sie waren vollkommen aufrichtig gemeint. Jene unvorsichtige Aeußerung über den ›Geschäftsfreund‹, die den Kaufmann eher hätte reizen und erbittern sollen, schien im Gegenteil sein Interesse für das junge Mädchen erweckt zu haben, das er bis dahin kaum beachtet hatte.
Frieda widersprach nicht mit Worten diesen Lehren, die er sich herabließ, ihr zu geben, und die sie bis in das innerste Herz hinein erkälteten. Was, hätte sie auch darauf erwidern sollen? Aber ihr fragender, vorwurfsvoller Blick sagte genug, und diese ernsten, dunkeln Augen schienen nun einmal eine seltsame Wirkung auf den sonst so unzugänglichen Mann zu üben. Diesmal wich er ihnen nicht aus, sondern blickte unverwandt hinein, und plötzlich sagte er in einem wie unwillkürlich gemilderten Tone:
»Sie sind noch sehr jung, Miß Palm, viel zu jung, um so ganz allein in die weite Welt hinauszugehen. Hatten Sie denn drüben in Ihrer Heimat niemand, der Ihnen eine Zuflucht bieten konnte?«
»Nein – niemand!« kam es leise, fast unhörbar, von den Lippen des jungen Mädchens.
»Freilich, Sie sind eine Waise! Und der Verwandte, der Sie zu sich nach New York rief, starb, während Sie sich noch auf der Reise befanden? – so hörte ich wenigstens von meiner Nichte.«
Die leise Bewegung, mit der Frieda den Kopf neigte, sollte wohl eine Bejahung sein, aber dabei stieg eine dunkle Röte in ihrem Gesichte auf und ihr Blick suchte den Boden.
»Das ist allerdings traurig. Wie war es Ihnen denn möglich, in New York eine passende Unterkunft zu finden, da Sie ganz fremd waren?«
Die Glut auf den Wangen des jungen Mädchens wurde noch dunkler.
»Meine Reisegefährten nahmen sich meiner an,« sagte sie zögernd. »Man brachte mich zu Landsleuten, zu dem Pfarrer einer deutschen Gemeinde, wo ich die herzlichste Aufnahme fand.«
»Und dieser Herr empfahl Sie meiner Nichte? Ich weiß, ihre Mutter hatte zahlreiche Verbindungen in New York, und Jessy setzt einige jener Korrespondenzen fort. Sie hat sich Ihrer übrigens mit so warmer Teilnahme angenommen, daß Sie hinsichtlich der Zukunft unbesorgt sein dürfen. Mit den Empfehlungen des Cliffordschen Hauses wird es Ihnen nicht schwer werden, in unserer Stadt irgend eine passende Stellung zu finden.«
Frieda war augenscheinlich noch ebenso unbewandert im Lügen, wie Jessy. Vor dieser hatte es freilich nie der Verstellung bedurft, da sie von Anfang an im Einverständnis gewesen war, aber dem Herrn des Hauses gegenüber mußte die einmal übernommene Rolle durchgeführt werden, zumal jetzt, wo er zum erstenmale eine Art von Interesse zeigte. Das Aussehen des jungen Mädchens verriet, wie schwer ihr diese Rolle wurde. Sie brachte kein Wort über die Lippen. Sandow kannte sie zwar als scheu und schweigsam, aber dies hartnäckige Schweigen schien ihn zu ärgern. Da er keine Antwort erhielt, so drehte er sich kurz um und ging hinunter in den Garten.
Frieda atmete auf, als sei sie von einer Pein erlöst, und kehrte rasch in den Salon zurück. Hier aber wurde sie von Gustav in Empfang genommen, der sich scheinbar gleichgültig im Hintergrunde gehalten hatte, dem aber kein Wort des Gespräches entgangen war.
»Höre, Frieda, ich bin ganz und gar nicht mit dir zufrieden,« begann er in strafendem Tone. »Weshalb bist du denn eigentlich hergekommen? Was soll es heißen, daß du meinem Bruder bei jeder Gelegenheit ausweichst, ja ihn förmlich fliehst? Du machst keinen Versuch zur Annäherung, läßt die seltenen Stimmungen, in denen er zugänglich ist, unbenützt verstreichen und schweigst hartnäckig, wenn er dich anredet. Ich habe dir den Weg geebnet, nun ist es aber an der Zeit, daß du auch einen Schritt thust.«
Frieda hatte die Strafpredigt schweigend über sich ergehen lassen, jetzt aber richtete sie sich empor und sagte kurz und heftig:
»Ich kann nicht!«
»Was kannst du nicht?«
»Das Versprechen halten, das ich dir gegeben habe. Du weißt, daß es halb gezwungen geschah. Mit Widerstreben bin ich dir hierher gefolgt, mit Widerwillen habe ich die Rolle übernommen, die zu spielen du mich verurteilt hast.
Aber ich kann sie nicht länger durchführen, es geht über meine Kräfte. Laß mich zurück in die Heimat, hier erreiche ich doch nichts.«
»So?« sagte Gustav ärgerlich. »Das sind ja schöne Geschichten. Also darum bin ich mit dir über den ganzen Ozean geschwommen und habe mich auf Leben und Tod mit meinem Verleger und meinem Chefredakteur herumgezankt, die mich durchaus nicht loslassen wollten. Darum sitze ich hier geduldig hinter dem Kontortisch und lasse Miß Cliffords allerhöchste Verachtung über mich ergehen, mich als gesinnungslosen Ueberläufer behandeln, damit Miß Frieda mir kurz und gut erklärt: Ich will nicht länger! Aber daraus wird nichts. Du wirst nicht schon nach acht Tagen die Flinte in das Korn werfen, das bitte ich mir aus. Du wirst im Gegenteil hier bleiben und durchführen, was wir begonnen haben.«
Die dunkeln Augen des jungen Mädchens richteten sich traurig und ernst auf den Sprechenden, es lag etwas wie ein Vorwurf darin über den leichten Ton, den er anschlug.
»Schilt mich nicht undankbar! Ich weiß, wie viel ich dir schulde, was du alles für mich gethan hast, aber ich habe mir die Aufgabe nicht so schwer gedacht. Ich kann kein Herz fassen zu diesem harten, kalten Manne, und er wird nie eins für mich haben, das fühle ich mit unumstößlicher Gewißheit. Hätte ich nur ein einziges Mal einen wärmeren Strahl in seinem Auge gesehen, nur ein herzliches Wort aus seinem Munde gehört, ich würde es ja versucht haben, mich ihm zu nähern; aber diese starre Kälte seines Wesens, die nichts erwärmen, nichts durchbrechen kann, scheucht mich immer wieder in die weiteste Ferne zurück.«
Gustav nahm statt aller Antwort ihre Hand und zog Frieda neben sich auf das Sofa.
»Habe ich dir denn gesagt, daß deine Aufgabe leicht sein würde?« fragte er. »Sie ist schwer genug, schwerer als ich es glaubte, aber unmöglich ist sie nicht. Mit diesem scheuen Ausweichen freilich erreichst du nichts. Angreifen mußt du den Feind; er hat sich stark genug verschanzt, da gilt es, Sturm zu laufen.«
»Ich kann nicht!« rief Frieda leidenschaftlich. »Ich sage dir ja, daß in meinem Innern keine einzige Regung für ihn spricht, und wenn ich keine Liebe geben und empfangen kann, was soll ich dann hier? Mir eine Heimat, ein Vermögen erschleichen? Das kannst du nicht wollen, und wolltest du es wirklich, ich würde beides zurückstoßen, wenn er es mir mit so herzloser Gleichgültigkeit böte, wie er mir den Aufenthalt in seinem Hause bot.«
Sie war bei den letzten Worten aufgesprungen. Gustav zog sie ruhig wieder auf ihren Sitz nieder.
»Das wogt und stürmt wieder einmal über alle Schranken, und das Ende ist wieder ein trotziges Nein. Wenn ich nicht wüßte, von wem du diesen starren Trotzkopf hast, die tiefe Leidenschaftlichkeit bei aller äußeren Verschlossenheit, ich würde dir noch ganz anders den Text lesen. Aber das ist ein Erbfehler, dagegen läßt sich nicht ankämpfen.«
Das junge Mädchen umschloß mit beiden Händen beinahe flehend seine Rechte.
»Laß mich fort, laß mich zurück in die Heimat, ich bitte dich! Was thut es denn, daß ich arm bin, du wirst mich ja nicht verlassen, und ich bin jung, ich kann ja arbeiten. Tausende sind in der gleichen Lage wie ich und müssen den Kampf mit dem Leben aufnehmen. Ich will das zehnmal lieber thun, als hier um eine Anerkennung betteln, die mir versagt wird. Ich fügte mich nur deinem Willen, als du mich zu deinem Bruder führtest, ich brauche ihn und seinen Reichtum nicht.«
»Aber er braucht dich!« sagte Gustav mit ernstem Nachdruck. »Und er braucht deine Liebe, mehr als du es glaubst.«
Um die Lippen des jungen Mädchens zuckte ein bitteres Lächeln.
»Da irrst du doch wohl! Ich weiß noch wenig genug von der Welt und den Menschen, aber das fühle ich doch, daß Mr. Sandow weder Liebe braucht noch verlangt. Er liebt ja überhaupt nichts auf der Welt, nicht Jessy, die doch fast wie eine Tochter unter seinen Augen aufgewachsen ist, nicht dich, seinen einzigen Bruder. Ich habe es nur zu gut gesehen, wie fremd und ferne er auch euch beiden steht. Er kennt nichts als die Lust am Erwerben, am Gewinnen, und er ist doch reich genug. Ist es wahr, wirklich wahr, daß er mit diesem Jenkins in Verbindung steht, daß ein Mann von solchem Rufe zu seinen Freunden gehört?«
»Kind, das verstehst du nicht,« sagte Gustav ausweichend. »Wer wie mein Bruder mit all seinen Lebenshoffnungen gescheitert ist, wenn sich wie ihm jedes Glück in Unheil, jeder Segen in Fluch verkehrte, der geht entweder zu Grunde in einer solchen Katastrophe, oder er läßt sein ganzes bisheriges Sein und Wesen darin zurück und geht als ein völlig anderer daraus hervor. Ich weiß ja doch, was er vor zwölf Jahren gewesen ist, und was damals in ihm lebte, kann nicht ganz erstorben sein. Du sollst es wecken, darum habe ich dich hierher gebracht, du sollst es wenigstens versuchen.«
Die mit tiefem Ernste gesprochenen Worte verfehlten nicht ihren Eindruck auf Frieda, aber sie schüttelte leise das Haupt.
»Ich bin ihm eine Fremde und werde es bleiben. Du selbst hast mir verboten, ihn etwas von unseren Beziehungen ahnen zu lassen.«
»Gewiß habe ich das gethan, denn wenn er jetzt schon die Wahrheit entdeckt, so würde er dich wahrscheinlich mit voller Härte zurückstoßen, und ein Trotzkopf, wie du, würde dann nicht eine Minute länger standhalten, und dann wäre alles verloren. Aber nahen sollst du dich ihm wenigstens. Ihr habt ja noch kaum mit einander gesprochen. Es regt sich keine Stimme in deinem Innern, sagst du? Sie muß sich aber regen, in dir wie in ihm, und sie wird sich regen, wenn ihr es nur gelernt habt, Auge in Auge zu sehen.«
»Ich will es versuchen!« sagte Frieda mit einem tiefen Atemzuge. »Wenn ich aber nichts erreiche, wenn ich nur Härte und Mißtrauen finde –«
»So wirst du bedenken, daß an dem Manne viel gesündigt worden ist,« fiel Gustav ein, »so viel, daß er wohl ein Recht hat, mit Mißtrauen und Argwohn zurückzuweichen, wo ein anderer mit voller Liebe die Arme öffnen würde. Du bist ja unschuldig daran, du leidest für fremde Schuld, aber sie fällt doch nun einmal mit ihrer ganzen Schwere auf dich.«
Das junge Mädchen antwortete nicht, aber ein paar heiße Thränen fielen aus ihren Augen, während sie den Kopf an die Schulter des Sprechenden lehnte. Dieser strich ihr sanft und beschwichtigend über die Stirn.
»Armes Kind! Ja es ist hart, in deinem Alter, wo noch alles Freude und Sonnenschein sein sollte, schon so tief eingeweiht zu sein in Haß und Zwietracht, in das ganze Elend eines Menschenlebens. Mir ist es damals schwer genug geworden, dir das alles zu enthüllen; aber es trat mit so zwingender Gewalt in dein Leben, daß du es notwendig kennen mußtest. Und meine Frieda gehört ja nicht zu den Schwachen und Zaghaften, sie hat etwas von der Energie und leider sogar von der Härte eines gewissen anderen Charakters. Darum nur mutig vorwärts, wir erzwingen es doch!«
Frieda trocknete ihre Thränen und zwang sich zu einem Lächeln.
»Du hast recht! Ich bin so undankbar und trotzig gegen dich, der so viel für mich gethan hat. Du bist –«
»Der beste und edelste der Menschen,« fiel Gustav ein. »Natürlich bin ich das und fühle mich tief beleidigt, daß Miß Clifford dies immer noch nicht einsehen will, obgleich du es ihr so rührend versichert hast. – Aber jetzt geh' auf einige Minuten ins Freie. Du siehst ganz erhitzt und verweint aus, du mußt die Thränenspuren vertilgen. Ich warte inzwischen hier auf Jessy. Wir haben uns heute noch nicht einmal gezankt, und das ist mir nachgerade ein Herzensbedürfnis geworden, das ich wirklich nicht mehr entbehren kann.«
Frieda gehorchte; sie verließ den Salon und schritt über die Terrasse nach dem Garten hinunter. Langsam schritt sie durch die schönen parkartigen Anlagen, die bis zum Strande reichten und an denen der Gärtner seine ganze Kunst verschwendete; aber der Platz, den sie aufsuchte, lag im fernsten Teile des Gartens. Es war eine einfache Bank, von zwei mächtigen Bäumen beschattet; sie bot einen unbeschränkten Blick auf das Meer hinaus und war vom ersten Tage an der Lieblingsplatz der jungen Fremden geworden.
Der frische Seewind kühlte Friedas erhitzte Wangen und tilgte die Thränenspuren aus ihrem Antlitz, aber den Schatten, der auf ihrer Stirn lag, vermochte er nicht zu tilgen. Dieser Schatten schien nur tiefer und dunkler zu werden, während sie, wie in fernes Träumen verloren, dem Spiel der Wogen zuschaute, die sich am Strande brachen.
Der Garten war nicht so einsam, als es den Anschein hatte, denn in nicht allzugroßer Entfernung ließen sich Stimmen vernehmen. Drüben an dem Eisengitter, welches das Gebiet der Villa abschloß, stand Sandow mit dem Gärtner und besichtigte die neuen Anlagen, die in den letzten Tagen vollendet waren.
Der Gärtner wies mit unverkennbarem Stolze auf sein in der That mit großem Geschmack ausgeführtes Werk, aber der Herr des Hauses schien nicht viel Interesse dafür zu haben. Er überblickte das Ganze flüchtig, gab mit einigen kühlen Worten seine Zufriedenheit zu erkennen und schlug dann den Rückweg nach dem Hause ein. Dabei kam er an jener Bank vorüber, wo Frieda saß.
»Sieh da, Miß Palm! Sie haben sich ja den fernsten und abgelegensten Platz des ganzen Gartens erwählt.«
»Aber auch den schönsten! Der Blick auf das Meer ist so herrlich.«
»Das ist Geschmacksache,« meinte Sandow. »Für mich hat dies ewig gleiche Auf- und Niederwogen etwas tötlich Einförmiges. Ich halte es nie lange aus.«
Er hatte das im Vorübergehen flüchtig hingeworfen und war jetzt im Begriff, sich zu entfernen.
Frieda hätte wahrscheinlich seine Bemerkung unerwidert gelassen und damit wäre das Gespräch zu Ende gewesen, aber Gustavs Mahnung hatte doch gefruchtet. Das junge Mädchen verharrte nicht wieder im scheuen Schweigen, wie sonst, sondern antwortete in einem Tone, dessen tiefe Bewegung sich Aufmerksamkeit erzwang.
»Ich liebe das Meer so sehr und – wenn Sie auch darüber spotten, Mr. Sandow – ich kann es doch nicht vergessen, daß dort, hinter jenen Wellen, meine Heimat liegt.«
Sandow schien nicht in der Laune zu spotten. Er war stehen geblieben, seine Augen folgten wie unwillkürlich der angedeuteten Richtung und hefteten sich dann wieder sinnend und forschend auf Friedas Gesicht, als suche er irgend etwas darin.
Es war ein trüber und ziemlich unfreundlicher Nachmittag. Die Wolken hingen schwer und regenfeucht herab, und der sonst so unbegrenzte Blick in die sonnig blaue Weite des Meeres war heut gehemmt und verschleiert. Man sah kaum einige Hundert Schritte vorwärts, weiter hinaus lagerte dichter Nebel auf der See, und die unruhig wogende Fläche, die, von keinem Sonnenstrahl erleuchtet, eine tiefdunkle Färbung zeigte, hatte beinahe etwas Unheimliches. Ruhelos kamen die Wogen herangerollt und zerrannen mit leisem Zischen in weißen Schaum auf dem Sande des Ufers. Fern aus dem Nebel tönte das Brausen der hohen See, und zwei Möven strichen im langsamen Fluge über die Wellen hin und verschwanden in jenem Nebelmeer. Friedas Augen folgten ihnen träumerisch, sie schrak fast zusammen, als Sandow das Schweigen, welches eingetreten war, urplötzlich mit der Frage unterbrach:
»Wie hieß der Geistliche, bei dem Sie in New York lebten?«
»Pastor Hagen.«
»Und dort hörten Sie die erwähnten Aeußerungen über Jenkins & Kompanie?«
»Ja, Mr. Sandow.«
Frieda schien noch etwas hinzufügen zu wollen, aber die Schroffheit, mit der die letzte Frage gestellt wurde, schloß ihr die Lippen.
»Ich hätte es denken können! diese Herren Geistlichen mit ihren extravaganten Ansichten von Moral sind immer sehr schnell mit einem Verdammungsurteil bei der Hand, wenn irgend etwas nicht in ihre Schablone paßt. Von der Kanzel aus sieht es sich freilich sehr bequem auf die sündige Welt nieder, in der wir doch alle leben müssen. Die Herren sollten es nur einmal probieren, in dies Leben herabzusteigen, wo jeder kämpfen muß, um oben zu bleiben; sie würden dabei freilich sehr viel von ihrer beschaulichen Ruhe und christlichen Makellosigkeit einbüßen, aber sie lernten dann wenigstens bescheidener über Dinge urteilen, von denen sie absolut nichts verstehen.«
Der schonungslose Sarkasmus in diesen Worten hätte eine andere vielleicht eingeschüchtert. Frieda aber erhob sich energisch entgegen.
»Pastor Hagen ist die Milde und die Nachsicht selbst!« erklärte sie mit aufflammendem Trotze. »Er wird sicher nie jemand ungerecht verdammen. Es war das erste und einzige Mal, daß ich ein so hartes Urteil aus seinem Munde hörte, und ich weiß, daß nur die Sorge um seine gefährdeten Landsleute es ihm entriß!«
»Soll das vielleicht heißen, daß er recht hat?« fragte Sandow scharf, indem er wie drohend einen Schritt näher trat.
»Ich weiß es nicht, ich bin ja fremd und unbekannt mit allem. Aber Sie, Mr. Sandow, stehen in Verbindung mit jenem Manne, Sie müssen ja wissen –«
Sie wagte nicht zu vollenden, denn sie fühlte, daß jedes fernere Wort als eine Beleidigung gedeutet werden könne, und Sandow schien es in der That so aufzufassen. Der mildere Ton, den er im Beginn des Gespräches angeschlagen, wich wieder der gewohnten kalten Strenge, als er erwiderte:
»Jedenfalls bin ich aufs höchste befremdet, zu hören, wie der Name und der Ruf einer großen Firma in gewissen Kreisen verlästert wird. Sie sind noch ein halbes Kind, Miß Palm, und verstehen begreiflicherweise nichts von solchen Dingen. Sie können nicht wissen, wie einflußreich der Name Jenkins in der Handelswelt ist. Aber die, welche sich zum Organ solcher Verleumdungen machen, sollten das bedenken und sich in acht nehmen.«
Die Zurechtweisung klang herb genug, überzeugend klang sie nicht. Die Macht und den Einfluß jenes Mannes hatte ja noch niemand angezweifelt, nur daß dieser Einfluß ein unheilvoller war. Frieda hatte natürlich keine Ahnung davon, welcher Art seine Geschäftsverbindung mit dem Cliffordschen Hause war, aber schon die Zusammenstellung der beiden Namen hatte sie tief erschreckt.
»Sie zürnen mir wegen der unbedachten Worte über Ihren Geschäftsfreund,« sagte sie leise. »Ich wiederholte ahnungslos, was ich gehört hatte, und jene Aeußerung des Pastor Hagen galt ja auch nur der Gefahr, die unserer Auswanderung von solchen Unternehmungen droht. Er hat es in New York täglich vor Augen, wie tief so etwas in das Wohl und Wehe von Tausenden eingreift. Sie können das freilich nicht wissen, die Interessen Ihres Bankhauses liegen sicher weit ab von solchen Spekulationen.«
»Nun und woher kennen denn Sie das alles so genau?« fragte Sandow mit einem Spott, der etwas erzwungen klang. Das Gespräch fing an, ihn zu peinigen, dennoch machte er keinen Versuch, es abzubrechen; es war etwas darin, was ihn wider seinen Willen reizte und fesselte.
Frieda hatte ihre Zurückhaltung mehr und mehr aufgegeben. Der Gegenstand interessierte sie augenscheinlich aufs höchste und ihre Stimme bebte in tiefer Bewegung, als sie antwortete:
»Ich habe einmal, nur ein einziges Mal ein solches Bild des Elends gesehen, aber es hat sich mir unauslöschlich eingeprägt. Während ich in New York war, kam eine Anzahl von Auswanderern zu uns, Deutsche, die vor einigen Jahren nach dem fernen Westen gezogen waren und nun zurückkehrten. Sie hatten wohl zu leichtsinnig den Vorspiegelungen gewissenloser Agenten getraut und hatten in jenen Wäldern alles zurückgelassen! Den größten Teil der Ihrigen, der dem Klima erlegen war, ihre letzten Mittel, ihre Hoffnungen, ihren Lebensmut – alles! Der deutsche Pfarrer, der sie damals gewarnt und dem sie nicht geglaubt hatten, sollte nun Rat und Hilfe zur Rückkehr in die Heimat schaffen. Es war furchtbar, die einst so kräftigen und mutigen Leute so ganz gebrochen und verzweifelt zu sehen und ihre Klagen zu hören. Ich werde es nie vergessen!«
Sie legte, wie überwältigt von der Erinnerung, die Hand über die Augen. Sandow erwiderte keine Silbe. Er hatte sich abgewandt und blickte starr und unverwandt in den Nebel hinaus. Regungslos, wie von einem Banne gefesselt, hörte er den Worten zu, die immer leidenschaftlicher und erregter von jenen jugendlichen Lippen kamen.
»Ich habe es ja gesehen auf dem Dampfer, der mit mir Hunderte von Auswanderern herüberbrachte, wie viel Sorge und Angst solch ein Schiff trägt, wie viel Sehnen und Hoffen. Glück ist es ja fast niemals, was sie alle zwingt, der Heimat den Rücken zu kehren! Bei so vielen ist es die letzte Hoffnung, der letzte Versuch sich in ein neues Leben hinüber zu retten. Und nun zu denken, daß all diese Hoffnungen scheitern, daß den Armen ihr mühseliges Ringen und Arbeiten nichts hilft, daß sie untergehen müssen, weil ein Einziger sich bereichern will, weil es Menschen gibt, die mit Absicht, mit vollem Bewußtsein ihre Brüder in das Elend senden, um Gewinn daraus zu ziehen! Ich würde es niemals für möglich gehalten haben, hätte ich es nicht selbst gesehen und gehört von jenen Zurückkehrenden!«
Sie hielt inne, erschreckt von der fahlen Blässe auf dem Antlitz des noch immer regungslos dastehenden Mannes. Es blieb eisern und unbeweglich wie immer, keine Empfindung verriet sich darin, aber alles Blut schien aus diesen Zügen gewichen zu sein, deren starrer Ausdruck etwas Unheimliches hatte. Er sah nicht den fragenden, besorgten Blick des jungen Mädchens, erst ihr plötzliches Schweigen schien ihn zur Besinnung zu bringen. Mit einer jähen Bewegung richtete er sich empor und strich mit der Hand über die Stirn.
»Sie nehmen sich Ihrer Landsleute tapfer an, das muß man Ihnen lassen!« sagte er, die Stimme klang dumpf und gepreßt, als koste ihm jedes Wort eine Anstrengung.
»Das würden Sie ja auch thun, wenn Ihnen die Möglichkeit geboten würde,« entgegnete Frieda mit voller Unbefangenheit. »Sie würden sicher mit dem ganzen Gewicht Ihres Namens und Ihrer Stellung gegen solche Unternehmungen auftreten, und Sie könnten gewiß viel mehr dagegen thun, als ein unbekannter Geistlicher, dem seine angestrengte Amtsthätigkeit so wenig Zeit übrig läßt, und der schon so viel Not und Elend in seiner eigenen Gemeinde zu lindern hat. Mr. Sandow,« sie trat ihm wie im plötzlich aufflammenden Vertrauen einen Schritt näher, »ich wollte Sie wirklich nicht beleidigen mit jenen unvorsichtigen Worten. Das Gerücht schiebt nun einmal jenem Manne solche Pläne unter. Es ist ja möglich, daß man ihm unrecht thut, daß auch Pastor Hagen getäuscht worden ist. Sie glauben nicht daran, das sehe ich an Ihrer tiefen Bewegung, wenn Sie es auch verbergen wollen, und Sie müssen Ihren Geschäftsfreund ja doch am besten kennen.«
Er war allerdings bewegt, der Mann, dessen Hand die Lehne der Bank so krampfhaft umfaßte, als ob das hölzerne Schnitzwerk zerbrechen sollte unter seinen Fingern, so bewegt, daß es einige Sekunden dauerte, ehe er die Herrschaft über seine Stimme zurückgewann.
»Wir sind da auf recht unerquickliche Dinge gekommen!« sagte er hastig abbrechend. »Aber ich hätte nie geglaubt, daß das scheue stille Kind, das in den acht Tagen, wo es in meinem Hause weilte, kaum die Augen aufschlug und die Lippen öffnete, so leidenschaftlich aufflammen könnte, wenn es die Verteidigung fremder Interessen gilt. Warum haben Sie sich denn nie von dieser Seite gezeigt?«
»Ich wagte es nicht, ich fürchtete so sehr –« Frieda sprach nicht weiter, aber ihre Augen, die sich halb bang und halb zutraulich zu den seinigen emporhoben, sprachen es aus, was die Lippen verschwiegen, und es wurde auch verstanden.
»Wen fürchteten Sie? mich vielleicht?«
»Ja,« sagte das junge Mädchen tief aufatmend. »Ich habe Sie sehr gefürchtet – bis zu dieser Stunde!«
»Das sollen Sie aber nicht thun, Kind!« In Sandows Stimme lag ein fremder, seit langen Jahren nicht gehörter Klang, etwas wie leise aufquellende Wärme und Weichheit. »Ich mag Ihnen wohl streng und kalt erschienen sein, bin es auch vielleicht draußen im Geschäftsleben, aber gegen den jungen Gast, der in meinem Hause Schutz und Zuflucht sucht, werde ich es nicht sein. Weichen Sie mir in Zukunft nicht mehr so scheu aus wie bisher. Sie dürfen mir ohne Furcht nahen.«
Er streckte ihr die Hand hin, aber Frieda zögerte, sie anzunehmen. Röte und Blässe wechselten auf ihrem Gesicht, es schien, als wolle eine stürmische, gewaltsam zurückgehaltene Empfindung sich dennoch Bahn brechen. Da tönte von der Terrasse her Jessys Stimme, die unruhig über das lange Ausbleiben des jungen Mädchens nach ihr rief. Frieda fuhr auf.
»Miß Clifford ruft mich, ich werde wohl zu ihr gehen müssen. Haben Sie Dank, Mr. Sandow, ich – will Sie nicht mehr fürchten!«
Und rasch, ehe er es verhindern konnte, drückte sie ihre Lippen auf seine noch ausgestreckte Hand und flog durch die Gebüsche davon.
Erstaunt und betreten blickte Sandow ihr nach. Ein seltsames Mädchen! Was sollte dieser jähe Wechsel von Scheu und Vertraulichkeit, dies leidenschaftliche Aufflammen nach so langer Verschlossenheit? Es war und blieb ihm rätselhaft, aber Frieda erreichte mit ihrem unvorsichtigen, widerspruchsvollen Wesen gerade das, was der klügsten Berechnung nicht gelungen wäre, das Interesse des sonst so gleichgültigen Mannes tief und nachhaltig zu fesseln. Er hatte doch allen Grund, gereizt und erzürnt zu sein über diesen ›phantastischen Mädchenkopf mit seinen überspannten Ideen‹, aber mitten in seine Gereiztheit drängte sich wieder jenes seltsame Gefühl, das ihn vorhin überkam, als er in diese dunkeln Kinderaugen blickte, und von dem er selbst nicht wußte, ob es ihm peinigend oder wohlthuend war. Er vergaß, vielleicht zum erstenmale in seinem Leben, daß sein Arbeitszimmer und sein Schreibtisch mit wichtigen Briefschaften ihn erwarteten.
Langsam ließ er sich auf die Bank nieder und blickte in die unruhig wogende See hinaus.
›Tötlich einförmig!‹ hatte er dies ewige Auf- und Niederwogen genannt. Der Sinn für Naturschönheiten war längst in ihm erstorben, wie so vieles andere, aber die Worte jenes Gespräches hafteten halb unbewußt in seinem Gedächtnis. Ja freilich, das war der Ozean und drüben jenseits desselben lag die Heimat! Sandow hatte seit Jahren nicht daran gedacht; was war ihm auch die Heimat! Er war ihr ja längst entfremdet, er hing mit all den Wurzeln seines jetzigen Lebens an dem Lande, dem er dankte, was er geworden war. Die Vergangenheit lag ihm so weit und fern wie die unsichtbare heimische Küste dort hinter dem Nebel.
Der stolze, reiche Kaufmann, dessen Name auf allen Weltplätzen klang, der gewohnt war, mit Hunderttausenden zu rechnen, blickte freilich mit mitleidiger Verachtung auf jene Vergangenheit herab, auf das engbegrenzte Leben eines untergeordneten Beamten in der kleinen deutschen Provinzialstadt. Wie klein und beschränkt war damals der Horizont seines Lebens gewesen, wie mühselig hatte er sich mit seinem geringen Gehalt durchschlagen müssen, bis er endlich nach langem Hoffen und Harren eine Stellung erreichte, die ihm erlaubte, sich eine ganz bescheidene Häuslichkeit zu gründen. Und doch, wie war dies armselige, beschränkte Dasein verklärt gewesen von dem sonnigen Glanze der Liebe und des Glückes, der es umstrahlte. Ein junges, schönes Weib, ein blühendes Kind, die Gegenwart voll Sonnenschein, die Zukunft voll froher Träume und Hoffnungen, mehr bedurfte es nicht, um den damals noch so lebensfrohen Mann zu beglücken, aber es sollte furchtbar endigen dies kurze Glück!
Ein Jugendfreund Sandows, der mit ihm aufgewachsen war, mit dem er die Knabenspiele wie später die Universitätsjahre geteilt hatte, kehrte nach mehrjähriger Abwesenheit in die Vaterstadt zurück. Er war vermögend und unabhängig und brauchte sich nicht mit Sorgen um die Existenz zu plagen, wie sein Freund, der den Heimgekehrten mit offenen Armen empfing und ihn in seine soeben erst begründete Häuslichkeit einführte. Und damit begann eine jener Familientragödien, die oft jahrelang im Verborgenen spielen, bis irgend eine Katastrophe sie gewaltsam ans Licht bringt.
Der betrogene Mann ahnte es nicht, daß das Herz seines Weibes ihm entfremdet wurde, daß der Verrat im eigenen Hause ihn umspann. Seine Liebe, sein felsenfestes Vertrauen machten ihn blind und als ihm endlich die Augen aufgingen, da war es zu spät, da sah er sein Glück und seine Ehre in Trümmern vor sich liegen. Von der Verzweiflung fast bis zum Wahnsinn getrieben, verlor er Besinnung und Selbstbeherrschung und schlug den Räuber seines Glückes zu Boden.
Das Schicksal hatte ihm wenigstens das eine, letzte erspart, zum Mörder zu werden, der schwer Verletzte genas langsam, aber Sandow mußte jene That mit einer mehrjährigen Gefängnisstrafe büßen. Wie sehr auch das Recht auf seiner Seite war, der Buchstabe des Gesetzes verurteilte ihn und dies Urteil vernichtete auch seine ganze äußere Existenz. Seine Stellung war ihm natürlich verloren, seine Beamtenlaufbahn geschlossen. Die, welche einst seine Frau hieß, hatte nach inzwischen erfolgter Scheidung dem Manne die Hand gereicht, um dessentwillen sie den Gatten verraten hatte und trug jetzt dessen Namen. Und das einzige, was dem Verlassenen noch geblieben war, wenigstens das Gesetz ihm zusprach, sein Kind, stieß er selbst von sich. Er hatte gelernt, an allem zu zweifeln, alles, was er einst für wahr und rein gehalten, als Lüge anzusehen; so glaubte er denn auch nicht mehr an seine Vaterrechte und versagte dem kleinen Wesen, das einst das ganze Glück seines Lebens gewesen war, die Anerkennung. Er überließ es der Mutter, ohne es auch nur wieder gesehen zu haben. Von einer Rückkehr in seine Vaterstadt konnte unter diesen Verhältnissen nicht mehr die Rede sein. Ihm blieb nur Amerika, die Zuflucht so vieler gescheiterten Existenzen. Mit sich und der Welt zerfallen, arm und mit dem Makel des Gefängnisses belastet, kam er hier an, aber es war ein Wendepunkt in seinem Leben. Gerade hier stieg er aus dem tiefsten Elend zu Glanz und Reichtum empor.
Seitdem war der Erfolg Franz Sandow treu geblieben. Was er auch wagte, es glückte ihm alles, und er gefiel sich nur zu bald in den Wagnissen. Er riß den ruhigeren, bedächtigeren Clifford mit sich fort auf die Bahn der kühnsten und verwegensten Spekulationen, und nun er seit dessen Tode die Zügel allein in Händen hatte, kannte er vollends keine Schranken mehr. Es lag etwas Unheimliches in diesem ruhelosen Jagen und Hetzen nach Gewinn bei einem Manne, der doch niemand mehr besaß, für den er seine Reichtümer aufhäufte. Aber irgend etwas muß der Mensch haben, an das er sich klammert, was ihm Zweck und Inhalt seines Lebens ist, und wenn die edleren Güter verloren sind, dann ist es nur zu oft der Dämon des Goldes, der sich zum Herrn macht auf der öden Stätte. Auch Sandow war ihm verfallen. Dieser Dämon stachelte ihn immer wieder vorwärts nach neuem Gewinn, trieb ihn von einer wagehalsigen Spekulation zur anderen und verleitete worden. Auch bei dieser Spekulation, die sein Geschäftsfreund ihm vorschlug, hatte er mit den Zahlen gerechnet, und sie versprachen reichen Gewinn; daß auch Menschenleben dabei in Betracht kamen, war ihm gar nicht einmal eingefallen. Und nun wagte es ein unerfahrenes Kind, das von der verhängnisvollen Tragweite seiner Worte gerade an dieser Stelle keine Ahnung hatte, ihm solche Dinge zu sagen! Die Worte wühlten und gährten in ihm, er konnte nicht davon loskommen.
›Wie viel Angst und Sorge solch ein Schiff trägt, wie viel Sehnen und Hoffen!‹ Auch Sandow hatte das erfahren, auch er war ja mit gescheiterten Lebenshoffnungen hier gelandet, mit dem letzten, verzweifelten Versuch, sich in ein neues Leben hinüberzuretten. Ihm war es geglückt, ihm hatten Freunde und Verwandte die helfende Hand gereicht. Ohne sie wäre er vielleicht auch zu Grunde gegangen. Aber es kamen noch Hunderte von Schiffen, und die Tausende, die sie trugen, wagten vielleicht auch ihr Letztes, spähten auch bang und zagend aus nach einer rettenden Hand, die sich ihnen hier entgegenstrecken sollte. Es gab ja noch viel zu gewinnen auf dem neuen Boden, und manchem mochte er sich segensreicher zeigen, als die Heimat es gethan hatte. Wer aber die Hand ergriff, die Jenkins und sein Geschäftsfreund hinreichten, der ging in sein Verderben. Und es war Raum für so viele auf jenen Landstrecken, wo die Oede und das Fieber sie erwarteten. Man hatte um einen Spottpreis ein riesiges Terrain gekauft und mußte dies nun um jeden Preis bevölkern, um den erhofften riesigen Gewinn zu erzielen. Es gab ja wirklich Menschen, die ihre Brüder mit vollem Bewußtsein ins Elend sandten, um sich zu bereichern!
Sandow sprang plötzlich auf. Er wollte sich losringen von diesen Worten, die wie eingebrannt in sein Gedächtnis waren, von diesen Gedanken, die ihn wie Gespenster umdrängten. Er hielt dies einförmige Rauschen nicht länger aus und der Nebel legte sich mit beklemmendem Druck auf seine Brust. Es jagte ihn förmlich vom Strande fort und dem Hause zu. Aber es war vergebens, daß er sich in sein Arbeitszimmer einschloß, daß er sich in Briefe und Depeschen vergrub. Draußen wogte und rauschte die See und in seinem Innern wogte und rang sich auch etwas empor, etwas, das lange Jahre hindurch im Schlafe gelegen hatte, und nun endlich erwachte – das Gewissen!
* *
*
Jessy saß im Garten und zeichnete und ihr gegenüber in der Laube hatte Gustav Sandow Platz genommen. Er war soeben aus der Stadt zurückgekehrt, wo er alles Mögliche geleistet und unternommen hatte, nur leider das eine nicht, was von dem künftigen Chef des Hauses Clifford erwartet wurde. Er war nämlich auch nicht mit einem Fuß im Kontor gewesen.
Es gab aber auch so viel anderweitige Geschäfte zu erledigen. Zunächst hatte sich Gustav zu einem Geschäftsfreunde seines Bruders, einem reichen Bankier begeben, um auf dessen Wunsch ein aus Europa verschriebenes kostbares Gemälde künstlerisch zu begutachten. Da nun Kunstkenner und Kunstfreund gleich eifrig bei der Sache waren, so dehnte sich die Begutachtung auf die ganze ziemlich wertvolle Bildergalerie des Bankiers aus und nahm mehrere Stunden in Anspruch. Hierauf waren beide Herren zu einem großen Meeting gefahren, das in städtischen Angelegenheiten gerade heute abgehalten wurde, und bei dem Herr Sandow jun. einen sehr eifrigen und interessierten Zuhörer abgab. Schließlich hatte er noch ein kleines Privatmeeting mit einigen Herren von der Presse gehabt, die sich des ehemaligen Kollegen bemächtigten. Die deutschen und amerikanischen Zustände wurden hier so gründlich erörtert, und es war dabei so spät geworden, daß Gustav, als man sich endlich trennte, es für ganz überflüssig hielt, das Büreau seines Bruders noch aufzusuchen. Er zog es vor, direkt nach der Villa hinaus zu fahren und den Damen Gesellschaft zu leisten. Nach so nützlich vollbrachtem Tagwerk glaubte er sich berechtigt, nun auch sein ›Herzensbedürfnis‹ zu befriedigen, was bekanntlich nur dann ganz und voll geschah, wenn er täglich mindestens einmal einen Streit mit Miß Clifford hatte. In dieser Absicht hatte er sie denn auch schleunigst aufgesucht und gefunden.
Jessy hatte sich in den letzten Wochen merklich verändert. Irgend ein geheimer Kummer, den sie sich vielleicht selbst nicht einmal eingestand, überschattete das liebliche Gesicht, das ernster und bleicher als sonst erschien, und auch um den Mund lag ein halb bitterer, halb schmerzlicher Zug, der früher nicht dagewesen war. Die Gegenwart des Hausgenossen war offenbar nicht geeignet, sie zu erheitern, denn sie vermied es, ihn anzusehen, und zeichnete eifrig weiter, während sie auf all seine Bemerkungen nur kurze und abweisende Antworten hatte.
Aber Gustav ließ sich so leicht nicht abschrecken. Als seine Unterhaltungsversuche mißglückten, stand er auf und beugte sich über die halbfertige Zeichnung, die er mit kritischen Blicken musterte. –
»Ein sehr hübsches Motiv! Das Blatt verspricht etwas, aber die Perspektive müssen Sie ändern, Miß Clifford, sie ist total falsch.«
Das that endlich die beabsichtigte Wirkung, Jessy hob den Kopf und sah den unberufenen Ratgeber mit einem entrüsteten Blicke an.
»Sie zeichnen ja wohl nicht selbst, Mr. Sandow?«
»Nein, aber ich kritisiere.«
»Das sehe ich! Sie werden mir indessen erlauben, meine Perspektive so lange für richtig zu halten, bis ein wirklicher Zeichner mich vom Gegenteil überzeugt.«
Gustav nahm ruhig seinen Platz wieder ein. »Ganz nach ihrem Belieben! Ich schlage vor, daß wir Frieda zum Schiedsrichter ernennen. Sie hat ein nicht gewöhnliches Zeichentalent und es ist mit großer Sorgfalt ausgebildet worden.«
»Frieda?« wiederholte Jessy, indem sie den Stift ruhen ließ. »Ja so, ihretwegen wollte ich mit Ihnen sprechen. Sie scheint wirklich nicht mehr weit vom Ziele zu sein, denn die Vorliebe meines Vormundes für sie wächst mit jedem Tage. Für mich liegt etwas Rätselhaftes darin, wenn ich an die Gleichgültigkeit denke, die er im Anfange gegen sie zeigte, aber Frieda muß es wohl verstanden haben, die rechte Saite zu berühren, denn ganz plötzlich erwachte sein Interesse für sie so tief und nachhaltig, wie ich es bei seiner spröden, kalten Natur gar nicht für möglich gehalten habe. Er kann sie schon nicht mehr entbehren. Er gibt jedesmal ein unverhehltes Mißfallen kund, wenn von der Möglichkeit ihrer Entfernung die Rede ist, und heute morgen machte er mir, ohne jede Anregung meinerseits, den Vorschlag, unseren jungen Gast dauernd als meine Gesellschafterin im Hause zu behalten.«
»Hat er das wirklich gethan?« rief Gustav lebhaft. »Das ist viel, weit mehr, als ich jetzt schön zu hoffen wagte. Dann sind wir allerdings nicht mehr weit vom Ziele!«
»Das meine ich auch, und deshalb dürfte es nun wohl endlich Zeit sein, das arme Kind aus der peinlichen und demütigenden Lage zu erlösen. Sie gilt hier für eine völlig Fremde, während sie doch in den nächsten Beziehungen zu Ihnen steht, und ist gezwungen, die Unwahrheit immer wieder von neuem aufrecht zu erhalten. Ich sehe es nur zu oft, wie ihr bei irgend einer harmlosen Frage des Onkels, der sie ausweichen muß, das Blut in das Antlitz steigt, wie die ihr auferlegte Rolle sie quält und ängstigt. Ich fürchte, sie ist nicht im stande, das noch länger durchzuführen.«
»Sie muß!« erklärte Gustav. »Ich weiß, daß es ihr schwer wird, und sie versucht auch bisweilen zu rebellieren, aber ich verstehe es schon, ihr den Trotzkopf zurechtzusetzen.«
Zwischen den feinen Brauen Miß Cliffords erschien eine tiefe Falte des Unmutes.
»Ich gestehe Ihnen, Mr. Sandow, daß ich den Ton und die ganze Art und Weise, in der Sie mit Frieda verkehren, sehr befremdlich finde. Sie behandeln sie vollständig als ein Kind, das sich widerspruchslos Ihrer höheren Einsicht zu fügen hat, und scheinen ganz zu vergessen, daß sie dereinst den Platz an Ihrer Seite einnehmen soll.«
»Dazu muß sie erst erzogen werden,« meinte Gustav herablassend. »Vorläufig ist sie kaum sechzehn Jahr alt, und ich stehe im Anfange der dreißig, bin also unbedingt eine Respektsperson für das Kind.«
»So scheint es! Ich würde von meinem künftigen Gatten aber denn doch etwas mehr erwarten, als daß er nur eine Respektsperson für mich ist.«
»Ja, Sie, Miß Clifford, das ist auch etwas anderes: Ihnen gegenüber würde man sich einen solchen Ton auch nicht erlauben.«
»Wahrscheinlich nicht, weil mein Vermögen mir Anspruch auf gewisse Rücksichten gibt. Der armen, abhängigen Waise gegenüber, die man zu sich erhebt, ist jeder Ton erlaubt.«
Die Bemerkung klang so bitter, daß Gustav aufmerksam wurde und einen fragenden Blick auf die junge Dame richtete.
»Glauben Sie, daß Frieda zu den Naturen gehört, die sich erheben lassen?«
»Nein, ich halte sie im Gegenteil für sehr stolz, und für viel energischer, als ihr Alter voraussetzen läßt. Eben deshalb ist mir diese willenlose Fügsamkeit unbegreiflich.«
»Ja, ich leiste etwas im Erziehungsfach,« versicherte Gustav. »Was aber Ihren Vorschlag betrifft, jetzt schon mit der Wahrheit hervorzutreten, so bin ich durchaus anderer Meinung. Sie kennen meinen Bruder nicht; sein Starrsinn ist noch lange nicht überwunden und wird verdoppelt zurückkehren, wenn er so etwas wie eine Komödie entdeckt. In dem Augenblicke, wo er erfährt, daß ich Frieda mit Absicht, mit einem ganz bestimmten Plane in seine Nähe gebracht habe, bricht sein ganzer Zorn los und er schickt uns beide über den Ozean zurück.«
»Das wäre allerdings schlimm, dann wären die Vorteile der ganzen Intrige verloren.«
Jessy mußte sehr gereizt sein, da sie das häßliche Wort »Intrige« brauchte, aber es glitt ab, Gustav stimmte ihr vollkommen bei.
»Ganz recht, das ist auch meine Furcht, und eben darum möchte ich diese Vorteile nicht leichtsinnig aufs Spiel setzen. Mir liegt jetzt alles daran, hier zu bleiben!«
Es war ein eigentümliches Aufleuchten in seinen Augen bei den letzten Worten. Jessy sah es nicht, sie hatte sich wieder über das Blatt gebeugt und zeichnete mit erneutem Eifer, aber der Stift zitterte in ihrer Hand, und die Striche wurden immer hastiger und unsicherer. Gustav sah ihr eine Weile zu, plötzlich aber erhob er sich von neuem.
»Nein, Miß Clifford, das geht aber wirklich nicht an, daß Sie die Perspektive so mißhandeln. Erlauben Sie nur einen Augenblick.«
Damit nahm er ihr ohne weiteres Stift und Zeichnung aus der Hand und begann die letztere zu ändern. Jessy wollte heftig protestieren, aber schon in der nächsten Minute bemerkte sie, daß es eine sehr geübte Hand war, die den Stift dort führte, und daß die wenigen kräftigen Striche den Fehler total beseitigten.
»Sie behaupteten ja, nicht zeichnen zu können!« sagte sie, schwankend zwischen Aerger und Erstaunen.
»O, es ist auch nur ein wenig Dilettantismus, den ich nicht für ein Talent auszugeben wage, er soll nur meine Kritik begründen. Hier, Miß Clifford!«
Er reichte ihr das Blatt wieder hin. Jessy blickte stumm darauf nieder und dann zu ihm empor.
»Ich bewundere wirklich Ihre Vielseitigkeit, von der Sie mir eben wieder eine Probe geben. Sie sind ja alles Mögliche, Mr. Sandow! Politiker, Journalist, Künstler –«
»Und Kaufmann!« ergänzte Gustav. »Sie vergessen das Wichtigste, das, worin ich am meisten exzelliere. Ja, ich bin so eine Art von Universalgenie, teile aber auch leider das Schicksal aller Genies, von der Mitwelt nicht anerkannt zu werden.«
Seine halb ironische Verbeugung gegen die junge Dame bewies, daß er sie für den Augenblick als die Mitwelt betrachtete. Jessy ließ die Bemerkung unerwidert und begann ihre Zeichengerätschaften zusammenzupacken.
»Es wird doch etwas kühl, ich thue wohl besser, hineinzugehen. Bitte, bemühen Sie sich nicht, ich werde den Diener schicken, um mir die Sachen zu holen;« und mit einer kurzen Handbewegung jede Hilfe seinerseits zurückweisend, nahm sie nur die Zeichnung vom Tische und verließ die Laube. Gustav sah ihr kopfschüttelnd nach.
»Ich scheine ernstlich in Ungnade gefallen zu sein; sie ist seit einigen Wochen gar nicht dieselbe mehr. Ich wollte lieber die schlimmsten Ausfälle auf meinen Egoismus und meine Gesinnungslosigkeit aushalten, als diese kühle Gemessenheit und Bitterkeit. Ich fürchte, es ist auch für mich hohe Zeit, mit der Wahrheit hervorzutreten, und doch darf ich Friedas Zukunft nicht aufs Spiel setzen. Eine zu frühe Katastrophe könnte alles verderben.«
Draußen am Gitterthor der Villa fuhr ein Wagen vor. Es war Sandow, der jetzt auch zurückkehrte und gleich darauf durch den Garten kam.
»Du bist schon hier?« sagte er, den Bruder flüchtig begrüßend. »Wo sind denn die Damen?«
»Miß Clifford hat mich soeben erst verlassen.«
»Und Miß Palm?«
»Sie ist vermutlich unten am Strande. Ich habe sie seit meiner Rückkehr noch nicht gesehen.«
Sandows Augen überflogen ungeduldig den unteren Teil des Gartens. Er schien es zu vermissen, daß Frieda ihm nicht wie sonst entgegenkam.
»Ich habe dich ja seit heute morgen nicht gesehen,« äußerte er unmutig. »Du hast dich wegen dringender Geschäfte beurlaubt, aber ich nahm doch an, daß du nach einigen Stunden im Kontor erscheinen würdest. Was sind denn das für Geschäfte, die dich den ganzen Tag in Anspruch nahmen?«
»Nun ich war zunächst bei dem Bankier Henderson.«
»Ah so, wegen der neuen Anleihe, die jetzt in M. gezeichnet wird. Es ist mir lieb, daß du selbst mit ihm darüber gesprochen hast.«
»Natürlich wegen der Anleihe,« bestätigte Gustav, der sich gar kein Gewissen daraus machte, den Bruder diesem Irrtum über seinen Geschäftseifer zu lassen, obgleich bei jener Wanderung durch die Galerie des Bankiers von der erwähnten Anleihe mit keiner Silbe die Rede gewesen war. Da er aber keine Lust verspürte, sich über die fernere nützliche Verwendung des Tages examinieren zu lassen, so setzte er rasch hinzu:
»Und dann handelte es sich auch noch um eine Privatangelegenheit. Mrs. Henderson hat bei ihrem letzten Besuche hier unsere junge Landsmännin kennen gelernt und ist ganz eingenommen von ihr. Es ist merkwürdig, daß dies stille, scheue Kind überall Eroberungen macht. Auch Miß Clifford gehörte vom ersten Augenblicke an zu ihren wärmsten Freunden.«
»Das Kind ist nicht so still und scheu, wie du glaubst,« entgegnete Sandow, dessen Augen noch immer unten am Strande suchten. »Hinter dieser Zurückhaltung birgt sich eine tief leidenschaftliche, eine ganz ungewöhnliche Natur. Ich habe das auch nicht geahnt, bis ein Zufall es mir entdeckte.«
»Und seitdem gehörst du auch zu ihren Eroberungen. Wahrhaftig, Franz, ich erkenne dich gar nicht wieder! Du behandelst dies junge, dir noch ganz fremde Mädchen, mit einer Rücksicht, ja bisweilen mit einer Zärtlichkeit, deren sich dein einziger und doch so vortrefflicher Bruder nie zu rühmen hatte.«
Sandow hatte sich niedergesetzt und stützte nachsinnend den Kopf in die Hand.
»Es ist etwas so Frisches, Unberührtes um solch ein junges Wesen! Es ruft einem unwillkürlich die eigene Jugend zurück. Das hängt noch so fest an seinen enthusiastischen Ideen, an seinen Träumen von Glück und Zukunft, und kann es nicht begreifen, daß die Welt da draußen ganz anders aussieht. Thörichte Kinderideen, die von selbst fallen werden, sobald das Leben sie in die Schule nimmt, aber wenn man das anhört, wird doch nach und nach alles wieder lebendig, was man einst selbst besessen und – verloren hat.«
Es war wieder jener eigentümliche, verschleierte Ton in seiner Stimme, den die jetzige Umgebung des Kaufmanns nie von seinen Lippen gehört hatte und der wie ein Klang aus alter, ferner Zeit herüberwehte. Frieda mußte es in der That verstanden haben, die rechte Saite zu berühren, die sonst niemand kannte; denn gerade das, was bei Jessy so schonungslos als Schwärmerei und Ueberspanntheit verdammt wurde, hatte ihr den Weg zu dem sonst streng verschlossenen Manne geöffnet. Auch Gustav fühlte diesen Widerspruch, als er mit leisem Spotte entgegnete:
»Das alles sollte dir denn doch nicht neu sein. Du bist ja stets Hausgenosse der Cliffordschen Familie gewesen, und Jessy ist unter deinen Augen aufgewachsen.«
»Jessy ist von jeher der vergötterte Liebling ihrer Eltern gewesen,« erwiderte Sandow kühl. »Sie wurde mit Liebe und Glück förmlich überschüttet, und wer ihr nicht mit schmeichlerischer Zärtlichkeit entgegenkam, wie ich zum Beispiel, den fürchtete und floh sie. Ich habe diesem blondlockigen, weichmütigen und verzärtelten Kinde immer fremd gegenübergestanden, und seit sie erwachsen ist, stehen wir uns vollends fern. Aber diese Frieda mit ihrer herben Verschlossenheit, die man erst überwinden muß, um zu ihrem wahren Wesen zu gelangen, hat nichts Weichliches und Zaghaftes. Hat man erst einmal die spröde Außenseite durchbrochen, so findet man auch nur Kraft und Leben. Ich liebe solche Naturen, vielleicht weil ich einen verwandten Zug darin finde, und manchmal überrascht, ja erschreckt es mich förmlich, wenn ich aus dem Munde des Mädchens Aeußerungen und Empfindungen höre, die genau die meinigen waren, als ich in ihrem Alter stand.«
Gustav erwiderte nichts, aber sein Auge ruhte wieder scharf beobachtend auf dem Antlitze des Bruders. Dieser bemerkte es, und wie unwillig über die wärmere Stimmung, zu der er sich hatte verleiten lassen, brach er sofort ab und nahm den kalten Geschäftston und die Geschäftsmiene wieder an.
»Du hättest übrigens immerhin noch auf einige Stunden nach dem Kontor kommen können. Es liegen Dinge von Wichtigkeit vor, und es ist auch wieder ein Brief von Jenkins eingelaufen. Er dringt jetzt ernstlich auf die Erfüllung deines Versprechens, hinsichtlich der C–schen Zeitung, und es ist auch Zeit dazu. Du mußt ja längst fertig sein.«
»Ich glaubte nicht, daß die Sache Eile hätte,« wandte Gustav ein. »Du hast sie seit Wochen mit keiner Silbe gegen mich erwähnt.«
»Es war noch vieles dabei zu besprechen und vorzubereiten. Ich habe deswegen einen sehr lebhaften Briefwechsel mit New York gehabt.«
»Den du mir aber diesmal nicht zur Einsicht gabst, wie die frühere Korrespondenz.«
»Damals wollte ich dich orientieren. Jetzt aber handelte es sich um Differenzen sehr unangenehmer Art, die ich allein erledigen mußte.«
»Ich weiß – du hast versucht, von der ganzen Sache loszukommen!«
Sandow fuhr auf und sah seinen Bruder mit demselben sprachlosen Erstaunen an, wie damals, als er dessen eigenmächtige Reise nach seinen Besitzungen erfuhr.
»Ich? Wer hat dir das verraten?«
»Niemand, aber ich schloß es aus verschiedenen Anzeichen und sehe jetzt, daß ich mich in meiner Vermutung nicht getäuscht habe.«
Sandow blickte finster und argwöhnisch auf den Bruder, der in voller Unbefangenheit vor ihm stand.
»Du hast ja eine wahrhaft gefährliche Beobachtungsgabe! Man ist bei dir fortwährend unter Kontrolle und seiner geheimsten Gedanken nicht sicher. Nun denn ja – ich habe zurücktreten wollen! Bei näherer Ueberlegung erscheint mir die Spekulation als eine halb verfehlte, die nicht annähernd den Gewinn bringen wird, den wir uns davon versprachen. Ich habe versucht, die eingegangenen Verpflichtungen zu lösen und irgend einen anderen Teilnehmer einzuschieben, aber das ist nicht möglich gewesen. Jenkins besteht auf der Erfüllung unseres Vertrages, und ich habe mich nach allen Seiten hin gebunden. Es muß also bei den früheren Abmachungen bleiben.«
Er stieß das alles in kurzem, gereiztem Tone hervor und spielte dabei in nervöser Hast mit seinem Notizbuche, das er hervorgezogen hatte. Sein ganzes Wesen zeugte von einer heftigen, mühsam verhaltenen Erregung. Gustav bemerkte das anscheinend nicht, er erwiderte mit ruhiger Entschiedenheit:
»Nun es muß und wird doch Mittel geben, von einem solchen Vertrage loszukommen.«
»Nein, denn die Summen, die ich bereits in das Unternehmen gesteckt habe, binden mir die Hände. Sie stehen auf dem Spiel, wenn ich einseitig zurücktrete. Jenkins ist der Mann danach, mich festzuhalten und jeden Buchstaben des Kontraktes gegen mich auszunutzen, sobald sein Vorteil nicht mehr mit dem meinigen Hand in Hand geht. Also muß die Sache ihren Lauf nehmen. – Ah, Miß Frieda, bekommt man Sie endlich zu Gesichte?«
Die letzten Worte, die wie ein Ausatmen klangen, waren an das junge Mädchen gerichtet, das soeben in der Laube erschien. Auch Frieda hatte sich in den letzten Wochen verändert, aber bei ihr kam das anders zum Ausdruck als bei Jessy. Das früher so bleiche Kindergesicht hatte jetzt einen rosigen Schimmer, und die dunkeln Augen blickten wohl noch ernst, aber der trübe Schatten darin war verschwunden. Sie leuchteten auf in freudiger Ueberraschung, als das junge Mädchen den Herrn des Hauses erblickte, dem sie sich sogleich mit offener Zutraulichkeit näherte.
»Mr. Sandow, Sie sind schon zurück? Ich wußte das nicht, sonst wäre ich längst gekommen, aber,« sie blickte auf die ernsten Gesichter der beiden Herren und machte eine Bewegung, als wollte sie sich zurückziehen, »ich störte wohl?«
»Nicht doch,« sagte Sandow rasch. »Wir hatten eine Debatte über Geschäftsangelegenheiten, aber ich bin froh, davon loszukommen. Bleiben Sie nur!« Er warf das Notizbuch auf den Tisch und streckte ihr die Hand hin. Der kalte, strenge Mann, dessen herbes Wesen sich selbst im Familienkreise nicht milderte, schien in diesem Augenblicke ein ganz anderer zu sein. Die wenigen Wochen mußten viel geändert haben.
Gustav begrüßte die junge Hausgenossin in jener artigen aber fremden Art, die er in Gegenwart seines Bruders ihr gegenüber festhielt.
»Ich habe Ihnen einen Gruß und eine Einladung zu bringen, Miß Palm,« sagte er. »Mrs. Henderson erwartet Sie in den nächsten Tagen, um die bereits besprochene Angelegenheit mit Ihnen zu erledigen.«
»Was ist das für eine Angelegenheit?« fragte Sandow, aufmerksam werdend.
Frieda hatte im ersten Augenblicke fragend und wie erschreckt Gustav angesehen und entgegnete jetzt mit einiger Unsicherheit:
»Mrs. Henderson entläßt ihre Gesellschafterin und hat mir diese Stellung angeboten. Ich werde wohl –«
»Sie werden nicht darauf eingehen,« schnitt ihr Sandow mit voller Entschiedenheit und hörbarem Aerger das Wort ab. »Wozu denn überhaupt diese Eile? Es werden sich wohl noch andere und bessere Stellungen für Sie finden.«
»Das Haus des Bankiers ist eins der ersten in der Stadt,« warf Gustav hin.
»Und Mrs. Henderson ist eine der unleidlichsten Damen in der Stadt, die ihre ganze Umgebung mit ihren Nerven und Launen quält, und die Gesellschafterin ist nun vollends das Opfer derselben. Nein, Miß Frieda, geben Sie den Gedanken auf, ich lasse es auf keinen Fall zu, daß Sie eine derartige Stellung annehmen.«
Ein fast unmerkliches aber triumphierendes Lächeln schwebte um Gustavs Lippen. Frieda stand wortlos, mit gesenkten Augen da, ihre alte Befangenheit schien wieder zurückzukehren bei dieser Verhandlung. Sandow mißdeutete ihr Schweigen, er blickte sie prüfend an und setzte dann langsam hinzu: »Das heißt, ich werde keineswegs Ihren freien Willen beschränken. Wenn Sie uns verlassen wollen –«
»Nein, nein!« rief Frieda mit so leidenschaftlicher Heftigkeit, daß es eines warnenden Zeichens von seiten Gustavs bedurfte, um sie zur Besinnung zu bringen. Sie faßte sich indessen rasch und fuhr mit sinkender Stimme fort: »Ich fürchte nur so sehr, Ihnen und Miß Clifford lästig zu fallen.«
»Das ist eine sehr thörichte Furcht, die Sie da hegen,« erklärte Sandow in strafendem Tone. »Uns lästig fallen? Meine Nichte wird Sie bald vom Gegenteil überzeugen. Sie wird Ihnen einen besseren Vorschlag machen, als Mrs. Henderson. Jessy ist ohnehin zu viel allein und bedarf einer Gefährtin; es ist nicht gut, wenn ein junges Mädchen ihres Alters ohne weibliche Gesellschaft ist. Wollen Sie diese Gefährtin sein, Frieda? Wollen Sie ganz bei uns bleiben?«
Das junge Mädchen hob die Augen zu ihm empor; sie waren thränenumschleiert, und es stand etwas darin wie eine wortlose Bitte um Vergebung.
»Wenn Sie damit einverstanden sind, Mr. Sandow, dann nehme ich gern und dankbar die Güte Miß Cliffords an – aber nur, wenn Sie mich bleiben heißen.«
Ueber Sandows Antlitz glitt ein Lächeln, flüchtig und kurz, aber es erhellte doch wie ein Sonnenstrahl die strengen Züge.
»Bin ich denn eine so gefürchtete Macht im Hause? Jessy hat also schon darüber mit Ihnen gesprochen, und Sie haben meinen Einspruch gefürchtet?
Nicht doch, Kind! Ich lasse meiner Nichte volle Freiheit darin und werde sofort mit ihr reden, um die Sache ins reine zu bringen. Mrs. Henderson wird morgen schon erfahren, daß sie sich nach einer anderen Gesellschafterin umsehen muß.«
Er stand rasch auf, und einen kurzen aber freundlichen Gruß zurückwinkend, verließ er die Laube. Kaum war er außer Gehörweite, so trat Gustav zu dem jungen Mädchen.
»Er hat Furcht, daß die Hendersons dich ihm kapern, und will sich so schleunig als möglich deiner versichern!« sagte er triumphierend. »Was sahst du mich vorhin so erschreckt an? Glaubtest du, ich wollte dich wirklich dieser Mrs. Henderson ausliefern, die mir heute allerdings den Auftrag an dich gegeben hat, die mein Bruder aber sonst ganz richtig charakterisiert? Ich mußte notgedrungen wissen, wie er sich zu der Frage deiner Entfernung stellt. Er war ja ganz außer sich darüber. Bravo, Kind! Du machst deine Sache ganz vortrefflich, und ich muß, dir im Gegensatz zu der ersten Zensur jetzt das Zeugnis geben, daß ich sehr mit dir zufrieden bin.«
Frieda hörte nicht auf die Lobsprüche. Ihre Augen folgten Sandow, der soeben hinter den Gebüschen verschwand; jetzt wandte sie sich um und entgegnete gepreßt:
»Ich kann ihn aber nicht länger täuschen. So lange er hart und kalt war, habe ich es noch vermocht, jetzt – drückt mich die Unwahrheit zu Boden.«
»So wirf die ganze Verantwortung auf mich,« ermahnte Gustav. »Ich habe dir diese Stelle zudiktiert, habe die Intrige eingefädelt, wie Miß Clifford sich so schmeichelhaft ausdrückt, ich werde sie auch vertreten, wenn es zur Aufklärung kommt. Jetzt aber heißt es vorwärtsgehen und keinen Schritt zurückweichen. So nahe am Ziele dürfen wir nicht scheitern. Bedenke das und versprich mir, daß du ausharren willst.«
Frieda senkte den Kopf, sie widersprach nicht, aber sie gab auch das geforderte Versprechen nicht. Gustav fuhr in ernsterem Tone fort:
»Auch Jessy drängte mich vorhin zur Entscheidung, und ich sehe, daß sie mein Zögern nicht mehr begreift. Sie kennt eben nicht den Zusammenhang, sie glaubt, daß du ihrem Vormund nur eine Fremde bist, die er liebgewonnen hat und der er ohne Widerstreben die Arme öffnet. Wir aber,« hier ergriff er die Hand des jungen Mädchens und schloß sie fest in die seinige, »wir kennen das besser, mein armes Kind! Wir wissen, daß du gegen einen finstern Haß anzukämpfen hast, der schon ein ganzes Leben vergiftet hat und so fest mit diesem Leben verwachsen ist, daß ein paar freundliche Worte ihn nicht bannen können. Ich habe dir ja dein Recht erstreiten wollen, als mein Bruder Europa verließ, habe es später von neuem versucht, und dabei erfahren, wie tief diese unglückselige Idee in ihm wurzelt. Ihr müßt euch noch viel näher treten, soll sie sich nicht wieder erheben und euch auseinander reißen. Oder glaubst du, daß ich dir ohne die dringendste Notwendigkeit einen solchen Zwang auferlege?«
»O nein, gewiß nicht! Ich folge dir ja auch unbedingt, es wird mir nur so unendlich schwer, zu lügen.«
»Mir gar nicht,« erklärte Gustav. »Ich habe nie geglaubt, daß der jesuitische Grundsatz, daß der Zweck die Mittel heiligt, ein so unfehlbares Mittel gegen alle Gewissensbisse ist. Ich lüge sozusagen mit Seelenruhe, ja sogar mit einem gewissen erhebenden Bewußtsein. Du brauchst dir aber keineswegs ein Beispiel daran zu nehmen. Es ist durchaus nicht notwendig, daß ein Kind, wie du, schon auf der Höhe meiner Objektivität steht. Im Gegenteil, dir muß und soll die Unwahrheit noch schwer werden, und es gereicht mir zur großen Genugthuung, daß es in der That der Fall ist.«
»Aber Jessy!« wandte Frieda ein, »darf ich sie denn nicht endlich in das Vertrauen ziehen? Sie ist mir so freundschaftlich, so liebevoll entgegen gekommen, hat mir, der Fremden, wie eine Schwester die Arme geöffnet –«
»Um mich loszuwerden!« fiel Gustav ein. »Ja, deshalb allein hat sie dich mit offenen Armen empfangen. Um meiner Bewerbung zu entgehen, hätte sie es zugelassen, wenn ich ihr den leibhaftigen Gottseibeiuns ins Haus geführt hätte, wofern er sie nur von dem unwillkommenen Freier erlöste. Nichts da! Jessy bleibt aus dem Spiel! Es ist mein Spezialvergnügen, mich von ihr verachten zu lassen, und ich muß das durchaus noch eine Weile genießen.«
»Weil dir das Ganze nur ein Spiel ist,« sagte Frieda mit vorwurfsvoller Miene. »Aber sie leidet darunter.«
»Wer? Jessy? Nicht doch, sie ärgert sich höchstens über meine sogenannte Abscheulichkeit, und die kleine Genugthuung will ich mir wenigstens gönnen, ihr diesen Aerger noch zu lassen.«
»Du irrst, es thut ihr bitter weh, dich so beurteilen zu müssen. Ich weiß, wie sie darüber geweint hat.«
Gustav fuhr wie elektrisiert in die Höhe. »Ist das wahr? Hast du das wirklich gesehen? Sie hat geweint?«
Frieda sah mit maßloser Verwunderung in sein leuchtendes Gesicht. »Und darüber freust du dich? Kannst du es ihr denn wirklich zum Vorwurf machen, wenn sie dich einen Irrtum entgelten läßt, den du selbst hervorgerufen hast? Kannst du so rachsüchtig sein und sie dafür quälen?«
»O du sechzehnjährige Weisheit!« rief Gustav, in ein übermütiges Lachen ausbrechend. »Du willst deine Freundin gegen mich in Schutz nehmen, gegen mich! Du bist zwar schon recht klug für deine Jahre, meine kleine Frieda, aber von solchen Dingen verstehst du doch noch gar nichts, und das ist auch gar nicht nötig. Du kannst immerhin damit noch ein paar Jahre warten. Aber nun heraus mit der Sprache! Wann hat Jessy geweint? Worüber hat sie geweint? Woher weißt du, daß die Thränen mir galten? So sprich doch, du siehst ja, daß ich vor Ungeduld vergehe!«
Sein Gesicht verriet in der That die höchste Spannung, und er las die Worte förmlich von den Lippen des jungen Mädchens ab. Frieda schien allerdings noch nichts von »solchen Dingen« zu verstehen, denn sie sah noch immer äußerst erstaunt aus, gab aber doch seinem Drängen nach.
»Jessy hat mir neulich Vorstellungen gemacht, ob ich es denn wirklich wagen wolle, einem herzlosen Egoisten wie du meine ganze Zukunft anzuvertrauen. Ich verteidigte dich, ungeschickt genug, denn ich durfte ja nichts verraten und mußte jeden Vorwurf gegen dich stillschweigend hinnehmen.«
»Nun, weiter,« drängte Gustav atemlos. »Weiter!«
»Da, mitten im Gespräche, brach Jessy plötzlich in Thränen aus und rief: ›Du bist blind, Frieda, du willst es sein, und ich habe doch nur dein Glück im Auge! Du weißt nicht, wie furchtbar wehe es mir thut, diesen Mann so vor dir herabsetzen zu müssen, und was ich darum gäbe, wenn er vor mir so rein und hoch dastände, wie in deinen Augen!‹ Und damit eilte sie fort und schloß sich in ihr Zimmer ein. Ich weiß aber, daß sie dort stundenlang geweint hat.«
»Das ist ja eine unvergleichliche, eine ganz himmlische Nachricht!« brach Gustav im vollsten Entzücken aus. »Kind, du weißt es gar nicht, wie klug du gewesen bist mit deiner Beobachtungsgabe. Komm, dafür muß ich dir einen Kuß geben!« und damit umfaßte er das junge Mädchen und küßte sie herzhaft auf beide Wangen.
Ein Schatten fiel in den Eingang der Laube – dort stand Sandow, der umgekehrt war, um sein vergessenes Notizbuch zu holen, und nun Zeuge dieser Szene wurde. Einen Moment lang stand er sprach- und regungslos da, dann aber trat er näher und rief in vollster Empörung:
»Gustav! – Miß Palm!«
Das junge Mädchen fuhr erschrocken auf, auch Gustav erbleichte, als er sie losließ. Die Katastrophe, die er um jeden Preis verzögern wollte, war nun da, war unabwendbar geworden, das sah er mit einem Blick; jetzt galt es ihr standzuhalten.
»Was geht hier vor?« fragte Sandow, seinen Bruder mit sprühenden Augen messend. »Wie kannst du es wagen, einem jungen Mädchen, das unter dem Schutze meines Hauses steht, so zu nahen? Und Sie, Miß Palm, wie konnten Sie eine solche Annäherung dulden? Ist sie Ihnen vielleicht erwünscht gewesen? Es scheint ja schon ein recht vertrautes Verhältnis zu sein!«
Frieda blieb die Antwort schuldig auf diesen ihr mit voller Bitterkeit zugeschleuderten Vorwurf. Sie sah Gustav an, als ob sie von ihm ihre Verteidigung erwarte. Er hatte sich auch bereits wieder gefaßt und näherte sich beschwichtigend seinem Bruder.
»Höre mich an! Du bist im Irrtum; ich werde dir alles erklären –«
»Es bedarf keiner Erklärung,« unterbrach ihn Sandow. »Ich habe es gesehen, was du dir herausgenommen hast, und du wirst mir doch das Zeugnis meiner eigenen Augen nicht abstreiten wollen. Für leichtsinnig habe ich dich immer gehalten, aber nicht für so ehrlos, daß du hier, fast unter den Augen Jessys, deiner versprochenen Braut –«
»Franz, jetzt höre auf!« fiel ihm Gustav plötzlich so fest und bestimmt ins Wort, daß selbst der aufs höchste erzürnte Mann davor verstummte. »Dergleichen kann ich mir denn doch nicht sagen lassen, so weit geht meine Aufopferung nicht. Frieda, hierher zu mir! Du siehst es ja, daß wir sprechen müssen! Er muß die Wahrheit erfahren.«
Frieda gehorchte; sie kam an seine Seite und er legte schützend den Arm um sie. Sandow sah völlig verständnislos von einem zum andern. Der Vorgang war ihm unerklärlich; er hatte augenscheinlich keine Ahnung der Wahrheit.
»Du thust mir Unrecht mit deinem Vorwurf,« fuhr Gustav fort, »und du thust Frieda Unrecht damit. Wenn ich sie küßte, so hatte ich ein Recht dazu. Ist sie doch mein Schützling gewesen von ihrer frühsten Jugend an. Das arme, verlassene Kind wurde ja von allen verleugnet, die ihm schützend und liebend hätten zur Seite stehen sollen. Ich war der einzige, der sein Verwandtenrecht geltend machte. Das habe ich auch jetzt gebraucht, und ich denke es vertreten zu können.«
Es war überraschend, wie tiefernst die Stimme des oft so übermütigen Spötters klingen konnte. Sandow war schon bei den ersten Worten wie im ahnungsvollen Schrecken zurückgetreten. Alle Farbe wich aus seinem Antlitz, es wurde bleicher und bleicher, und den Blick starr auf Frieda geheftet wiederholte er tonlos und fast mechanisch:
»Dein Verwandtenrecht? Was was soll das heißen?«
Gustav hob den Kopf des jungen Mädchens empor, der an seiner Schulter lehnte, und wandte ihr Gesicht voll und ganz dem Bruder zu.
»Wenn du es noch nicht errätst, so lies es aus diesem Antlitz, vielleicht wird dir jetzt klar, wem die Aehnlichkeit angehört, die du darin suchtest. Ich habe dich allerdings getäuscht, täuschen müssen, denn du wiesest jede Möglichkeit einer Verständigung von dir. Da griff ich zum letzten Mittel und führte Frieda selbst hierher. Ich hoffte, du würdest nach und nach das Gefühl verstehen lernen, das dein halb erstorbenes Herz wieder erwärmte; ich glaubte, es müßte endlich eine Ahnung in dir aufdämmern, daß die Fremde, zu der es dich doch so mächtig hinzog, ein Recht auf deine Liebe habe. – Das ist nun vereitelt, die Entdeckung kommt dir plötzlich und ungeahnt, aber sieh' diese Züge an, es sind die deinen. Du hast lange Jahre hindurch unter einem schweren, finsteren Wahn gelitten und ein schuldloses Kind die Schuld seiner Mutter büßen lassen. Nun erwache endlich daraus und öffne ihm die Arme – deinem einzigen, deinem verleugneten Kinde!«
Eine lange, schwere Pause folgte diesen Worten. Sandow wankte und einen Augenblick schien es, als wolle er zusammenbrechen, aber er blieb aufrecht stehen. In seinem Antlitz arbeitete es furchtbar und seine Brust hob sich keuchend unter einzelnen, kurzen Atemzügen, aber er sprach kein Wort.
»Komm, Frieda,« sagte Gustav in weicherem Tone. »Komm zu deinem Vater, du siehst es ja, daß er wartet.«
Er zog sie vorwärts und wollte sie seinem Bruder zuführen, aber jetzt gewann dieser auf einmal die Sprache zurück. Er machte eine Bewegung, als wolle er die Nahende von sich stoßen, und sagte dumpf und rauh:
»Zurück! So leicht soll euch der Sieg denn doch nicht werden! Ich durchschaue jetzt die Komödie.«
Frieda zuckte zusammen; sie machte sich von dem Arme ihres Beschützers los und wich langsam immer weiter zurück, bis an den äußersten Rand der Laube.
»Die Komödie?« wiederholte Gustav verletzt. »Franz, wie kannst du in solchem Augenblicke so sprechen?«
»Und was ist es denn anders?« brach Sandow aus. »Wie nennst du denn das elende Gaukelspiel, das ihr hinter meinem Rücken getrieben habt? Also seit Wochen bin ich in meinem eignen Hause von Lug und Trug umsponnen gewesen! Und auch Jessy habt ihr mit hineingezogen, ohne ihr Einverständnis wäre es ja nicht möglich gewesen! Alle habt ihr euch gegen mich verschworen! Du –« er wandte sich zu Frieda und es schien, als wolle sich all sein Zorn und Haß über sie allein ergießen, aber da begegnete er den Augen des Mädchens und die Worte erstarben auf seinen Lippen. Er schwieg einige Sekunden lang und fuhr dann mit bitterem Hohne fort: »Dir hat man es wohl sehr verlockend geschildert, einen Vater zu haben, der dir Reichtümer vererben und dir eine glänzende Lebensstellung geben kann? Deshalb hast du dich mit einer Lüge in mein Haus gestohlen. Aber was ich geschworen habe, als ich Europa verließ, das bleibt bestehen. Ich habe kein Kind, will keins haben, und wenn das Gesetz es mir zehnfach zuspricht. Geh' zurück über den Ozean, wo du hergekommen bist. Ich will nicht das Opfer eines Betruges sein!«
»Das habe ich gefürchtet!« sagte Gustav halblaut. »Frieda,« er trat rasch zu ihr, »jetzt wecke du das Vatergefühl. Du siehst es ja, daß er mich nicht hört, dich wird und muß er hören. Aber so sprich doch, so öffne doch wenigstens die Lippen! Fühlst du es denn nicht, was an dieser Minute hängt?«
Aber Frieda sprach nicht und öffnete auch nicht die Lippen, die sich krampfhaft fest aufeinander preßten. Auch sie war jetzt totenbleich, aber in ihrem Gesichte stand derselbe Ausdruck harten, finsteren Trotzes, der die Züge ihres Vaters entstellte.
»Laß mich, Onkel Gustav,« entgegnete sie. »Ich kann jetzt nicht bitten, und wenn mein Leben daran hinge, ich könnte es nicht. Ich will meinem Vater nur sagen, daß ich unschuldig bin an dem ›Betrug‹, den er mir vorwirft.«
Die zarte Gestalt des Mädchens richtete sich plötzlich zu ihrer vollen Höhe empor, die dunkeln Augen flammten auf und das tiefverletzte Gefühl brach hervor, leidenschaftlich alle Schranken überflutend, wie ein Strom, den nichts mehr hemmen kann.
»Du brauchtest mich nicht so hart fortzuweisen, ich wäre doch gegangen in dem Augenblick, wo mir klar wurde, daß das Einzige, was ich hier suchte, das Herz des Vaters, mir versagt bleibt. Ich habe ja nie die Elternliebe gekannt! Die Mutter war mir entfremdet, von dem Vater wußte ich nur, daß er fern, jenseits des Ozeans lebte, und daß er mich verstoßen hatte, weil er meine Mutter haßte. Ich bin nicht gern gekommen, denn ich kannte und liebte dich nicht, ich fürchtete dich nur. Aber der Onkel sagte mir, daß du einsam und verbittert im Leben daständest, tief unglücklich, trotz deines Reichtums; daß du Liebe brauchtest, und daß ich allein sie dir geben könnte. Damit hat er mich gezwungen, ihm zu folgen, trotz meines Widerstrebens; damit hat er mich immer wieder gebannt, wenn ich in die Heimat zurückflüchten wollte. Jetzt aber wird er mich wohl nicht mehr halten wollen, und thäte er es, ich risse mich doch los. Behalte deine Reichtümer, mein Vater, die, wie du glaubst, mich allein zu dir gezogen haben! Segen haben sie dir nicht gebracht, das wußte ich längst, und das höre ich jetzt wieder aus deinen Worten. Wärst du arm und verlassen, ich würde trotz alledem versuchen, dich zu lieben, jetzt kann ich es nicht. Ich gehe noch in dieser Stunde!«
Es war etwas Maßloses in dieser Heftigkeit, in diesem Trotze, mit dem sich das Mädchen aufbäumte, aber gerade darin verriet sich etwas, was mächtiger wirkte, als alle Bitten es vermocht hätten – die Aehnlichkeit der Tochter mit ihrem Vater. Im gewöhnlichen Kreislauf des Lebens mochte diese Aehnlichkeit in dem Gesicht des sechzehnjährigen Mädchens und dem des Mannes, der schon graue Haare trug, sich verwischen oder nur in einzelnen Andeutungen verraten; hier, im Momente der höchsten Erregung, kam sie so überzeugend, so überwältigend zum Ausdruck, daß jeder Zweifel davor zu Boden sank.
Auch Sandow mußte das sehen, er mochte wollen oder nicht. Das waren seine Augen, die ihm da entgegenflammten, seine Stimme, die in seinen Ohren klang, das war sein eigener, finsterer, unbeugsamer Starrsinn, der sich jetzt gegen ihn kehrte. Zug um Zug sah er sich in seiner Tochter wiederholt. Die Stimme des Blutes und der Natur zeugte so laut und unwiderleglich, daß auch der so lang festgehaltene Wahn des Vaters zu weichen begann.
Frieda wandte sich zu ihrem Onkel. »In einer Stunde bin ich reisefertig. Vergib, Onkel Gustav, daß ich deine Lehren so schlecht befolge, daß ich all deine Aufopferung unnütz mache, aber – ich kann nicht anders!«
Sie warf sich stürmisch an seine Brust, aber nur einen Augenblick lang, dann riß sie sich los, flog an dem Vater vorüber und eilte wie gejagt durch den Garten, dem Hause zu.
Sandow hatte, als er seine Tochter in den Armen des Bruders sah, eine Bewegung gemacht, als wolle er sie von diesem Platze zurückreißen, aber seine Hand sank machtlos nieder, und jetzt sank er selbst wie gebrochen auf einen Stuhl und verbarg das Gesicht in den Händen.
Gustav dagegen machte keinen Versuch, seine Nichte zurückzuhalten. Er stand ruhig da, mit verschränkten Armen, und beobachtete seinen Bruder. Endlich fragte er:
»Glaubst du es nun?«
Sandow richtete sich empor; er wollte antworten, aber die Worte versagten ihm, er brachte keinen Laut über die Lippen.
»Ich dächte, diese Begegnung müßte dich überzeugt haben,« fuhr Gustav fort. »Die Aehnlichkeit war ja geradezu erschreckend. Du hast dich in deinem Kinde wie in einem Spiegelbilde gesehen. Franz, wenn du auch diesem Zeugnis nicht glaubst, dann freilich ist alles verloren.«
Sandow fuhr mit der Hand über die von kaltem Schweiß bedeckte Stirn und blickte dann nach dem Hause, wo Frieda längst verschwunden war.
»Rufe sie zurück!« sagte er leise.
»Das wäre vergebene Mühe, sie würde mir doch nicht folgen. Würdest du zurückkommen, wenn man dich so fortgewiesen hätte? Frieda ist die Tochter ihres Vaters, sie naht dir sicher nicht wieder – du müßtest sie denn selbst zurückholen.«
Wieder folgte ein minutenlanges Schweigen, dann erhob sich Sandow langsam und zögernd, aber er erhob sich doch. Gustav legte rasch die Hand auf seinen Arm.
»Noch ein Wort, Franz, ehe du gehst. Frieda weiß von der Vergangenheit nur, was sie notgedrungen wissen mußte, nicht eine Silbe mehr. Sie ahnt nicht, warum du sie verstoßen und welcher furchtbare Verdacht sie jahrelang von dem Herzen ihres Vaters entfernt hielt. Ich konnte es nicht über mich gewinnen, dem Kinde das zu enthüllen. Sie glaubt, daß du ihre Mutter haßtest, weil sie sich nach einer unglücklichen Ehe von dir getrennt und einem andern Manne vermählt hat, und daß du diesen Haß auch auf sie selber übertragen hast. Das Motiv genügt ihr, sie fragt nach keinem andern, also laß es dabei bewenden. Ich denke, du wirst es begreifen, daß ich deine Tochter nicht einen Blick in die ganze Tiefe deines häuslichen Elends thun ließ und ihr das Schlimmste verschwieg. Wenn du es nicht berührst, so wird sie es nie erfahren.«
»Ich – danke dir!« Der ältere Bruder ergriff die Hand des jüngeren, die dieser fest und herzlich drückte. Dann wandte sich Sandow um und ging raschen Schrittes davon.
»Er geht zu ihr!« sagte Gustav aufatmend. »Gott sei Dank – nun mögen sie das weitere allein ausmachen!«
* *
*
Frieda hatte sich in ihr Zimmer geflüchtet, das im oberen Stockwerk der Villa lag. Eine andere hätte sich jetzt vielleicht den Thränen hingegeben oder bei der teilnehmenden Jessy ihr Herz ausgeschüttet, aber das junge Mädchen that nichts von dem allem; sie traf nur in unruhiger Hast die Vorbereitungen zur Abreise. Die harte Zurückweisung des Vaters, die wie Feuer auf ihrer Seele brannte, ließ nur den einen Gedanken aufkommen: Hinweg aus diesem Hause, aus dem man sie so verletzend fortgewiesen, hinweg, so schnell als möglich!
Frieda hatte ihren Reisekoffer hervorgezogen, der noch in einer Ecke des Gemaches stand, und raffte jetzt ihre Sachen zusammen. Das geschah stumm, thränenlos, aber mit einer stürmischen Eile, als gelte es einem Unglück zu entfliehen. Sie kniete vor dem geöffneten Koffer und war im Begriff, einige Kleidungsstücke hineinzulegen, als draußen auf der Treppe Schritte ertönten. Es war jedenfalls der Onkel, der sie aufsuchte; sie wußte es ja, daß er zu ihr kommen würde, und wollte ihn bitten, mit ihr nach einem Hotel zu fahren. Von dort konnte er über die Rückreise bestimmen. Sie wollte sich in alles fügen, allem gehorchen, nur sollte er nicht versuchen, sie noch länger hier zu halten. Die Schritte kamen näher, die Thür öffnete sich und auf der Schwelle stand – der Vater!
Frieda bebte zusammen, das Tuch, das sie in der Hand hielt, fiel zu Boden, und sie selbst verharrte wie gelähmt vor Ueberraschung in ihrer Stellung. Sandow schloß die Thür und trat vollends ein; er blickte auf den geöffneten Koffer und die umherliegenden Sachen.
»Du willst fort?«
»Ja.«
Frage und Antwort klangen gleich kurz und herb. Es schien, als wolle sich die Kluft zwischen Vater und Tochter noch einmal in ihrer ganzen Weite aufthun. Sandow schwieg einige Sekunden lang, er kämpfte offenbar mit sich selber, endlich sagte er:
»Komm zu mir, Frieda!«
Sie erhob sich zögernd, stand einen Moment lang wie unentschlossen da und näherte sich dann langsam, bis sie dicht vor dem Vater stand. Er legte den Arm um sie und hob mit der andern Hand ihren Kopf empor. Zu ihr herabgebeugt, schien er Zug für Zug, Linie für Linie zu prüfen, und seine Augen bohrten sich förmlich in ihr Antlitz. Der alte Argwohn erhob sich noch einmal, zum letztenmal, aber er floh weiter und weiter, je mehr der Vater die eigenen Züge in seinem Kinde wiederfand.
Ein tiefer, befreiender Atemzug rang sich aus Sandows Brust empor, und der halb angstvoll forschende, halb drohende Blick schmolz in einer Thräne, die heiß und schwer auf Friedas Stirn niederfiel.
»Ich habe dir vorhin wehe gethan,« sagte er, »aber glaubst du denn, daß es mir leicht wurde, das Einzige von mir zu stoßen, was mir noch Freude am Leben verheißt? Gustav hat recht, es war ein böser, finsterer Wahn, mag er vergessen sein für immer! Mein Kind,« seine Stimme brach in tiefster Erschütterung, »willst du deinen Vater lieben?«
Ein Aufschrei des Jubels brach von den Lippen der Tochter. Vor diesem Ton, dem ersten, der voll und ganz aus dem Herzen kam, versank die Bitterkeit der letzten Stunde, versank auch die jahrelange Trennung und Entfremdung, Frieda schlang beide Arme um den Hals ihres Vaters, und als er sie jetzt mit stürmischer Zärtlichkeit an seine Brust schloß, da fühlten sie es beide, daß der alte Schatten, der so lange trennend zwischen ihnen gestanden, gebannt war für immer!
Auch Gustav war inzwischen langsam nach Hause zurückgekehrt. Als er in den Gartensalon trat, kam ihm Jessy in größter Unruhe entgegen.
»Mr. Sandow, was um Gotteswillen ist denn vorgefallen? Frieda stürzt vor zehn Minuten in mein Zimmer, ganz außer sich, fällt mir um den Hals und sagt mir lebewohl. Sie erklärt, daß sie fort müsse, daß sie nicht eine Stunde länger bleiben könne, will keiner Frage Rede stehen, sondern verweist mich wegen der Aufklärung an Sie und eilt davon. Was ist denn geschehen?«
Gustav zuckte die Achseln. »Was ich fürchtete, als ich die Entdeckung noch hinausschieben wollte. Ein Zufall verriet meinem Bruder unser Geheimnis und wir mußten ihm die Wahrheit bekennen. Sein Zorn über die Täuschung loderte mit voller Heftigkeit auf und ergoß sich schonungslos über uns beide. Frieda hielt dieser Szene nicht stand, sie erklärte gehen zu wollen und trifft wahrscheinlich jetzt schon ihre Reisevorbereitungen.«
»Und Sie sind nicht bei ihr?« rief Jessy. »Sie haben sie nicht geschützt und vertreten? Können Sie Frieda in einer solchen Stunde wirklich allein lassen? Gehen Sie zu ihr!«
»Da bin ich augenblicklich ganz überflüssig,« erklärte Gustav mit einer Ruhe, die Miß Clifford als der Gipfel des Egoismus erschien. »Was nun noch zu thun ist, das mag Frieda allein ausfechten. Ich werde nun wohl endlich auch an mich denken dürfen.«
Seine Augen, die auf Jessys Antlitz ruhten, leuchteten wieder wie vorhin, als ihm Frieda jene Aeußerungen wiederholte. Bei diesem Anschauen vergaß er ganz, daß seine Worte notwendig mißverstanden werden mußten, und das geschah denn auch im vollsten Umfange.
»Sie haben von jeher nur zu viel an sich gedacht,« entgegnete Jessy, immer erregter werdend. »Aber wenn noch ein Funke von Liebe in Ihrer Brust ist, so müssen Sie jetzt fühlen, daß Ihr Platz an der Seite Ihrer Braut ist.«
Gustav lächelte und trat dicht an die Erzürnte heran, während er mit Nachdruck sagte:
»Frieda ist nicht meine Braut, ist es nie gewesen.«
Jessy blickte ihn an, als habe sie nicht recht gehört.
»Nicht Ihre Braut?«
»Nein, erinnern Sie sich, daß ich sie ausdrücklich als meinen Schützling bei Ihnen einführte. Sie waren es, Miß Clifford, die ein anderes Verhältnis annahm, und ich ließ Sie stillschweigend in Ihrem Irrtum. Jetzt aber, wo meine Beschützerrolle zu Ende ist, darf ich es Ihnen wohl eingestehen, daß meine Empfindungen von einer ganz andern Seite gefesselt waren.«
Er beugte sich über ihre Hand und drückte einen leidenschaftlichen Kuß darauf, der seine Worte hinreichend erklärte, aber das Spiel, das er in seinem Uebermute getrieben, sollte nun auf ihn selbst zurückfallen. Er hatte sich zu lange als den herzlosen Egoisten hingestellt und mußte das jetzt büßen. Jessy riß in tiefster Empörung ihre Hand zurück.
»Ah, Mr. Sandow, das geht denn doch zu weit! Also jetzt, wo Ihr Bruder Frieda zurückstößt, wo Sie die Unmöglichkeit einsehen, seine Einwilligung zu erlangen, jetzt wagen Sie es, mir zu nahen? Sie versuchen es sogar, mir gegenüber Ihre Braut zu verleugnen und alles für eine Komödie auszugeben? Das ist wahrlich zu viel!«
»Aber Miß Clifford, um des Himmels willen –!« rief Gustav, jetzt im vollen Ernste erschrocken; doch sie ließ ihn nicht zu Worte kommen, sondern fuhr wie außer sich fort:
»Ich habe es schon damals gewußt, als Sie den ›Schützling‹ so betonten, daß Sie sich den Rückzug offen halten wollten. Wenn das Vermögen nicht mit Frieda zu erreichen war, so sollte es ohne sie erreicht werden. Dann blieb Ihnen ja noch die Erbin, die Ihnen von Anfang an zugedacht war, und diese Erbin wollen Sie sich jetzt sichern, wo die Verlassene, Aufgegebene noch in unserem Hause weilt! Ich habe schon manche bittere Enttäuschung hinsichtlich Ihres Charakters erfahren, aber eine so schmähliche Verleugnung aller Treue und alles Glaubens hatte ich denn doch nicht erwartet!«
Ein Thränenstrom erstickte ihre Stimme. Gustav wollte beschwichtigen, bitten, erklären, aber es war vergebens. Sie eilte in das anstoßende Zimmer, und als er ihr folgen wollte, wurde von innen der Riegel vorgeschoben. Gleich darauf hörte er, wie Jessy auch dies Zimmer durch eine andere Thür verließ, sie war also auch nicht mehr seinen Worten erreichbar.
Der Zurückgebliebene begann jetzt seinem Zorne Luft zu machen. »Das ist denn doch zu arg! Das habe ich von meiner Aufopferung für die Interessen anderer! Mein Bruder fährt wie ein Wüterich auf mich los, weil ich meiner Nichte Zärtlichkeit erweise, und hier werde ich wie ein Verbrecher behandelt, weil ich sie ihr nicht erweise. Freilich, ich hätte Jessy früher ins Vertrauen ziehen sollen. Das kommt von dem verwünschten Uebermut! Mir hat. die Sache Spaß gemacht und sie – sie weinte ja wie eine Verzweifelte! Jetzt kann ich vielleicht bis morgen warten, ehe sie wieder zum Vorschein kommt, und das Mißverständnis darf keine Stunde länger währen.«
Er stampfte ratlos und verzweifelt mit dem Fuße, als urplötzlich eine Stimme hinter ihm sagte:
»Um Vergebung – man hat mich hier hergewiesen.«
Gustav fuhr auf und sah sich um.
An der Hauptthüre des Salons stand ein Fremder, ein kleiner Herr, mit rotem Gesicht, der sich jetzt artig verbeugte.
»Habe ich vielleicht die Ehre, den Chef des Cliffordschen Hauses zu sehen?« sagte er etwas ängstlich, denn die wütende Pantomime Gustavs war ihm nicht entgangen. »Ich war bereits auf dem Kontor und erfuhr dort, daß Mr. Sandow die Stadt schon verlassen hatte. Da meine Angelegenheit aber dringend ist, so habe ich ihn hier auf seiner Villa aufgesucht.«
»Mein Bruder ist nicht zu sprechen,« versetzte Gustav in gereiztem Tone, denn bei seiner brennenden Ungeduld war ihm die Störung im höchsten Grade unwillkommen. »Er hat wichtige Verhinderung und empfängt heute niemand.«
Bei dem Worte ›Bruder‹ verneigte sich der kleine Herr noch tiefer und kam vertrauungsvoll näher.
»Ah, Mr. Gustav Sandow! der große deutsche Journalist! Ich bin hocherfreut, daß mir das Glück zu teil wird, eine solche Berühmtheit kennen zu lernen, eine Berühmtheit, die auch von unserer Firma nach ihrem vollen Werte geschätzt wird.«
»Was wünschen Sie denn eigentlich?« fragte Gustav mit einem Blicke, der das dringende Verlangen aussprach, den Bewunderer seiner Größe zur Thür hinaus zu befördern.
»Ich bin ein Agent von Jenkins und Kompanie,« erklärte der Fremde, den Namen mit großem Selbstgefühl betonend. »Ich bin erst heute mit einer Anzahl von Auswanderern hier angelangt und sah mich genötigt, sofort unsern verehrten Geschäftsfreund aufzusuchen. Da Mr. Sandow aber nicht zu sprechen ist, so kann ich wohl auch Ihnen meine Mitteilung machen.«
Das brachte Gustav nun vollends um den letzten Rest von Geduld, über den er noch verfügte. In solchem Augenblick einen Agenten von Jenkins und Kompanie empfangen zu müssen, ging über seine Kräfte. Er fuhr den Vertreter des verhaßten Namens mit der größten Unhöflichkeit an.
»Ich nehme keine Mitteilungen entgegen, die für meinen Bruder bestimmt sind. Bringen Sie Ihre Nachrichten morgen auf dem Kontor an. Ich wollte,« hier ließ er plötzlich das Englische fallen, in dem er mit dem Amerikaner gesprochen, und brach in eine kräftige deutsche Verwünschung aus. »Ich wollte der Kuckuck holte Jenkins und Kompanie und deren sämtliche Agenten, und expedierte die ganze Gesellschaft nach ihren verwünschten Ländereien im Westen, damit ihnen ihre menschenfreundlichen Spekulationen auf ihre eigenen Köpfe fielen!« Damit ließ er den ganz verdutzten Herrn stehen und lief zu einer andern Thür hinaus.
Der Agent sah ihm mit verwirrter Miene nach. Er hatte zwar den deutschen Teil der Rede nicht verstanden, aber so viel war ihm doch klar geworden, daß die Worte des großen deutschen Journalisten' eine gewisse Grobheit enthielten. Zu seiner Betrübnis sah er ein, daß keine Aussicht war, seine Mitteilung heute anzubringen. Der ältere Mr. Sandow blieb unsichtbar und der jüngere –. Der kleine Herr schüttelte den Kopf und sagte bedenklich, während er den Rückzug antrat:
»Merkwürdige Leute, diese deutschen Journalisten! Sie sind so nervös, so aufgeregt, ja gewissermaßen wütend. Wenn man ihnen Komplimente sagt, so antworten sie mit einer Grobheit. Da pflegen unsere Herren von der Presse doch viel höflicher zu sein, wenn man ihnen von ihrer großen Berühmtheit spricht!«
Jessy hatte sich wirklich in ihr Zimmer eingeschlossen und ließ dort ihren Thränen freien Lauf. Nie in ihrem ganzen Leben war sie so verzweifelt, so tief unglücklich gewesen, wie in dieser Stunde. Jetzt erst fühlte sie, wie fest ihr Herz an dem Manne hing, den sie doch um jeden Preis von sich stoßen wollte.
Sie hatte längst ein geheimes Interesse für diesen Bruder ihres Vormundes gehegt, als er noch in Deutschland lebte. Sie kannte ihn nicht, aber seine Feder wob ein unsichtbares Band zwischen ihnen. Mit welchem glühenden Eifer hatte sie stets seine Artikel gelesen, mit welcher Begeisterung war sie dem Fluge seines Idealismus gefolgt. Sie wußte sich eins mit ihm in allem Denken und Fühlen, und er war ihr allmählich eine Art von Ideal geworden. Und nun war der Idealist gekommen, um mit Verleugnung seiner ganzen Vergangenheit sich zu den Geldspekulationen seines Bruders herzugeben. Nun verbarg er feige seine Herzensneigung vor diesem Bruder, häufte Intrige auf Intrige, um nur ja das zugesagte Vermögen nicht zu verlieren, und als dies Vermögen doch auf dem Spiele stand, da verleugnete er auch seine Braut und zog die Erbin vor. Der elendeste Egoismus, die niedrigste Berechnung waren die alleinigen Triebfedern seiner Handlungen. Jessy haßte und verachtete ihn aus voller Seele, aber daß sie das thun mußte, daß sie gerade diesen Mann verachten mußte, das zerriß ihr das Herz.
Sie hatte sich auf das Sofa geworfen und verbarg schluchzend ihr Gesicht in den Kissen, als plötzlich ihr Name genannt wurde, und erschrocken emporfahrend erblickte sie Gustav Sandow, der mitten im Zimmer stand. Sie sprang auf.
»Mr. Sandow, wie kommen Sie hierher? Ich hatte doch –«
»Ja, Sie hatten mir den Weg durch den Salon verriegelt,« fiel ihr Gustav ins Wort, »und ihr Kammermädchen erhielt auch Befehl, niemand einzulassen, aber ich habe mich nicht daran gekehrt und bin trotz Riegel und Kammerjungfer zu Ihnen gedrungen. Sprechen muß ich Sie, das ist für uns beide notwendig.«
»Ich will Sie aber nicht hören!« rief Jessy, mit einem vergeblichen Versuch, ihre Fassung zu behaupten.
»Ich will aber gehört sein!« versetzte Gustav. »Ich hatte anfangs die Absicht, Frieda als Parlamentär abzusenden, aber das dauert mir zu lange. Sie ist noch bei ihrem Vater.«
»Bei wem?«
»Bei ihrem Vater – meinem Bruder!«
Jessy stand wie erstarrt. Die Entdeckung kam so plötzlich, daß sie sie im ersten Augenblicke nicht zu fassen vermochte; erst als Gustav fragte: »Darf ich mich nun rechtfertigen?« erst da blitzte es wie Hoffnung und Glück in ihrer Seele auf. Sie ließ es geschehen, daß er ihre Hand ergriff, sie zum Sofa führte und neben ihr Platz nahm.
»Ich habe Ihnen zu beichten, Miß Clifford,« begann er. »Ich muß weit in die Vergangenheit meines Bruders zurückgreifen, um Ihnen alles zu erklären. Später mag es ausführlicher geschehen, jetzt sollen Sie nur das erfahren, was mich rechtfertigt.«
Er hielt ihre Hand noch immer in der seinigen und Jessy ließ es widerspruchslos geschehen. Sie begann jetzt an die Möglichkeit einer Rechtfertigung zu glauben.
»Mein Bruder hat in seinem Familienleben sehr bittere Erfahrungen gemacht. Eine scheinbar glückliche Ehe endete für ihn mit einer furchtbaren Entdeckung. Er sah sich von seiner Frau und seinem nächsten Freunde verraten, und die Vorgänge bei jener Katastrophe waren derart, daß mit dem Glück seines Hauses auch seine äußere Lebensstellung zusammenstürzte. Er konnte und wollte nicht länger in der Heimat bleiben und ging nach Amerika, wo er bei Ihren Eltern Aufnahme fand. Aber er hatte in Deutschland eine Tochter zurückgelassen, sein einziges Kind, das damals erst wenige Jahre zählte. In seinem Haß, seiner Verbitterung gegen alles, wollte er auch dies Kind nicht anerkennen, es blieb der Mutter, die sich nach erfolgter Scheidung jenem Manne vermählte.«
Er hielt einen Augenblick inne. Jessy hörte in atemloser Spannung zu, auf ihrem bleichen, noch thränenfeuchten Antlitz stieg allmählich eine leise Röte auf, während Gustav fortfuhr:
»Ich befand mich damals noch auf der Universität und hatte keine Möglichkeit, für Frieda einzutreten, da meine Vorstellungen wirkungslos blieben, aber verlassen habe ich meine kleine Nichte nie. Das arme Kind hatte eine trostlose Jugend in der Familie, wo sie allen und jedem ein Stein des Anstoßes war. Von dem Stiefvater mit Widerwillen geduldet, von der eigenen Mutter mit Gleichgültigkeit, ja fast mit Abneigung behandelt, stand sie auch den heranwachsenden Stiefgeschwistern fremd gegenüber und fühlte mit jedem Jahre mehr ihre Vereinsamung. Sobald mir eigene Mittel zu Gebote standen, nahm ich das Recht des Oheims in Anspruch, das mir auch bereitwillig zugestanden wurde, und entriß meine Nichte jenen Verhältnissen. Ich brachte sie in ein Erziehungs-Institut, wo sie bis zum Tode ihrer Mutter blieb. Dieser Tod löste das Band, das meinen Bruder immer zu neuer Verbitterung aufstachelte, und jetzt beschloß ich, seiner Tochter ihr Recht zu erkämpfen, koste es was es wolle!«
»Und darum kamen Sie nach Amerika?« fragte Jessy schüchtern.
»Darum allein! Ich hatte schon früher brieflich einen Versuch gemacht, aber von Franz die härteste Zurückweisung erfahren. Er drohte mir, die Korrespondenz abzubrechen, wenn ich noch einmal diesen Gegenstand berührte. So setzte ich denn meine ganze Hoffnung auf Friedas persönliches Eingreifen, aber die Ausführung dieses Planes erschien fast unmöglich. Ich konnte das junge Mädchen doch nicht allein über den Ozean reisen lassen, und wäre sie in meiner Begleitung erschienen, so würde mein Bruder sofort Verdacht geschöpft haben. Da legte der Tod Ihres Vaters, Miß Clifford, ihm den Gedanken an einen neuen Kompagnon nahe, und er ersah mich dazu aus. Unter andern Verhältnissen würde ich die Zumutung, mein Vaterland, meinen Beruf und meine Selbständigkeit, ja den ganzen Inhalt meines bisherigen Lebens über Bord zu werfen, um materieller Interessen willen, energisch zurückgewiesen haben, jetzt sah ich sie als einen Wink des Himmels an. Ich ging scheinbar auf das Anerbieten ein und reiste mit Frieda ab. Sie blieb einstweilen in New York zurück, während ich hier das Terrain rekognoszierte und sie dann später unter fremdem Namen in das Vaterhaus einführte. Das weitere wissen Sie ja. Bei der Entdeckung hat es allerdings noch einen letzten, schweren Kampf gekostet. Es gab eine Szene, die alles zu vernichten drohte, aber schließlich erwachte doch das Vatergefühl bei meinem Bruder, und jetzt ist er mit seinem Kinde vereint.«
Jessy saß mit gesenkten Augen und glühenden Wangen da bei dieser Erzählung, die einen Stachel nach dem andern aus ihrer Seele nahm. Es war ihr, als sei sie selbst erlöst, nun der trübe Schleier sank, der ihr so lange den ›Egoisten‹ verhüllte.
»Ja, Miß Clifford, mit der Erbschaft ist es nun nichts!« sagte Gustav nach einer Pause etwas boshaft. »Sie wurde mir zwar angeboten, und ich habe mir auch redliche Mühe darum gegeben, aber doch zu Gunsten der rechtmäßigen Erbin. Leider muß ich auch auf die Ehre verzichten, Teilhaber des Cliffordschen Hauses zu werden. Die gesamte Redaktion der C–schen Zeitung hat mich mit feierlichem Eidschwur verpflichtet, zu ihr zurückzukehren, sobald mein Urlaub zu Ende ist, und auf die Dauer würde mir das ›Zahlenschreiben‹ wohl auch nicht zusagen. Ich nehme die alte Fahne wieder auf, die ich doch nicht so schmählich verlassen habe, als Sie mir vorwerfen. Finden Sie meine Leistungen am Kontortisch immer noch so verachtungswert?«
Jessy sah zu ihm auf, beschämt, verlegen und doch mit dem Gefühl eines unendlichen Glückes.
»Ich habe Ihnen Unrecht gethan, Mr. Sandow. Sie trugen freilich selbst die Schuld daran, – aber ich leiste Abbitte.«
Sie konnte ihm nicht die Hand reichen, denn er hatte diese überhaupt gar nicht losgelassen, und jetzt beugte er sich nieder und drückte einen Kuß darauf, der diesmal auch ganz ruhig geduldet wurde.
»Ich habe mich wochenlang auf diese Erklärung gefreut,« sagte er lächelnd. »Glauben Sie denn, daß ich die herrischen Zurechtweisungen meines Bruders und Ihre Verachtung auch nur eine Stunde ertragen hätte, wenn ich nicht der schließlichen Abbitte sicher gewesen wäre?«
»Und Frieda ist wirklich nur Ihr Schützling gewesen?« fragte Jessy mit einem Herzklopfen, das sie nicht zu bewältigen vermochte. »Sie lieben sie nicht?«
»Frieda ist meine liebe Nichte und ich bin ihr hochverehrter Onkel, damit sind aber auch unsere gegenseitigen Beziehungen erschöpft. Da sie jetzt ihren Vater gefunden hat, bin ich auch als ›Respektsperson‹ bei ihr überflüssig geworden. Da wir aber nun gerade von der Liebe sprechen – Jessy, so habe ich eine Frage an Sie zu richten.«
Die Frage schien erraten zu werden, denn Jessys Antlitz war wie in Glut getaucht. Sie wagte es nicht, aufzusehen, aber das war auch gar nicht nötig, denn Gustav lag bereits zu ihren Füßen und sie mußte nun notgedrungen niederblicken zu ihm, als er mit voller, warmer Empfindung ausbrach:
»Meine geliebte, meine teure Jessy, jetzt ist es an mir, um Verzeihung zu bitten! Ich habe intrigiert, ich habe gelogen, auch dir gegenüber, das läßt sich nicht wegleugnen, aber ich habe auch dafür büßen müssen, denn du hast mir vorhin bittere Dinge anzuhören gegeben. Doch eins wenigstens ist wahr und treu in mir gewesen seit unserer ersten Begegnung – das Gefühl, das in mir erwachte, als ich zum erstenmal in diese blauen Augen sah! Also laß Gnade für Recht ergehen!«
Jessy schien durchaus zur Gnade geneigt, das sagten ihm diese blauen Augen, noch ehe die Lippen es aussprachen. In stürmischer Freude sprang er auf, und die Begnadigung wurde nun wirklich im vollsten Umfange vollzogen und ließ auch hinsichtlich der üblichen Formalitäten gar nichts zu wünschen übrig.
Eine halbe Stunde später traten die beiden in Friedas Zimmer, wo Sandow sich noch bei seiner Tochter befand. Gustav hatte Jessys Arm in den seinigen gelegt und führte sie seinem Bruder zu.
»Franz,« sagte er feierlich, »an deinem ganzen unsinnigen Plane war doch wenigstens etwas Vernünftiges, etwas sogar sehr Vernünftiges – ja, meine kleine Frieda, sieh deinen Onkel und deine künftige Tante nicht so erstaunt an, das sind eben die Dinge, von denen du noch nichts verstehst – wir haben mit unserem beiderseitigen Scharfsinn dies einzig Vernünftige herausgefunden und stellen uns hiermit als Brautpaar vor.
* *
*
Es war am Morgen des nächsten Tages. Die beiden Brüder hatten sich nach dem Frühstück in das Arbeitszimmer des älteren zurückgezogen und befanden sich allein dort. Sandow saß am Schreibtisch; auf seinem Antlitz lag ein Ausdruck, der seit langen Jahren nicht darauf geweilt hatte, ein Schimmer von dem Glück früherer Tage, aber seine Stirn war noch umwölkt, als er zu seinem Bruder sprach, der ihm gegenüber am Fenster lehnte.
»Du willst mich also wirklich verlassen und Jessy nach Deutschland entführen? Ich hoffte, jetzt wo Cliffords Tochter die Deine wird, würdest du auch seinen Lieblingswunsch erfüllen und sein Nachfolger werden. Du brauchst dich ja deshalb nicht ganz von deiner Feder zu trennen, die eigentliche Arbeitslast läge nach wie vor auf meinen Schultern. Unsere Presse ist mächtiger und einflußreicher als die eure, du findest hier ein freieres und größeres Feld als in der Heimat. Ueberlege es dir.«
»Es bedarf keiner Ueberlegung,« sagte Gustav mit Entschiedenheit. »Ich kann nur Einem mein ganzes Interesse und meine Arbeitskraft zuwenden; Kaufmann und Journalist, das geht nicht! Wäre übrigens das geistige Feld hier auch noch so groß, ich hänge nun einmal mit allen Wurzeln meines Lebens an der Heimat, ich kann nur dort wirken und schaffen. Was nun aber unsere Kompagnonschaft betrifft, so würden wir uns doch nicht vertragen. Einige Wochen lang konnte ich die Maske der Unterordnung festhalten und zu allem schweigen, da ich es um Friedas willen nicht zum Bruche treiben durfte. Jetzt aber, Franz, muß ich dir doch geradeheraus sagen, daß deine Geschäftspraxis, deine ganze kaufmännische Art und Weise es mir nie möglich gemacht hätte, mit dir gemeinsam zu gehen. Sie hat dich zur intimen Verbindung mit einem Jenkins geführt – darin liegt ihr Urteil.«
Sandow fuhr nicht auf, wie er es sonst wohl bei einer solchen Erklärung gethan hätte, seine Stirn furchte sich nur tiefer.
»Du siehst die Dinge von deinem Standpunkte an und ich von dem meinigen. Dir gibt dein Beruf freilich die volle Freiheit des Handelns und der Anschauungen, ich stehe inmitten aller möglichen einander feindseligen Interessen und kann nicht immer meine Mittel wählen. Man ist nur selten Herr der Verhältnisse. Ich wollte,« er hielt einen Augenblick inne und fuhr dann mit Ueberwindung fort, »ich wollte, ich wäre auf dies Kompaniegeschäft mit Jenkins nicht eingegangen. Es ist aber nun einmal geschehen, und ich kann davon nicht loskommen.«
»Kannst du wirklich nicht? Sollte es keinen Weg dazu geben?«
»Ich habe dir ja gesagt, daß ich Hunderttausende an die Spekulation gewagt habe, und daß sie auf dem Spiele stehen, wenn die Sache nicht einschlägt, oder wenn ich einseitig zurücktrete.«
»So müßtest du eben zurücktreten auf die Gefahr eines Verlustes hin.«
Sandow blickte ihn an, als traue er seinen Ohren nicht.
»Auf die Gefahr eines solchen Verlustes hin? Redest du im Ernste? Hast du eine Idee davon, was derartige Summen bedeuten? Ich habe gethan, was ich konnte, ich habe den Versuch gemacht, mich gütlich mit Jenkins auseinanderzusetzen – zu meinem Schaden, denn er ist darüber stutzig geworden. In seinem letzten Briefe fragte er mit unverhehltem Mißtrauen an, ob ich denn meine Kapitalien so notwendig brauche, daß ich sie um jeden Preis zurückziehen wolle. Er scheint an Verluste meinerseits zu glauben, zweifelt vielleicht an meiner Kreditfähigkeit, und das ist das gefährlichste, was einem Kaufmanne begegnen kann. Ich muß jetzt sofort und mit aller Energie in die Sache eintreten, will ich jene Unvorsichtigkeit wieder gutmachen.«
»Ich habe dir gestern dein Kind zugeführt,« sagte Gustav ernst, »und ich glaube, du hast damit mehr gewonnen, als du hier verlieren kannst. Um Friedas willen, hoffte ich, würdest du von einer Spekulation zurücktreten, die dich hindert, deiner Tochter ins Auge zu sehen.«
Sandow wandte sich heftig ab, aber seine Stimme klang in der alten Härte, als er erwiderte:
»Eben um Friedas willen! Soll ich mein eben erst gefundenes Kind arm machen? Soll ihr die Hälfte ihres Vermögens rauben?«
»Sie wird auch an der andern Hälfte genug haben, und ich glaube nicht, daß das Ganze ihr Segen bringt, wenn es um solchen Preis erhalten wird.«
»Schweig' davon verstehst du nichts. Ein Rücktritt auf alle Gefahr hin, wie du ihn mir zumutest, ist eine Unmöglichkeit, also kein Wort mehr davon! Dich entbinde ich natürlich von deinem Versprechen, denn, wie ich dich jetzt kenne, hättest du jene Artikel doch nie geschrieben.«
»Der erste ist bereits fertig,« entgegnete Gustav kalt. »Es wird freilich auch der letzte sein; ein einziger genügt für den Zweck. Ich wollte dir ohnehin das Manuskript heute morgen vorlegen. Hier ist es.«
Er zog einige beschriebene Blätter hervor und reichte sie dem Bruder, der sie zögernd nahm und ihn dabei ungewiß und fragend ansah.
»Lies!« sagte Gustav einfach.
Sandow begann zu lesen, erst langsam, dann immer hastiger. Er schlug mit zitternder Hand die Seiten um und überflog sie. Sein Gesicht wurde dunkelrot dabei und endlich warf er, in der Mitte abbrechend, das Manuskript auf den Schreibtisch.
»Bist du von Sinnen? Das hast du geschrieben, das willst du veröffentlichen? Es ist ja geradezu furchtbar, was du aller Welt aufdeckst!«
Gustav richtete sich hoch auf und trat dicht vor seinen Bruder hin.
»Furchtbar, ja das ist es! Und das furchtbarste ist, daß alle diese Dinge wahr sind! Ich war an Ort und Stelle und kann für jedes Wort bürgen, das ich geschrieben habe. Tritt zurück, Franz, so lange es noch Zeit ist! Dieser Artikel, in der C–schen Zeitung veröffentlicht, von der ganzen deutschen Presse wiederholt, kann seine Wirkung nicht versagen. Die Konsulate, die Ministerien werden aufmerksam werden. Man wird dem Jenkins das Handwerk legen oder wenigstens dafür sorgen, daß keiner ungewarnt in seine Hände fällt.«
»Du bist wohl sehr stolz auf diesen voraussichtlichen Erfolg deiner Feder!« rief Sandow außer sich. »Du hast nur vergessen, daß auch ich Mitbesitzer jener Ländereien bin, die du so empörend schilderst, daß jedes deiner Worte sich gegen das Vermögen und die Ehre deines Bruders richtet. Du ruinierst mich nicht allein dadurch, du stellst mich auch vor aller Welt als einen Schurken hin.«
»Das thue ich nicht, denn du wirst dich von dieser schurkischen Gesellschaft losmachen, und ich werde hinzufügen können, daß mein Bruder, der unwissentlich in jene Spekulation verwickelt war, freiwillig und mit pekuniären Opfern zurückgetreten ist, als ihm die Augen über deren Verderblichkeit geöffnet wurden. Sage das deinem Geschäftsfreunde offen heraus, wenn du fürchtest, daß bloße Vorwände deinen Kredit schädigen. Die Wahrheit ist auch hier das beste.«
»Und du meinst, Jenkins würde mir, dem Kaufmanne, dem Chef des Cliffordschen Hauses einen so wahnsinnigen Streich zutrauen? Er wird einfach glauben, daß ich den Verstand verloren habe.«
»Möglich, denn da diese Ehrenmänner selbst kein Gewissen haben, so werden sie auch nicht begreifen, daß es einem andern schlagen kann. Gleichviel, du mußt das Aeußerste versuchen.«
Sandow durchmaß einigemale stürmisch das Zimmer, endlich blieb er stehen und sagte mit fliegendem Atem:
»Du weißt nicht, was es heißt, in ein Wespennest zu greifen. Du bist in Europa allerdings sicher vor ihren Stichen, ich bleibe ihrer ganzen Rache preisgegeben. Jenkins verzeiht es mir nie, wenn mein Name mit solchen Enthüllungen verknüpft wird. Er ist einflußreich genug, alle gegen mich zu hetzen, die dadurch mitbetroffen werden, und das sind Hunderte. Du kennst nicht den eisernen Ring von Interessen, der uns hier umschließt und zusammenhält. Eins hängt am andern, einer stützt den andern. Wehe dem, der sich eigenmächtig daraus löst und seinen frühern Genossen den Kampf bietet. Sie verschwören sich alle zu seinem Sturze. Sein Kredit wird untergraben, seine Pläne gekreuzt, er selbst verleumdet und gehetzt bis zum Untergange. Ich kann gerade jetzt solche Angriffe nicht aushalten. Jessys Vermögen geht der Firma verloren, ich habe meine eigenen Mittel durch jene Unternehmung aufs äußerste geschwächt; schlägt sie fehl, so ist es für mich der Anfang des Ruins. Das sage ich dir ebenso schonungslos, wie du zu mir gesprochen hast – und nun geh' hin und sende deine Enthüllungen in die Welt hinaus!«
Er hielt inne, überwältigt von der Erregung. Gustav blickte finster vor sich hin, auch seine Stirn war jetzt tief und sorgenvoll gefurcht.
»Ich habe nicht geglaubt, daß du so von allen Seiten umgarnt und umstellt wärest. Das kommt von dieser unglückseligen Geschäftspraxis! Nun denn –« er legte die Hand auf das Manuskript, »zerreiße diese Blätter, ich werde sie nicht von neuem schreiben. Ich schweige, wenn du mir erklärst, daß meine Worte dein Ruin sind. Aber auf dich die Folgen! Auf dich die Verantwortung für jedes Menschenleben, das in euren Fiebersümpfen zu Grunde geht!«
»Gustav, du bringst mich um!« stöhnte Sandow, indem er auf einen Stuhl sank.
Die Thür wurde leise geöffnet und die Stimme des Dieners meldete, daß der Wagen vorgefahren sei, der die Herren stets um diese Zeit nach der Stadt brachte. Gustav winkte dem Manne, sich zu entfernen, und beugte sich dann zu seinem Bruder nieder.
»Du kannst jetzt keinen Entschluß fassen, du mußt erst ruhiger werden. Laß mich heute allein nach dem Büreau fahren und dich dort vertreten. Du bist furchtbar aufgeregt und erschüttert, es ist seit gestern zuviel auf dich eingestürmt.«
Sandow gab stumm ein Zeichen der Einwilligung, er mochte wohl selbst fühlen, daß er heute nicht im stande war, seinen Untergebenen den gewohnten ruhigen Geschäftsmann zu zeigen. Doch als sein Bruder schon an der Thüre war, fuhr er plötzlich auf.
»Noch eins – kein Wort zu Frieda! Führe sie nicht gegen mich ins Feld, oder du bringst mich zum Aeußersten.«
»Sei ruhig, das hätte ich doch nicht gewagt,« sagte Gustav mit schwerem Nachdruck. »Es würde dir das kaum gewonnene Herz deines Kindes entfremden, vielleicht für immer. – Leb' wohl, Franz!« –
Etwa eine Stunde später trat Frieda in das Arbeitszimmer ihres Vaters, wo dieser noch immer ruhelos auf und nieder ging. Sie erschrak, als sie ihn ansah, denn sein Antlitz verriet doch etwas von dem Kampfe, den er in dieser Stunde durchgemacht hatte. Er versuchte es zwar, seine Aufregung zu verbergen und den besorgten Fragen seiner Tochter mit einem Vorwande von Unwohlsein auszuweichen, aber sie sah doch die fieberhafte Unruhe, die ihn verzehrte. Das junge Mädchen war dem Vater doch noch zu fremd, um mit Bitten und Drängen ein Vertrauen zu erzwingen, das er ihr nicht freiwillig gewährte, aber sie sah mit geheimer Angst den finstern Schatten, der noch auf ihm lag, jetzt, wo doch alles hätte Freude und Versöhnung sein sollen.
Da plötzlich trat Gustav mit seiner Braut am Arme ein. Er schien eben erst aus der Stadt zu kommen, denn er trug noch Hut und Handschuhe, war aber im ganzen kaum eine Stunde fortgewesen.
»Ich bringe Jessy mit,« sagte er in seiner gewohnten heitern Weise, »und da Frieda bei dir ist, so können wir auch einmal in deinem Arbeitszimmer eine Familiensitzung halten. Du wunderst dich, daß ich schon zurück bin, Franz? Ich wollte dir heut allerdings alle Geschäfte abnehmen, bin aber nun doch gezwungen, an deine Entscheidung zu appellieren. Ich fand auf dem Büreau ein paar Auswanderer, die dich durchaus persönlich sprechen wollten, und da du heute doch nicht nach der Stadt kommst, so habe ich die Leute hergebracht.«
»Ja, Gustav hat sie in seinem eignen Wagen mitgenommen,« bestätigte Jessy, die doch etwas befremdet gewesen war, als sie ihren Bräutigam mit den einfachen Bauern in der eleganten Equipage des Cliffordschen Hauses vorfahren sah.
»Es sind Deutsche, Landsleute, sogar aus unsrer engern Heimat,« fiel Gustav rasch ein. »Sie hätten den Weg nach der Villa vielleicht nicht allein gefunden, und da hielt ich es für das Beste, sie gleich mitzunehmen.«
»Das war ganz und gar überflüssig,« sagte Sandow unruhig und unwillig zugleich, denn er ahnte einen letzten entscheidenden Angriff. »Die Sache wird doch wohl bis morgen Zeit haben! Was habe ich überhaupt persönlich mit den Auswanderern zu thun? Sie können ja auf dem Kontor jede nur wünschenswerte Auskunft erhalten. Du hast sie wirklich alle hergebracht?«
»Ja, bis auf den Agenten von Jenkins und Kompanie. Den habe ich allerdings auf dem Kontor gelassen. Er war schon gestern hier und wollte dich sprechen; ich hatte ihn heute morgen nach dem Büreau bestellt und kam gerade recht, ihm die Leute abzujagen, die er durchaus nicht eher zu dir lassen wollte, bis er dich hinreichend ›orientiert hätte‹, wie sein Kunstausdruck lautete. Du wirst sie doch empfangen? Ich habe ihnen bestimmt eine Unterredung mit dir zugesagt.«
Und ohne seinem Bruder Zeit zu einer Einwendung zu lassen, öffnete er die Thür des Nebenzimmers und ließ die bereits dort Harrenden eintreten.
Die beiden jungen Mädchen wollten sich zurückziehen, als sie hörten, daß von einer Geschäftsangelegenheit die Rede war, aber Gustav hielt Jessys Arm fest und sagte leise aber nachdrücklich zu ihr und seiner Nichte:
»Ihr bleibt, vor allen Dingen du, Frieda! Ich brauche euch.«
Die Fremden waren inzwischen vollends eingetreten. Es waren drei Männer, kräftige Landleute, mit sonnenverbrannten Gesichtern und hartgearbeiteten Händen. Der älteste, ein Mann in mittlern Jahren, erschien in Aussehen und Kleidung ziemlich stattlich.
Die beiden andern waren jünger und sahen dürftiger aus. Sie blieben verlegen an der Thüre stehen, während ihr Führer ruhig einige Schritte vorwärts that.
»Da ist mein Bruder,« sagte Gustav, auf ihn weisend. »Sprechen Sie nur ganz rückhaltslos zu ihm. Er allein kann Ihnen in dieser Angelegenheit den rechten Rat erteilen.«
»Grüß Gott, Herr Sandow!« begann der Landmann im kräftigen Deutsch, mit stark ausgeprägtem Provinzialdialekt. »Wir sind froh, daß wir auch hier deutsche Landsleute finden, mit denen sich ein ehrliches Wort reden läßt. Auf Ihrem Kontor, wo wir Sie suchten, hat man uns abweisen und hinhalten wollen, da ist zum Glück Ihr Herr Bruder dazwischen gekommen. Er hat uns gleich auf der Stelle mitgenommen und ist furchtbar grob gegen den Agenten gewesen, der uns nicht zu Ihnen lassen wollte. Aber daran that er recht, wir trauen der ganzen Bande schon lange nicht mehr.«
Sandow hatte sich erhoben: er sah den Sturm heranziehen, und ein drohend vorwurfsvoller Blick flog zu dem Bruder hinüber, der ihn entfesselte. Aber der Kaufmann sah doch ein, daß er den Fremden gegenüber seiner Stellung nichts vergeben durfte, er behauptete äußerlich die volle Ruhe des Geschäftsmannes, als er fragte:
»Was wünschen Sie von mir, und was ist das für ein Rat, den ich Ihnen geben soll?«
Der Landmann sah seine beiden Gefährten an, als erwarte er, daß sie auch sprechen sollten; als sie aber stumm blieben und ihm nur eifrig zuwinkten, nahm er allein das Wort.
»Wir sind da in eine arge Klemme geraten und wissen nicht aus noch ein. Schon bei der Abfahrt in Deutschland sind wir an Jenkins und Kompanie gewiesen worden, und als wir in New York landeten, nahmen uns die Agenten in Empfang. Sie versprachen uns goldne Berge und auf dem Kontor des Herrn Jenkins hieß es ja auch, daß da hinten im Westen das leibhaftige Paradies wäre. Aber auf der Fahrt hierher trafen wir zufällig ein paar Deutsche, die schon jahrelang in Amerika leben, und die sangen ein ganz anderes Lied. Sie sagten, wir sollten uns in acht nehmen vor diesem Jenkins und vor seinem westlichen Paradiese. Er wäre einer der schlimmsten Kehlabschneider und hätte schon viele ins Unglück gebracht. Wir würden mit Mann und Maus zu Grunde gehen in seinen Wäldern und was dergleichen schöne Dinge mehr waren. Da sind wir denn doch stutzig geworden! Der Agent, der in einem andern Koupee die Fahrt mitmachte, wurde zwar wütend, als wir ihm das rund heraus sagten, aber, wie gesagt, wir trauen ihm nicht mehr, und wollten es uns doch erst noch einmal überlegen, ehe wir ein paar hundert Meilen weiter nach Westen fahren.«
Gustav, der neben seiner Braut stand, hörte anscheinend ruhig zu. Jessy sah etwas ängstlich aus; sie begriff nicht den Zusammenhang, ahnte aber doch, daß es sich hier um mehr als eine bloß geschäftliche Auskunft handelte. Frieda dagegen lauschte mit atemloser Spannung den Worten, die so seltsam mit jenem Gespräch zusammenfielen, das sie vor einigen Wochen mit dem Vater gehabt hatte. Aber was hatte er denn mit diesen Auswanderungsangelegenheiten zu thun?
»Wir sind nun hier an Ihr Bankhaus gewiesen, Herr Sandow,« fuhr der Landmann fort, »um die Kontrakte zu unterschreiben und die Zahlungen für das Land zu leisten. Da erfuhren wir in der Herberge, daß Sie ein Deutscher sind und sogar aus unsrer Gegend stammen. Da habe ich mir die andern vorgenommen und zu ihnen gesagt: Kinder, nun hat es keine Not mehr! Wir wollen zu dem Landsmann gehen und dem die Sache vorstellen. Er ist ja ein Deutscher, also wird er wohl auch ein Gewissen haben, und wird seine Landsleute nicht geradeswegs ins Verderben schicken!«
Wenn Sandow bisher noch nicht im vollen Umfange erkannt hatte, was er mit seiner Spekulation gesündigt, so lehrte es ihn diese Stunde und die einfach treuherzigen Worte des Landmannes, die auf seiner Seele brannten, wie die bittersten Vorwürfe es nicht gethan hätten. Es war eine Folter, die er ausstand; und nun geschah auch noch das Schlimmste. Frieda stahl sich an seine Seite. Er sah sie nicht an, er konnte es in diesem Augenblicke nicht, aber er fühlte ihren angstvoll fragenden Blick und das Zittern ihrer Hand, die die seinige umschlossen hielt.
»Nun so redet ihr doch auch einmal!« wandte sich der Landmann jetzt halb ärgerlich an seine beiden Gefährten, die ihm allein die Führung ihrer Sache überließen. »Ihr habt ja auch Frau und Kinder und habt euer letztes an die Reise gewandt. Ja, Herr Sandow, es sind arme Teufel unter uns, die nichts haben als ihre Arme und mit ihrer Arbeit zahlen müssen. Ein Teil von uns ist freilich besser im stande, und da denken wir, soll einer dem andern helfen in der neuen Kolonie. Wir sind unser achtzig, haben auch ein Dutzend Kinder bei uns, und für die kleinen Würmer wäre es nun vollends schlimm, wenn es wirklich da hinten in unsrer neuen Heimat so schändlich aussähe. – Also geben Sie uns Bescheid, Herr Landsmann! Wenn Sie uns sagen, daß wir gehen sollen, dann wollen wir in Gottes Namen morgen früh weiter fahren und dann wird es ja doch auch gehen. Es wird wohl der alte Herrgott selber gewesen sein, der uns zu Ihnen geführt hat, und wir danken ihm aus Herzensgrunde dafür.«
Sandow stützte sich schwer auf den Tisch, an dem er stand. Mit Aufwand seiner ganzen Willenskraft gelang es ihm, die äußere Fassung zu wahren. Wie furchtbar es in seinem Innern stürmte, das wußte nur Gustav allein, der jetzt rasch eingriff, um die lange und peinliche Pause auszufüllen, die nach den letzten Worten entstanden war.
»Seien Sie ohne Furcht!« sagte er mit erhobener Stimme. »Sie sehen es ja, mein Bruder hat selbst ein Kind, eine einzige Tochter, und da weiß er, was Ihnen Leben und Gesundheit Ihrer Kleinen wert ist. Seinem Rate können Sie unbedingt folgen. Nun, Franz, was rätst du unsern deutschen Landsleuten zu thun?«
Sandow blickte auf die drei Männer, deren Augen ängstlich aber doch vertrauensvoll auf seinem Gesichte ruhten, dann blickte er auf seine Tochter nieder und plötzlich sich emporrichtend sagte er:
»Gehen Sie nicht dorthin!«
Die Landleute prallten zurück und sahen erst sich untereinander, dann den Kaufmann an, der ihnen einen so befremdlichen Rat erteilte.
»Aber Sie sind ja doch selbst mit von der Kompanie!« rief der eine und die anderen stimmten bei. »Ja wohl, Sie selbst sind mit dabei!«
»Ich bin in dieser Angelegenheit selbst getäuscht worden,« erklärte Sandow. »Ich habe erst jetzt die Ländereien, deren Mitbesitzer ich allerdings bin, genauer kennen gelernt, und weiß, daß sie sich nicht zur Kolonisation eignen. Ich werde deshalb auch keine Kontrakte mit Ihnen abschließen, da ich meine Verpflichtung zu lösen und von dem ganzen Unternehmen zurückzutreten gedenke.«
Die Deutschen ahnten nicht, welch ein schweres Opfer der »Landsmann« ihnen brachte und um welchen hohen Preis ihre Rettung erkauft wurde. Sie sahen ganz ratlos und verzweifelt aus und ihr Führer sagte mit bestürzter Miene:
»Das ist aber eine ganz verwünschte Geschichte! Jetzt haben wir die weite Reise gemacht und bezahlt und sitzen nun hier mitten in Amerika fest. Zurück können wir nicht, vorwärts sollen wir nicht, wir sind ja wie verraten und verkauft in dem wildfremden Lande. Herr Sandow, da müssen Sie Rat schaffen; Sie meinen es ja doch gut mit uns, das sehen wir, sonst würden Sie Ihrem eigenen Vorteil nicht so ins Gesicht schlagen. Sagen Sie uns, was wir anfangen sollen.«
Ein schwerer, qualvoller Atemzug rang sich aus der Brust des Kaufmanns empor. Es wurde ihm nichts erspart, auch das letzte nicht, aber er war bereits zu weit gegangen und mußte das Begonnene nun durchführen.
»Gehen Sie nach dem deutschen Konsulate in unsrer Stadt,« entgegnete er, »und stellen Sie dort Ihre Sache vor. So viel ich weiß, hat sich in New York eine deutsche Gesellschaft gebildet, die gleichfalls den Westen kolonisieren will und unter dem besonderen Schutze unsrer Konsulate steht. Ihre Besitzungen liegen nicht allzuweit von Ihrem ursprünglichen Reiseziel entfernt, der Weg ist fast der gleiche. Das Nähere werden Sie bei dem Konsul selbst erfahren, ihm können Sie sich unbedingt anvertrauen und er wird sich Ihrer mit aller Energie annehmen.«
Die Stirn des Landmanns hellte sich auf, ebenso wie die seiner Gefährten. »Gott sei Dank, das ist wenigstens ein Ausweg!« sagte er aufatmend. »Wir wollen uns gleich auf den Weg machen, da ist keine Zeit zu verlieren. Und wir bedanken uns auch, Herr Landsmann, bei Ihnen und bei dem jungen Herrn da. Es ist brav von Ihnen, daß Sie von der Schwindelgeschichte zurücktreten wollen, denn, wenn Sie es auch nicht geradeheraus sagen wollen, wir merken jetzt doch, wie es damit beschaffen ist. Lohn's Ihnen Gott, was Sie an uns und unsern Frauen und Kindern gethan haben!«
Er streckte dem Kaufmanne die Hand hin. Dieser nahm sie fast mechanisch und ebenso klangen auch die kurzen Abschiedsworte, mit denen er die Leute entließ. Gustav aber drückte und schüttelte allen dreien energisch die Hand und läutete dann förmlich Sturm, um den Diener herbeizurufen, dem er befahl, die Fremden nach dem deutschen Konsulate zu begleiten und sie erst an der Thüre desselben zu verlassen.
Als sie fort waren, warf sich Sandow in einen Sessel; die so gewaltsam zurückgehaltene Aufregung forderte jetzt endlich ihr Recht, er brach fast zusammen.
»Vater, um Gotteswillen, was ist dir?« rief Frieda angstvoll ihn umschlingend, aber jetzt trat auch Gustav heran, sein ganzes Gesicht strahlte im Triumphe.
»Laß ihn, Frieda, es wird vorübergehen! Du kannst jetzt mit vollem Rechte stolz sein auf deinen Vater! Franz, von dem Augenblick an, wo unsre Landsleute hier vor dir standen, wußte ich, daß du sie schließlich vor deiner eignen Spekulation warnen würdest; daß du sie nun aber auch der Konkurrenzgesellschaft empfohlen hast, gegen die Jenkins erst neulich in der New Yorker Revolverpresse einen so wütenden Artikel losgelassen hat, das habe ich denn doch nicht geglaubt, dafür möchte ich dich auch umarmen!«
Aber Sandow wies die ihm zugedachte Umarmung zurück und schloß seine Tochter an die Brust. Es zuckte noch unendlich bitter um seine Lippen, als er sagte:
»Du weißt nicht, was Gustav auch dir gethan hat, mein Kind, weißt nicht, was diese Stunde deinen Vater noch kosten kann! Von heute an ist Jenkins mein unversöhnlichster Feind und wird nicht ruhen mit seinen Angriffen gegen mich. Ich habe mich nur zu sehr in seine Hände gegeben!«
»So wirf die ganze Geschichte über Bord und komm mit uns nach Deutschland!« rief Gustav. »Wozu willst du dich hier von der edlen New Yorker Gesellschaft quälen und hetzen lassen, wenn du in der Heimat ruhig und glücklich leben kannst? Mit Jessys Vermählung erlischt der Name Clifford ohnehin, mag auch die Firma hier eingehen. Du wirst dich zwar mit Verlusten herausziehen aus der ganzen Sache, für deutsche Verhältnisse bleibst du noch immer reich genug, und an Gelegenheit zur Thätigkeit wird es dir auch bei uns nicht fehlen.«
»Was mutest du mir zu?« fuhr Sandow unwillig auf.
»Genau dasselbe, was du mir zumutetest, als du mich herriefst. Ich glaube, es ist besser, wir kehren die Sache schließlich um. Sieh nur, wie Friedas Gesicht aufleuchtet bei dem Gedanken an die Heimat! Sie wird natürlich nicht wieder von der Seite ihres Vaters fortgehen, wo er auch weilt, aber hier kannst du es erleben, daß sie dir eines Tages am Heimweh stirbt.«
Gustav hatte klugerweise den wirksamsten Hebel in Bewegung gesetzt. Sandow sah ganz erschrocken auf seine Tochter, deren Augen allerdings strahlten, als von der Rückkehr in die Heimat die Rede war, und die jetzt resigniert den Kopf senkte.
»Komm, Jessy,« sagte Gustav, den Arm seiner Braut nehmend. »Wir wollen die beiden allein lassen. Ich muß dir noch ausführlich alles erzählen, denn ich sehe, daß du es nur zur Hälfte begreifst, und überdies fühle ich ein dringendes Bedürfniß, mich wieder einmal von dir bewundern zu lassen. Das hat mir gestern außerordentlich wohlgethan.«
Er zog sie fort, und Vater und Tochter blieben allein. Frieda bedurfte keiner Aufklärung wie Jessy, sie hatte den Zusammenhang längst erraten, und sich dicht an den Vater anschmiegend sagte sie mit vollster Innigkeit:
»Ich wußte es ja schon damals, als wir beide am Meere standen, du kannst niemand wissentlich ins Elend schicken!«
Sandow blickte ihr lange und tief in die dunkeln Augen, die jetzt in zärtlicher Bewunderung strahlten. Er konnte es zum erstenmale ohne Scheu und Vorwurf thun, und er fühlte das wie eine erlösende Macht.
»Nein, mein Kind,« sagte er leise.
»Ich habe es nicht gekonnt – und was nun noch kommt, wollen wir ertragen!«
Währenddessen streiften Gustav und Jessy Arm in Arm durch den Garten, aber ihr Gespräch war im Anfange sehr ernst gewesen. Er hatte ihr alles erzählt, so schonend als möglich für seinen Bruder, den er als das Opfer einer Täuschung hinstellte, die ihm jetzt erst klar geworden war. Als er geendigt hatte, sagte Jessy eifrig:
»Gustav, wenn auch mein Vermögen mit in die Sache hineingezogen ist, so versteht es sich doch wohl von selbst, daß wir es zur unbeschränkten Verfügung deines Bruders lassen, so lange er es für nötig hält?«
»Dein Vermögen ist ganz aus dem Spiele geblieben,« belehrte sie Gustav. »Was Franz auch als Spekulant gewesen sein mag, als Vormund war er die Gewissenhaftigkeit selbst. Er hat jene Testamentsklausel deines Vaters in ihrem vollen Umfange respektiert. Du bist und bleibst nun einmal eine Erbin, Jessy, das ist leider nicht zu ändern, aber ich bin fest entschlossen, dich trotz dieser unbequemen Eigenschaft zu heiraten und zwar schon in vier Wochen.«
»Das ist unmöglich,« protestierte Jessy. »Es gibt noch so viel zu ordnen und vorzubereiten. Du mußt es selbst einsehen, daß die Zeit zu kurz ist.«
»Ich sehe gar nichts ein,« erklärte Gustav. »Das Geschäftliche wird mein Bruder ordnen, alles andere kann in der angesetzten Zeit geschehen. In eurem Amerika geht ja alles mit Dampfgeschwindigkeit vor sich, das Spekulieren, das Reichwerden, das Leben und Sterben sogar. Ich bin dieser Landessitte nicht abgeneigt, da sie sich auch auf das Heiraten ausdehnen läßt, und verlange als dein künftiger Tyrann, daß du in vier Wochen meine Frau wirst.«
Jessy schien sich nicht allzuschwer dieser Tyrannei zu fügen, nach einigem Parlamentieren willigte sie lächelnd und errötend ein, während ihr Bräutigam sagte:
»Wenigstens kann ich meinem Bruder noch zur Seite stehen, wenn der erste Sturm losbricht, und der wird nicht allzulange auf sich warten lassen. Auf dem Konsulate erfährt man natürlich den ganzen Vorfall und heute abend weiß ihn die ganze Stadt. Der liebenswürdige Agent, dieser Bewunderer meiner journalistischen Größe, wird sich zunächst alle Haare ausreißen und dann Telegramm auf Telegramm nach New York schicken. Ich wollte, ich könnte es mit ansehen, wie Jenkins und Kompanie Feuer und Flamme speien und mich in den tiefsten Grund der Hölle wünschen. Mit Gottes Hilfe hoffe ich ihnen noch öfter das Vergnügen zu machen, wenn erst meine Artikel erscheinen. Sie sollen die Feder kennen lernen, die sie erkaufen wollten.«
»Aber glaubst du denn wirklich, daß mein Vormund sich von jenen Verpflichtungen losmachen kann?« fragte Jessy.
»Er muß es, um jeden Preis! Nach den heutigen Vorfällen bleibt ihm überhaupt keine Wahl mehr, und er ist ja Kaufmann genug, um noch das Möglichste zu retten. Jenkins wird ihm allerdings das Leben herzlich schwer machen – um so besser! Dann wird er gezwungen, den Blick nach Deutschland zu richten, und wir gewinnen ihn zurück. Zu dem alten Spekulationsfieber kann und darf er doch nicht zurückkehren, und hier ist die Versuchung zu groß, er könnte ihr wieder erliegen. Das Eis ist jetzt einmal gebrochen und Frieda hat so etwas von einem Frühlingssturm an sich, wir können ihr getrost das Weitere überlassen. Ich gebe dir mein Wort darauf, in einigen Jahren führt sie uns den Vater in die Heimat zurück.«
Sie waren allmählich bis an den Strand gekommen und standen jetzt an der Bank, wo Frieda an jenem Abende gesessen. Vor ihnen lag das Meer im Sonnenschein. Gustav wies dorthin, während er den andern Arm um seine Braut legte.
»Dort liegt mein Vaterland, Jessy! In wenigen Wochen wird es auch das deinige sein, und du wirst es lieben lernen, ist es doch die Heimat deiner Mutter gewesen. Es mag ja wahr sein, was mein Bruder heute morgen behauptete, daß sich auch auf dem geistigen Felde hier alles in größern, freiern Zügen gibt, als bei uns, daß man bei euch schneller emporsteigt, mächtigere Erfolge erringt, auch mit der Feder. Bei uns gilt es gerade jetzt, im heißen Kampfe die Fahne hoch zu halten und die beste Kraft des Lebens dafür einzusetzen. Aber ich will das freudig und aus voller Seele thun und keinen andern Lohn verlangen, als daß meine Jessy, mein geliebtes Weib, zufrieden ist mit ihrem ›Egoisten‹!«
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