Paul Wertheimer
Der Brand der Leidenschaften
Paul Wertheimer

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Der Abschiedsbrief

Weil das Leben so leer und lichtlos vor ihnen lag, ohne Gegenwart und ohne jede Zukunftshoffnung, beschlossen Franz und Elis, gemeinsam in den Tod zu gehen.

In der dunkeln Allee des Volksgartens, zwischen den im linden Aprilabend durcheinander schwärmenden Liebespärchen, lastete über den beiden, da sie sich zu einer verstohlenen Aussprache trafen, bang und drohend der Schatten dieses Entschlusses.

»Franzl, kann man denn so weiter leben wie wir! Nicht ein bisserl Glück, nicht ein bisserl Sonnenschein. Zwei Jahre geht das schon so . . . und so gar keine Aussicht. Immer schlimmer wird's!« stammelte sie ihm eilig entgegen, und ihr aschblondes Haar schien in der Erregung zu zittern. »Man hat mich strafweis' hinaus versetzt, schon am Dienstag, ich hab' dir's nur nicht schreiben wollen . . . Sechsunddreißig Schulstunden die Woch' . . . da können wir uns ja überhaupt nicht mehr sehn. So eine arme Volksschullehrerin hat ja schon hier in der Stadt nichts Gut's. Aber erst da draußen, diese Kinder, die Rass'! Am Abend fall' ich halbtot aufs Sofa. Und dann hat man mich noch extra verwarnt, der Landesschulinspektor selber. Er hat die Mutter kommen lassen. Ich soll keine dummen G'schichten anfangen . . . . Man muß etwas wissen, . . . daß wir uns heimlicherweis' treffen. 114 Jemand muß es ihm g'steckt hab'n. Wer denn nur?«

»Ich kann mir's schon denken, wer«, erwiderte ihr Begleiter schwermütig. »Die ganze Woche trag ich's schon mit mir herum . . . Am vorigen Sonntag hab' ich's nämlich dem Vormund bei dem obligaten pflichtmäßigen Spaziergang um den Ring eingestanden, daß ich dich gern hab'. Ich hab' ihm erzählt, wie gut du bist, wie lieb du mich hast. Wenn du mir die Elis gibst, hab' ich ihm gesagt, dann wird's auch mit meiner Kunst, mit meiner Musik ganz anders werden,« fuhr er leidenschaftlich fort, »dann wird die Welt schon dran glauben müssen –«

»Ja, dann könntest auch mit der Zeit dein Amt, in dem du gar nie weiterkommen kannst, weil du kein Vorstudium hast, loswerden,« unterstützte sie ihn mit gläubiger Innigkeit. »Ja, wenn uns dein Vormund helfen tät',« seufzte sie zaghaft.

»Der uns helfen! Weißt, wie der mich ang'fahren hat! Seinen Spazierstock, mit dem er mich als Buben immer g'schlagen hat, hat er gegen mich aufg'hoben und hat mich ang'schrien: »Du bist wohl verrückt geworden!« Du hätt'st ihn nur sehn müssen, wie er ausg'schaut hat! Ganz gelb war er vor lauter Wut, und die Augen sind ihm förmlich aus dem G'sicht g'standen. Alles hat er mir vorg'worfen, was 115 ich ihm zu danken haben soll. ›Willst du auch so einer werden wie dein Vater gewesen ist, mein Herr Bruder, der Luftikus? Ein Theaterkapellmeister vielleicht oder so was ähnlich Schönes, ha, ha! Daß man dich auch einmal aus so einem Nachtlokal zu mir auf die Polizei bringt – in mein eigenes Amt! . . . »Protokoll über den hierorts eingelieferten Franz Karabeis – ach so, ihr Neffe, Herr Hofrat.« Danke vielmals, danke ergebenst. Parieren wirst, verstanden, und Ruh' geb'n. Und damit du gar keine Gelegenheit mehr hast, mit dem Frauenzimmer zusammenzukommen, wirst von jetzt ab nicht bloß am Sonntag, sondern jeden Nachmittag nach dem Amt mit mir ausgeh'n, nur mit mir! Ich bin schon mit andern Herrschaften fertig g'word'n wie mit dir, mein Burscherl! Das wirst vielleicht schon g'hört haben! Mir kommst nicht aus, mein Lieber, mir nicht! Die G'schichten kenn' ich von deinem Vater und deiner Frau Mutter aus! Dir werd' ich sie austreiben, darauf kannst das Sakrament nehmen! – –‹ Und seitdem hab' ich wirklich nicht mehr zu dir dürfen, nicht einen Augenblick laßt er mich aus, ich kann's schon nicht mehr ertragen, sein G'sicht– und die Sachen, über die ich mit ihm reden muß, immer nur über's Amt. Und daß du versetzt worden bist, das hat ja auch nur er g'macht, damit wir uns gar nimmer sehn können.«

116 »Ja, wenn man so jung und so arm ist, und sich so lieb hat – und keiner ist da, der hilft . . .«

»Keiner,« und er schüttelte traurig den Kopf.

Eine hoffnungslose Verzagtheit begann sich immer trüber auf ihn zu senken. Beide schwiegen bekümmert. Sie schritten aus dem bewegten Garten, dessen lebensvolle Unruhe sie auf eigentümliche Weise zu quälen begann, dem breit und ruhig daliegenden äußeren Burgplatz entgegen. Jeder hing seinen trüben Gedanken nach und sah gar nicht den Frühling, der sich bereits in den glitzernden Fenstern spiegelte. Elis war es noch nie so klar gewesen wie jetzt, daß ihre Liebe zu Franz so weit von jeder Erfüllung stand. Wer sollte, wenn die Sorge für ein eigenes kümmerliches Hauswesen sie schwer belastete, den Unterhalt für die Mutter herbeischaffen, deren einzige Stütze sie seit dem viel zu frühen Tode des Vaters war? Und wie hätte sie hoffen dürfen, das starre Gesetz zu durchbrechen, das der jungen städtischen Lehrerin ihre Stellung entzog, wenn sie heiraten wollte? Und ohne kirchliche Verbindung miteinander leben, der Lockung des Augenblicks gehorchend, wie es so viele andere taten in sprudelnder Jugendlust? Nein, dazu waren beide zu bürgerlich und wohl auch zu ängstlich. Und wenn sie selbst einmal in scheuer Beklommenheit davon sprachen, in den spärlichen, durch hundert Listen dem 117 strengen Dienst und dem noch strengeren Vormund Franzens abgerungenen Augenblicken, in einem Boskett des Stadtparkes, in einer abendlich einsamen Praterallee, dann hatten sie scheu betroffen wieder geschwiegen. Franz aber sah sich selbst, wie er in der eingetrockneten Luft des vergilbten Kanzleiraumes stumpf über den Steuerbekenntnissen saß, und plötzlich, eine Melodie summend, an den Rand seines Konzeptes Notenknöpfe strichelte. Und er sah den Vormund, den Hofrat Johann Karabeis, wie er ihn kannte – und jeder, den Beruf oder Unglück in die schmalen grauen Gänge der Polizeidirektion führte; er wußte, daß der Wille dieses gegen andere und wohl auch gegen sich selbst unerbittlichen Mannes, hatte er einmal ein Gebot erlassen oder eine Weigerung dekretiert, unbeugsam blieb. Sie standen plötzlich, wie erschreckt von einer gemeinsamen Erkenntnis, vor dem Reiterstandbild des Prinzen Eugen, der gemessen gebieterisch auf diese mutlose Jugend niederblickte.

»Aus ist jetzt alles, aus«, stöhnte Franz; sie preßte seine Hand in stummer, verzweifelter Bejahung. Er trat ganz nahe heran und blickte ihr in das liebe, aufgeregte und erschreckte Gesicht.

»Elis,« stammelte er in bedrängter Hast, »hättest du Mut und hast du mich so lieb, alles für mich zu tun?«

118 »Ja, ja, Franzerl,« flüsterte sie, innig errötend, »du weißt ja gar nicht, wie lieb ich dich hab' . . .«

»Hast du mich so lieb,« forschte er immer eindringlicher, »daß du nie von mir lassen, alles mit mir tragen willst?«

»Ja, ja, Franzerl . . . lieber guter Franz . . . was hast denn vor? . . . So sag's doch,« und sie blickte ihn ungewiß, plötzlich erblassend an. –

»Sterben« – sprach er langsam. »Willst du mit mir?«

»Überallhin geh' ich mit dir, Franz. Von dir laß' ich nimmer, nicht im Leben und nicht im Sterben! Was bleibt uns denn übrig, wenn nicht ein Wunder hilft? Meine Freundin, die Kathrin, die hat doch auch mit ihrem Rudolf sterben wollen. Dann ist aber doch im letzten Moment das Wunder 'kommen, und jetzt sind sie verheiratet, haben ein Buberl und sind so glücklich.« Aus ihren braunen Augen, die selbst im Weinen immer noch verstohlen zu lächeln schienen, flackerte es wie eine letzte Hoffnung.

»Uns wird kein Wunder helfen,« seufzte er, »da verlaß dich drauf. Was liegt denn auch dran, ob wir sterben oder so weiterleben? Wird's halt einen verrückten Musikanten und eine arme Wiener Lehrerin auf der Welt weniger geben.«

»Geh, Franzl, hast denn gar kein Zutraun mehr –« wagte sie schüchtern –

»So willst du also nicht – ?«

119 »Ja, schon,« klang es beklommen von ihren zaghaft weichen Kinderlippen. »Was soll aber aus der Mutter werden, wenn ich nimmer bin?«

»Für die wird der Onkel sorgen. Da kannst ganz ruhig sein. Das tut er g'wiß, wegen der Leut'. Ich schreib' ihm heut noch einen Abschiedsbrief, daß nur er an allem schuld g'wesen ist.'

»Ja, schreib ihm, wie gern ich dich hab', und wie gern ich leben tät', und wie schön das Leben sein könnt'.« Und wieder zuckte ein Flämmchen verstohlener Lebenslust um ihren Mund, der mit dem weichen Hauch des Abends jetzt Franzens heftige Abschiedsküsse begierig trank.

»Da sehn wir uns also morgen – zum letztenmal. 's is' ja Sonntag. Da hast ja frei. Und ich renn' dem Onkel einfach davon. Um acht Uhr also beim Liebenbergdenkmal. Z'haus kommen wir nimmer, Elis.«

Wieder schwiegen beide; ihre Schwermut wuchs mit den Abendschatten.

»Irgendwo auf dem Leopoldsberg sollen s' uns finden, übermorgen in der Früh, wenn die Patrouille kommt. Oben sollen s' uns dann eingraben, wo die Amseln singen, weit weg von den Menschen –«

Er gab ihr die Hand, die sie ihm schlaff überließ. Sie blickten still über den weiten Platz, an dessen äußerstem Rand im rötlichen Zwielicht 120 die Silhouette des Rathauses und ein Kranz von Türmen und Spitzen aufschimmerte.

»Wie schön ist das alles, und wie traurig, daß wir's zum letztenmal seh'n.«

»Zum letzten Mal«, sagte Franz leise; betroffen schauten sie vor sich hin. Ein lauer Wind hatte sich vom Volksgarten her aufgemacht. Er tändelte mit den grünen Blütenrispen des Ahorns und umspülte die Stadt und die beiden jungen Menschen mit einer gefährlichen Flut jener süßlich schweren Melancholie des Frühlings. Oder war es die unbestimmte Traurigkeit ihrer jungen Jahre, die sie mehr als die Kümmernisse des äußern Daseins zu einem solchen Entschluß verlockte? Franz schien von seinem Gedanken, der ihm plötzlich, fast wie ein musikalischer Einfall, aufgegangen war, so willenlos gebannt, wie sonst von einem herrischen Gebot des Vormunds. Er zog Elis noch einmal hastig an sich und eilte über den Graben seinem Ziele zu. In scheuer Verwirrung suchte er eine Waffenhandlung auf – er hatte gestern die zweite Rate seines Monatsgehaltes bezogen – und verlangte einen Revolver. Der Kommis machte, als er den späten, eiligen Kunden mit dem flammend geröteten Schubertkrauskopf und dem wehenden Schlips näher ins Auge faßte, dem Chef ein Zeichen; der schickte sich an, ein vorsichtig warnendes Gespräch zu beginnen. 121 Franz aber, der die Absicht merken mochte, war bereits auf und davon. Er rannte, von seinem Plan wie gehetzt, über den Burgplatz zurück in die Josefstadt zu seiner Wohnung in dem alten, weitläufigen Haus gegenüber der Kirche, mit einem den Hammer schwingenden Schmied als Emblem. Der Hofrat war noch nicht zurückgekommen. Gott sei Dank! So konnte Franz den Abschiedsbrief scbreiben, den der Onkel morgen zu der gleichen Stunde empfangen würde, da alles vorüber sein mußte. Dieser Brief sollte nur eine kühle Erklärung seiner Tat enthalten. Aber ohne daß er sich dies vorgesetzt hatte, glühte darin das Verlangen, die Entrüstung, der Vorwurf, ja der Hohn einer ganzen, reinen und ungelebten Jugend. Als er den Brief beendet hatte, atmete er einen Augenblick ruhiger, wie nach einem harten, befreienden Werk. Er überlas den Brief noch einmal. Ihm war, als klirrten diese ungestümen Worte von den Wänden seines ängstlich kleinen Zimmers zu ihm zurück und hallten mit seltsamer Klarheit in ihm nach. Er verschloß den Umschlag langsam, und als er die hart knarrenden Tritte des Vormunds auf dem Korridor vernahm, löschte er rasch das Licht. Trotzdem dies die letzte Nacht war, die ihm nach seinem Vorsatz beschieden sein sollte, schlief er zunächst fast traumlos bis in den Morgen. Nur im ersten Halbschlaf glaubte 122 er nebenan den Schritt des Hofrats zu vernehmen, wie dieser auf und nieder durch seine Stube schlurfte, offenbar wieder einen Akt studierend, der ihn erboste; zuweilen stieß er, wie gegen sich selbst wütend, oder mit einem Unbekannten hadernd, eine Gesetzesstelle samt ihren Strafbestimmungen mit seiner knirschenden, hämischen Stimme zornig hervor . . .

* * *

Früh erwachte Franz mit einem merkwürdig beklommenen Gefühl. Er hatte vor dem Aufwachen viel geträumt. Seine Symphonietta war bei den Philharmonikern aufgeführt worden. Elis saß in der vordersten Reihe, der Hofrat dirigierte mit dem Spazierstock, plötzlich war der Hausbesorger im Saal und legte den Abschiedsbrief mit einer geladenen Pistole vor ihn auf das Dirigentenpult. Der Hofrat las den Brief, brach das Konzert sofort ab und rannte, seine Bartkotelettes zausend, in zorniger Verzweiflung durch den Saal, in dem Elisabeths entsetzte Schreie gellten. Als er Franz, bleich, den Erfolg seiner Symphonietta erwartend, in einer Loge gefunden hatte, drückte der Vormund gegen ihn die Pistole los. Allein sie versagte, und Franz war plötzlich mit Elis auf dem Leopoldsberg und setzte seine Wanderung mit ihr am Friedhof vorbei nach Klosterneuburg fort.

123 Franz erwachte und schaute befremdet gegen das Fenster. Allmählich erinnerte er sich der Verabredung von gestern und war über das Wetterglück erfreut; ein verhangener Aprilmorgen, der, einmal völlig aus der Knospe gebrochen, den reinsten Sonntag verhieß. Er sprang aus dem Bett, nun sah er auf dem Tischchen den Revolver und den geschlossenen Brief – er fuhr zusammen, jetzt war ihm wieder alles schreckhaft deutlich. Gab es denn wirklich keinen andren Ausweg . . . an einem so schönen Sonntag? Wenn seine Symphonietta nun doch aufgeführt würde? Er lächelte trüb. Wird er denn auch nur dazu kommen, sie überhaupt aufzuschreiben? Heute ist Sonntag, ja, da hat er ein paar Stunden Freiheit vor sich, weil er dem Onkel davonläuft, aber morgen muß er wieder in das Geschirr. Wieder diese entsetzlichen Zinslisten, wieder die Kollegen, die alle »Stutzerln« tragen und Milch trinken, mit ihren widerwärtigen Sticheleien über seine Musik – wie sie ihn immer wieder verwunden. Und am Nachmittag ausgehen mit dem Hofrat . . . Er wird nie für sich arbeiten und auch Elis nie mehr sehen können. Und so geht das weiter, Tag für Tag . . . Nein, da war es das einzig Männliche, allem entschlossen ein Ende zu machen. Er nahm seine Sonntagskleidung aus dem Kasten, verwendete besondere Sorgfalt auf seinen Anzug und schlich an 124 der Küche vorbei zum Hausbesorger hinunter. »Den Brief da bringen s' zum Herrn Hofrat hinauf, aber erst am Nachmittag, um Punkt fünf. Es ist eine Sonntagsüberraschung.« »A so, was Lustig's, in dem Haus, das ist aber g'scheidt.« »Ja, etwas sehr Lustiges.« Er gab ihm rasch ein Trinkgeld, und der Hausbesorger dienerte hinter ihm her.

Franz eilte durch die noch morgendlich verhüllten Straßen; vom Liebenbergplatz winkte ihm wer entgegen. Da stand Elis bereits wartend vor der Elektrischen. Wie hübsch sie aussah im Sonntagsstaat, mit dem kecken schwarzen Sammetkäppchen, der weißen Seidenbluse, dem dunkelblauen Kostüm und dem blanken Autolacktäschchen. »Wie lieb du wieder ausschaust, Herzerl, und so nobel!« Er lächelte wider Willen. »Und du erst, Franzl, so fesch hat der Schubert gewiß nicht ausg'sehn bei einer Landpartie.« »Wer weiß, wenn er einmal so ein' Ausflug g'macht hätt' . . .« Beide blickten stumm und ernsthaft vor sich nieder. Elis zerriß das Schweigen plötzlich, beinahe ungestüm. »Weißt, Franzerl, den einen Tag, den wir noch haben, lassen wir die Sorgen z'haus. Heut wollen wir froh sein. Später, am Nachmittag, oder am Abend, ja, da soll alles zu End sein, wie wir's ausg'macht haben . . .« Und sie schaute ihn mit ihren braunen Augen voll tiefer Zärtlichkeit an. »Ich werd' 125 schon den Mut finden«, erwiderte er düster. »Ein Druck . . . dann ist alles vorbei.« »Wohin fahren wir also?« forschte sie wiederum lebhafter. »Nach Pötzleinsdorf, auf die Hohe Warte, und dann zum Himmelhof, oder nach Sievering? Das hat mir die heilige Agnes aus ihrem Brünndel, wie ich sie das letztemal g'fragt hab', nicht prophezeit, daß ich mit zwanzig Jahren werd' sterben müssen . . . Jetzt fang' ich schon selber an« – und sie schüttelte energisch die eigene Beklommenheit ab. »Weißt, wir fahren nach Grinzing. Schau nur, da sind so viele Kinder im Wagen. Ein Schulausflug, die herzigen Butzerln. Ja, wenn meine Vorstadtkinder auch so wären – so gewaschen.« Und schon saßen sie im Beiwagen und fuhren zwischen lärmenden Ausflüglern durch Währing die Nußdorfer Straße entlang. »Da ist das Schuberthäuserl, das kleine graue,« rief Franz, aus seinem Dahinbrüten auffahrend, »und hier war auch der Schubertkeller, weißt noch, Herzerl, wo wir zusammen so lustig g'wesen sind; da ist noch der alte Nußbaum g'standen mitten im großen Garten. An dem hat er seinen Hut aufg'hängt, und auf die Speiskarten rückwärts hat er dann die Noten aufg'schrieben und dann verkauft, so ein Schubertlied um einen Gulden-Schein. Und hat doch sterben müssen, so lustig er hat sein können, mit achtundzwanzig. Nur 126 ein paar Jahr' ist er älter g'worden wie ich . . .« Er versank wieder in seinen Kummer. Auch Elis schien jetzt durch dieses erneute lastende Schweigen bedrückt. »Glaubst du,« wandte sie sich jetzt, da sie aus der Elektrischen gestiegen waren und durch die Straße hinan schritten, die nach dem früheren Herrn dieser heiteren Gelände, dem Fürsten Kobenzl, heißt, wieder mit einem flüchtig aufhuschenden Lächeln ihrem Geliebten zu, »glaubst wirklich, daß der Nepomuk da in seinem Steinkasterl, damals wie der Schubert und seine Freunderln hier herumspazieren gegangen sind, auch schon so ein komisches blaues Manterl umg'habt hat wie jetzt? Und da schau, überall die grünen Buschen. Ausgesteckt bei der Marie-Tant, beim Rucken-Bauer, bei der Barbara Rößner. Hat man denn immer in Wien das Geld so verjuxt?« fragte die Lehrerin ein bischen naiv. »Ja, die Menschen sind immer so leichtsinnig und denken nicht an ein Morgen«, setzte Franz ein wenig pedantisch hinzu. Aber er mußte selbst mitlächeln, als sie ihm lustig das türkisblaue Häuschen hinter dem Platz zeigte und den kleinen drolligen, hölzernen Fachwerkbau, der wie aus Lebkuchen gebacken schien. Und mit selbstvergessenem Behagen genoß auch er den Blick in die alten Höfe mit den Durchlässen und den Ziehbrunnen, den winklig schiefen, nach rückwärts aufgebauten Gärtchen, 127 in denen die großen goldenen Glaskugeln blinkten. Und überall die grünen winkenden Föhrenbüschel an der langen Stange, überall Staketzäune, die Heurigenbänke, die grünen Laternen. War es nicht, als sei die Zeit hier seit einem Jahrhundert stillgestanden? Als führen noch immer die Herren in den gelben und blauen Fräcklein mit ihren Schönen im Landauer oder Zeiserlwagen am Sonntag über Land »Zum Auge Gottes« oder dem »Glitzernden Kreuz«, wo man eben die Walzer am artigsten schleift, wo das picksüße Hölzl des Bruders Musikus am lockendsten tönt, wo die Blume des Grinzinger Weins über die Wochentagssorgen am süßesten hinüberduftet. Von dem Schalmeien, dem Jubilieren und Musizieren dieser fernen Tage schien über den Grinzinger Geländen an diesem verhangenen Aprilsonntag noch immer ein Klang zu zittern. Das spürte der fühlsame Musiker sogleich; sein bis dahin umdüstertes Wesen ward jetzt zum Mitschwingen gebracht. Und so war es nunmehr Franz, der seine Begleiterin auf die Ergötzlichkeiten am Weg aufmerksam machte, als sie durch die Kastanienallee voll glänzend brauner Knospen zum Krapfenwaldl hinaufschlenderten. Da führte ein merklich angesäuselter Deutschmeister ein paar bunte Hanakinnen galant am Arm; da schob ein sehr rundlicher Herr mit einem schief aufgestülpten 128 Zylinder ein Kinderwägelchen; da stand ein uralter Werkelmann mit einem windschiefen Künstlerdeckel, vergnüglich zwinkernden Weinäuglein und einem phantastischen Hutkranz aus Löwenzahn. Eine eben populäre Melodie klimperte den beiden jungen Leuten, die heute ausgezogen waren, um miteinander zu sterben, gar bedeutsam entgegen. »Fein, fein schmeckt uns der Wein, wenn wir zwanzig sind, und auch die Liebe.« Betroffen blickten sich die Liebenden an. Ein heimliches Feuerlein, das schon lange in ihrem Blute glomm, war plötzlich geweckt worden, bald wird es wohl zur Flamme aufschlagen. Elis, die eine nähere Gefahr als die des frühen Todes fürchten mochte, suchte Franzens ungewiß forschendem Blick auszuweichen und ein anderes, kühleres Thema zu beginnen. Sie schwärmte von dem gar lieben Reiz ihrer Heimat, die sich jetzt im dämmernden Glanz vor ihnen auftat. In den Weinbergen, die das weiche Hügelland hinaufzogen, waren die Stöcke noch kahl, aber die Pfirsischbäume leuchteten dunkelrosa, und die weiß-roten Apfelblüten gaben einen gar lieblichen Schimmer; in zarten Reihen wiegten sie sich im Winde, wie kleine Ballettänzerinnen in duftigen Kleidchen. An den Hängen zu beiden Seiten war allbereits ein frauliches Blühen erwacht. Unter dem jungen grünen Gesträuch nickten die violetten Blüten 129 des Lungenkrautes, dort regte sich ein zartfarbiges sensitives Blatt; die Gänseblümchen staken wie Sterne im Boden, die goldbestäubten Weiden und die gelben Haselnußkätzchen schwankten wie Weihwedel. Elis, die von ihrer Schule her all die Namen kannte, fragte ihren Liebsten darnach und schalt ihn schmollend ein Dummerl, das nur seine Musik im Kopfe habe. »Was hätt'st du nicht noch alles zu lernen, wenn wir nicht heute . . . Wenn du nicht schon den Abschiedsbrief . . .« Aber Franz hörte nur zerstreut zu, denn all das Blühen am Weg war in ihm Melodie geworden und klingelte nach mit feinen Glocken. Elis jedoch fühlte sich durch dieses Keimen und Sprießen rings, sie wußte selbst nicht warum, im Innersten erregt. Als die beiden Ausflügler nun vom Weg vortraten, um die Zahnradbahn vorbeiziehen zu sehen, ward Franz abermals durch die Heiterkeit dieses Anblicks beinahe wider Willen froh gestimmt. Prustend, gleich einer altmodischen Kaffeemaschine, arbeitete sich das Lokomotivchen mühsam durch die Weingelände zu den Waldstreifen und der braun umbuschten Bergkuppe hinauf. »Station Krapfenwaldl«, rief Franz belustigt. »Was das nur für Benennungen sind, daran hab' ich eigentlich früher nie gedacht. Ein ganzes Waldel voll Krapfen – ich wollt' übrigens, ich hätte einen im Magen – und weiter drüben 130 die Knödelhütte, und wenn man sich durch die Krapfen und Knödel durchgegessen hat, kommt man direkt in den »Himmel«. Und wie diese Gasserln hier herum nur alle heißen: die Springsiedelgasse, der Muckenthaler Weg; wie soll der Mensch da traurig sein, wenn's einem noch so grauslich geht?« »Das soll der Mensch auch gar nicht, Franzerl, und damit er noch lustiger wird, soll er jetzt g'schwind in das Hutschkaroussel hinein.« Und schon saß sie rücklings auf einem Eisenschimmel, der gemessen auf- und niederstieg, zwischen kreischenden Mägden mit buntgewürfelten Kattunröcken und fliegenden Zöpfen. Auch ihr Kleid hob sich im Fahren ein wenig und ließ den blauen Strumpf und allerliebste feste Formen sehen. Franz, der zugeschaut hatte, nahm sie wieder zärtlich in Empfang und blickte sie merkwürdig forschend und so seltsam an, daß sie, über und über errötend, verlegen ihren Rock glättete. Wie hübsch das Mädel war, wie jetzt ihre Wangen brannten! Wirklich nur von der Erregung der Fahrt? Hatte er das alles in seiner Stadtgrämlichkeit gar nicht bemerkt? Jetzt Abschied nehmen vom Leben, bevor man es noch gekannt hat! Wenn er jetzt sogleich zurückfährt, mit der Zahnradbahn, ist er noch vor dem Essen zurück. Dann hat der Hofrat den Brief noch nicht gelesen, dann wär' es ja noch nicht zu spät . . . Nein! 131 Nein! Er ist ihm davongelaufen am Sonntag, hat ihn den ganzen Tag allein gelassen, wie soll er ihm da gegenüberstehen? . . . Nein, er kann dieses Gesicht nicht mehr sehen, immer ihm gegenüber, beim Essen, beim Spaziergang, selbst im Traum. Jetzt weiß er's: er muß sich totschießen, weil er dieses Gesicht nicht mehr erträgt. Um fünf hat der Hofrat den Abschiedsbrief, jäh wird er aufschreien vor Wut, dann rennt er auf die Polizei, in sein eigenes Amt, einen Selbstmord anzeigen, an dem er selber schuld ist. Und wenn er, der »verrückte Musikant«, auf und davon fahren würde mit Elis, gar nicht mehr nach Wien zurückkommen ? Aber er hat ja kein Geld! Alles muß aus sein . . . für immer, wenn nicht doch das Wunder geschieht . . . Und wie sie dann im Volksrestaurant bei ihrem späten Frühstück saßen, kämpfte in ihm die resignierte Gedrücktheit mit der erwachenden Lebenslust weiter, wie draußen vor dem Fenster der rauchige Dunst, der noch über Erde und Himmel bis zur Donau hinunter hing, sich immer deutlicher zu lichten begann.

Elis, die von einem merkwürdig unruhigen Geist befeuert schien, drängte bald zum Aufbruch.

Sie schritten jetzt einen Steg hinab; der führte zu einem Bächlein, das giftgrüne Brunnenkresse und gelber Huflattich umwucherte. Die Wiesen waren wie im Märchen voller Veilchen und Himmelschlüssel, zwitschernde Finken 132 tummeten sich in den lichtgrün überschimmerten Ästen, zuweilen lockte der Ruf einer Amsel. Jetzt riß der Aprilsturm das erste Blau des Himmels zwischen leicht hinziehenden Wolken auf, durch die schräg die Sonne brach. Franz und Elis wanderten in Gedanken, die bald sorglos, bald von schwerer Ahnung überschattet waren, durch diese spielerische Landschaft, als sähen sie dies alles, Wiesengrün und Auen und Wälder und die Anmut dieser Gelände, daraus sie für immer scheiden sollten, zum erstenmal. »Hast mich denn noch ein bisserl lieb? Du red'st ja gar nichts, denkst g'wiß wieder an deinen Abschiedsbrief, und was der Vormund dazu sagen wird.«

»So lieb hab' ich dich, Lieserl,« und ganz leise, »so innig lieb.« »Schau, Franzerl, man sieht erst, wie schön das Leben wär', jetzt wo man Abschied nehmen muß« . . . Ihre Augen standen voll Tränen, und doch war ein schelmischer Glanz darin, als sie ihn jetzt mit einem ihrer schrägen Blicke, denen er nie zu widerstehen vermochte, mit übermütiger Traurigkeit und dann in aufzuckender Leidenschaft ansah. »Wie herzig du wieder bist, so zum Fressen herzig.« Er drückte sie an sich in plötzlicher, unstillbarer Zärtlichkeit und küßte sie, bis beiden der Atem verging. »Aber Franzerl, Franzerl,« rief sie luftschnappend und höchst entrüstet, »wenn das wer g'sehn hätt', schämst dich denn 133 gar nicht vor die Leut'? Da oben ist ja schon unser Wirtshaus, die ›eiserne Hand‹.«

»Eiserne Hand.« Sie fuhren zusammen, weil sie in ihrer rasch wieder aufgescheuchten Ängstlichkeit überall um sich, bei all ihrem verliebten Tun, das Walten eines dennoch unentrinnbaren Schicksals zu fühlen glaubten. Jetzt gingen sie querfeldein, längs der smaragdgrünen Streifen des Winterkorns und über aufgeworfene Äcker; in einer Furche hockte eine Krähe. »Wie schwarz die Erde ist«, sagte Franz und schaute seine Begleiterin bedeutungsvoll an. Aber Elis duldete das Verweilen in dieser bedrückten Stimmung nicht, und da sie bei der »Eisernen Hand« eingekehrt waren und draußen im Freien saßen, stellte sie geschäftig wie eine kleine, behagliche Hausfrau das Menü zusammen. »Natürlich Backhendl und einen Heurigen.« Ein Kind kam vom Nebentisch, ein blondes Mäderl. Elis rief es zu sich, fuhr ihm streichelnd über das Haar und fütterte es mit einem Tortenstückchen. Der Vater, ein behäbiger Weinbauer, trat mit seinem gefüllten Glase heran. »Daß s' recht lang leben sollen«, und zu Elis, »daß s' a so a liebs Maderl kriegen, wann s' erst verheirat san.« Elis errötete tief, als wäre sie bei eigenen verschwiegenen Gedanken ertappt worden, und Franz lächelte bitter. Trotzdem räumte er mit dem Backhendl geschwind 134 auf, leerte den Heurigen in einem Zug und wurde gesprächiger. Jetzt stellte sich ein Bosniak, ein Stelzfuß, vor sie hin, salutierte und fragte, ob das Fräulein sich nicht einen Glücksplaneten ziehen lassen wolle. Sie nickte, der Papagei an der Kette kreischte, pickte ein Zettelchen mit dem Schnabel auf, und Elis las: »Sie haben einen bösen Feind, der Ihr Glück bedroht, aber er wird sich in seine eigenen Schlingen verwickeln und untergehen, und Sie werden reich und glücklich sein mit dem Mann Ihrer Wahl. 18, 2, 58. »Die Nummer von dem Los, das ich von der Mutter geerbt hab«, sagte Franz betroffen. »Schau Franzerl, wenn man abergläubisch wär' – grad heut', grad jetzt . . . Sie werden reich und glücklich sein – und da drüben wird's auch schon licht über der Donau –« Um den Strom in der Tiefe mit den schwarzen, kühn geschwungenen Brücken zog jetzt ein goldiges Flimmern, das zu einem starken Leuchten anwuchs. Die Weingelände lagen in blauem seidigem Glanz, zuweilen blitzte der Turm eines Kirchleins, ragte ein Fabriksschlot, regte sich eine Windmühle. Die Stadt unten, die Kette der fernen Gebirge war noch hellgrau umhangen, die waldige Kuppe des Leopoldsberges aber, dessen Revieren sie nun entgegenstrebten, stand in eigentümlich mattviolettem Schatten. Eine fast schweigende Wanderung durch den 135 Wald mit den im Nachmittagswind wie im leisen Zwiegespräch rauschenden Wipfeln viele Stunden wegauf und wegab. Franz war in bange Gedanken verloren, Elis schien sorgloser. Sie streifte durch die Wiesen, band sich einen Strauß von Anemonen, den sie an die Bluse heftete, und versuchte einmal ein Lied, um gleich wieder abzubrechen. Bald verließen sie die Markierung und den gebahnten Pfad und streiften scheu, jede Berührung meidend, zwischen Gebüsch und Strauchwerk, an Lichtungen vorüber; sie stiegen über gefälltes Holz, über zerbrochene Stämme, durch das verlassene Bett eines Bächleins voll welker Herbstblätter, verfingen sich in spitzen Ästen und standen aufatmend auf entfernter, lautloser, vor jeder Menschenannäherung gesicherten Höhe, die den Ausblick nach beiden Seiten, der Stadt und dem Strom, eröffnete. Unten, wo die Äcker sich zur Talsohle neigten, schritt ein Pflüger mit einem Gespann junger weißer Stiere; mit schweigendem Ernst legte er Furche nach Furche durch die rauchende rotschwarze Erde; die schmale Halde, vor der Franz und Elis hielten, zog sich im offenen Halbrund hin. Im Hintergrund stiegen die Buchen hoch und ernsthaft auf mit zartem, rötlich überschimmertem Laub. Ein weißes Birkenbäumchen war zierlich von Erlen umringt, die kecke Haselnußstaude spannte einen Blätterschirm über eine 136 kleine, mit Moos bewachsene Mulde, an deren Rand blaue Leberblümchen aufgeblüht waren. Die klare Sonntagsstille umwob die beiden, nur aus der nahfernen Stadt dort drüben, die sich jetzt leuchtend aus den Wolken zu heben begann, schlug von vielen Türmen das Glockenläuten hinauf. Franz begann zu zählen. »Fünf Uhr . . . Jetzt hat er den Brief, jetzt gibt's kein Zurück . . .« Und mit einem von Elis wohlbemerkten Ruck, einem tiefen Aufatmen und einem Griff in die Seitentasche faßte er den Revolver, den er in der Hand verbarg. »Den Abschiedsbrief, ja, jetzt wird er ihn schon haben . . .« »Was hast ihm denn g'schrieben?« stammelte Elis, um deren blassen Mund ein Zittern lief; sie klammerte sich an das Haselgesträuch und schlug hastig ein Kreuz. »Alles, was ich so in mich 'neing'fressen hab', die ganzen Jahr. Das hat Ihnen noch keiner gesagt, Herr Hofrat Karabeis . . . Ich weiß es noch Wort für Wort. Wie wir jetzt im Wald herumg'laufen sind, hab' ich mir alles vorg'sagt.« Und er begann, Silbe nach Silbe betonend, mit immer heißerem, in sich hineingestammelten Pathos:

Geehrter Herr Vormund!

Wenn dieser Brief Ihnen überbracht wird, bin ich nicht mehr am Leben. Auch meine Braut ist mit mir in den Tod, weil wir gar zu arm 137 und hoffnungslos sind. Schicken Sie nur Ihre Leute auf den Leopoldsberg, dort wird man uns finden. Das einzige, um was ich Sie bitte, ist nur, daß Sie für die Mutter meiner Braut sorgen, Sie wissen ja, wer sie ist. Das ist Ihre Pflicht, denn nur Sie haben unseren Tod auf dem Gewissen. Sie sind ein unmenschlicher, ja ein verbrecherischer Vormund gewesen. Sie haben die letzte Bitte meiner armen Mutter nicht erfüllt. Gott wird Sie strafen für das, was Sie getan haben! Wissen Sie, daß einen Künstler töten einen hundertfachen Mord begehen heißt; denn Sie morden zugleich hundert Menschen, Frauen, Kinder, Greise, ganze Chöre, die alle in ihm gelebt haben. Aber was wissen Sie von alledem? Wissen Sie denn, was es heißt, einen Menschen lieb haben, so über alles Maß hinaus lieb, wie Elis mich und ich Elis, die mir jetzt in den Tod hinüber folgt. Sie haben nie eine Frau geliebt, und eine Frau hat Sie nie lieben können, weil sie überhaupt nicht wie ein Mensch gelebt haben, sondern wie ein böser, hämischer Geist. Zu diesen entsetzlichen Geschöpfen sind Sie gegangen, die nur anzuschauen mich ekelt. Das waren Ihre Erlebnisse. . . Und zwei Menschen, so rein, so unberührt, wie Sie das gar nicht verstehen können, zwei Menschen, die die wunderbare Schönheit, den Reichtum, das Glück der Welt fühlen, müssen durch 138 Sie sterben. Aber Ihre Strafe soll dieser Brief, soll Ihr Wissen darum sein, wie sehr ich Sie hasse, kenne und verachte. Sie haben Ihr Leben durch Ihre Schuld verloren, wir aber könnten es genießen, in einem Taumel alles Glück der Welt in uns schlürfen; denn in uns schäumt und braust die Jugend wie ein Frühlingssturm. Wie möchten wir diese ganze herrliche Welt, Sonne, Liebe, Frühling, Blühen und Werden in uns trinken mit lechzenden Sinnen, wenn wir leben dürften, wenn wir uns anders hätten von Ihnen frei machen können, wie durch den Tod.«

»Das alles hab' ich ihm g'sagt« . . . stieß Franz hervor, »alles hat er hören müssen, bevor ich sterb'! Das ist mein Testament aus dem Grab hinauf«, stammelte er mit einer Stimme, die vor durcheinanderstürmenden Leidenschaften heiser ward. »Nein, nein«, rief Elis mit plötzlich aufleuchtendem Blick, als sei ihr durch diesen Brief eine Erkenntnis gleich einem Wunder aufgegangen. Auch Franz hielt betroffen inne . . . Aus den Worten dieses Briefes, in dem er vom Leben Abschied genommen, schlug ihnen der heiße, betörende Atem des Lebens selbst entgegen und verwirrte die Zwei, wie der Duft des starken Weines, den sie eben getrunken hatten. »Jetzt gibt's kein Zurück,« stöhnte Franz, »jetzt ist alles zu End . . . Jetzt kann ich ihm nimmer vor die Augen, wenn er das g'lesen hat. Schau 139 noch einmal hinunter in unsere Wienerstadt, Elis, zum letztenmal.« Er riß sie zu sich herüber. »Franz,« schrie das Mädchen, sich ihm entwindend, ihre Angst löste sich in taumelndem Entzücken, »auf die Knie, Franz, schau, schau wie schön, wie wunderbar das ist!« Die Sonne war jetzt völlig durchgebrochen und leuchtete groß und ruhig wie eine Monstranz. Aus tausenden von Fenstern der geliebten Stadt dort unten mit den vielen schwingenden Glocken glitzerten Sonnenreflexe und Spiegelbilder hinauf, der Strom zog wie flüssiges Gold mit glühenden Punkten dahin, die Brücken schienen zu brennen, von den Bergen flammte es wie Opferrauch, der Horizont glich einer ungeheuern Schale von Gold und Opal, deren Rand sich in die Unendlichkeit der Ebene in perlmutterfarbenem Hauch verlor. Elis erhob sich. »Nein,« rief sie noch einmal zu ihrem Geliebten hinüber, in dem sich aus dem Glockenläuten der Umriß eines Chorals formte, »jetzt darfst mir nichts mehr vom Sterben reden«; die Waffe fiel ihm von selbst aus der Hand und kollerte in das Gebüsch. »Jetzt ist das Wunder g'schehn, auf das ich g'wartet hab'. In uns ist es g'scheh'n – durch den Brief.« »Das Wunder, ja . . . der Brief. Wie ich ihn so laut vor dir herg'sagt hab', hab' ich's plötzlich g'spürt, daß ich ein Künstler bin, und daß von dem, was ich in der Welt noch 140 auszurichten hab', noch soviel Licht ausgehen wird, wie jetzt von unserm Wien da drunten; wie schön das Leben ist, wie jung wir sind und daß wir vom Leben noch nichts g'habt haben« . . . »Und daß du mich so lieb hast, Franzerl, wie ich's nimmer geglaubt hätt'.« »Lieserl, so wie ich's ihm g'schrieben hab', so gern hab' ich dich,« rief er jubelnd. »Is dir nicht auch so Franzl, als wenn uns das Leben erst jetzt wieder so recht g'schenkt wär', als wenn wir jetzt erst wüßten, was das ist, das Glück . . . was es sein könnte.« »Ja, alles Glück der Welt in einem Taumel schlürfen! Wie möchten wir diese ganze herrliche Welt, Sonne, Liebe, Frühling, Blühen und Werden in uns trinken mit lechzenden Sinnen . . . wenn wir leben dürften – so hab' ich's ja g'schrieben, Elis, nicht wahr so . . .« »Franzl, Franzl!« Und sie lag nach der Spannung dieser letzten Augenblicke schwer und willenlos in seinem Arm und suchte mit ihren verlangenden Küssen seinen Mund. »Liesl! Jetzt nimmer sterben, jetzt g'hörst mir.« »Ja dir, Franz, dir, nur dir. So lieb hab' ich dich . . . So lieb . . .« Kein Laut klang in der Runde, nur das kecke kleine Haselnußsträuchlein, unter dem ein Lager aus Moos den Liebesleuten eigens bereitet schien, flüsterte gar traulich, und die Spatzen zwitscherten geschäftig, als hätten sie dem Wald ein wichtiges Geheimnis zu vertrauen. Das war 141 ein Wispern hin und her im Gezweige von den zwei jungen Menschen, die in den Wald gezogen sind, um miteinander zu sterben; das hat ja der Wald schon so oft traurig mit angesehen. Wie er ihr aber dann den Brief vorgesagt hat, in dem er von der Welt Abschied nehmen wollte, haben sie erst gefühlt, wieviel Glück noch vor ihnen ist, und dann haben sie, statt zu sterben, im Wald unter den rauschenden Wipfeln Hochzeit gehalten. –

Als der Abend rötlich herandämmerte und der Wind kühler wehte, schritten sie, ineinander verschlungen wie richtige Hochzeitsleute, zärtlich und traumverloren einher. Sie flüsterte zärtlich und barg ihr Gesicht schämig an seiner Schulter. »Alles wird jetzt gut werden, Lieserl, wirst schon sehen.« Und als sie am Abend zwischen weiß- und rotblühenden Hecken den Weg nach Klosterneuburg hinab verfolgten und durch das Städtchen mit den eisenbeschlagenen schweren Toren und den Höfen mit den Mauerbögen im Sonntagsfrieden zwischen müßig rauchenden und mit den Mägden scherzenden Soldaten und geheimnisvoll hinhuschenden weißen Kutten spazierten, erwogen sie wie andere bedächtige Leute allerlei Zukunftspläne. Aber erst beim Strohwein im Stiftskeller ward Liesl alles klar, jetzt hatte sie einen festen Plan. Sie wird sich eine Musikschule einrichten, Franz wird 142 dort Lehrer und hat Zeit genug für sein Komponieren. Und das Geld dazu, ja, das gibt gewiß ihr Onkel her. Sie hat ja gottlob einen weitschichtigen Verwandten, einen »guten Onkel« in Krems, warum hat sie denn bisher gar nicht an den gedacht? Nun lachten sie einander glückselig an und begriffen gar nicht, daß sie sich vor einer Stunde allen Ernstes hatten totschießen wollen. »Wegen den ung'ratenen Schulkindern und wegen den Zinslisten und wegen dem bösen Vormund. Ja, mein Gott, deswegen muß man sich ja nicht gleich erschießen«, scherzte jetzt Franz überlegen. Und im Stadtbahnzug, der sie nach Wien zurückführte, faßten sie, selig aneinander geschlossen, den Vorsatz, jetzt sogleich dem Hofrat gegenüber zu treten. Sie wollten keine Verzeihung erbetteln. Franz sollte das Recht seiner Jugend, die den Ungestüm dieses Briefes erklärte, und das Recht des verwandten Blutes anrufen. Ward dieser Freiheitsforderung kein Gehör, dann würde Franz, und das noch heute, das Haus des Vormunds verlassen und bis zur Hochzeit zu Liesels Mutter ziehen. »Wie er den Abschiedsbrief wohl aufg'nommen hat, und wie werden wir ihm gegenüberstehen? Wie denn nur?« . . . Aber es lag keine Weichlichkeit mehr in dieser Frage, vielmehr die harte und frohe Erkenntnis, daß sie ihre Bestimmung, und nach dunklen Irrfahrten 143 den Weg zu einer neuen, lichten Heimat gefunden hatten.

* * *

Eine Stunde, nachdem sich Franz aus seiner Stube geschlichen hatte, saß der Hofrat allein beim Frühstück. Argwöhnisch durchsuchte er zunächst die Personalnachrichten des vor ihm liegenden Amtsblattes und räsonnierte hämisch in sich hinein. »Natürlich, der Dolwitsch hat den Franz-Josefs-Orden! Dolwitsch . . . auch schon wer . . . Kriecher. Immer konziliant. Betrachtet die Polizei als Wohlfahrtseinrichtung für die Gauner. Das will ja die Exzellenz. Für mich gibt's natürlich keine Orden – dafür zittern aber die Herren Verbrecher auch vor mir beim Verhör.« »Wo ist denn der Franz,« fuhr er jetzt die Köchin an, die heute ein weißes Häubchen trug und auch sonst feiertäglich geputzt war. »Was schreit denn der gnä Herr wieder a so, i kann ja nix dafür, daß er fort is, i kann ihn ja nit anbinden am Hundsbandl, so wie 's der Herr Hofrat macht.« »Wo er ist, will ich wissen!« »No, auf die Luft is er halt, a Landpartie wird er g'macht habn«, replizierte Fanny resolut. »Weil er halt gestern nacht so viel g'schrieben hat und weil's ihm halt gewiß a zu dumm g'worden is, das ewige Herumkuranzen in dem Haus da.« Und sie schlug die Tür wenig respektvoll ins Schloß. »Geschrieben? . . . wahrscheinlich an 144 das Mädel. Mir scheint, ich muß ihm wieder das Schreibzeug einsperren. Einen Ausflug . . . der Franz . . . ohne Erlaubnis . . . ah, das traut er sich nicht! Er wird ins Amt sein, heimlich am Sonntag dort Noten schmieren. Dort, glaubt er, ist er sicher vor mir. Da erwisch' ich ihn nicht. Wart, Burscherl, dich werd ich schon aufstöbern. Der Sonntag fangt ja wieder schön an«, schnaubte er. Der Hofrat stülpte seinen steifen schwarzen Filz mit einem fast hörbaren Ruck auf den kantigen Schädel und drängte seine eckige Figur mit rücksichtsloser Eile durch die Gruppen der Passanten dem Steueramt zu. Franzens Schreibtisch war leer. »Wo treibt sich denn der Bursch herum? Er wird sich doch nicht wirklich unterstanden haben, gegen meinen Befehl wieder das Frauenzimmer zu treffen.« Der Ingrimm begann noch heftiger in ihm aufzusteigen. »Er hat doch um zehn mit mir auszugehn. Er wird zu Haus auf mich warten! Na, der soll sich freuen.« Und er ließ den Spazierstock zornig auf dem Boden tanzen. Aber auch zu Hause war der Franz nicht, und die Fanny schnitt ihm, als er fragte, eine freche Grimasse. Was soll er an diesem faden Sonntagvormittag nun eigentlich anfangen? Allein spazieren gehen? Nein, das verträgt er nicht. Er braucht wen, der dorthin geht, wo er will, der das redet, was er will. »So eine Frechheit von dem Franz, daß er 145 aufmuckt! Ja wer ist denn der Bursch eigentlich, daß er sich gegen mich traut? So ein Nichts! So ein Niemand! Wenigstens solang er nicht weiß, daß eigentlich er der Stärkere sein könnte, weil er das viele Geld hat. . . . Nun, ich werde mich hüten, daß er es nicht erfährt! Solang mir's paßt, muß er ducken!« Und sein hageres Gesicht wurde noch spitziger; es bekam wieder den giftigen Ausdruck. »Der Franz! Ah, wenn der kommt!« Immer eigensinniger verbiß er sich in die Vorstellung, wie er den Franz seine Überlegenheit fühlen lassen, wie er ihn höhnen und ihn und das Mädel klein, so klein machen wird, bis er ihm wieder parieren muß. Er hat ja dieses Verfahren an seinen Häftlingen ausprobiert, daß man Menschen am schärfsten trifft durch hämische Stichelreden und boshafte Indiskretionen. Und der gallige Ärger darüber, daß der Franz, wie sehr er auch toben mochte, im Augenblick seiner Macht unerreichbar blieb, wuchs in ihm bis zum Ingrimm auf.

Aber zum Teufel, was soll er denn jetzt beginnen? Nur eines bleibt ihm übrig – das Amt. Gott sei Dank, daß der Mensch wenigstens ein Amt hat, wo er der Herr ist, wenn schon zu Haus keiner mehr parieren will. Jetzt fängt ja die Fanny auch schon an zu rebellieren; auf keinen Menschen ist mehr ein Verlaß. Er ging durch den Rathauspark voll sonntäglich geputzter Menschen um den Springbrunnen, um die junge ergrünende Eiche; doch faßte er dabei nur die älteren auf den Bänken sitzenden Herren scharf ins Auge, ob sie sich nicht etwa mit Kindern zu schaffen machten. Als er auf dem Schottenring sein graues, lichtloses Bureau im Halbstock betrat, stach ihm sogleich auf dem Schreibtisch, den keine Bronze, keine Photographie verzierte, aus dem Einlauf ein Brief entgegen. »Vom Präsidenten. Was hat der ihm zu schreiben – dieser junge Mensch! Auch so einer, der die Karriere verstanden hat. Natürlich, er hat eine junge, fesche Frau, so was schadet einem beim Minister nie. Der wünscht eine Unterredung, was ist denn da los?« Der Präsident, ein noch junger, sehr soignierter Herr, dem er sich sogleich melden ließ, kam ihm mit einer kurzen reservierten Verbeugung entgegen. Und nach einer Pause, während deren er seine geschliffenen Fingernägel musterte: »Es ist mir sehr peinlich, Herr Kollege, wirklich überaus peinlich. Ich kann diesen Akt da unmöglich im Sinne ihres Antrages erledigen. Man kann doch so eine Affäre nicht gleich der Staatsanwaltschaft übergeben.« »Aber das ärztliche Parere, Verbrechen gegen das keimende Leben. Ich weiß ja, was ich tue,« geiferte der Hofrat in sich hinein. »Aber man ist doch diesen Gesellschaftskreisen gewisse Rücksichten schuldig. Sie scheinen ja prinzipiell gegen 147 diese alten vornehmen Familien, Sie verzeihen schon – eine Art von Gehässigkeit . . . Überhaupt, Herr Kollega,« und die Exzellenz prüfte die Spitzen ihrer Lackstiefeletten, »Unparteilichkeit, weit mehr Unparteilichkeit, besonders bei den delikaten Sachen . . .« Er drückte ihm den Akt in die Hand und komplimentierte ihn mit markierter Liebenswürdigkeit zur Tür hinaus. Doch der Hofrat schmeckte die verzuckerte Pille genau. »In Pension! Habe die Ehre.«

Die Polizeimänner und Detektivs, die in den muffigen Gängen umherstanden, salutierten, als sie den gefürchteten, heute doppelt gereizten Hofrat erkannten, wie er die Stiege herab stampfte; doch wie er argwöhnte, mit weniger Devotion. »Na, die sollen sich freuen, wenn er doch nicht in Pension geht! Aber er wird gehen müssen, er spürt das ganz genau. Was werd' ich dann anfangen, den ganzen Tag? Na, ich habe ja noch den Franz! Jetzt werde ich wenigstens Zeit haben, den Burschen gründlich in die Arbeit zu nehmen. Biegen oder brechen!« »Der Franz noch immer nicht da?« schrie er, in seine Wohnung tretend. »Warum steht denn die Suppe noch nicht auf dem Tisch? Was is denn das überhaupt für eine Wirtschaft?« Und er warf dem Mädchen das Gedeck, das für den Neffen bestimmt war, nach. Fanny wandte sich 148 um. »So, und jetzt hab' i gnua! I mach meine vierzehn Täg!« »Sie sind wohl verrückt! Zehn Jahr sind sie bei mir im Dienst.« »Ja, zehn Jahr hab ich's ausg'halten, weil's vom Waisenhaus weg mein erster Dienst war, und weil i mi nit wehren hab' können, weil i kan Menschen g'habt hab'. Aber jetzt–wird g'heirat'.« »Gut, heiraten sie«, schnaubte der Hofrat. »Aber heut nachmittag bleiben sie da. Ich will nicht allein sein.« »Ah was, heut hab' i Ausgang.« »Dann schreib' ich in ihr Zeugnis,« tobte er ihr nach, »daß sie eine freche, boshafte, miserable Person sind.« Er konnte in seinem cholerischen Anfall nicht weitersprechen. »Alles will heiraten! Diese ekelhafte Paarung überall!« knurrte er. Mit düsterm Ausblick baute sich die Zukunft vor seinen Augen auf. Eine neue Wirtschafterin finden, die nicht aufbegehrt, und bis dahin das Gasthaus, sein reizbarer Magen . . .

So dehnte sich der Sonntagnachmittag vor ihm in endloser Leere. Wie wäre es, wenn er was arbeiten würde? Arbeiten soll der Mensch! Das hat er oft den Polizeihäftlingen als Zurechtweisung zugerufen. Aber selbst ein Häftling hat am Sonntagnachmittag Ruhe. Jetzt kommt er sich schon selbst wie ein Gefangener vor, weil kein Mensch da ist, dem er kommandieren kann. Ob er's mit einem Buche probieren soll? Vielleicht mit einem vom Franz? Nein, er haßt 149 die Bücher, weil er einen fremden Willen in ihnen spürt, gegen den er ohnmächtig ist. Er braucht einen lebendigen Widerstand, den er niederzwingen kann. »Das wird der Franz heut schon noch erfahren, wenn ich ihn erwische!« Er schlug die Türe zu und stand wieder auf der nun völlig vereinsamten Straße. Wie er durch den Park vor dem Mariatrost-Kirchlein schritt, fiel es ihm auf, daß schon die Beete blühten und daß der Ahorn so schwer, wie von Honig, duftete. Aber dieses Blühen ringsum machte ihn nicht traurig und auch nicht froh, sondern stachelte das erbitterte Gefühl seiner Einsamkeit in ihm auf. Die Monotonie des Sonntagnachmittags in der großen Stadt umfing ihn und steigerte seine Erregung. Die Läden waren geschlossen, sein Schritt widerhallte. Er spähte durch die Parterrefenster der leeren Wohnungen ringsum, die ganze Stadt schien ausgeflogen. Nur zuweilen stand schwerfällig ein Hausmeister vor seinem Tor, oder ein paar alte Weiblein erzählten sich Neuigkeiten. Sonst sah man nur geputzte Liebespärchen oder junge legitime Paare, die stattlich und würdevoll mit den Kindern und der Amme stolzierten; alles zog an diesem blanken Frühlingstag zur Stadtbahn, hinaus ins Freie. Und plötzlich glaubte er den Franz zu sehen, wie er mit seinem fest gewachsenen Mädel durch den Wienerwald 150 spazierte, sie an sich drückte und küßte, so heftig küßte . . . und über ihn lachte, der sich das nicht zu beschaffen vermochte, was heute jeder in dieser lächerlich verliebten Stadt besaß. Und ein zäh sich einbeißender Neid wider all diese jungen, leichtfertig geputzten Menschen, die ihm begegneten, stachelte ihn . . . Alle wollen sie heiraten, die jungen Kerle. Vielleicht hätte auch er heiraten, die Toni sich erzwingen sollen – trotz alledem. Dann wäre der Franz sein Sohn . . . Eine weichere Stimmung wollte ihn einen Augenblick überfallen, doch schüttelte er sie sogleich wieder ab. Er wandte sich dem Eckcafé zu, wo er gelegentlich an Wochentagen nach sechs mit einem gleich ihm hagestolzen Oberbuchhalter und einem geschiedenen Oberst zu tarockieren pflegte. Ein schläfriger Kellner fuhr von einer Zeitung auf. Keiner von den Herren war da. »Alle ausgeflogen, leider . . .« Und er hörte aus diesem bedauernden Bescheid den niederträchtigen Kellnerspott. Nur er ist dem Sonntag preisgegeben, so sagte er sich mit ingrimmiger Pointierung. Was ist ihm denn auf einmal? Sein Kopf brennt. Er muß sich eine Zerstreuung verschaffen. Die grelle Empfangsdame des »Salons«, der gealterten Junggesellen Trost und Zuflucht bot, und den er jetzt, vorsichtig um sich spähend, aufsuchte, empfing ihn im Vorzimmer mit einem bedauernden Blick. Die »Carmen« habe leider 151 einen Ausflug gemacht, die anderen Damen auch. »Auch die Carmen –« Und er verabschiedete sich brüsk. War denn heute die ganze Stadt gegen ihn verbündet, nur weil der Franz infam, ja infam an ihm gehandelt hatte. Der Franz! Jawohl der Franz . . . Und plötzlich kommt ihm ein Verdacht, der ihn zum Stillstehen zwingt. Wie, wenn der Franz überhaupt nicht mehr zu ihm zurückkäme? Und ein Gedanke, der ihn einen Augenblick erstarren läßt, steigt in harter Deutlichkeit vor ihm auf. Der Franz hat ja ein Recht, nicht mehr zu ihm zurückzukommen. Er hätte ein Recht, wenn er wüßte, was er ihm, dem Onkel und Vormund, vorwerfen kann. Aber er weiß es nicht, kein Mensch kann es wissen . . . Und darum hat der Franz infam gehandelt. Was soll aber aus ihm selber werden, wenn der Franz nicht mehr zurückkommt? . . . Er kann ja nicht ohne einen Menschen sein, der vor ihm zittert, den er treten kann. Ja, treten möchte er ihn jetzt . . . Darum ist ja auch die Toni von ihm weggegangen, weil sie sich gefürchtet hat vor ihm. Und hat doch, bevor sie gestorben ist, ihr »Herzbinkerl«, den Franz, seinem Gewissen anvertraut. Gewissen . . . Er blieb wiederum zögernd stehen. »Bist du rein vor deinem Gewissen, Hofrat Johann Karabeis? Könntest du der Toni ins Gesicht sehen nach dem, was du an ihrem Buben getan oder 152 vielmehr unterlassen hast . . . vor fünf Jahren. Weißt du, daß das einfach ein Verbrechen ist? Du hast es gewußt durch diese fünf Jahre, aber du hast es nicht wissen wollen. Erst heute, dieser vermaledeite Sonntag . . . Und so soll das nun weitergehen: in Pension, jeder Tag so ein Sonntag . . .«

Er stieg zaudernden Schrittes in seine Wohnung hinauf. Die Fanni war richtig ausgegangen und Franz noch immer nicht zurückgekehrt. Der Hofrat setzte sich mit harter Selbstüberwindung an seinen Arbeitstisch. Die Rouleaux ließ er halb herab, weil ihn die plötzlich aufflammende »verflixte Sonne« störte. Er fing an, einen Bogen mit seinen pedantisch geraden Schriftzügen zu bedecken. Mit einem Male stockte er inmitten eines Satzes; er fand eines der geläufigsten Worte seines Amtsstiles nicht. Daß er seinen Kopf nicht beisammen hat, daran ist wieder nur der Franz schuld, weil er immer nur an ihn, immer nur daran denken muß, wie er ihn quälen wird, wenn er jetzt zurückkommt . . . Er suchte in nervöser Gier die kahlen, schmucklosen Stuben ab. Nur in Franzens Zimmer zu treten hielt ihn eine sonderbare Scheu zurück. Im Vorzimmer blieb er wartend stehn. Er horchte an der Wohnungstür. Ein Schritt die Stiege hinauf. »Das ist der Franz, der Franz!« Der Schritt kommt näher. Ein zauderndes Pochen. »Jetzt 153 wollen wir sehen, wer von uns zweien Herr sein wird, ein für allemal.« Sein Gesicht war gerötet und verzerrt. Er ballte die Fäuste zusammen, als wollte er seinen ganzen gegen Franz gerichteten Ingrimm zusammenpressen, sich gegen ihn stürzen – da trat der Hausbesorger ein, in der Hand Franzens Abschiedsbrief. »Den schickt der junge gnä' Herr! Um fünfe, hat er g'sagt, soll ich ihn abgeben!« Und er stolperte die Stiege hinab; so hatte er sich vor dem unwirschen Polizeirat noch nie gefürchtet.

Der Brief . . . warum ist er denn nicht selbst gekommen? Warum schreibt er einen Brief? Hat er etwas erfahren von dem Geld? Will er ihn, den Vormund, zur Rechenschaft ziehen, den Behörden anzeigen? Aber das ist ja wahnsinnig, ganz unmöglich! Nein, er fürchtet sich selbst zu kommen, darum schreibt er. Und er hat recht, sich zu fürchten. Wenn er jetzt in das Zimmer hereinkäme, er würde ihn ins Gesicht schlagen, das fühlte er. Ja schlagen, schlagen! Das würde ihn beruhigen. Diese Nerven, wie sie toben. »Er ist vielleicht durchgegangen mit dem Mädel, bittet um Geld. Keinen Heller, keinen Heller! Und wenn dem Franz noch so viel gehört . . . er darf es nicht wissen . . . Eher soll er verhungern mit dem Mädel! Bitten soll er, daß ich ihn wieder aufnehm'! Hunger macht gefügig . . . Oder vielleicht – er hat ja die Kasse im Amt. 154 Vielleicht ist er ein Lump geworden, weil ich ihm sein Geld verschwiegen hab' . . . Hat ganz den selben Leichtsinn wie sein Vater, mein seliger Herr Bruder. Bei ihm sind halt die Anlagen ausgereift. Siehst, Toni, das kommt dann einmal heraus bei diesen ›genialen Künstlernaturen‹. Die Geschichte deck' ich natürlich zu. Mit dem Franz seinem Geld . . . Daß nur die Exzellenz nichts erfährt. . . Wenn der Bursch gewußt hätte, daß er gar nicht ins Amt muß, daß er komponieren und sein Mädel heiraten könnt . . .«

Jetzt war er in seinem Zimmer, riß die Rouleaux hinauf, daß die Sonne voll hereinströmte, erbrach das Kuvert des Briefes und las: »Wenn dieser Brief Ihnen überbracht wird, bin ich nicht mehr am Leben. Auch meine Braut ist mit mir in den Tod, weil wir gar zu arm und hoffnungslos sind . . . ›Tot – der Franz . . . Selbstmord‹ – das Papier fiel zu Boden. ›Toni, das hab' ich nicht wollen – oder trifft mich doch die Schuld, weil ich dem Franz verschwiegen hab', daß er vor fünf Jahren einen Treffer von Dreißigtausend Gulden gemacht hat mit dem Los, das mir die Toni für ihn anvertraut hat, das einzige, was sie sich für ihn ersparen hat können! Und der Franz hat sich umgebracht, weil er sich für so arm gehalten hat! . . .‹ Er bückte sich keuchend und nahm den Brief wieder auf: »Gott wird Sie strafen für das, was Sie getan haben. Sie sind ein 155 unmenschlicher, ja ein verbrecherischer Vormund gewesen . . .« ›Wie hat er das nur wissen können? Geahnt hat er es. Die Künstler haben das so, sagen die Leute.‹ »Sie haben die letzte Bitte meiner Mutter nicht erfüllt!« ›Hofrat Johann Karabeis, vor dem Brief stehst du da wie vor deinem Richter! Nicht an das Wohl deines Mündels hast du gedacht – Dein Machtkitzel hat dich nicht ausgelassen! Darum hat der Franz kein Selbstgefühl kriegen dürfen, darum hat er nichts erfahren dürfen – weil du das nicht ertragen hättest – einen freien Menschen neben dir . . .‹ Der Brief gewann in seiner Hand unheimliches Leben. Er wollte ihn fortschleudern. Aber wie schwarze Kobolde lösten sich die Buchstaben aus dem weißen Papier, sprangen in seine scheuen Augen und bohrten sich wie mit Widerhaken in sein Denken. »Einen Künstler töten«, las er, »heißt einen hundertfachen Mord begehen.« Ein Künstler . . . höhnten die Kobolde . . . Ja, er war . . . ein Künstler. Du hast es gespürt, gesteh' dir's nur ein. Du hast ihn darum beneidet wie seinen Vater, dem auch alles so zugeflogen ist, auch die Toni. Deine Braut war sie, und du warst wer, und dich hat sie stehen lassen und ist deinem Herrn Bruder nach, dem Bettelmusikanten. Und auch ihn, den Burschen da, hat ein Mädchen so gern gehabt, daß sie mit ihm gestorben ist. ›Das Erbgut seiner 156 Mutter habe ich ihm unterschlagen können, aber über das Erbe seines Vaters habe ich keine Macht!‹ Und der Neid um das Sterben dieses Mädchens für den Franz, für diesen Niemand, der von seinen Gnaden gelebt hatte, würgte ihn so, daß er im Augenblick nicht weiterlesen konnte. »Sie haben nie geliebt, Sie hat eine Frau nie lieben können . . .« – doch wie er zu den Worten kam: »weil Sie nicht wie ein Mensch gelebt haben, sondern wie ein böser hämischer Geist,« brach stöhnend die Wut aus ihm hervor. Das wagt ein Mensch ihm zuzuschreien, und er kann ihm dafür nicht einmal ins Gesicht schlagen, weil er ihm die Bosheit angetan hat, zu sterben! ›Dieser gemeine Brief . . .‹ Aber es kommt noch viel gemeiner. »Sie haben sich und anderen nicht einen Keim von dem gegönnt, was das Dasein schön und blühend macht. Wir aber haben helle Augen und warme Herzen.« Die Hand mit dem Blatt sank schwer nieder . . . ›Recht hat er, ganz recht, aus dem Grab heraus sagt er mir die Wahrheit. Was einer so schreibt, bevor er – hinüber will, das muß wahr sein. Wer weiß das besser als ich von der Polizei . . . Wie hab' ich mir mein Leben eingerichtet . . . Die Carmen und ihresgleichen, das waren meine Eroberungen. Keiner anständigen Frau bin ich mehr in die Nähe gegangen, ich habe mir nie einen Urlaub 157 genommen, daß mir nur keiner im Amt vorkommt. Seit zehn Jahren war ich in keinem Theater; wer hätte denn sonst zu Hause den Franz kontrolliert . . . Nur eines hab' ich vom Leben gehabt, das keiner verstehen wird;‹ und er lachte verbissen in sich hinein. ›Daß ich einen Menschen so ganz in der Hand gehabt habe, daß ich ihn so dirigieren hab' können bis in das Letzte. Bis in das Letzte? . . . Hab' ich ihn wirklich dazu gebracht? Gesteh' dir's, Johann Karabeis, du hast ihn dazu gebracht. Du hast ihm seine Zukunft so jämmerlich vorgespiegelt, – jetzt rächt er sich und zeigt mir wie in einem Spiegel mein eigenes Leben . . . Eigentlich hätt' ich mehr Grund, mein Leben abzutun, als der Franz. Wie hat er's wohl gemacht, wie wird man ihn finden? Erschossen? . . . Wahrscheinlich auch noch mit meinem Revolver.‹ Steifbeinig hob er sich aus dem Lehnstuhl und schritt ungelenk auf das Nachtkästchen zu, in dessen kleinem Schiebfach er in seiner steten Angst vor Racheakten immer einen geladenen Revolver zu verwahren pflegte. Die Waffe war unberührt. Mit tastender Scheu glitten seine Finger über den Lauf und hemmten ihre Bewegung über dem scharfgespannten Hahn. ›So hat er es gemacht, so einfach.‹ Und er führte die Waffe halb mechanisch gegen die Schläfe. Ein leichter Druck und – er zuckte zusammen; die kalte Mündung 158 des Laufs hatte seine Schläfe berührt, ›Du bist wohl verrückt, Hofrat Karabeis.‹ Und er schob den Revolver, als glühe er plötzlich in seinen Händen, unsicher auf die Kante des Schreibtisches. ›Wirst dich von so einem Geschreibsel da aus der Welt jagen lassen‹ – und sein Blick voll gehässiger Angst kroch über den Abschiedsbrief. ›Das hätt' dir wohl so gepaßt, Franz. Das hast dir vielleicht so ausgedacht, wie du den Brief geschrieben hast.‹ Ein kaltes, böses Lachen glitt über seine verzerrten Mienen. ›Hast doch nichts ausgerichtet mit dem Brief. Den werd' ich jetzt schön sauber zu meinem letzten Willen legen. Ob die sich vertragen werden?‹ lächelte er boshaft. Er schloß den Schreibtisch auf, in dessen mittlerer, pedantisch geordneter Lade sein eigenhändiges, in peinlich korrekten Schriftzügen abgefaßtes Testament lag. Plötzlich stutzte er. ›Ja, – – aber ich muß ja den Brief des Selbstmörders dem Amt, meinem eigenen Amt, vorlegen.‹ – – Der Abschiedsbrief eines Selbstmörders muß der Behörde vorgezeigt werden, das hat er den Eltern oft gesagt, wenn sie weinend zu ihm ins Bureau gekommen sind und so einen Brief mit den Familiensachen nicht haben herzeigen wollen. ›Ich bin Beamter und kenne meine Pflicht. Ich werde den Brief vorlegen. Diesen Brief . . . Dann bin ich erledigt. In allen Zeitungen wird 159 es morgen stehen, die lauern ja nur darauf, daß sie mir einmal etwas anhängen können.‹ Und er las mit einer Deutlichkeit, die ihn aufstöhnen ließ, die grellen Anklagen des Briefes . . . »Sie haben mich in den Tod getrieben, Sie sind ein verbrecherischer Vormund gewesen . . . Gott wird Sie strafen!« ›Aus Bosheit hat sich der Bursch umgebracht, damit der Präsident das liest. Natürlich, ich muß in Pension. Aber nachsagen soll mir keiner was; ich werd' mich schon herauswickeln . . . Ich weiß auch schon wie . . . Ich hab' ja das Testament, das datiert ja seit fünf Jahren. Da hab' ich ja dem Franz dreißigtausend Gulden vermacht. Die werden glauben, daß ich mir das alles abgespart hab' für ihn, für den Franz. Da wird kein Mensch denken, daß ich ihm was angetan habe . . . Die wissen ja nicht, daß es das eigene Geld vom Franz ist . . . Vor zwei Jahren hätt' ich's ihm geben müssen, wie er majorenn geworden ist . . . Ich hab's ihm halt nicht gegeben, wer weiß denn was von dem Los? In meinem Testament kriegt er sein Geld.‹ Und er breitete die Urkunde behutsam aus. Wenn er das vorlegt, wird man ihn loben: »was das für ein guter Vormund war, und was der Franz ihm angetan hat«. Er faltete den Brief, der in seiner nervösen Hand knitterte, umständlich zögernd zusammen. Jetzt auf die Polizei. ›Vielleicht zum Dolwitsch? Nein – 160 am besten gleich direkt zur Exzellenz hinauf. Mit dem Brief da und dem Testament. ›Wie schau' ich denn aus? Kann mich was in meinem Gesicht verraten? Ich weiß, wie genau so ein Gesicht angeschaut wird – auf der Polizei.‹ Er entzündete mit den feuchtkalten verwirrten Fingern die Kerze auf dem Schreibtisch und blickte über die tanzenden Schatten an der Wand in den Rasierspiegel, aus dem ein flackerndes Auge und sonderbar spitze Backenknochen ihn schreckten. Er nestelte mit fliegenden Fingern an seiner Binde. ›So darf ich nicht hinauf. Ich schau' ja aus, als wenn ich den Franz umgebracht hätte. Wie werd' ich erst ausschauen, wenn ich dort den Brief vorlege, den Abschiedsbrief. Ich muß mich an jedes Wort darin gewöhnen, sonst überrumpelt's mich aus dem Brief da heraus . . . So ist es schon manchem gegangen . . . No, was steht denn gar schon drin? . . .‹ Er entfaltete das Schriftstück. ›»Ein überspannter Bursch«, wird man sagen. Was ist das? Steht das wirklich da? Das ist ja unmöglich!‹ Er hatte auf dem letzten, sonst leeren Bogen einen Vermerk entdeckt: »Das Türkenlos, das Sie für mich in Verwahrung haben, ersuche ich Sie, der Mutter meiner Braut – es ist das einzige, was ich für sie tun kann – zu übergeben. Vielleicht wird sie doch an jemandem wahr, die Glücksnummer, an die meine Mutter so fest geglaubt 161 hat, weil das ihr Geburtsdatum war – 18, 2, 58.«

Starr haftete sein Blick auf diesen wenigen Worten, die sein Schicksal bedeuteten. Alles war zu Ende . . . Er konnte das Los mit dieser Nummer nicht vorweisen, und er mußte bekennen, was er mit dem Gelde gemacht habe . . . Er durchlebte in einem schmerzhaft aufzuckenden Bild die Minute vor der Exzellenz und er stöhnte, wie von einem bohrenden Stachel verwundet, aus dem Innersten auf. ›Das hat sich der Franz so ausgedacht, das war sein letzter Gedanke, wie er mich biegen und brechen wird.‹ Seine bläulich blasse Oberlippe hob sich zu einem starren Grinsen. Eine abergläubische Furcht rieselte über seinen erschlaffenden Körper. Geheimnisvolle Mächte mußten dem Franz diese scheinbar so bedeutungslosen Worte diktiert haben, daß sie nun all jene Beschuldigungen des Briefes neu aufstehen ließen wider ihn, Feuer und Blut werden ließen wider ihn, wie der Franz sich's wohl in seinem letzten Augenblick gedacht hat . . . Und er sah den Burschen vor sich, wie er schon die Waffe an die Schläfe legte und doch noch zögerte, um mit der letzten gesteigerten Intensität seinen Triumph zu genießen, über ihn, den Starren, den Mächtigen. Johann Karabeis ächzte. Willkürlich oder nicht, spielten ihm seine hastenden Bewegungen den 162 Revolver an der Schreibtischecke wieder in die Hand. Immer aufreizender bohrte sich die Vorstellung in seine gehetzte Phantasie, wie der Franz stand – oben auf einer ganz freien Spitze des Leopoldsberges, mit dem Revolver an der Stirn und auflachte darüber, daß er mit einer leichten Bewegung am Hahn sich ganz freimachen konnte von seiner Macht, daß er ihn, den Gefürchteten, niederringen, zerbrechen, auslöschen könne, daß er vor der Exzellenz stehen würde, geknickt, gekrümmt, er, der Hofrat Karabeis! Und Franz lachte über ihn in seiner letzten Minute – lachte und . . . drückte den Hahn ab. Ein Knall – der Hofrat ließ den Revolver, von dem eine dünne, schwärzliche Rauchsäule aufstieg, fallen. Er wollte noch die Hand mit dem Brief zu der flackernden Kerzenflamme führen, doch sank sie knapp vor dem Ziel mit einem Ruck nieder und fiel schwer auf die Tischplatte. Seine Stirn schlug hart wie Eisen auf das ausgebreitete Testament – – –


Wenige Stunden später betraten Franz und Elis den von einem matten Gaslicht beleuchteten Hausflur. Sie gingen stumm, die Hände stark ineinander gepreßt, als wollten sie sich ihr heute gewonnenes Glück von niemandem mehr entreißen lassen. Elis, die in der Hand noch ein paar Anemonen hielt, schaute bisweilen mit 163 dem Ausdruck weltentfernten Glücks zu Franz hinüber, der ernst einherschritt. Langsam stiegen die beiden die Treppe hinauf, entschlossen, den Kampf, der jetzt bestanden werden mußte, sogleich aufzunehmen. In ihren Mienen war eine lächelnde Zuversicht, noch schwamm in ihren Blicken die Trunkenheit des ersten Erlebnisses, die Heiterkeit dieses glücklichen Tages. Franz läutete energisch. Die Köchin, die inzwischen zurückgekommen war, öffnete. »Jessas, der junge Herr! Der Herr Hofrat hat schon zu Mittag so g'schimpft.« »Ist der Onkel zu Hause?« »Ja, im Zimmer is Licht. Der gnä Herr is g'wiß erst zurück'kommen. I war noch gar nit drin bei ihm, weil er heut gar so bös g'wesen is.«

Franz klopfte, und weil das erwartete schroffe »Herein« ausblieb, öffnete er mit einem Ruck die Tür; Elis kam, seinen Arm fester umschließend, hinter ihm. Erschüttert standen sie in der Türe.

Da saß der Hofrat, in sich zusammengefallen, vor dem Tisch mit den Papieren und dem Testament, das den beiden in jedem Sinn Befreiung bedeutete. Das Licht auf dem Schreibtisch, das noch immer brannte, warf durch den Spiegel auf den Boden zuckende Reflexe. Die Hand des Toten hielt noch den Abschiedsbrief umklammert, aus dessen Worten für ihn ein 164 tödlicher, für Franz und Elis ein lebenerweckender Duft gestiegen war. Über dem Satz aber: »Sie haben Ihr Leben versäumt, wir aber, wir könnten es genießen«, sickerte mitten hindurch ein Strich dunklen, schweren Blutes. 165

 


 


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