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Es war Abend, die Bureaustunden längst vorüber, aber Olten und der Staatsanwalt waren noch eifrig beschäftigt, den Inhalt von Heesemanns Brieftasche durchzusehen. Oltens joviales Gesicht blickte ernst, und tief grub sich die senkrechte Falte zwischen seinen Brauen ein, während er die Papiere entfaltete.
»Hier sind er t einmal 2550 Mark in Scheinen. Zählen Sie gut nach, Brockmann. 2550 Mark. So! Was ist dies? Eine Quittung, ausgestellt von Moritz Mandelbaum, in Vertretung von Jonathan Strauß, über 70 000 Mark für im Auftrag von Herrn von Heesemann aufgekaufte Wechsel. . . . Donnerwetter! Was sagen Sie dazu, Staatsanwalt?«
Brockmann beugte den Kopf tief über das Papier. »Ich hab's immer nicht glauben wollen, was man von den Wuchergeschäften des Brakers munkelte. Da hätten wir ja schon einen von den famosen Gläubigern, die sich zu den fehlenden drei Millionen nicht melden. Oder war der klug genug, sein Geld rechtzeitig aus der Kompagnie herauszuziehen und auf eigene Rechnung zu arbeiten?«
Während der Staatsanwalt seinen Betrachtungen nachging, entfaltete Olten das nächste Papier. Ein 104 Erschrecken ging über sein Gesicht. Er warf das Blatt hin, griff zum zweiten, dritten, vierten. Mit einer Gebärde der Ratlosigkeit ließ er die Hände sinken.
»Was haben Sie da?« fragte der Staatsanwalt.
»Wechsel, lauter Wechsel. Vermutlich die Wechsel, über die jene Quittung lautet, über 10 000 Mark, über 15 000 Mark – da gar einer über 30 000 Mark. Sehen Sie, fünf Stück! Und alle, alle unterschrieben: Wolf Ilefeld.«
»Das ist allerdings sehr sonderbar. Und das dicke Dokument hier?«
Olten entfaltete es. Es war eine mit Stempeln versehene, notariell beglaubigte Hypothekenurkunde, die dritte und letzte Hypothek von 300 000 Mark auf das adlige Gut Ravenhorst. Ein Jonas Meier in Hamburg, dem sie gehörte, hatte sie am 28. Oktober für 275 000 Mark an den Gutsbesitzer Max von Heesemann auf Brake zediert.
Einen Augenblick sahen sich der Polizeileutnant und der Staatsanwalt schweigend an, gepackt von demselben Gedanken, den keiner auszusprechen wagte.
»Nicht ganz klar ist mir Heesemanns Motiv zu diesen Käufen,« sprach endlich Brockmann. »Gewinnsucht allein doch kaum. Er müßte denn gewußt haben, daß der Kanal durch Ravenhorst geführt wird.«
»Er hat darum gewußt. Die Entscheidung muß so um den 27. Oktober herum gefallen sein. Wenn Heesemann am 28. Oktober Ilefelds Wechsel und Hypotheken aufkaufte, können Sie sicher annehmen, daß er darum gewußt hat.«
»Und Ilefeld muß am 3. November jedenfalls auch gewußt haben, daß die Hypothek in Heesemanns 105 Händen war,« setzte der Staatsanwalt hinzu. »Denn wenn der Braker sie gegen ihn ausnutzen wollte, mußte er sie ihm spätestens am 1. November kündigen. Rechnen Sie nun hierzu die Erzählung des Bahnhofsvorstehers über den Auftritt auf dem Scharndorfer Perron, rechnen Sie, daß die beiden Männer ganz allein miteinander im Eisenbahnwagen fuhren, denken Sie an den zerrissenen Handschuh auf der Schwelle des letzten Abteils« –
Olten sprang auf. »Nein – nein – nein! Begreifen Sie doch, Brockmann, wenn Heesemann dieser Wechsel wegen erschlagen worden wäre, so hätte der Mörder auch die Papiere an sich genommen.«
»Vielleicht behielt er dazu nicht Zeit. Vielleicht dachte er überhaupt nicht daran. Vielleicht fiel der tödliche Streich im Affekt, als unvorgesehener Schluß einer heftigen Auseinandersetzung.«
»Mein alter Kamerad Ilefeld ist kein Meuchelmörder!«
»Lieber Olten, wir haben uns vorgenommen, ohne Vorurteil an diese Untersuchung zu gehen, kaltblütig, nach der Regel. Und die erste Frage des Untersuchenden muß lauten: Cui bono? Wem nutzt das Verbrechen?«
Olten steckte die Papiere zurück in die Brieftasche. »Kaltblütig bin ich nicht in diesem Augenblick, Brockmann. Und denken kann ich auch nichts mehr. In meinem Hirn dreht sich's wie ein Feuerrad. Tun Sie mir die Liebe, lassen wir die verdammten Papiere jetzt ruhen. Ich kann über den Fall heut kein Wort mehr reden.«
Aber als Brockmann ihm willfahrt hatte und 106 heimgegangen war, suchte Olten nicht seine Wohnung auf. Er stieg in die Tram und fuhr zum Yacht-Club hinaus, in der Hoffnung, durch neue Eindrücke, Gespräche über andere Dinge Klarheit und Ruhe zu gewinnen.
Den Speisesaal füllten ihm fremde Herren. Olten trat in die Tür der langgestreckten Veranda, die auf die See hinausgeht, und blieb überrascht stehen. Am Ecktisch links zwischen Botho von Seekamp und Karlchen Tielen saß der, mit dem seine Gedanken sich beschäftigten, das wetterbraune Gesicht verzogen von einem lustigen Lachen. Vor ihm stand ein Knirps in der Ilefeldschen Livree, die ihm zu groß war, militärisch gerade, sorgfältig gescheitelt, von Reinlichkeit leuchtend.
»Also, Frettchen, erzähl's den Herrschaften. Wie heißt du?«
Der kleine Groom stand stramm. »Friedrich Timotheus Albert Heinrich Puttfarken.«
»Was bist du?«
»Ein Schafskopf.«
»Wie alt?«
»Sechzehn.«
»Bei wem stehst du in Dienst?«
»Beim Herrn von Ilefeld auf Ravenhorst.«
»Wie kommst du dahin?«
»Der Herr hat mich mein Elterns weggenommen.«
»Wie war's bei deinen Eltern?«
»Vater tat mich hauen, un Mutter, was mein Stiefmutter is, gab mich nichts zu essen.«
»Wer gibt dir nun zu essen?«
»Der Herr.«
»Wer hat dir beigebracht, dich zu waschen und zu kämmen?«
107 »Der Herr.«
»Wer hat dir den Rock geschenkt, den du anhast?«
»Der Herr.«
»Und das Hemd drunter?«
»Der Herr.«
»Wer haut dich, wenn du nichtsnutzig bist?«
»Der Herr.«
»Warst du denn nun für all dies auch dankbar? Warst du gern bei dem Herrn von Ilefeld?«
Der Junge zögerte.
»Immer bei der Wahrheit bleiben, Fred. Du warst nicht gern bei mir. Du warst gar nicht dankbar. Du kamst am 1. Juli zu mir und sagtest: ›Herr, ich will zu Michaeli in einen anderen Dienst.‹ Was hat dir der Herr von Ilefeld geantwortet?«
»Er hat mir eine aufs Maul gegeben.«
»Und was hast du getan?«
»Ich bin dageblieben.«
»Und bist du nun zufrieden mit deinem Dienst?«
»Jawohl.«
»Schön. Hast deine Sache gut gemacht. Geh' in die Stadt, mein Sohn, und sag' Kutscher Haberkorn, daß er anspannt. Abtreten! Linksum kehrt! Marsch!«
Mit soldatischem Anstand ging der Junge aus der Tür. Ilefeld sah lachend hinter ihm her.
»Wenn wir in Afrika unsere Nigger in dem Stil dressieren wollten, stände die ganze Zivilisation Kopf,« brummte Tielen.
Olten gab ihm im Herzen recht. Mit sehr gemischten Gefühlen hatte er der Schaustellung beigewohnt. Ja, sie war wieder ein Beispiel der Macht und des 108 Reizes, die Ilefelds Persönlichkeit auf die Menschen ausübte. Sie war auch ein Beispiel der naiven Brutalität, mit der er fremden Willen unter den seinen zwang. Vor die übernächtigen Augen des Kriminalbeamten drängte sich ein Abteil im fahrenden Zug, vom Deckenlicht matt erleuchtet, darin dieser Gewaltmensch, und ihm gegenüber sein Widersacher, nicht minder willensstark, aber heimlicher, glatter, verschlagener. War es unwahrscheinlich, daß als letztes Kampfmittel die haarige Tatze, die dort auf dem Tisch lag, sich hob, die Stricke des Netzes durchhieb, das der andere schlau gespannt hatte?
Olten behielt nicht Zeit, seinen Betrachtungen nachzuhängen. Die Herren hatten ihn im Türrahmen entdeckt, riefen ihn mit lautem Halloh heran und nötigten ihn, sich zu ihnen an den Tisch zu setzen. Die Ermordung des angesehenen Gutsbesitzers hatte große Aufregung in der Stadt hervorgerufen. Überall, bei Hoch und Niedrig, wurde der Fall besprochen.
»Großen Tag gehabt, Olten, was?« fragte Seekamp mit gutmütigem Spott. »Endlich einmal eine Gelegenheit zur Betätigung Ihrer Detektivtalente, der Mord in unserer ehrbaren Lokalbahn.«
»Ja,« antwortete Olten, »ich bin stolz darauf, daß mein Chef diesen wichtigen Fall mir zur Behandlung vertraut hat und hoffe, seiner guten Meinung Ehre zu machen.« Er bestellte Getränk und beteiligte sich scheinbar unbefangen am Gespräch. Aber über Karlchen Tielen und Seekamp hinweg beobachtete er verstohlen und nervös unaufhörlich Ilefeld. Er kannte den ehemaligen Regimentskameraden genau, und er sah's gut: der Ravenhorster war zerstreut, die Beute 109 von Gedanken, die nichts zu schaffen hatten mit dem flachen Frohsinn um ihn her.
Als Ilefeld aufstand, begleitete Olten ihn. Sie schritten am Ufer entlang. Über der Förde stand der Mond. Die weißen Wellenköpfchen blinkten. Schattenhaft grau sprangen die Umrisse von ein paar fernen Panzern aus dem Duft, und schwarz gegen den hellen Himmel zeichnete sich das Gestänge der Klubyachten ab, die sich an ihren Ankerketten schaukelten.
Beide schwiegen. Ilefeld schritt, die Hände in den Taschen, und sah starr aufs Wasser, auf einen Passagierdampfer, der rasch und zielbewußt, eine weiße Schaumfurche hinter sich herziehend, der Durchfahrt am Leuchtturm, der offenen See, entgegenglitt.
»Das ist das Postschiff nach Kopenhagen,« sagte Olten endlich mit einem leichten Anflug von Ungeduld.
Ilefeld nickte. »Auf solch 'ner Schiffsplanke stehen, Olten, und Strich für Strich die Heimat im Nebel verschwimmen sehen für immer – ein ganz verdammtes Gefühl muß das sein.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Mich hätt's doch getroffen, wenn der Braker am Leben geblieben wäre. Ja, ganz bestimmt. Ich hatte eben Gewißheit bekommen, daß der Kanal durch Ravenhorst geführt werden würde, eben fühlte ich wieder festen Boden unter mir, da – können Sie sich solche Gemeinheit vorstellen? – da kauft der . . . nun, Tote soll man nicht schimpfen. Also der – Heesemann kauft die letzte Hypothek auf Ravenhorst auf und kündigt sie mir! Läßt mir auch nicht Zeit, mich durch die Entschädigungssumme von seiten des Fiskus zu rangieren – nein, er kündigt auf den ersten Mai. 110 Auch meine Wechsel soll er aufgekauft haben. Und er würde mich nicht aus der Falle gelassen haben, so wenig wie seinerzeit den alten Herrn von Krastel. Wissen Sie das eigentlich schon? Gegen den hat er auch Jonathan Strauß als Strohmann gebraucht. Aber der die Strippe zuzog und den alten Mann von Margretenhof wegbrachte, war Max Heesemann.«
Olten griff sich unwillkürlich an die Stirn. War dies nun der Gipfel der Unbefangenheit oder abgefeimteste Schauspielerei?
»Herr von Ilefeld,« fragte er fast schroff, »wem erzählen Sie diese Dinge, Ihrem alten Regimentskameraden Heinz Olten – oder dem Beamten der Kriminalpolizei?«
Ilefeld blieb stehen, sah aus großen Augen seinen Begleiter an. »Ich versteh' Sie nicht, lieber Olten. Was geht mich denn der Kriminalbeamte an?«
»Ja, entschuldigen Sie, ich bin etwas nervös.« Olten ergriff zum Abschied Ilefelds Hand und drückte sie sehr fest. »Sie haben recht; der geht Sie nichts an.«
Als Olten am anderen Morgen aus dem Bett sprang und seinen Kopf in kaltes Wasser tauchte, war sein erster Gedanke: »Der Staatsanwalt mit seinen Schlußfolgerungen ist ein Esel Wir müssen die Sache an einem anderen Zipfel anfassen.«
Er fuhr mit dem Achtuhrzug nach Altenhagen. Während die Räder rasselten und stampften, überlegte er: »Aus was für Beweggründen wird überhaupt gemordet? Aus Gewinnsucht? Heesemanns Portemonnaie war tatsächlich leer. Aber ein Raubmörder von Profession würde die Brieftasche nicht übersehen haben. Nachdem er seinen Mann getötet hatte, ohne Lärm 111 und ohne auffallende Blutspuren, würde er im leeren Abteil bei guter Beleuchtung in aller Ruhe dessen Taschen durchwühlt haben. – Außerdem gibt es den Mord aus Rache – in Anbetracht des Charakters des Ermordeten hier der wahrscheinlichste. – Es gibt drittens den Mord um das Weib. Und es gibt Morde aus einer Vermengung all dieser Motive.
»Sehen wir erst einmal klar, was für ein Gesicht unter der Larve des Musterknaben steckte,« sagte sich Olten, »so finden wir auch wohl, wer am meisten Ursache hatte, sich daran zu ärgern.«
Es war zehn Uhr vormittags, als sein Wagen vor dem langgestreckten Braker Herrenhaus auf der Kanalböschung hielt.
Valentin öffnete die Haustür. Als Olten gestern über die Schwelle hinausgeschritten war, hatte ihm das wild abwehrende: »Nein! Nein!« der Witwe nachgegellt. Heut lag die weiße Halle mit den dicken Teppichen auf dem Boden in einem fast unheimlichen Schweigen. Bruno, der Bernhardiner, erhob sich von seiner Matte am Fuß der Treppe, kam mit gesenktem Schwanz schnuppernd heran, aber ohne anzuschlagen, als laste auch auf ihm die drückende Gegenwart des Todes.
»Wollen Sie der gnädigen Frau meine Karte überbringen? Ich bitte um eine kurze Unterredung.«
Valentin öffnete die Tür zu dem Rokokozimmer mit den hellen Kretonneüberzügen. Unberührt seit gestern lag die Stickerei auf dem Nähtisch. Nach wenigen Minuten trat Anna von Heesemann ein, umwallt vom schwarzen, kreppbesetzten Gewand, blaß, aber sehr ruhig in Haltung und Gesichtsausdruck.
112 Olten verneigte sich. »Ich bitte, gnädige Frau, die Störung zu entschuldigen, zu der mein Amt mich zwingt. Denn es ist leider nicht ein unglücklicher Zufall, dem Ihr Herr Gemahl zum Opfer fiel, sondern ganz zweifellos ein Verbrechen.« Er hielt inne, nach seinen gestrigen Erfahrungen einen Schmerzensausbruch erwartend, einen Widerspruch.
Aber nicht einmal die Farbe im Gesicht der Frau wechselte. Sie deutete auf einen Sessel.
»Wollen Sie nicht Platz nehmen, Herr von Olten? Was wünschen Sie von mir zu wissen?«
»Ich sehe mit Freuden, daß gnädige Frau seit gestern ruhiger geworden sind.«
»Ja, der Tod meines unglücklichen Mannes aus dem vollen Leben, aus all seinen Plänen und Hoffnungen heraus überwältigte mich in seiner Plötzlichkeit. Ich habe für gestern um Nachsicht zu bitten. Ich war fassungslos.«
»Sehr natürlich,« sagte Olten und dachte: »Jetzt ist sie reichlich gefaßt.«
»Also, gnädige Frau, lassen Sie uns den verhängnisvollen Tag von Anfang bis zu Ende durchnehmen. Um sechs Uhr dreißig früh reiste Herr von Heesemann von Altenhagen nach Hamburg. Stimmt das?«
»Er fuhr um sechs vom Hof. Die Uhr auf dem Kamin schlug gerade, als die Pferde anzogen. Es war noch dunkel.«
»Ist Herr von Heesemann in der letzten Zeit öfters verreist?«
»Ja.«
»Immer nach Hamburg?«
113 »Er sagte, nach Hamburg.«
»Wissen Sie den Grund seiner Reisen?«
»Er sagte, in Geschäften.«
»Gnädige Frau, das klingt fast, als hegten Sie heimliche Zweifel. Verzeihen Sie die unzarte Frage. Hat Herr von Heesemann Ihnen Ursache gegeben, seine Angaben nicht für durchaus verläßlich zu halten?«
»Ich will nur sagen, daß ich für ihre Richtigkeit nicht einstehen kann. Mein Mann war den ganzen Tag von seinen Geschäften in Anspruch genommen. Er hat mich aber nie in seine Angelegenheiten eingeweiht.«
»Es ist bekannt, daß Herr von Heesemann in Brake eine Musterwirtschaft geschaffen hat. Haben Sie bemerkt, daß seine Leute mit besonderer Liebe an ihm hingen?«
»Ich weiß nur, daß sie häufig wechselten. Außer meiner Mamsell, die noch Großmama mir aus ihrem Haushalt mitgegeben hat, haben die Personen in unserem Hausstand in der Zeit meiner Ehe mindestens zweimal gewechselt. Ebenso war es mit den Gutsarbeitern.«
»Wer außer Ihnen, gnädige Frau, und Ihrem verstorbenen Gemahl gehörte zur Zeit des Mordes zu Ihrem Hausstand?«
»Zunächst der arme Tobi, der einzige Sohn von meines Mannes früh verstorbenem Bruder.«
»Das ist die Herrschaft. Und von Dienern?«
»Erstens Kutscher Friedrich –«
»Der Kutscher, der Herrn von Heesemann an seinem Todestag zur Bahn gefahren hat?«
»Ja.«
114 »Was ist das für eine Art Mensch?«
»Ein ruhiger, verheirateter Mann, der bei seiner vorigen Herrschaft fünfzehn Jahre gedient hat und auf Brake immerhin schon zwei. Dann ist da noch der verheiratete Gärtner, dann der Diener Valentin, seit einem halben Jahr auf Brake und außerdem Mamsell, Köchin, Jungfer, Stubenmädchen.«
»Ist Ihnen an einer dieser Personen in den letzten Tagen etwas Besonderes aufgefallen, gnädige Frau?«
»Nein.«
»Waren sie alle – geben Sie wohl acht auf meine Frage – waren die männlichen Personen sämtlich zwischen sechs und acht Uhr abends am dritten November auf Brake?«
»Ich glaube, ja. Der Kutscher hat mich um sechs Uhr abends heimgefahren. Um sieben Uhr hat er angespannt, um meinen Mann abzuholen. Valentin, der Diener, hat mir um sechs Uhr den Wagenschlag geöffnet, um acht hat er meinem Neffen und mir bei Tisch aufgewartet. Vom Gärtner glaube ich gehört zu haben, daß er an dem Tag krank lag. Das können Sie übrigens beim Inspektor bestimmt erfahren.«
»Als Herr von Heesemann abgereist war, was geschah auf Brake?«
»Nichts Besonderes. Ich bin um halb acht aufgestanden, habe gefrühstückt, bin ausgegangen, habe nach der Wirtschaft gesehen. Um halb zwei haben wir zu Mittag gegessen.«
»Wer?«
»Tobi und ich.«
»Und nach Tisch?«
»Nach Tisch bin ich ausgefahren.«
115 »Auch mit Ihrem Neffen?«
»Nein, allein.«
Olten saß wartend, und Anna von Heesemann, die nicht die Absicht gehabt hatte, mehr zu sagen, fuhr, von seinem Schweigen getrieben, fort: »Ich bin nach Seebergen gefahren; aber die Herrschaften waren nicht zu Haus.«
»Wie verlief der Abend?«
»Wie so ziemlich alle Abende hier. Wir haben zu Nacht gegessen. Dann haben wir in meinem Zimmer gesessen, Tobi und ich.«
»Haben Sie sich keine Gedanken gemacht, als der Kutscher ohne Ihren Herrn Gemahl heimkehrte?«
»Nein.«
»Auch nicht, als der Wagen vom Halb-elf-Uhr-Zug wieder leer zurückkam?«
»Ich nahm an, daß mein Mann die Nacht in Hamburg geblieben wäre.«
»Pflegte Herr von Heesemann das zu tun?«
»Nein.«
»Und dennoch haben Sie sich keine Sorge gemacht?«
»Ich konnte mir nicht vorstellen, daß irgend ein Ding oder ein Mensch jemals stärker sein werde als mein Mann.«
Olten sah durch sein Monokel die Frau an, die tränenlos, mit überlegener Ruhe sprach. Noch klang in seinen Ohren ihr wildes Nein, nein! von gestern, und die Überzeugung wuchs in ihm: sie weiß etwas, etwas Entscheidendes. Hier liegt ein Geheimnis. Gestern im ersten Schrecken wäre es ihr fast entschlüpft, heute hält sie es fest und will es sich nicht entreißen lassen.
116 Da redete er gerade zum Ziel. »Gnädige Frau, ich richte jetzt an Sie eine Gewissensfrage. Ich bin überzeugt, daß Sie, die Sie über Herrn von Heesemann und seine Charaktereigenschaften so – nun, sagen wir einmal: so unverblendet von Leidenschaft urteilen, nicht umhingekonnt haben werden, sich über die Ursache seiner Ermordung eine ganz bestimmte Meinung zu bilden. Ich frage drum geradezu: Wen halten Sie für den Mörder?«
Er sah, wie sie blaß wurde. Abwehrend hob sie die Hände. »Ich habe keinen Verdacht. Nein, nein!«
»Sie haben vielleicht keinen Verdacht, den Sie dem Gericht begründen und vor ihm vertreten können und wollen. Aber Sie denken an eine bestimmte Person. Ich bitte Sie, gnädige Frau, seien Sie offen. Wenn Sie auch an Herrn von Heesemanns Seite vielleicht nicht ganz das Glück gefunden haben, das Sie sich erträumten – daß dieser heimtückische und ehrlose Mord seine Sühne finde, das müssen Sie doch wünschen. Und darum bitte ich Sie, sagen Sie mir im Vertrauen, was Sie vermuten. Helfen Sie mir den Mörder suchen.«
Sie war aufgestanden. Groß und blaß stand sie vor ihm, ihn an die alte Anna von Ramin erinnernd.
»Ich wiederhole Ihnen, Herr von Olten, ich habe keinen Verdacht. Suchen Sie den Mörder, überliefern Sie ihn dem Gericht. Ich kann Ihnen nicht dabei helfen. Ich nicht!«
Olten verneigte sich stumm und sah bei ihrer heftigen Abwehr wie eine Vision wieder den einen vor sich, den er in dieser Sache nicht sehen wollte. Hatte der nicht die schöne Anna von Ramin geliebt vor vier 117 Jahren? Deutlich erinnerte Olten sich des Augustabends, als jener strahlend in den Kreis der Kameraden trat und Sekt bestellte, Ladungen von Sekt, um auf das höchste Glück seines Lebens zu trinken. Und vom Sektglas zum Spieltisch, immer wie im Fieber, denn »solchen Tag erlebt der Mensch nur einmal!«, und wahnsinnig und waghalsig gesetzt und unsinnig verloren. Die dritte Hypothek auf Ravenhorst, die in Heesemanns Brieftasche steckte, noch vom alten Herrn aufgenommen, trug das Datum jenes Augustmondes. Und als der Morgen in das wüste Gemach mit seinen verstreuten Karten und umgeworfenen Sektgläsern schien, hatte er aufrecht gestanden zwischen den übernächtigen Zechern und den Zettelhaufen, auf denen seine Spielschulden vermerkt waren, ein Lachen unverwüstlichen Glücks in den Augen. »Heut ficht mich nichts an! Heut ist alles Gewinn!« Acht Tage darauf waren dann allermodernste, allerkorrekteste Karten in die Welt gegangen, auf denen Anna von Ramin und Max von Heesemann auf Brake der erstaunten Gesellschaft ihre Verlobung anzeigten.
Gewaltsam schlug Olten sich diese Erinnerungen aus dem Kopf und schritt zum Verhör des Gesindes. Er nahm zunächst Valentin vor. War dem Diener etwa bekannt, daß Herr von Heesemann einen erbitterten Feind hatte?
Valentin zuckte die Achseln. »Der Herr war ein scharfen Herrn. Der mochte wohl Feinde genug haben. Aber ein' von Hofe hier, nee, der hat ihn nicht umgebracht.«
»Bekam der Herr viele Briefe?«
»Ja, alle Tage.«
118 »Geschäftsbriefe?«
Valentin zog ein verschmitztes Gesicht. »Es waren auch welche bei mit so 'n Riechkram dran. Wenn ich sie durch die Halle getragen hatte, dann schnupperte gnä' Frau immer, wenn sie durchkam, und machte ein ganz eigen Gesicht.«
»Woher kamen diese Briefe?«
»Sie kamen meist aus Hamburg. Einmal kam auch eine Karte mit einem bunten Frauenzimmer drauf. Die hatte nackte Beine und ganz kurze, runde Röckchen und wippte auf einer Fußspitze. Der Herr war sehr böse und hat das Bild gleich verbrannt.«
»Haben Sie die Karte gelesen?«
»Och, Herr Kommissar, es war man ein' offene Karte und ohne daß ein' will –«
»Also was stand drauf?«
»Bloß ›Sonnabend um fünf Uhr im Alsterpavillon‹ un denn die Unterschrift ›Häschen‹.«
»Häschen? So! Ist denn Herr von Heesemann an jenem Sonnabend nach Hamburg gefahren?«
»Ja, das ist er.«
»Zuletzt ist irgendein Häschen der Schlüssel zu der ganzen Mordgeschichte,« dachte Olten. »Übrigens ein interessantes Phänomen, dieser von Würde triefende Volksbeglücker mit der weißen Hemdenbrust.«
»Hatte der Herr auch hier auf dem Hofe Liebschaften?« fragte er kurz.
»Das mag gern sein. Er mochte alle hübschen Deerns leiden. Gewisses kann ich da aber nicht über sagen. Der Herr war ein äußerst verschwiegenen Menschen und nahm sich höllsch in acht.«
Olten ließ jetzt Kutscher Friedrich rufen. Er 119 mußte seine beiden Fahrten zum Bahnhof in Altenhagen erzählen. Etwas Besonderes war ihm dabei nicht aufgefallen. »Man bloß vielleicht, daß gnä' Frau sich das so gar nich zu Herzen nahm, als der Herr auch um halb elf nich mitgekommen war. ›Aber gnä' Frau nahm alle Dingens kühl.‹ Seit ihr vor drei Monaten ihr nüdlicher kleiner Jung' begraben worden is, hat sie auch nich ein einzigstes Mal mehr gelacht. Ja, das heißt, bis so vor acht Tagen. Da wurd' sie wieder munterer.«
»Vor acht Tagen? Genau vor acht Tagen?«
»Ja, ganz genau. Ich hatte am Freitag die Herrschaften zur Jagd nach Hohorst gefahren, un am Sonntag drauf steh' ich vorm Stall, un Valentin erzählt mir, daß der junge Herr von Seekamp und der Herr von Tielen tags zuvor beim Herrn gewesen wären, sehr fein, in Uniform, aber man bloß zehn Minuten lang. Da steht gnä' Frau vor uns und lacht uns an. ›Das is ein feinen Tag heut, Kutscher Friedrich, nich wahr?‹ fragt sie, un ich antwort': ›Jawohl, gnä' Frau‹ – obgleich das gar kein besonders fein Wetter war, östlichen Wind und ganz kalt. ›Haben Sie denn viel Äpfel im Garten dies Jahr?‹ fragt sie un lacht un sagt wieder: ›Ach, was is das einmal für'n feinen Tag!‹ Und denn nickt sie un läuft weiter, wie so 'n Deern von achtzehn Jahren.«
»Hat diese heitere Stimmung denn angehalten?«
»Ja, mehr Leben war von dem Tag an in gnä' Frau. So mußt' ich ihr letzten Sonnabend auf Besuch fahren. Das war wohl ein Jahr lang nich vorgekommen!«
Olten entließ den Kutscher und ging zum 120 Inspektor. Das war noch ein junger Mann und nur der Vollstrecker von Heesemanns Befehlen gewesen. Auf dessen Anordnung mußte er täglich die bei der Arbeit fehlenden Leute aufschreiben. Er war daher imstande, genaue Auskunft über den Verbleib jedes Tagelöhners zu geben.
»Am dritten November? Ja, da war alles, was auf dem Gut arbeitete, bis sechs Uhr abends beschäftigt. Und in der Zeit von sechs Uhr abends bis sieben Uhr fünfzehn Minuten von Brake nach Scharndorf laufen und dort in den Zug springen – nein, Herr Kommissar, die Lungen und die Muskeln, die dazu nötig wären, die haben unsere Leute nicht.«
»Glauben Sie, daß irgendein Mensch dazu imstande wäre?«
»Auf seinen Füßen – nein! Auf einem Rade könnte es vielleicht einer machen. Aber vorigen Sonnabend gewiß nicht; da waren die Wege zu schlecht vom Regen.«
»Wer außer den Instleuten wohnt auf dem Gut?«
»Der Jäger, eine halbe Stunde drin im Wald, der Lehrer im Schulhaus und gleich links vom Hof der Schmied.«
»Führen Sie mich zum Schmied.«
Als die Herren am Waldsaum entlangschritten, kam zwischen den Stämmen hervor Tobi, sein Tesching auf der Schulter, von Don umwedelt. Er lüftete die Mütze und sah aufmerksam die beiden Männer an.
Olten stellte sich vor. »Gestatten Sie mir, Herr von Heesemann, Ihnen mein Beileid auszusprechen.«
Er streckte ihm die Hand hin. Tobi legte schweigend die seine hinein. Seine Augen senkten sich 121 dabei, und es war Olten, als sähe er Tränen an den langen, blonden Wimpern schimmern. Aber sogleich verdeckte der Junge scheu die Augen mit der linken Hand, drehte sich kurz um und lief ins Holz zurück.
»Er empfindet seinen Verlust schwer,« sagte Olten.
»Dazu hat er alle Ursach',« versicherte der Inspektor. »Wenn Herr von Heesemann einen Menschen auf der Welt lieb gehabt hat, dann ist das sein Neffe gewesen. Dem las er die Wünsche von den Augen ab. Es war eben auch ein Heesemann.«
Olten trat in die Schmiede. Am Eingang standen ein paar Gäule angebunden und warteten darauf, beschlagen zu werden. Drinnen fauchte der Blasbalg. Das Feuer auf der Esse warf glutrote Lichter durch den weiten Raum, dessen winzige Fensterscheiben kaum einen Schimmer des weißen Tageslichts einließen. Von berußten Wänden starrte ein Gewirr von Eisengerät. Eisengerümpel lagerte in den Ecken; zwischen Amboß und Kühlbecken, Tischen und Schemeln verirrte sich der Fuß. Carstens kramte prüfend in einem Kasten mit Hufeisenvorräten. Am Amboß stand ein breitschultriger Bursch, dem schwarzes, schlichtes Haar in dicken Strähnen in die niedrige Stirn fiel, sobald er den Oberkörper vorbog, um mit wuchtigem Schlag den Schmiedehammer auf ein Stück glührotes Eisen herabzuschmettern. Die Muskeln auf seinen rußgeschwärzten Armen sprangen fingerdick vor, und er hob nicht den Kopf von der Arbeit, während er mit einem unverständlichen Murmeln den Gruß des Polizeibeamten erwiderte.
»Schmied Carstens,« sagte Olten zum Meister, 122 »ich komme zu Ihnen in der Angelegenheit, die Sie alle auf Brake jetzt beschäftigt. Wo waren Sie am Sonnabend, dem dritten November in der Zeit zwischen sechs und acht Uhr?«
Carstens hob freundlich seine Blauaugen. »Am Sonnabend zwischen sechs und acht Uhr, Herr Kommissar? Da bin ich zu Haus gewesen. Das heißt, nein, auf einen Sprung war ich drüben in der Herrschaftsküche, so gegen halb sieben. Die Mamsell war dort und Valentin und all die Deerns.«
»Haben Sie junge Leute im Haus?«
»Nur meinen Gesellen, den Konrad Sedlinski.« Der Schmied erhob die Stimme und überschrie das Dröhnen der Hammerschläge auf dem Amboß. »He, Konrad! Nu laß man sein; sollst dem Herrn Kommissar Rede stehen.«
Langsam legte der Geselle den Hammer hin und strich die Hemdärmel über seine Arme herunter. Langsam trat er vor. In dem Strahl von Tageslicht, der durch die offene Tür hereinfiel, sah Olten ein haariges Gesicht mit vorspringenden Backenknochen, roten, dicken Lippen und Augen, die ein wenig schielten. Der Bursch mißfiel ihm. Ehe er eine Frage stellen konnte, sagte der Schmied:
»Ja, Konrad, da helpt nu nix. Daß du auf'n Sonnabend Abend in mein Haus gewesen bist, das kann ich dich nich bezeugen. Du wirst dem Herrn Kriminalkommissar in Gottes Namen die Wahrheit sagen müssen und wegen dein Aufenthalt, damit du nich in Ungelegenheiten kommst.«
Der Geselle zuckte die Achseln. »Ich mag den Leuten nich gern was zu snacken geben, Meister, 123 besonders nich über Dingens, die noch nich ganz klar sind. Aber was sein muß, das muß sein.« Er wandte sich zu Olten. »Am Sonnabend Abend, Herr Kommissar, bin ich ausgegangen, um mein Braut zu besuchen.«
»Dein Braut?« fragte Carstens verwundert. »Hast du denn ein'?«
»Wer und wo ist Ihre Braut?«
»Mein Braut schreibt sich Hete Meier, Herr Kommissar, und ist die Älteste von Wilm Meier, der hier auf Brake war, und den der Herr so vor acht Tagen mit sein ganze Familie holterdipolter nach Horste zu dem Herrn Baron von Quast spedieren tat.«
Olten horchte auf. »Warum ist denn dieser Meier plötzlich und außer der Zeit hier vom Hof fortgeschickt worden? Hatte er sich etwas zuschulden kommen lassen?«
Ehe Konrad den Mund öffnen konnte, antwortete der Schmied: »Nee, Herr Kommissar, denken Sie so was nich. Wilm Meier is 'n fixen Arbeiter und 'nen braven Menschen. Der Herr hat ja auch dafür gesorgt, daß er gleich bei'n Herrn von Quast wieder unterkam. Warum er ihn von sein Hof weg haben wollte?« Der Schmied lächelte. »Kann sein, daß sein' Älteste, die Hete, den jungen Burschen ein büschen zu sehr in die Augen stach. Der Herr war streng.«
Olten zog sein Notizbuch hervor.
»Also, Sedlinski, Sie erklären, daß Sie am Sonnabend, dem 3. November, zwischen 6 und 8 Uhr bei Ihrer Braut, Hete Meier, auf Gut Horste gewesen sind?«
Der Geselle schüttelte den Kopf. »Nee, Herr Kommissar, bei ihr gewesen bin ich gar nich. Ich wollte ihr besuchen. Aber ich sagte doch schon, das Ding is 124 noch nich ganz klar. Da hab' ich erst mal durchs Fenster in Meiers Stube geguckt. Sie war da nich in. Da bin ich gar nich erst ins Haus hineingegangen.«
»Wie? Bei Meiers in Horste sind Sie überhaupt nicht gewesen? Wo sind Sie denn gewesen?«
»Ich wollt' wieder nach Hause gehen. Da hab' ich auf dem Weg einen Bekannten getroffen, Ede Lüders aus Scharndorf. Mit den bin ich erst in sein' Stube gegangen, un wir haben ein Stremel gesnackt. Un denn sind wir noch in die Wirtschaft von Karl Ehlers in Scharndorf eingekehrt.«
»Wann sind Sie in die Wirtschaft eingekehrt?«
»Das mag so um neun herum gewesen sein.«
»Und wann sind Sie von Brake fortgegangen?«
»So um fünfe – nich wahr, Meister?«
»Ja,« bestätigte der Schmied, »das war Glock fünfe.«
»Also in der Zeit von fünf bis neun Uhr wollen Sie erst nach Horste gegangen sein und dann mit einem Bekannten in dessen Wohnung in Scharndorf gesessen haben?«
»So is es, Herr Kommissar. Fragen Sie nur Ede Lüders.«
»Hat Sie außer dem Lüders noch jemand zwischen fünf und neun Uhr gesehen?«
»Bei dem slechten Wetter waren nich viel Menschens draußen. Es mag sein. Es mag auch sein nich.«
»Zeigen Sie mir Ihre Papiere, Konrad Sedlinski.«
Der Geselle ging in seine Kammer.
»Was für ein Zeugnis stellen Sie dem Sedlinski aus, Carstens?« fragte der Polizeileutnant.
125 »Er arbeitet seit Johanni bei mir, und ich kann nich anders sagen, als daß ich gut mit ihm zufrieden bin. Mit der Deern, das soll wohl auf Wahrheit beruhen. Ich hab' mir selbst so was gedacht.«
Sedlinski kam zurück und brachte in einem Umschlag seine Papiere. Sie waren fettig vom vielen Anfassen, aber in Ordnung, seine Zeugnisse aus vielen verschiedenen Städten meist gut. Zwischen den einzelnen Arbeitsplätzen klafften Lücken von Wochen und Monaten.
»Ich war auf der Wanderschaft,« sagte Sedlinski zur Erklärung.
Olten steckte sein Notizbuch ein. Die Untersuchung auf Brake war beendet. Von all seinen Bewohnern war nur einer zwischen fünf und acht Uhr vom Gute abwesend gewesen, Sedlinski. Olten beschloß, ihn im Auge zu behalten.
Gegen drei Uhr kam er nach Scharndorf zurück. Er war ausgehungert, denn er hatte das Frühstück, das Frau von Heesemann ihm anbot, abgelehnt. Während er aß, mußte der Stationsvorsteher ihm die Liste der Personen vorlegen, die er und der Zugführer sich erinnerten in dem Zug gesehen zu haben, mit dem Max von Heesemann in sein Verderben fuhr.
»Herr Stationsvorsteher, kennen Sie einen Schmiedegesellen aus Brake? Einen Konrad Sedlinski?«
»Den scheelen Konrad? Jawohl, Herr Kommissar.«
»War der etwa vorigen Sonnabend um sieben Uhr im Zug? Oder auf dem Bahnhof – oder in der Nähe des Zuges?«
»Nein, den hab' ich nicht gesehen.«
Der Fahrkartenkontrolleur wurde gerufen. Konrad 126 Sedlinski bei Schmied Carstens auf Brake? Ja, den kannte er. Ein zuwidrer Mensch, der keinem recht in die Augen gucken konnte. Aber gesehen hatte er ihn nicht am Sonnabend und auch an keinem anderen Tag der Woche, nicht am Bahnhof, nicht in Scharndorf.
Olten zündete sich eine Zigarre an, klemmte sein Monokel ins Auge und schlug den Weg nach dem drei Viertelstunden weit entfernten Gute Horste ein, den Weg, den Max Heesemann zu gehen pflegte, wenn er in Scharndorf seine Heimfahrt von Hamburg unterbrach. Wie der Bahnhofsvorsteher ihm die Richtung wies, so bog er von der großen Landstraße in den in den Wald laufenden Pfad. Er hatte auf einen Wagen verzichtet. Ein Fußgänger hat besser Gelegenheit aufzumerken.
Zwischen hundertjährigem Buchenwald und Koppeln, in deren frischgezogenen Furchen Scharen von Krähen hockten, zog sich der Weg. Als Schlußpunkt einer Eschenallee schimmerte die graue Wand des Gutshauses von Horste auf. Ein alter, einstöckiger Kasten, lag es klein und unansehnlich zwischen weit ausladenden Scheunen und Stallungen, die es mit ihrer Wucht und Größe fast erdrückten.
Olten wurde in das altfränkische Zimmer des Gutsherrn geführt. Baron Quast, ein trockener, sehniger Mann mit grauem Backenbart, empfing ihn sehr ernst.
»Seien Sie überzeugt, Herr Kommissar, daß ich alles tun werde, was zur Aufdeckung dieses empörenden Mordes, der das ganze Land in Aufregung und Trauer versetzt, führen kann. Auf welche Weise kann ich Ihnen dienen?«
»Zunächst durch eine einfache Auskunft. Herr von 127 Heesemann hat auf seiner letzten Reise die Fahrt in Scharndorf unterbrochen und ist zwischen drei und vier Uhr nachmittags zu Fuß vom Bahnhof in der Richtung nach Horste fortgegangen. Ist er bei Ihnen gewesen, Herr von Quast?«
»Am Sonnabend nicht. Er hat mich aber in den letzten Wochen einigemal besucht.«
»Immer, während er seine Reise von Hamburg unterbrach?«
»Es kann sein. Er kam gegen vier Uhr. Ja, einmal sagte er mir geradezu, daß er aus Hamburg käme.«
»Hatten diese Besuche eine besondere Veranlassung?«
»Das erstemal bat Herr von Heesemann mich, eine Instfamilie von ihm zu übernehmen, weil ich gerade eine Vakanz hatte.«
»Und die anderen Male?«
»Ja, da wollte er sich erkundigen, wie die Familie hier bei mir fortkam. Ich glaube, er hat sie sogar persönlich aufgesucht. Er war ein eminent sozial empfindender Mann, der Herr von Heesemann.«
»Welcher Art ist die Familie, die er Ihnen zugeschickt hat?«
»Rechtschaffene, fleißige, ruhige Leute, versteht sich. Wenn Herr von Heesemann jemand empfahl, dann war er empfehlenswert.«
»So. Was für einen Grund gab er denn dafür an, daß er diese tüchtige Familie plötzlich von Brake fortschickte?«
Herr von Quast lächelte. »Das geschah in einer Fürsorge, die vielleicht ein wenig übertrieben war. Herr von Heesemann hat in seinem Hause einen Neffen, 128 den Sohn seines verstorbenen Bruders, einen unglücklichen, jungen Menschen, an dem er sich, nebenbei gesagt, einen Gotteslohn verdiente. Meiers Älteste, so 'ne Deern von siebzehn, ist eine außergewöhnlich hübsche kleine Person. Da hat Herr von Heesemann Angst bekommen, das Mädchen könnte seinen Neffen auf dumme Gedanken bringen, und er wollte ihm die Deern lieber aus den Augen schaffen. Er hat alle Dinge immer sehr ernst genommen.«
»Sie erlauben wohl, daß ich mir die Familie Meier einmal näher ansehe, für die Herr von Heesemann ein so warmes Interesse zeigte.«
»Selbstverständlich!« Aber da Olten sich erhob, setzte Herr von Quast zu einer Rede an, stockte und entschloß sich dann doch.
»Wenn es nicht zu dreist ist, daß ich als Laie dem Kriminalisten von Erfahrung gegenüber eine Meinung ausspreche« –
»Bitte. Jeder Fingerzeig ist mir willkommen.«
»Sehen Sie, wie Herr von Heesemann mir vor Augen steht, glaube ich weder, daß ein Raubmord an ihm begangen worden ist noch ein Akt persönlicher Rache. Der Mann war ein politisches Programm: sozial, kirchlich, königstreu, konservativ bis in die Knochen. Wir haben einen Kandidaten seines Schlags schon lange nicht zur Wahl aufstellen können. Und nun erwägen Sie, was durch die Vorarbeiten für den Kanalbau uns für eine Sorte Leute ins Land geschwemmt worden ist. Entgleiste aus aller Herren Ländern, Sozis, Anarchisten, Nihilisten, Propagandisten der Tat, was weiß ich! Am Sonnabend hat die Bande in Scharndorf eine Versammlung abgehalten. Ich 129 fürchte, Herr von Heesemann ist das Opfer seiner politischen Überzeugung geworden.«
»Hm. Ich werde mir Ihren Fingerzeig merken, Herr von Quast«, versprach Olten. Für unmöglich hielt er schon lange keine Verkettung mehr. Aber sein kriminalistischer Instinkt trieb ihn vor allem, die Bekanntschaft der Dirne zu machen, um derentwillen Heesemann die Familie Meier von Brake weggeschickt hatte und die der Schmiedegesell Konrad behauptete, am Mordabend gesucht und nicht gefunden zu haben. Er ließ sich zur Meierschen Wohnung führen.
Es war die übliche Zweifamilienkate, mit einer Tür nach Osten und einer nach Westen. Der Kindersegen der Meiers, der groß war, quoll über die engen Räume hinaus. In der kleinen Küche saßen Vater, Mutter und Hete. Olten drückte die Tür hinter sich ins Schloß, nahm den Hut ab und zeigte seine Marke.
»Polizeileutnant von Olten. Ich wünsche einige Auskünfte in bezug auf den Mord, von dem Sie ja gehört haben werden.«
Während alle drei erschrocken von ihren Stühlen sprangen, beobachtete Olten sie scharf. Der Vater mit seinem breiten, guten Gesicht, die früh gealterte Familienmutter, schienen Urbilder holsteinischer Tüchtigkeit und Redlichkeit. Aber die Tochter brachte all seine kriminalistischen Instinkte in Aufruhr. Wie kam dies pantergeschmeidige Geschöpf mit den blauen Flackeraugen unter schwarzen Wimpern in diese ehrbare Umgebung? Unwillkürlich mußte er sie sich vorstellen in einer Equipage, den Diener in phantastischer Livree hinter sich, und ein Gespann, das ein Vermögen kostete, vor 130 sich. Jagdeifer packte ihn. Hier lief sicher eine Spur. Vorsichtig, daß er sie nicht zertrat!
Er nahm sein Notizbuch. »Sie sind früher auf Brake gewesen, Meier, nicht wahr?«
»Jawohl, Herr Kommissar, von letzten Ostern bis vor acht Tagen.«
»Warum sind Sie fortgezogen?«
»Der Herr wollt' das so haben.«
»Was für einen Grund gab er Ihnen an?«
»Er sagte – aber das war man dumm Zeug – er sagte, als wie unser Hete – die jungen Leute auf Brake täten da zu viel nach kucken. Sie dürfen aber nix Unrechtes vermuten, Herr Kommissar. Mein Tochter is ein ehrbare Deern. Wenn's anders wär', denn dürft' sie in mein Hans nich sein.«
»Unser Hete hat sich nix zuschulden kommen lassen«, beteuerte Mutter Meier.
Hete schluchzte.
»Kam der junge Herr von Heesemann, der Neffe des Herrn, öfters zu Ihnen, als Sie noch in Brake waren?«
»Der Herr Tobi kam zu allen Leuten auf dem Hof«, antwortete Frau Meier. »Bei uns mußte er ja langgehen, wenn er in den Wald wollte und Vögel schießen.«
Hete hob den Kopf. »Aber ich bin immer weggelaufen, wenn ich ihn hab' kommen sehen. Mutter, ist es nicht wahr? Immer bin ich gleich zu dir gelaufen.«
»Warum sind Sie denn weggelaufen, Fräulein Meier? War er dreist?«
In Hetes Augen stockten die Tränen. Ein ganz 131 schwaches Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel. »Och, Herr Kommissar, er is ja man ein Kind. Bloß die Leute reden so gern. Man will doch nich Anlaß geben.«
»Nachdem Sie auf Herrn von Heesemanns Veranlassung von Brake weggezogen waren, Meier, ist der ältere Herr von Heesemann, der ermordete, etwa hier in Horste zu Ihnen gekommen, um sich von Ihrem Ergehn zu überzeugen?«
»Nee«, antwortete Meier finster. Aber seine Frau zupfte ihn am Rock.
»Woll, Vadder, der Herr is zweimal hiergewesen. Ich mocht' dir das man bloß nich sagen. Mein Mann wird leicht ausfallend, Herr Kommissar, wenn ihm ein Ding nich paßt.«
»Da soll doch das Donnerwetter dreinschlagen!« fuhr Meier auf, bezwang sich aber aus Scheu vor dem Fremden.
»War Herr Max von Heesemann auch am vorigen Sonnabend in Ihrem Haus, Frau Meier?«
»Ja, das war er.«
Olten bekam Herzklopfen. Die Spur wurde heiß.
»Um wieviel Uhr war er bei Ihnen?«
»Ja, wann war das, Hete? Ich mein', er kam so nach vier. Unser Hete mußt' ihm noch ein Tasse Kaffee kochen. Un er setzte sich ganz nüdlich da in die gute Stube bei' n Ofen un snackte. Mein Mann war noch auf der Koppel, darum weiß er das nich.«
»Was schnackte Herr von Heesemann denn?«
»Och, so vom Wetter, un daß wir die Winterkartoffels von ihm kriegen könnten, un Saatkorn auch. Bei unser sieben Kinders da weiß ein doch oft kaum, wo ein nur das Korn zum Backen hernehmen soll. 132 Un denn sagt' er, daß er ein paar Otter geschossen hätt', un davon sollt' uns' Hete einen feinen Pelzkragen haben, weil er wohl sah, daß er ihr gekränkt hatte.«
»Frau!« brauste Meier auf und schlug auf den Tisch.
»Wie lange blieb Herr von Heesemann bei Ihnen?«
»Ganz genau kann ich das nich sagen, aber es mag wohl auf sechs gegangen sein, denn es wurd' all schummrig. Da kriegt' er das mit eins eilig und sagt', er dürft' den Zug nich verpassen, und darum müßt' er den Richtweg durch das Holz nehmen. Weil er aber nich recht Bescheid wußt' un sich doch nich verirren wollt', bat er unser Hete, daß sie ihm auf den rechten Weg bringen sollt'.«
»Frau!« sagte Meier nochmals. Sein Gesicht war braunrot vor verhaltenem Zorn.
»Sind Sie mit Herrn von Heesemann gegangen, Fräulein Hete?«
Hete schaute trotzig. »Herr von Heesemann war 'n feinen, achtbaren Herrn. Wie sollt' ich den woll so 'ne kleine Freundlichkeit abschlagen? Es is doch man bloß das Eckchen durch die Tannen. Dann sieht ein schon über die Graskoppel weg den Bahnhof liegen.«
»So. Bis zur Graskoppel haben Sie Herrn von Heesemann begleitet. Und am nächsten Morgen hörten sie dann, daß er ermordet war. Sind Sie nicht sehr erschrocken?«
»Ganz furchtbar hab' ich mich verjagt!«
»Haben Sie eine Vermutung, wer der Mörder sein könnte?«
133 »Nein, Herr Kommissar.«
»Fräulein Hete, war Ihr Bräutigam am Sonnabend bei Ihnen auf Horste?«
»Der Bräutigam von mein Tochter? Wer soll denn das nu wieder sein?« fragte Meier. Der Stimme hörte man den Zorn an, den der Mann mühsam bezwang.
»Ist's nicht Ihr Bräutigam, Fräulein? Der Konrad Sedlinski nennt sich so.«
»Da sprech' ich auch noch ein Wort mit, Herr Kommissar!« rief Wilm Meier. »Sie müssen nich denken – Himmeldonnerwetter! – daß alle Dingens hier im Hause über meinen Kopf weg gehen wie die Besuche von den Braker!«
»Sie scheinen sich den Sedlinski nicht zum Schwiegersohn zu wünschen. Darum könnten aber doch die jungen Leute einig sein, wie, Fräulein Hete?«
»Nimm dein Knochens in acht,« sagte Wilm Meier drohend.
»Also noch einmal: Ist Konrad Sedlinski am vorigen Sonnabend in Ihrem Hause gewesen – ja oder nein?«
»Nein!« antwortete Frau Meier mit Nachdruck.
»Er war aber auf Horste. Haben Sie ihn nicht gesehen, Fräulein Hete?«
»Nein, gewiß nicht. Vorigen Sonnabend hab' ich ihn gewiß und wahrhaftig nicht gesehen.«
»Als Sie Herrn von Heesemann zur Bahn brachten und ihn an der Graskoppel verließen, ist Ihnen Sedlinski da nicht begegnet?«
»Nein, ganz gewiß nicht.«
»Gut. Ich hoffe, Sie haben alle Ihre Angaben 134 nach bestem Wissen und Gewissen gemacht. Sie werden sie vermutlich beschwören müssen.« Olten steckte das Notizbuch in die Tasche und ließ das Monokel fallen. »Guten Abend mitsammen.«
Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte und den Waldweg zur Station einschlug, den Heesemann vorgegeben hatte, nicht allein finden zu können, hörte er hinter sich das dumpfe Grollen einer lauten Männerstimme und das Aufkreischen und Aufschluchzen der Weiber. Hinter ihm hielt der Hausvater Gericht.
Er aber schritt in Siegerstimmung in den sinkenden Abend. Deutlich umrissen begannen die Zusammenhänge des rätselhaften Falles ihm aus dem Nebel der Zweifel zu treten. Doch, dem Hauptmotiv nach, ein Mord um das Weib. Die Leerung des Portemonnaies hatte sich nebenbei ergeben. Da war der grobschlächtige Schmied, der um Hete Meier freite – und da war der würdevolle Gutsherr, dessen Sinne die junge Schönheit stachelte. Doch als vorsichtiger Mann mied er eine Liebschaft vor zischelndem Gesinde, unter den Augen der eigenen Frau. Unter einem gefälligen Vorwand versetzte er die Familie eilig auf ein Nachbargut, zu fern, als daß seine Leute ihn beobachten konnten, doch nahe genug, um ihm bequeme Schäferstunden zu erlauben. Und die Dirne, geschmeichelt, gestreichelt von der Bewunderung der beiden Männer, spielte mit dem einen und dem andern, lüstern wie ein Kätzchen. An dem Mordabend war der Geselle um das Haus der Geliebten gestrichen, das Blut erhitzt von der plötzlichen Trennung, von dem Widerstand des Vaters. Da hatte er im dämmrigen Wald sein Mädchen mit dem Gutsherrn gesehen. Wer weiß, ob er nicht schon 135 früher eifersüchtig auf Heesemann gewesen war! Wer weiß, was er im Tannendickicht erlauschte! Und er war durch den abendlichen Wald gerannt, Blut vor den Augen, Feuer im Hirn, nach Scharndorf, war auf den Zug gesprungen. . . . Nein, da klaffte eine Lücke in der Kette. Gesehen hatte ihn im Zug niemand. Durch die Bahnhofsperre war er nicht gekommen, nicht in Scharndorf, nicht in Altenhagen. Und dafür, daß Heesemann nicht im freien Feld erschlagen worden war, zeugte das Tröpfchen Blut am Vorhang des Abteils, der Blutfleck am Türrahmen. Nun, das fehlende Glied würde sich auch noch aus dem Dunkel zerren lassen. Vor allen Dingen zurück nach Scharndorf, um den Landgendarm zur Haussuchung beim Schmied in Brake zu beordern, schnell, sehr schnell, bevor Konrad Sedlinski Zeit gewann, die Spuren der Tat völlig zu beseitigen.
Es war eben sieben Uhr, und Carstens saßen beim Abendessen, als die unerwünschten Gäste hereinbrachen. Der Schmied blieb sehr ruhig.
»Wenn Sie meinen, daß das Sie dienlich sein kann, Herr Kommissar, denn durchsuchen Sie man jeden einzigsten Winkel. Mein Haus hat nix zu verstecken.«
Während der Gendarm bei dem Verdächtigen zurückblieb, stieg Olten, von der Schmiedsfrau begleitet, die Treppe hinauf zur Kammer des Gesellen. Groß war sie und kahl. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl mit einer Waschschale standen drin. An Haken hingen Kleider, Hüte, Schurzfelle. Beim Flackerlicht einer Kerze durchsuchte Olten aufmerksam jedes Stück; keins zeigte verdächtige Flecken. In einer Ecke stand Schuhwerk. Olten nahm einen Stiefel, verglich ihn mit den 136 Maßen der Spur zwischen den Schienensträngen, den zwei großen Tapfen am Wiesenrand. Die Maße stimmten auf das Millimeter. War der Mörder denn, nachdem er aus dem Zug gesprungen war, zu seinem Opfer zurückgekehrt und hatte es dann erst beraubt? Oder gab es genau solcher Schuhe und Füße mehr in der Gegend? Zwischen den Fenstern stand eine Holzkiste. Etwas reine Wäsche, Strümpfe, ein Gesangbuch, Schlipse lagen in guter Ordnung darin. Und das war alles. Nein, dort in der Ecke stand noch ein Korb. Der enthielt, was Olten vermißt hatte: die getragene Wäsche.
»Bitte, ein wenig näher das Licht, Frau Carstens.«
Mit spitzen Fingern entrollte Olten ein zusammengeknülltes, blaues Hemd. Es zeigte an den Ärmeln und vorn an der Brust Spritzflecke einer dunklen Flüssigkeit. Die Frau des Schmieds ließ vor Schreck beinahe das Licht fallen.
»Kann unser Herrgott den unglücklichen Menschen denn so ganz verlassen haben?«
Das Hemd in der Hand, stieg Olten die Treppe wieder hinunter. Er ließ es auf der Diele und trat mit leeren Händen in die Stube.
»Konrad Sedlinski, als Sie am Mordabend in Horste waren, haben Sie da Herrn von Heesemann nicht gesehen?«
»Mit kein' Auge.«
»Sie sind ihm auch später nicht begegnet? Besinnen Sie sich.«
»Ich hab' ihn lebendig am Freitag zum letzten Male gesehen.«
»So.« Olten griff hinter sich und zeigte dem 137 Gesellen das befleckte Hemd. »Das gehört doch Ihnen, nicht wahr?«
»Jawohl.«
»Wie erklären Sie die dunklen Flecken an Ärmeln und Brust?«
Sedlinski nickte gelassen. »Das is Blut.«
»Wollen Sie mir sagen, wie dies Blut in das Hemd gekommen ist?«
»Ich hab' ein Tier geschlachtet.«
»Wo – bei wem haben Sie ein Tier geschlachtet?«
Einen Augenblick schwieg der Geselle in offenbarer Verlegenheit. Dann antwortete er verstockt: »Darüber will ich mich nicht auslassen.« Und da er Carstens' entsetzte Miene sah, lachte er rauh auf: »Nee, Meister, man ruhig. An dem Heesemann hab' ich mir das Hemd nich blutig gemacht. Da müssen die Herren schon nach ein andern suchen.«
»Wir werden jetzt Ihr Schmiedegerät in Augenschein nehmen, Carstens,« sagte Olten. »Mit einem schweren, stumpfen Instrument, ähnlich einem Schmiedehammer, muß der tödliche Streich geführt worden sein. Leuchten Sie, bitte.«
»In Gottes Namen!« sagte der Schmied, nahm der Frau die Kerze aus den bebenden Fingern und schritt dem Kriminalkommissar voran in die Schmiede. Das Feuer in der Esse war verglommen. Zwischen den rauchgeschwärzten Wänden ertrank fast der dünne Lichtstrahl. Jedes Beil, jeden Hammer, jede wuchtige Eisenstange mußte Carstens vom Nagel nehmen.
Olten hatte eine Lupe aus der Tasche gezogen. Durch die prüfte er, tief herabgebeugt, das dicht unter 138 die Kerzenflamme gehaltene Stück. Aber das Eisen war blank, und das Holz der Stiele zeigte nicht das kleinste Blutspritzerchen. Dann mußte der Schmied das Gerümpel aus den Ecken herbeischleppen, und Olten setzte seine Arbeit fort. Endlich legte Carstens einen alten Hammer vor ihn hin. Der Stiel war bis auf einen kurzen Stumpf abgebrochen, die ursprünglich viereckige Schlagfläche durch den Gebrauch zur Form einer Eispitze abgerundet; und auf diesem Eirund hatten dunkle Flecken sich eingefressen, mit Staub vermengt; winzige Tröpfchen noch feuchten Saftes klebten in der Fuge zwischen Holz und Eisen. Der kurze Stiel war über und über gescheckt von flüchtig abgewischtem Blut – Blut offenbar, frischem Blut. Das war auch ohne Lupe deutlich zu erkennen. Hielt Olten hier das Werkzeug des Mordes? Mord zweifellos! Wenn der Bursche mit diesem Hammer in der Tasche nach Horste gegangen war, dann ging er auch mit dem fertigen Mordplan im Hirn.
»Ich lege Beschlag auf diesen Hammer,« sagte Olten, und von dem vor Bestürzung stummen Schmied wandte er sich zurück zur Küche, die nur eine Tür vom Schmiederaum trennte.
»Konrad Sedlinski, Sie sind verhaftet!«
Der Gendarm zog die Handschellen aus der Tasche. Sedlinski stand stumm. Seine unruhigen Augen blickten flüchtig und grimmig nach der Tür, maßen die Entfernung, zwei Sekunden lang. Dann ließ er sich widerstandslos fesseln.
Olten wies ihm den Hammer. »Kennen Sie den?«
Ein Stöhnen der Wut kam über des Burschen Lippen.
139 »Sedlinski, wollen Sie nicht angesichts der beiden Sie schwer belastenden Funde gleich jetzt ein offenes Geständnis ablegen?«
Da hob der Geselle trotzig den Kopf. Seine buschigen Brauen zogen sich zu einem einzigen schwarzen Strich über der Stirn zusammen.
»Ich hab' den Heesemann nicht umgebracht!«
»Gut. Wie Sie wollen.«
Noch denselben Abend suchte Olten Brockmann auf.
»Heureka, Staatsanwalt! Sie können die Voruntersuchung einleiten. Ich müßte mich sehr irren, wenn ich Ihnen nicht den Mörder mitsamt den Beweisen bringe.«
»Das wäre Glück. Wer aber – wer?« Unruhe spiegelte sich in Brockmanns Miene.
»Ein kleiner Landschmied, der eifersüchtig auf sein Mädchen war.«
»Hat er die Tat gestanden?«
»Noch nicht. Aber der Indizienbeweis ist erdrückend.«
Der Staatsanwalt schüttelte den Kopf. »Ich leugne es nicht, mein Verdacht lief auf einer anderen Spur.«
»Ich weiß, Brockmann. Gott sei Dank, sie war falsch.« 140