Ernst Wichert
Endrik Kraupatis
Ernst Wichert

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Nachdem er kurze Auskunft erhalten hatte, reichte er der alten Frau seufzend die Hand und begab sich wieder in den vorderen Flur.

Eine Minute lang stand er an der Zimmertür. Endlich öffnete er.

Frau Berta Kraupat saß auf einem alten Lehnstuhl, der ein wenig vom Fenster abgerückt war, so daß man sie von außen nicht bemerken konnte. Sie hatte auf einem Holzschemel neben sich eine Arbeit und ein Gesangbuch liegen, beschäftigte sich aber mit beiden nicht, sondern hatte den Kopf mit den dünnen, blonden Haaren hinten angelehnt und starrte zur Decke hinauf, während die Arme auf den Seitenlehnen auflagen und die langen, dünnen Finger unruhig an dem geschweiften Holz herumtasteten. Sie sah erschreckend bleich aus, kein Tropfen Blut schien in ihren Adern zu fließen. Die Stirnhaut über den Augenknochen war wie nach den tiefliegenden Schläfen gespannt, der Mund fest verbissen. Mare stand hinter ihr und hielt ein Kissen in der Hand, das sie ihr unter den Kopf schieben wollte, der jedoch nicht nachgab. Sie fuhr erschreckt zusammen, als die Tür knarrte, änderte aber ihre Haltung nicht. Nur atmete sie hastiger, und das Gesicht drückte das Angstgefühl aus, das ihre Brust beklemmen mochte.

Kraupat trat ein paar Schritte näher. Auch er war bleich wie die Wand. »Berta,« sagte er unsicher, »wie geht es dir?«

»Gut –ganz gut«, antwortete sie, ohne umzusehen, hastig und scharf.

»Da bin ich nun wieder zu Hause«, fuhr er fort.

»Von wo kommst du?« fragte sie wie geistesabwesend.

»Von wo – ? Du weißt es ja doch.«

»Ja, ja – aber laß es das Kind nicht hören.«

»Was ist denn dabei? Ich bin ja doch freigesprochen.«

Die Frau sing plötzlich zu schluchzen an. »O mein Gott, mein Gott«, jammerte sie.

Er ging zu ihr und legte etwas zaghaft die Hand auf ihre Schulter. »Wär's dir denn lieber, Berta, ich hätt' meine Zeit absitzen müssen? Das eine Jahr freilich – das ist ein Unglück, wogegen man nichts kann. Wenn man hinterher freigesprochen ist, meine ich –«

Sie schluchzte weiter. »Freut es dich denn nicht, mich wiederzusehen, Berta? Laß das dumme Weinen und gib mir einen Kuß zum Willkommen. Es ist wieder alles – wie vorher.«

»Nie – nie!« rief sie leidenschaftlich, indem sie ihren Arm fortzog. »Wir sind so glücklich gewesen, Heinrich –«

»Und können wieder glücklich sein. Warum nicht? Ich bin freigesprochen – das Versicherungsgeld muß gezahlt werden, wir können die Mühle neu aufbauen oder –«

Sie schüttelte sich wie im Fieberfrost. »Nimm das Geld nicht«, sagte sie, wie von Angst getrieben.

»Das wäre närrisch«, meinte er. »Wie kannst du so etwas raten?«

Die Frau wendete sich ihm mit einer hastigen Bewegung zu, umfaßte seinen Hals und sah ihn mit den erhitzten Augen ängstlich bittend an. »Nimm das Geld nicht, Heinrich«, wiederholte sie. »Es ist ganz dein Verderben. Ich will dir alles verzeihen, Heinrich – aber – aber –«

»Hm – was das anbetrifft, das Verzeihen –« Er stockte und sah sich nach dem Kinde um. »Laß uns eine Weile allein, Mare – ich Hab mit der Mutter zu sprechen. Nachher ruf' ich dich wieder.«

Berta hielt sie am Rock fest. »Nein, bleibe –«

Das Mädchen war unschlüssig, was es tun sollte.

»Geh«, rief der Müller in streng befehlendem Tone. »Ich will's so. Bin ich nicht mehr Herr im Hause?« Die Zornader schwoll ihm. Aber er faßte sich rasch wieder, streichelte Mare das Haar und die Wange und sagte freundlich: »Geh – es ist nichts für dich.«

Nun gehorchte Mare. Die kranke Frau gab allen weiteren Widerstand auf.

»Berta,« begann er, als er sich mit ihr allein sah, »was du da von Verzeihen sprichst – das hat etwas für sich. Weshalb ich freigesprochen bin, das geht keinem andern etwas an, dich aber – na ja, ich kann mir wohl denken, daß es dir recht fatal zu hören gewesen ist, daß dein Mann – in der ganzen Zeit, solange wir verheiratet gewesen sind, hast du dich nicht zu beklagen gehabt – ja, das ist nun einmal geschehen, und ich gestehe mein Unrecht ein –«

»Heinrich,« schrie sie auf, »du gestehst –«

»Was kann ich anders tun? Ich sage, es ist einmal geschehen. Und daß es unrecht war, gestehe ich ein. Man ist manchmal wie vom Teufel besessen, und wenn so eine Person es darauf anlegt –«

»Es ist nicht wahr, Heinrich.«

»Sie hat's beschworen, Kind, da muß es wohl wahr sein.«

»Sie hat's beschworen –«

»Und am Ende bin ich doch schwer genug bestraft mit dem Jahr Zuchthaus, Berta. Wenn du wüßtest, was das zu bedeuten hat – ein fürchterlich langes Jahr –«

»Wofür bestraft – wofür?«

»Nimm an, für das Unrecht, das ich dir angetan habe, weil ich so leichtsinnig meine Pflicht vergaß –«

Sie schüttelte heftig den Kopf und biß die Lippe.

»Ist dir's noch nicht genug, Berta? Sei gut! Vergiß das! Ich bitte dich – verzeihe mir! Es soll nicht wieder vorkommen, daß ich mich so verirre. In meiner Art liegt's gar nicht, Und das eine Mal – geschehen ist's nun doch. Sollten wir deshalb zeitlebens in Unfrieden leben? Wenn ich mich auch vergessen habe – gut bin ich dir doch immer geblieben. Es ist mir wahrhaftig schwer zu Herzen gegangen, daß ich nicht loskommen konnte, ohne dich so zu kränken. Aber wenn nun doch nur die Frage war, ob ich als Brandstifter vor aller Welt dastehen und meine Familie um Hab und Gut bringen und zehn Jahre sitzen sollte, oder mein Unrecht gegen dich –«

»Du bist ein Elender,« fiel sie ein, »o – viel, viel mehr, als du's selbst zu fühlen scheinst. Geh! Wir können nicht wieder zueinander.«

Das Blut schoß ihm ins Gesicht. »Wir können nicht? Was? Wir können nicht? Wenn du das sagst, Berta, dann weiß ich, daß ich dir niemals... Wir können nicht wieder zusammen?«

»Es mag vor der Welt bleiben wie es ist«, antwortete sie hart. »Ich habe soviel schweigend getragen und will auch noch mehr schweigend tragen. Es wird ja doch bald mit mir zu Ende sein. Wir sind Mann und Frau, und die Leute mögen glauben, ich hätt's verzeihen können. Daß ich deshalb auf Scheidung antrage, fürchte nicht; davor bist du sicher. Aber es können zwei lange Zeit vor den Leuten als Eheleute gehen und sind doch im Herzen geschieden. So ist's mit uns. Ich kann dir nicht sagen, weshalb – wenn ich nur daran denke, faßt mich ein Grauen, daß ich fürchte, wahnsinnig zu werden. Und so ist's am besten, du glaubst – es sei der Ilsze wegen – und sagst es den Leuten, und sie glauben es auch. Das ist ja auch so glaublich. Welche anständige Frau leidet das? Und man kennt mich doch als eine anständige Frau – als die deutsche Frau. Und nun sage, wie du's willst gehalten wissen? Das Haus ist klein. Ich habe für mich nur dieses eine Zimmer und die Kammer zum Schlafen für mich und Marc. Die andere Gelegenheit braucht deine Mutter. Ich weiß nicht, ob sie dich aufnehmen will, und ob es dir bei ihr paßt. Aus deinem Hause vertreiben will ich dich nicht. Aber wenn du hier einziehst, muß ich gehen. Und wenn du dich so entscheidest, geh ich noch heute.«

Kraupat hatte ihr, vornübergebeugt, mit wechselnder Verwunderung zugehört. Die Augen starrten zu ihr hinüber. Er schien gar nicht zu fassen, was sie eigentlich meinte. Warum hätte sie ihm nicht glauben sollen? Und wenn sie ihm nicht glaubte, was war dann für ein Grund? – Er fühlte ein blitzartiges Zucken durch fein Gehirn. Sollte er in sie dringen, sich deutlicher zu erklären? Es war, als ob ihm einer unsichtbar den Mund zuhielte, daß er's nicht herausbrächte. Er übersah rasch seine Lage: ein freundlicher Ausgleich war nicht zu erwarten, wenigstens nicht in nächster Zeit. Es konnte ihm nicht helfen, noch weiter den Reumütigen zu spielen. Nur wie er sich als Mann behauptete, kam noch in Frage.

»So – so – so –« knurrte er, »so also steht die Sache. Du läufst wohl alle Sonntage in die Kirche, aber von christlicher Verzeihung willst du nichts wissen. Gut, gut. Es mag so sein. Wenn du in dein eigen Fleisch schneiden willst – nur zu. Das Weitere wird sich finden – so oder so. Aber höre! Solche Gesichter will ich mir nicht schneiden lassen, und kannst du mir kein gutes Wort geben, so leid' ich ein böses auch nicht. Ich bin hier in der Mühle der Herr und verlange, daß ich von allen Hausgenossen dafür angesehen werde. Auch von meiner Frau! Danach richte dich.«

Er wartete noch ein paar Sekunden, ob sie darauf etwas zu entgegnen hätte. Aber sie schwieg und drehte nicht einmal den Kopf nach ihm um, sondern nahm das Gesangbuch vom Tisch, schlug das Blatt auf, vor das ein Zeichen gelegt war, und las still das Lied. Auf seinem Gesicht zuckten die Muskeln; er biß die Zähne fest aufeinander, um äußerlich ruhig zu bleiben; seine Hand schien einen Gegenstand zu suchen, den er fassen und zerdrücken könnte, »Hast du mir nichts mehr zu sagen, Berta?« fragte er endlich. »Nimm das Geld nicht!« antwortete sie, ohne vom Buche aufzusehen.

»Daß ich ein Narr wäre!« rief er, riß die Tür auf und warf sie ärgerlich hinter sich zu. »Sie will es so«, sprach er halblaut vor sich hin, während er die Steinstufen vor dem Hause hinabstieg. »Gut – sie hat's zu verantworten, was daraus folgt.« Es verstand sich nun von selbst, daß er nach dem Wirtshaus ging.

Dort traf er alle die guten Freunde. Sie empfingen ihn mit einem Jubelgebrüll. Es waren viele darunter, mit denen der Müller sonst nicht getrunken hatte. Es war seine Gewohnheit gewesen, stets in das kleine Stübchen des Krügers hinter dem Laden zu treten, in das nur die vornehmsten Gäste eingelassen wurden. Jetzt war es ihm gleichgültig, wer neben ihm oder gegenüber saß. »Bier her!« rief er, indem er auf den Tisch schlug. »Ein Fäßchen aufgelegt! Und wer ein Glas steifen Grogs vorzieht, der sag's. Es geht alles auf des Müllers Kosten.«

Nun war er erst recht ihr Mann. Aus dem einen Fäßchen wurden drei; jeder trank mit auf des Müllers Wohl, der in den Krug kam. Kraupat mußte mit allen anstoßen. Der bucklige Schreiber hielt Reden, die anfangs mit Beifall aufgenommen – dann überbrüllt wurden. Als er auf den Tisch stieg und dabei einige Gläser umwarf und zertrat, wurde er heruntergeworfen, so daß er sich ein Loch in den Kopf schlug. Kraupat war so lange Zeit nüchtern gewesen, daß er schon nach dem dritten oder vierten Glase mit schwerer Zunge sprach und schwankte. Als der Schneider und Wirt Letzkies, der ihm immer zuwider war, im Rausch auf den unglücklichen Gedanken kam, die schöne Ilsze Balnus hochleben zu lassen, nahm er das übel und schlug ihm das Glas aus der Hand. Daraus entstand eine Rauferei, die nur mühsam durch den Krüger geschlichtet werden konnte. Gegen elf Uhr nachts wurde der Lärm so groß, daß der Gendarm durchs Fenster Ruhe gebot. Kraupat fand es verdrießlich, daß der noch herumspionierte. Da ihm nun auch der Schulze ins Ohr sagte, es sei Zeit, machte er sich heimlich fort in der Hoffnung, sein Haus allenfalls noch allein zu finden. Draußen in der kühlen Luft aber ging ihm schon nach wenigen schwankenden Schritten ganz die Besinnung aus. Er stolperte über Steine, stieß gegen Bäume und schimpfte in den derbsten Ausdrücken auf das nichtsnutzige betrunkene Volk, das ihn nicht ruhig seines Weges gehen lassen wollte. Endlich gelangte er doch an das Mühlenhäuschen, kroch die Steinstufen hinauf und wollte die Tür öffnen. Sie war verschlossen, und es mochte ihm nun dunkel durch den Sinn gehen, daß ihm der Eintritt verboten sein sollte. Darüber entrüstete er sich in lauten Drohreden und fing an, mit Fäusten gegen die Tür zu schlagen. Dabei verlor er das Gleichgewicht, taumelte zur Seite und stürzte die drei Stufen hinab. Unten blieb er bewußtlos liegen.

Als er am andern Morgen ziemlich spät erwachte, sah er sich auf einem Strohlager in einem niedrigen und engen Gemach, dessen hintere schmale Wand mit Kleidern behängt war. Auf einem buntbemalten Holzkasten dicht am Ausgange auf der andern Seite saß der alte Ensikat, die Füße auf einem Schemel, und rauchte aus einer kurzen Pfeife, die ihm im Mundwinkel hing. Er schien hier auf des Herrn Erwachen zu warten. Kraupat richtete sich auf, blickte noch im halben Dusel um, erkannte den Alten und schrie ihn an: »Verfluchter Hund, was willst du von mir? Ich lass' mich nicht einsperren.«

»Du bist nicht eingesperrt, Herr«, antwortete Ensikat in litauischer Sprache. »In der Nacht hab' ich dich gehört an die Tür klopfen. Weil dir doch nicht geöffnet wurde, stand ich auf und ging hinaus. Da fand ich dich ganz betrunken an der Treppe liegen, erbarmte mich deiner und schleppte dich in meine Kammer hinein. Auf meinem Bett hast du ausgeschlafen, während ich an der Erde lag. Ein verfluchter Hund, denk' ich, war's nicht, der das für dich getan hat.«

»Und ein verfluchter Hund bist du doch«, rief Kraupat, die Faust gegen ihn ballend. »Du hast mich ins Unglück gebracht.«

»Das ist mir leid genug gewesen,« antwortete Ensikat, »war aber doch nicht zu ändern. Ich habe mich als Zeuge nicht gestellt, sondern du weißt wohl, daß sie mich vorgefordert haben, und da hab' ich denn auf meinen Eid die Wahrheit sagen müssen.«

»Die Wahrheit – die Wahrheit! Infam gelogen hast du, Schurke. Vorgestern ist's herausgekommen.«

»Nein, Müller, gelogen hab' ich nicht, damals nicht und auch nicht vorgestern.«

»Was? Du willst auch jetzt noch behaupten, daß ich die Mühle ange–« Er verschluckte sich und hustete eine Weile.

Der Alte blieb ganz ruhig. »Ich will behaupten, was ich immer behauptet habe. Denn das ist wahr.« »Du hast mich mit deinen blinden Augen gesehen?«

»Meine Augen sind nicht so blind.«

»In der dunklen Nacht?«

»Es war nicht so dunkel, und ich hatte vorher die Luke geöffnet, weil ich aufgestanden war, nach den Schützen zu sehen. Es war großes Wasser, und sie konnten von dem Gesellen nicht aufgezogen sein, als er fortfuhr.«

»So magst du einen Menschen gesehen haben, aber nicht mich. Es muß sich ja jemand eingeschlichen haben, der das Feuer angelegt hat.«

»Dich hab' ich gesehen, Müller, dich! Ich kenne dich an deinem Gang und an deiner Kleidung –«

»Pah!«

»Ich hab' aber auch dein Gesicht gesehen. Du kamst mir ganz nahe vorbei – mit der Hand zu fassen. Ich war hinter die Getreidesäcke getreten, als ich jemand kommen hörte, und du gingst mir gerade so vorüber, daß dein Gesicht sich gegen die offene Luke abzeichnete. Es ist gar kein Irrtum möglich.«

»Das alles hast du so zusammengelogen, damit es glaubhaft erscheint.«

»Ich hab's beschworen.«

»So hast du falsch geschworen.«

»Müller! Das sage nicht noch einmal. Gott wird dich strafen.«

»Ich sage, du hast falsch geschworen. Denn ich habe in jener Nacht gar nicht in der Mühle sein können. Das hat vorgestern auch das Gericht anerkannt.«

Der alte Mann seufzte. »Ich habe gehört, was die IIsze Balnus ausgesagt und beeidet hat. Sie hat mir's auch auf Befehl des Herrn Präsidenten ins Gesicht wiederholt, und das hat sie dreist genug getan –«

»Du aber bist unsicher geworden.«

»Das weiß ich nicht. Ich habe kein Wort zurückgenommen. Ich habe nur gesagt, es kann ja sein, daß du mit der Person etwas zu tun gehabt hast, und daß sie in gutem Glauben meint, es sei in jener Nacht gewesen – ich sah ja doch, wie's geplant war, dich zu retten. Hätt' ich ihr's auf den Kopf gesagt, daß sie lügt, so wär's gegen mich losgegangen: ›;Seht den rachsüchtigen Menschen, er will des Müllers Verderben!‹ Aber Gott weiß, daß ich dein Verderben nicht gewollt habe. Meine Schuld ist's nicht, daß du dich selbst tiefer und tiefer hineinbringst.«

Kraupat sprang vom Lager auf und gab dem Alten einen Stoß, daß er vom Kasten herabflog. »Willst du die Ilsze Balnus in deinen Gedanken meineidig machen, du Schuft?«

Ensikat erhob sich stöhnend und hinkte nach der Tür zu. »In meinen Gedanken ist sie's,« sagte er, »denn ich weiß, was ich weiß, und du wirst es aus mir nicht herausschlagen. Die Ilsze ist von deiner Mutter bestochen, vor Gericht die Unwahrheit zu sagen und dich herauszulügen –«

Der Müller drang wieder auf ihn ein. »Schweige, Hund, oder ich schlage dir den Schädel ein –«

Der Alte hielt nicht einmal zur Abwehr seinen Arm vor. »Schlage zu, Müller, dann bin ich in Ewigkeit still. Aber Gott sieht und weiß alles, und den wirst du nicht hintergehen. Mir kannst du schon nichts Schwereres antun, als du mir angetan hast, da du mich als einen Lügner und Meineidigen vor Gericht hast überführen wollen. Das hat aber nur geschehen können durch einen Meineid. Das Gericht hat dem falschen Zeugen geglaubt, und du bist freigesprochen. Darüber freue dich, wenn du kannst. Von mir aber fordere nicht, daß ich dir ins Gesicht lüge. Schlage mich tot – du hast doch die Mühle angesteckt.«

Kraupat ließ die erhobene Hand sinken; er mochte fürchten, daß es dem Alten wirklich ans Leben gehen könnte. Er lachte auf. »Schrei's doch im Dorf herum; man weiß dann erst recht, was man von dir zu denken hat. Ich will mich an so einem nicht versündigen.« Leiser fuhr er fort: »Wenn du aber nicht ganz dumm und vernagelt bist, so nimm deinen Vorteil wahr und stelle dich mit mir auf guten Fuß. Sage den Leuten, daß du dich geirrt haben kannst.«

»Nein, Müller, ich will mit reinem Gewissen sterben.«

»Was ist's denn weiter? Du kannst dich doch geirrt haben.«

»Das kann ich nicht.«

»Und du wirst auch ferner bei deiner Beschuldigung bleiben?«

»Wenn man mich fragt, werde ich nach wie vor die Wahrheit sagen.«

»So ersticke daran, du Hund!« schrie der Müller, riß die Tür auf und stürmte fort.

Er war nicht wenig erbost gegen den »halsstarrigen alten Kerl«, kam jedoch bald zu der Einsicht, daß es am Ende das beste sei, ihn laufen zu lassen. Der Müller fand nach dem gestrigen Jubelempfange, daß seine Sache gut stehe. Mehr als einer hatte ihm versichert, daß er Ensikat für einen nur halb zurechnungsfähigen Menschen halte. Solchen Leuten träume manchmal etwas, das sie dann meinten, erlebt zu haben. Es war nicht anzunehmen, daß man jetzt noch auf ihn hören werde, wenn er denselben Unsinn beharrlich wiederholte. Verdrießlich blieb es allerdings, so einen immer hinter sich zu haben, der sich nicht den Mund stopfen ließ und jedem in die Ohren schrie: »Der Müller hat doch angesteckt.« Er war freigesprochen – jawohl! Der Staatsanwalt und das Gericht konnten ihm nichts mehr anhaben. Aber er hatte das ganz sichere Gefühl, daß das noch sehr wenig sei. Wenn er völlig wiederhergestellt sein sollte, so mußte auch jeder überzeugt sein, er sei unschuldig verurteilt worden; es durfte niemand den leisesten Zweifel wagen oder auch nur durch ein Gesicht andeuten. Und wer konnte wissen, wie bald er den einen und andern der lieben Nachbarn verletzen müßte. Gestern schon hatte sich mancher unverschämt zugedrängt, den er früher kaum über die Achsel angesehen. Ensikat konnte ihm noch recht unbequem werden. Er überlegte, ob er sich's nicht ein Stück Geld kosten lassen solle, ihn mundtot zu machen. Aber der eigensinnige Racker wird zuviel fordern – oder gar nicht zu bezahlen sein – oder jedes Angebot ausschlagen. Er ist allein auf der Welt, braucht nichts für sich, ist zufrieden, wenn er seine Pfeife schlechten Tabak hat. Was soll er mit dem Gelde? Ja, wenn seine Tochter noch lebte – das vergißt er mir nicht, und ist doch solange her. – Er beschloß abzuwarten, bis der Alte einmal öffentlich sagen werde, was er ihm unter vier Augen gesagt. Dann könnte er ihn wegen Injurien verklagen. – Das war doch nichts. Dann kommt die Sache krumm herum nochmals vors Gericht. Und zu nehmen ist dem Lump nichts – die Strafe sitzt er ab – was macht so einer sich aus ein paar Tagen Haft? Und hinterher –

Es ging ihm im Kopfe herum. Immer aber kam er wieder darauf zurück: am besten ganz still sein. Da begegnete ihm im Laufe des Vormittags der Gendarm Krause und rief ihn an:

»Herr Kraupat – auf ein Wörtchen.«

Was er ihm zu sagen hatte, gab seinen Gedanken plötzlich eine ganz andere Richtung. »Sie sind freigesprochen, Herr Kraupat,« sagte Krause zu ihm, »und also sind Sie an dem Brande nicht schuld. Es steht fest, daß Sie in der fraglichen Nacht gar nicht in der Mühle, sondern bei der Ilsze Balnus gewesen sind. Das hat die Person beschworen. Ein Irrtum in der Zeit ist gar nicht denkbar, denn sie spricht von der Nacht, in der die alte Kraupatischker Mühle abgebrannt ist. Nun hat aber vorher Ensikat beschworen, daß er Sie in dieser selbigen Nacht in dieser Mühle gesehen hat. Und auch bei ihm kann von einem Irrtum gar nicht die Rede sein. Hat die Ilsze Balnus die Wahrheit gesagt, so hat er gelogen; hat sie einen richtigen Eid geleistet, so hat er falsch geschworen, um Sie ins Unglück zu bringen. Und hat sein Meineid zuwege gebracht, daß nicht nur das Gericht einen Unschuldigen bestraft, sondern daß er auch ein Jahr unschuldig gesessen hat, so kann ihm das natürlich nicht so hingehen. Ich bin denn auch schon mit Recherchen beauftragt und frage deshalb zuerst bei Ihnen an, wie Sie sich dazu stellen, und ob Sie vielleicht noch einiges Material herbeizuschaffen vermögen. Wir werden dann mit aller Strenge vorgehen. Das sind wir Ihnen schuldig.«

Der Müller war über diese Fürsorge des Staates keineswegs erfreut. »Herr Wachtmeister,« antwortete er respektvoll, »mir war's schon am liebsten, wenn die ganze Sache jetzt ruhen möchte. Ensikat hat meinem Großvater und Vater gedient und ist jetzt ein alter Mann, in dessen Kopf es nicht mehr ganz richtig ist. Seine Tochter spukt da herum, die sich ersäuft hat, weil ich sie nicht heiraten wollte – oder nicht konnte, denn ich war damals ein sehr junger Mensch, mein Vater lebte auch noch, und der hätt's nicht zugelassen. Daß es seine Tochter war, hab' ich nicht gewußt, aber es mag sich wohl von damals her ein Groll in sein Herz gefressen haben, so daß er mir alles Böse zutraute. Und so bin ich ihm auch in jener Nacht vor die Augen gekommen. Er mag sich ja wirklich einbilden, mich gesehen zu haben.«

Der Gendarm wiegte bedenklich den Kopf. »Man hat doch bisher nicht gehört,« entgegnete er, »daß Ensikat verstört gewesen ist und nicht zu unterscheiden gewußt hat, was ihm träumte und was er wirklich erlebte. Ihre Nachsicht scheint mir nicht am Platze. Die Sache kann unmöglich so hängenbleiben, und Sie tun sich selbst den größten Schaden, wenn Sie nicht auf eine Untersuchung gegen den rachsüchtigen Menschen dringen. Ereilt ihn die gerechte Strafe, so wird das Unrecht gesühnt erscheinen, das Ihnen selbst geschehen ist. Geschieht ihm nichts, so könnte leicht mancher meinen, das müsse wohl einen Grund haben.«

Dabei sah er dem Müller so scharf in die Augen, daß der Mühe hatte, nicht mit den Wimpern zu zucken. Er verstand den Beamten. »Sie haben ja ganz recht, Herr Wachtmeister«, sagte er geschmeidig. »Mir selbst könnte nur lieb sein, wenn ein warnendes Exempel statuiert würde. Ich weiß nur nicht – es steht da Eid gegen Eid, die Geschworenen werden nicht anbeißen wollen.«

»Das kommt darauf an«, meinte der Gendarm, »die Geschworenen sind allemal unberechenbar. Übrigens kann ich nicht zweifeln, daß man in diesem Prozeß Sie selbst zum Eide zulassen wird.«

»Mich –?«

»Jawohl, weil Sie ja freigesprochen sind.«

Dem Müller trat der Schweiß auf die Stirn. »Jawohl. Ich meine nur, da ich doch gewissermaßen interessiert bin –«

»Man kann Ihnen ja doch glauben, daß Sie die Wahrheit sagen. Und es muß Ihnen gerade daran liegen, sie mit einem feierlichen Schwur zu bekräftigen.«

»Jedenfalls,« stimmte Kraupat zu, »daran liegt mir viel. Ich will es mir überlegen, Herr Wachtmeister, auch mit meiner Mutter sprechen. Ergibt sich gegen Ensikat noch etwas, so zeige ich's Ihnen morgen an. Verlassen Sie sich darauf. Wie steht's? Haben Sie schon gefrühstückt? Wir trinken ein Glas zusammen – was?«

Krause dankte; er müsse sogleich in seinen Bezirk reiten. Wenige Minuten später sah Kraupat ihn auch zu Pferde.

Er ging nicht zu seiner Mutter, sondern zu dem buckligen Schreiber, der ihm auch sonst Rat geben sollte, wie er nun am besten zu den Versicherungsgeldern käme. Szamaitat war ihm höchst widerwärtig, mußte aber in guter Laune erhalten werden. Ob er ihm nützen könnte, war zweifelhaft; daß er ihm schaden könnte, gewiß. Es waren in nächster Zeit allerhand Eingaben zu machen, zu denen Kenntnis der Formen gehörte. Dazu sollte der Schreiber seine Feder herleihen. Dafür ließ er sich dann so anständig belohnen, daß zugleich stillschweigend die Dienste vergolten werden konnten, die er schon geleistet. Vielleicht wußte er auch guten Rat, wie der Gendarm beschwichtigt werden könnte. Daß ein neuer Prozeß vermieden werden müßte, das wurde ihm immer klarer bewußt.

Szamaitat fühlte sich durch den Besuch des Müllers sehr geehrt. Eine solche Aufrichtung war ihm aber auch nötig, denn er war gestern oder vielmehr erst heute früh, von Arbeitern, die ihn im Graben liegend gefunden, aufgehoben und nach Hause getragen worden, wo seine Frau ihm keinen zärtlichen Empfang bereitet hatte. Die Nase war dick angelaufen, und aus den kleinen Augen konnte er kaum sehen. Kraupat erzählte ihm, was der Gendarm gesprochen und wollte dann seine eigene Meinung dagegensetzen. Der Diensteifer des Schreibers war aber so groß, daß jener eher das Gegenteil seiner Absicht erreichte. »So ist's richtig«, rief er, »ich sage, so ist's richtig. Man darf ihm das nicht hingehen lassen. Keine Schonung, keine Schwäche! Scharf vor, ganz scharf –«

»Aber es ist doch zu bedenken –« fiel der Müller ein.

»Nichts ist zu bedenken, Endrik, nichts ist zu bedenken. Ist schon alles bedacht – hier.« Er setzte den Finger gegen die Stirn. Dann schlug er ihm vertraulich auf die Schulter. »Verlaß dich auf mich, Endrik, die Sache wird in die besten Wege geleitet.« Er legte den Arm um seinen Hals und zog seinen Kopf dicht heran. »Ich will dir meine Meinung sagen, Endrik. Es braucht vorläufig noch kein anderer davon zu wissen. Ich habe meine Meinung, Endrik, und ein anderer kann seine Meinung haben, aber wer die richtige Meinung hat, das wird sich finden. Angesteckt ist die Mühle. An die Stellen, wo die Flammen aufgeschlagen sind, kommt von selbst kein Feuer hin. Ich sage, angesteckt ist sie. Aber wer hat die Mühle angesteckt? Du nicht, Endrik, das ist jetzt erwiesen. Darum muß es ein anderer gewesen sein.«

»Der Bettler wahrscheinlich –«

»Von dem Bettler rede mir gar nicht. Das ist ein kalkulatorischer Unsinn. Denn um sich zu verbrennen, wird er doch das Feuer nicht angelegt haben. Verbrannt ist er aber. Wie soll das durch einen Kasus geschehen sein? Wenn er sich eine Pfeife angesteckt und das brennende Hölzchen ins Stroh geworfen hat, muß das doch eher in Flammen gestanden haben, als die Pfeife ausgeraucht war. Oder wenn die Pfeife noch brannte, als er sich schlafen legte, und die glühende Asche hinausfiel und zündete – na, dazu gehörte schon ein gesunder Schlaf, sich völlig gar braten zu lassen, ohne aufzuwachen. Und es steht nicht einmal fest, daß der Mensch überhaupt eine Pfeife und Tabak und Reibhölzer bei sich gehabt hat.«

»Es kann doch sein –« »Es kann nicht sein, Endrik– ich sage, es kann nicht sein. Dagegen – weißt du, wer die Mühle angesteckt hat?«

Der Müller sah ihn mit gespannter Erwartung an. Seine Lippen waren blau.

»Für mich ist das so gewiß,« fuhr der Schreiber fort, die Augenbrauen hoch aufreckend, »als daß zweimal zwei vier ist. Der Ensikat hat die Mühle angesteckt.«

Kraupat rückte den Schemel, auf dem er saß, einen Schritt vom Tisch ab. »Ensikat – ?« rief er, »du bist nicht klug –«

»Hm – ich bin klüger, als manchem lieb ist. Der alte Ensikat hat angesteckt. Motiv: Rache. Daß er solange damit gewartet hat, irrt mich gar nicht. Es gibt solche boshafte Kreaturen, die ihre Galle einschlucken, bis nach ihrer Schätzung das Maß voll ist. Das kann viele Jahre dauern – wenn sie's nur noch erleben! Nun mag er wohl gemeint haben, es könnt' einmal plötzlich mit ihm zu Ende kommen, und noch rechtzeitig ans Werk gegangen sein. Das Weitere stimmt. Er sagt selbst, daß er mitten in der Nacht oben gewesen ist. Was hat er da oben zu suchen gehabt? Die Räder standen. Das Wasser war nicht so hoch, daß es Schaden tun konnte. Er hat angesteckt. Und um nun den Verdacht von sich abzulenken – er war ja der einzige von deinen Leuten, der in jener Nacht zu Hause war –, hat er dich fälschlich beschuldigt und natürlich auch seine Aussage mit dem Eide bekräftigt. Ist das klar?«

Kraupat war aufgesprungen und lief in der Stube umher, von Zeit zu Zeit seinen Kopf mit den Händen fassend. Er stieß grunzende Laute aus, prustete dazwischen wie einer, der Wasser geschluckt hat, tupfte dem Schreiber auf die Schulter und lief weiter. Er war feuerrot im Gesicht.

Szamaitat nickte befriedigt: »Na ja – das ist klar, das harmoniert.«

»Nein,« schrie der Müller gewaltsam heraus, »das glaub' ich nicht, das wäre –«

»Eine rechte Teufelei wär's, Freundchen, eine rechte Teufelei. Aber die ist ihm zuzutrauen. Wenn er nicht eine ganz boshafte, versteckte, hinterlistige Kanaille wäre, meinst du, daß er solange seine Tochter verleugnet haben würde? Damals schon wär' er dir auf den Pelz gefahren, als sie ins Wasser gegangen war. Ich sage dir, es harmoniert.«

»Aber das sind doch nur Vermutungen –« »Vermutungen? Das sind Indizien. Laß mich nur machen, Endrik. Ich will dir ein Schreiben aufsetzen, das dem Gendarm Krause gefallen soll. Was weiter geschieht, geht dich nichts an. Will der Staatsanwalt darauf nicht vorgehen, so will er nicht. Du hast aber deine Pflicht getan. Kein Mensch kann dir etwas nachsagen. Komme heute abend wieder zur Unterschrift. Ich will noch einen Strich schlafen, um ganz frisch zu sein. Wegen der Versicherungsgelder wollen wir nachher beraten. Du sollst sehen, ich verschaffe sie dir. Was fehlt dir denn? Du schnappst ja nach Luft, als ob du den Strick um den Hals hast. Ja, ja! Gestern ging's ein bißchen scharf her. Ein paar Stunden Schlaf werden dir auch nichts schaden. Meine Alte – ha, ha, ha! Freue dich, daß du eine sanfte Frau hast. Nu – mein Buckel kann was aushalten.«

Der Müller betrachtete es als ganz vergeblich, ihn jetzt auf andere Gedanken zu bringen. Er nahm sich vor, abends, wenn Szamaitat ausgenüchtert sei, nochmals verständig mit ihm zu reden und den Brief jedenfalls nicht zu unterschreiben. Deshalb erhob er jetzt keine Einwendungen weiter, ging zu seiner Mutter, die von der Sache gar nicht mehr sprach und nur fragte, wann er mit dem Wiederaufbau der Mühle anzufangen gedenke, sah auch nach seiner Frau, in der Hoffnung, sie heute freundlicher gestimmt zu finden, und unterhielt sich eine Weile mit Mare auf der Bank vor der Haustür. Frau Berta besorgte das Mittagessen, rief Mare und sagte ihr, der Vater könne mitessen, wenn er wolle. Das bestellte sie ihm. Er setzte sich denn auch an den Tisch, es war aber eine traurige Mahlzeit. Im Zuchthause hatte ihm das Essen besser geschmeckt. Die Frau sprach außer dem Tischgebet kein Wort. Er stand bald wieder auf und ging nach dem Kruge, seine Schuld zu berichtigen. Dort fand er in dem Krüger einen guten Gesellschafter. Er nahm ihn wenigstens jetzt dafür.

Bald trieb ihn doch wieder die Unruhe fort. Er meinte seine Felder besichtigen zu müssen, die teilweise von der Mühle weit entfernt lagen, und beschloß gleich mit dem entferntesten anzufangen. So verließ er hinter dem Dorfe die Landstraße und folgte einem tiefen Graben, der wieder das Wasser von vielen Seitengräben aufnahm. Sie zogen sich bis zu einem langen, etwas höhergelegenen Plan hinauf und setzten sich dort meist in flachen Furchen fort, die mehr den Zweck haben mochten, abzugrenzen, als zu entwässern. Der Plan stellte die früher gemeinschaftliche Weide dar, wenig fruchtbares Land, sandig und steinig, mit Heidekraut und niedrigem Birkengesträuch bewachsen. Dort stand auch das alte Hirtenhäuschen, ein langes, niedriges Gebäude unter einem Strohdach, welches über dem früheren Stall nur noch das kahle Sparrenwerk zeigte, aber auch nach dem vorderen Giebel zu über und über mit Moos bewachsen war, aus welchem Büschel von Gras, blaue Glockenblumen und roter Mohn aufschossen. Kraupat sah es von weitem und erinnerte sich, daß die Ilsze Balnus dort wohne. Er ging eine Weile an der Grenze hin, drehte um und kehrte ihm den Rücken zu. Dann meinte er aber, nachsehen zu müssen, ob sein Wäldchen während seiner Abwesenheit bestohlen sei. Dorthin begab er sich also auf dem letzten Grenzrain.

Wenn auch noch so langsam durch das Wäldchen schreitend und rechts und links nach den Stubben ausspähend, mußte er sich wohl allmählich dem Hirtenhause nähern, das sich ihm zeitweise hinter dem jungen Birkenaufschlag versteckte. Plötzlich hatte er es auf zweihundert Schritte vor sich. An der hinteren Seite war vielfach die Lehmfüllung aus der Fachwerkswand gefallen und nicht einmal jedes so entstandene Loch mit Moos verstopft. Zwei Stangen stützten den Giebel über der niedrigen, zweiteiligen Tür. Ein alter Strauchzaun hegte ein Gärtchen ein, das einige Gemüsebeete enthielt. In der Ecke wuchs der Sonnenglanz hoch auf. Ein kleines Kartoffelfeld lag schon außerhalb.

Der Müller konnte von seinem Standpunkt aus den Platz vor der Haustür am Strauchzaun hin gut überschauen. Die obere Hälfte war offen und gegen die Wand gelehnt; auf die untere, geschlossene stützte sich die Bewohnerin des Häuschens, aus dem tiefen Dunkel des inneren Raumes den runden Kopf mit dem im Kranz aufgesteckten blonden Zopf und den kräftig gebauten Oberkörper weit vorbiegend. Sie hatte ein Ende Garn in den Händen, an das unten ein Lappen gebunden war, und machte daraus fünf jungen Kätzchen ein lustiges Spielzeug, indem sie den Anhang auswarf und ruckweise wieder an sich zog. Die zierlichen kleinen Tiere mit den Blitzaugen und Stumpfnäschen schössen hinterher, purzelten übereinander, probten die Krallen oder lauerten vorsichtig in einiger Entfernung, bis sich das Ungetüm wieder in Bewegung setzen würde. Das mußte sehr drollig anzusehen sein, denn Ilsze konnte nicht aufhören, das Neckspiel zu wiederholen, und unterbrach öfter ihren leise summenden Gesang durch ein lautes Lachen. Es wirkte ansteckend. Auch Kraupat, dem gar nicht lustig zumut war, mußte einfallen. Sie sah auf und erkannte ihn, ließ sich aber gar nicht in ihrem spaßigen Geschäft stören.


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