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Die Fahrt um die Liebe

Merkwürdig,« dachte der Freiherr, als das Mädchen im Vorzimmer des Professors ihm in den Mantel half. »Eine belanglose Angelegenheit, seinen Mantel anzuziehen, bis zur Unwirklichkeit belanglos durch tausend Wiederholungen ... und nun, eben? Wieviele Male noch? So hat es eben gesprochen in mir. Der Keim zu tausend ähnlichen Fragen, sinnlosen, feigen und erbärmlichen Fragen, aber doch Fragen ... Der Pfeil hat getroffen, der lautlose und dunkel befiederte ... mitten zwischen die Schultern ...«

Er fühlte ein leises Erschauern vor seinem Spiegelbild, als er, ohne zu eilen, sein Halstuch band, und lauschte, gleichsam verborgen vor sich selbst, nach der Tür des Sprechzimmers, ob sie sich nicht noch einmal öffnen und die erregte Stimme des Professors ihn aufhalten würde, schnell, überstürzt, wie einen Fallenden, den man in letzter Sekunde ergreift, bevor das Brausen des Abgrunds ihn verschlingt. »Diese Ärzte,« dachte er weiter, »sind nicht klug. Vielleicht klug, aber nicht weise. Sie müßten eine Sterbekammer haben hinter ihrem Sprechzimmer, heiter, froh und ganz still. Und in solchen Fällen wie bei mir müßten sie die Leute nicht mit einem teilnehmenden und vielsagenden, ach so vielsagenden Händedruck entlassen, sondern sie müßten sagen: »Nein, mein Lieber, lassen Sie das, dies auf die Straße Gehen, dies Nocheinmal nach Hause, letzte Verfügungen und so weiter ... diese ein wenig feigen Verdunkelungsmanöver der Kreatur ... kommen Sie hier hinein, ruhen Sie etwas und denken Sie an die wenigen schönen Stunden Ihres Daseins, die von keiner Reue beschwerten, von keiner Bitterkeit durchtränkten ...«

Und da müßte man einschlafen, von ungemerkten Mitteln, und hinübergehen, von ungemerkten Händen ... Das müßten sie so einrichten können, diese Spezialisten besonders ...«

Er nahm den Hut, den das Mädchen ihm reichte, sagte »Danke« mit seiner leisen, ein wenig belegten Stimme und ging mit guter Haltung hinaus.

Die läuferbedeckte Treppe tat ihm wohl, und er stieg sie langsam hinab, an der Lautlosigkeit seines Schreitens sich erfreuend und daß er dem allen nun ein wenig entronnen war, der irgendwie gefährlichen Luft des Sprechzimmers, dem erbarmungslosen Blitzen der Instrumente, dem grellen Licht der Untersuchungslampe und den etwas traurigen Augen des Professors, die so ruhig in das verborgene Antlitz des Todes sahen, das allen verborgen schien und nur ihm sich enthüllte.

Er nahm eine seiner schweren türkischen Zigaretten, zögerte ein wenig, bevor er das Streichholz anrieb und zündete es dann lächelnd an. Der leise, fast nur zu ahnende Schmerz in der Kehle kam wieder mit den ersten Zügen, blieb, nahm Besitz und milderte sich zum Unvermeidlichen, kaum Bewußten, wie das Atmen oder der Schlag des Herzens.

»Larynx ...« sagte der Freiherr leise, »so ist es also ... wie Kaiser Friedrich ... ein dunkles Wort, voller Klage und Gefahr ... Syrinx, das kannte ich, es erinnerte an Syringen und war dunkel und süß wie nur der Flieder sein kann ... Margaretens Haar duftete danach, die ich die Amsel nannte, und es war ihr Duft, aus dem ich das Adagio schrieb im ersten Streichquartett ... ja, aber Larynx, das ist unheimlich, ein dunkles Holzinstrument, seltsam gebogen, mit silbernen Klappen, wie jene Instrumente dort oben in seinem Zimmer ... daraus werden wir kein Adagio schreiben ... höchstens eine Marcia funebre ...«

Er stützte sich ein wenig auf das Geländer und schloß die Augen. Eine Melodie trat aus weiter Ferne in seine Seele, vom Winde noch geweht, ein noch ungeflochtener Kranz, wie die Melodien immer in seine Seele traten. Und er lauschte ihr wie einem Regen Gottes, lautlos und regungslos. Aber der dunkle Bogen ihrer Wölbung ließ ihn erschauern, der Klang jenes dunklen Instrumentes, das eine blasse Hand zu seinem Tode zu spielen begann. »Drei Jahre ... also wird es die Hälfte sein ... nicht viel, mein Freund, wenn man den Kranz herabreißen wollte vom Stern der Ewigkeit ... aber gleichviel, wir wollen nicht vergessen, was wir uns schuldig sind.«

Und seine Stirn war hell, als er in die Sonne der Straße trat, und nur seine Lippen zuckten ein wenig, als die schwere Tür mit leisem Rauschen zuglitt und ein gedämpfter metallischer Klang anzeigte, daß sie zugefallen war, daß etwas beendet war und abgeschlossen und versiegelt für alle Ewigkeit.

Er ging sehr langsam nach Hause. Die Gärten dufteten, vom Ruf der Amseln trunken erfüllt, und die helle Abendstunde stand so friedlich über allen Dächern, als seien Gottes Flügel still zusammengefaltet über dem scheidenden Tage. Der Freiherr trug den Hut in der Hand und sah von der Brücke über den schmalen Strom nach den fernen Hügeln und Wiesen, über denen das Abendrot stand. Und wie oft um diese Stunde des beglänzten Friedens fühlte er seine Seele groß und weit werden gleich feierlichen Sälen in einem stillen Hause, und jene schmerzliche Entrücktheit, in der die Tränen steigen wollten und in der die Melodien kamen, nicht jene vielen und unaufhörlichen, sondern die eine und unerhörte, nach der man ein Leben lang suchte, in der der Fall aller Stunden gesammelt war und die Ernte aller Sommer, das Schweigen aller Wintertage und das Rauschen aller Sommernächte, jenes Ewige, das ein Abglanz des ewigen Lebens war, jenes Echo seiner rufenden Menschenstimme, das so wirklich und unwirklich zu seinem Leben stand wie das Abendrot des Wassers zur Glut des westlichen Himmels.

»Jetzt werden die Hirten die Abendflöte blasen,« dachte er, »dort an den stillen Ufern ... die Syrinx, ja ... es wird schwer sein, trotz aller Tapferkeit, sehr schwer ...«

Unweit seines Hauses blieb er an einer Lebensmittelhandlung stehen und sah mit kalten Augen auf einen großen Wasserbehälter mit gläsernen Wänden, in dem die ersten Krebse der Jahreszeit dunkel und vielgliedrig in einer Ecke sich gespenstisch regten. Er überwand einen fast körperlichen Widerwillen, und es schien ihm, als sei es eine Art von nicht geringem Heldentum, mit dem er auf diese Symbole seines Todes blicke, die dort lautlos und mit bedrückender Sinnlosigkeit ihre Scheren tastend bewegten, als bewegten sie sie in einem gestaltlosen Nichts, und doch könnte eine ungekannte Strömung einmal ein Etwas in dieses Nichts tragen, zwischen ihre Scheren, die wie Maschinen sich öffneten und schlossen und die sich über dem Lebendigen so unwiderruflich schließen würden wie über dem Nichts des leeren Wassers.

»Das ist häßlich,« sagte er leise, und eine feine Linie der Qual grub sich ganz langsam um seinen Mund und blieb dort haften als ein matter Widerschein verborgenen Grauens, das wohl Wort und Gebärde noch nicht anrührte, aber doch im empfindlichen Spiegel seines Gesichtes als ein ferner und trauriger Sprung erschien.

Und dieses Wort blieb nun in den Tagen und Nächten, die dieser Stunde folgten, als das einzige, das er zu den harten Augen seines Schicksals sprach. Er war gleich weit entfernt von sinnloser Auflehnung gegen das Notwendige wie von betäubter Fassungslosigkeit oder tränenvollem Jammer. Die Kraft des Blutes, die Vorfahren und Brüder über die Schlachtfelder des Abendlandes in untadeliger Haltung hatte schreiten lassen, die Klinge kühl mit dem Tode kreuzend und schweigend empfangend, was ihnen zu empfangen bestimmt gewesen, ob das Herz auch schrie und die Stirn sich furchte, ließ auch ihn aufrecht durch die Stunden gehen, die mit brausender Schnelligkeit nun aus der geneigten Schale zu stürzen schienen, seit er wußte, wie spärlich der Rest war, der nun in seine Hände fiel. Er war kein Bürger gewesen und kein treuer, entsagender Diener des Staates. Er hatte sich, nicht ohne Schmerzen, aus einer Verbundenheit gelöst, in der die Kunst etwas nicht vollkommen Adliges bedeutete, einen leisen Abstieg, eine Berührung mit Menge und Klasse, eine Fahrkarte dritter Klasse gleichsam, einen Platz im Parkett, ohne Rang, Absonderung und Distanz. Er war nicht ausgestoßen worden, aber er hatte sich entfremdet. Das Haus war ihm nicht verschlossen, aber er mußte läuten, wenn er eintreten wollte, und er hatte gewissermaßen einen kühlen Raum der Anmeldung und der Vorzimmer zu durchschreiten, ehe er seine Hand in die Hand des Geschlechtes legen durfte.

Auch seit sein Name ein Klang war, war er »dort« ein besonderer Klang, und sein Großvater, achtzigjährig und von nahezu göttlicher Verehrung umgeben, pflegte bei jeder der seltenen Begrüßungen mit betonter Regelmäßigkeit zu sagen: »Ach, der Freiherr Amadeus!« als sei die Zufügung des Titels eine leise tröstende Bürgschaft für die noch lose bestehende Zugehörigkeit des Trägers zu dem auserwählten Strom eines untadeligen Blutes.

Der »Freiherr Amadeus« hatte über diese Dinge gelächelt, nicht spöttisch, sondern mit Güte, und seine brennende Seele in alles das ausströmen lassen, was nun von ihm bleiben würde, wenn der Mantel fiel. Er hatte nicht nach den großen Schauplätzen des Lebens getrachtet, obwohl er der Gesellschaft nicht fremd geblieben war. Er hatte Reisen gemacht und Freunde besessen, Liebe erlitten und Seligkeit getrunken. Aber auf dem Grunde aller dieser Dinge hatte er im eigentlichen Sinne nie etwas anderes gesucht als die »ewigen Melodien«, wie er sie nannte, bei deren Klang die Herzen erbeben mußten wie vor einem blühenden Baum, oder vor einer Stirn, über deren Falten der Tod gestrichen hatte, oder vor der Kühle zweier liebend erhobenen Arme, aus deren Beugung die Beugung Gottes sich offenbarte, der aus dem Jenseitigen trat, um die Gnade des Ewigen zu spenden.

Er lächelte auch jetzt zuweilen, über dem Schlußsatz seiner letzten, nun letzten Symphonie, über dem Lied einer Amsel, dem Jubelruf eines spielenden Kindes. Aber es war ein irgendwie verlorenes Lächeln. Es war kein Lächeln der Gegenwart, sondern der Erinnerung. Die Dinge vergangenen Lebens lächelten aus ihrem Schlaf, wenn ein Gleiches oder Verwandtes der Gegenwart sie leise berührte, des gewesenen Geschehens froh, aber ohne eine Verknüpfung mit dem Seienden oder Künftigen. Denn das Seiende war eine vergängliche Stunde, und das Künftige war das Dunkle, in dem nicht Form war, nicht Grenze, Gestalt oder Ende. Es war das Dunkle, in dem eine kühle Schere schnitt, Fäden auf Fäden, die keine Hoffnung mehr verknüpfte und die sinnlos ins Leere hingen wie Fäden eines zerstörten Gewebes.

Und da das Künftige nicht erhellt werden konnte durch den Glanz eines noch ferneren Künftigen und das Seiende zu beben begann, weil die Pfeiler des Hauses brachen, so glitt die Seele des Freiherrn mit Notwendigkeit in das Vergangene, weil nur aus ihm die Kraft zu trinken war für das Kommende. Denn das Leben hatte aufgehört mit jener Stunde zwischen den blitzenden Instrumenten und vor der grellen Untersuchungslampe, und dort hatte nicht eine letzte Frist des Lebens begonnen, sondern der Tod hatte begonnen, das langsame und unerbittliche Sterben.

Und schon in diesen Tagen begann die Einsamkeit des Todes für den Freiherrn. Begann jenes Gezeichnetsein des Tuns, des Denkens und des Leidens, das den Blick des Menschen ändert, das Bild und die Gebärde seiner Hand, den Ton seiner Stimme, das Lauschen seines geneigten Hauptes. Und wiewohl er seinen sich schnell verdunkelnden Weg nicht ohne die Stütze einer unsichtbaren Hand ging, der Hand seines Geschlechtes, aus der der Pulsschlag der Haltung und der Würde in ihn hinüberklopfte, und nicht ohne den nachglänzenden Schein eines eigenen tapferen Lebens, so tropfte doch das Grauen des Kommenden, dem er allein, ganz allein die Stirn zu bieten hatte, gleich Tropfen von einem kalten Gewölbe unsichtbar, eintönig und unerhört grausam auf das schmale Band seiner Stunden, das wie von einer Maschine abrollte, ungehemmt in seinem Laufe, weder vom Fluch noch von der Beschwörung.

Und er hob die Arme wie von einem treibenden Wrack, und der Ruf seiner Stimme drang hinaus, und das Flehen seiner Augen tastete über die Wasser, wie alle sterbende Kreatur an die Wände tastet, die sie langsam scheiden und aussondern vom Lebendigen.

Und als keine Antwort kam, lächelte er noch einmal. Sein Mund war nun wie der Mund eines Menschen in weißem Haar, der seine Enkelkinder zu seinen Füßen spielen sieht, wie sie aus Holzwürfeln eine Stadt erbauen oder auf einem weißen Papier das Meer durchpflügen oder Grabgesänge singen zum Tod eines Abendfalters. Und die weißen Lippen lächeln gütig zu all dieser Nichtigkeit, diesen Freuden, Schmerzen und Träumen, die ja die Nichtigkeit aller Lebensalter war. Denn es war die goldene Stadt nicht viel mehr als die kindliche aus Holz, der Ozeandampfer nicht viel mehr als das Blatt Papier, der Tod der geliebtesten Augen, Hoffnungen und Träume nicht viel mehr als der des Abendfalters. Und man saß nun am Fenster und lächelte über die Mühe der Straßen hin.

Und so bestellte der Freiherr Amadeus sein Haus.

Er ließ die Reinschrift seiner Symphonie herstellen und schickte sie an seinen Verlag mit einem Begleitschreiben, daß es sein letztes Werk sei und er wegen seines Nachlasses zu angemessener Zeit Anordnungen treffen werde, daß er dem Verlag vorbehalten bleibe.

Er ordnete seine halbvollendeten Schöpfungen, die ihm eines Überdauerns wert zu sein schienen, bezifferte sie als » op. posth.« und legte sie zu der geringen Bürde seines letzten Weges: Legaten, Verfügungen, einigen Briefen, einem Band voller Skizzen und einer Tagebuchhandschrift.

Und dann saß er viele Nächte vor dem Kamin seines Arbeitszimmers und verbrannte sein Leben. Er hatte die schwere Truhe neben seinen Sessel geschoben, und aus ihrem geöffneten Deckel hob sich, was die frühe Erkenntnis eines einsamen Lebens sparsam und sorgfältig geordnet und bewahrt hatte: Bund auf Bund verschnürter Briefe, von der leidenschaftlichen Freundschaft verschollener Jahre, über die blühenden Kränze gesammelter Ernten, bis zum späten Strauß leise duftender Nachsommer. Manche trugen ein Kreuz, manche ein Bild, manche eine Haarlocke oder ein seidenes Band. Aus allen stieg Wehmut, aus wenigen Schmerz, aus keinem Reue.

Der Freiherr öffnete mit behutsamen Händen jedes einzelne der leise vergilbten Blätter und las sie Zeile für Zeile, ja Wort für Wort. Die Geräusche der Straße verstummten vor seinen geöffneten Fenstern, das Rauschen der Bäume erstarb, und die Sterne der hohen Mainächte blickten zu ihm hinein, wenn er die Augen von den Blättern hob und von der Flamme, die sie verschlang, und über die schweren Kronen hinaussah in die verdunkelten Räume. Und während die Flamme im Kamin züngelte und aufstand und erstarb, Nacht für Nacht bis zum ersten Amselruf, lebte der Freiherr Amadeus sein ganzes gesegnetes und schmerzensreiches Leben noch einmal wie nach der Gnade einer Wiedergeburt. Die Menschen standen auf und die Dinge, die Worte und die Gebärden, der Flügelschlag jeder Stunde, der brausende Lauf jedes Jahres. Und im Bewußtsein des nahenden Todes war dieses zweite Leben in seiner nichts vergessenden Gedrängtheit von einer unendlichen Süße, war die unerwartete Gnade eines Geschenkes, das Nachkosten im Gewande eines leidenschaftlichen Träumers, war die Rückkehr in ein Paradies, an dessen Tor der Engel zur Seite trat, damit die Mahnung erlösche und die dunkle Straße ins Kommende.

In diesen Nächten war der Freiherr Amadeus in Wahrheit der Gottgeliebte, und jeden Morgen hob er die Stirn als ein Überwinder in den erwachenden Tag, bevor ihn der Schlaf aus Leben wie aus Erinnerung trug, als ein wahrer Bruder des Todes und als ein Gesandter der kommenden Dinge.

Und nach dieser Verbrennung des Lebens, aus der doch wieder ein Neues und Drittes auferstanden war, dem Gewesenen wie dem Seienden übergeordnet, blieben in den Händen des Freiherrn drei Bündel von Briefen liegen, die er dem Tode nicht überantwortet hatte und die wie Inseln in dem dunklen Meere leuchteten, zu dem der Fährmann ihn nun schweigend trieb.

Und dann packte er das Wenige, das er brauchte, und begab sich auf die Suche nach der Stätte, wo er sterben konnte, ohne zu sein wie ein Tier in der Dickung, weil diese Briefe von Händen geschrieben worden waren, die er geküßt hatte, nicht im Spiel, sondern in der Erschütterung, von Händen, die bis über den Tod hinaus geschworen hatten und von denen er nun wissen wollte, ob es wahr sei, was die Bibel sagte: »Und ihre Werke folgen ihnen nach.«

So verließ der Freiherr Amadeus, der Mann von vierzig Jahren, Heimat und Acker noch ungesäter Saat und begab sich auf die Fahrt um die Liebe, rückwärts in das Leben kehrend, weil ihm nicht Frist gegeben war, weder zu einer bleibenden Statt noch zu einer Stunde im Kommenden. Er vernahm den Klang der Schere, und er floh zu den Früchten vergangener Zeit, deren Dasein gewiß war und ohne Bedrohung, und um deren kühle Sicherheit er die Hände zu legen gedachte als um einen Trost und um ein letztes Abendmahl.

Drei Tage später, nach einer gemächlichen, mit leiser Wehmut gekosteten Reise, stand er am blühenden Ufer des Bodensees und sah nach den Bergen hinüber, die gleich der »goldenen Stadt« in die Abendsonne ragten, unerreichbar und dennoch beglückend allein durch ihr Dasein. Er saß im Garten seines Gasthofes, das grüne Wasser zu seinen Füßen, fütterte die Möwen und die Fische, und spielerisch, wie ein Kind, ließ er die Stunden aus seinen Händen fallen, gleich dem weißen Brot, das er verstreute, und das den Hungrigen zur Speise diente oder ungenossen in die grüne Tiefe des Wassers versank, ihn leise mahnend, daß er selbst gesättigt sei.

Um die Abendzeit erst wanderte er langsam das Ufer entlang, die beglückten Augen vom Rausch der Gärten zur stilleren Verheißung der Weinberge schweifen lassend, erfragte das Haus, das einem geachteten und geliebten Arzt gehörte, stieg langsam den schmalen Weg zwischen Kletterrosen in die Höhe, ab und zu sich wendend, da Land und Wasser mit jeder Stufe sich weiter und herrlicher vor seine Blicke hoben, und stand dann im duftgefüllten Garten unvermutet der Frau gegenüber, die er gesucht hatte und nach der seine leise Stimme gerufen hatte aus der großen Einsamkeit seines Sterbens.

Er wußte, daß er in diesem Augenblick nichts sehen durfte, sondern nur mit geschlossenen Augen die Woge fühlen mußte, die ihn zur rettenden Küste hob. Und dennoch sah er, sah mit unheimlicher Schärfe die Brücke über zehn verschollene Jahre sich spannen, eine lockere, schwankende, kaum zu betretende Brücke, sah das Erschrecken in den dunkeln Augen, das Zittern der Lippen, die das Wort »Schuld« formen wollten, und wußte, daß hier eine Flamme gelöscht worden war, an der seine kalt werdenden Hände sich hatten wärmen wollen.

Daß der Gang der Jahre Tropfen um Tropfen in die Glut geträufelt hatte, Tropfen der Reue und der Angst, der Pflicht und der Religion, der Buße und der Geißelung.

»Weshalb die Frauen in solchen Augenblicken nur immer die Hand aufs Herz legen müssen?« dachte er spöttisch, aber der Spott schmerzte ihn, und er blickte traurig suchend in die Augen, die sich nun langsam mit Tränen füllten.

Ja, da war ein Stück seines Lebens, und zwar ein unwiederbringliches, die Stunde der ersten Begegnung, die Wochen des zarten und süßen Spieles, die Monate überquellender und beseligender Erfüllung, der Hauch des ersten Welkens, die Bitterkeit ihrer ersten Reue – sie war bereits die Verlobte dieses anderen, als das alles in ihr Leben hineingestürzt war –, das Abendrot und die Nacht der Trennung. Und da war, tiefer und bleibender nachleuchtend, das aus dieser Liebe Geborene, die Lieder, die Nachtmusik und die Promethiden-Symphonie. Und während seine Blicke jeder Linie ihres Gesichtes nachtasteten, dieses herben, schweren und leidenschaftlichen Gesichtes, hoben die Melodien jener Schöpfungen sich aus den Abgründen der Erinnerung, gleich den Gesichtern gestorbener Kinder, blaß und süß im Schmerz ihres jungen Todes, und das geklärte Leid um ihr Gewesensein war so außer allem Menschenleid, daß der Lauschende tiefer als in der Entrückung alles Schaffens den Hauch der Unsterblichkeit ihn durchdringen fühlte und lächelnd mit der Hand über die Stirne glitt, als solle der Schmerz der Dornen nicht etwa gemildert werden mit dieser Bewegung, sondern als solle sie nur ein tiefer sich bewußt werden jenes Opfers vermitteln, das in allem Genießen und Entsagen des schöpferischen Menschen liege, der sein Blut verströme in Liebe und Schmerz, um sein Werk daraus zu bilden und nichts außer seinem Werke.

»Vergib, daß ich gekommen bin,« sagte er erschüttert, »aber ich hatte vergessen, daß wir Menschen sind ...«

»Kamst du, um zu mahnen?« fragte sie.

Er lächelte, und sie fühlte, wie sein Lächeln gleichsam über sie hinwegging.

»Nein, Veronika,« erwiderte er, »ich wollte nichts als etwas Wärme der Erinnerung ... eine Art Abendrot wollte ich, nichts mehr, weil der Tag sich neigen will.«

Sie lauschte mit seitwärts geneigtem Haupt, wie sie ehemals seinen Melodien zu lauschen pflegte, mit der grüblerischen Versunkenheit ihres Wesens, das immer einer Saite glich, die über einem Abgrund bebte.

Nun erst reichte sie ihm die Hand. »Ich erschrak,« sagte sie, »weil ich immer noch feige bin. Aber es ist gut, daß du gekommen bist, weil du nun das Letzte von mir nehmen wirst ... er weiß alles, schon lange ... und nun wird er dich sehen und ... mir ganz verzeihen.«

Sie zog ihn, der widerstrebte, in das Haus, und als fühlte sie seine Bereitschaft zur Flucht, rief sie laut und fast jubelnd den Namen ihres Gatten, und dem Freiherrn war es in jäher Bestürzung, als halle er von allen Bergen wider, sich vervielfachend im erbarmungslosen Echo, und als habe er vor ein Gericht zu treten statt in die duftende Dämmerung einer Kapelle, auf deren Schwelle in verwischten Zügen das Wort des Heils eingegraben stände: in memoriam.

Der Gerufene erschien, ein wenig alternd, ein wenig müde, erfuhr unvermittelt, wer der Gast sei, blickte ihn prüfend an, auf die Erkenntnis dieses Gesichtes mehr bedacht als auf die gesellschaftliche Rettung einer peinlichen Situation, reichte ihm dann die Hand und sagte, ohne nach Worten zu suchen, es sei schön, daß der Freiherr den Mut habe, den die Menschen so selten hätten, und daß er sehen werde, daß auch sie beide, Veronika und er – er sagte »Veronika«, nicht »meine Frau«, – das seien, woran der Gast vielleicht ein wenig gezweifelt habe.

Der Freiherr sah, daß keine Falte sich zu diesen Worten in die klare Stirn des Arztes grub, weder des Unmutes noch der Befürchtung, und er wandte sich, seltsam genug, zu Frau Veronika, deren Blicke zwischen den beiden Männern hin und her geglitten waren, küßte ihre Hand und sagte: »Ich danke Ihnen.«

Und danach saßen sie zusammen wie drei Menschen, die ein schweres, aber gerechtes und klares Schicksal in seinen Ring geschlossen hat, so daß jeder vom anderen ohne Bedrückung weiß, was sonst Menschen voreinander verbergen, weil sie eine Schwelle errichten zwischen sich und dem Vergangenen, auf der die Scham trauert oder der Haß.

Die Stunden gingen über den Freiherrn wie ein schwerer Traum. Nichts Grauenvolles erstand unter seinen dunkeln Flügeln, nicht einmal Böses, aber der Freiherr wußte, daß er ein Gast war, und er erinnerte sich, daß er gekommen war, um zu sterben. Ja, der Tod war. Ob man seiner vergessen wollte oder nicht: dort hinter dem mondbeglänzten Wasser, an jenem Ufer oder schon an diesem, unter den Platanen des Gartens vielleicht, dort war der Tod. Er aber sprach vom Leben, als sei es ein Besitz in geballter Hand, in seinen Augen spiegelte sich das Licht der Kerzen, seine Hand hob das Kelchglas mit dem dunklen Wein, und seine vermessenen Lippen sprachen von der Zukunft wie von dem Schlag seines Herzens oder den Sternen über dem See.

Das Mädchen brachte die Kinder zum Gutenachtsagen auf die Terrasse heraus, zwei Knaben, dunkel und ernst und ihrer Mutter sehr ähnlich, und des Freiherrn Augen gingen von ihrer strengen Stirn zu der sich plötzlich beschattenden der Mutter. Ihre Augen trafen einander, und er wußte in der jähen Helligkeit des Ausgestoßenen, daß sie beide der Nächte gedachten, in denen ihre Schwüre des Todes gespottet hatten, und daß das Vergangene nun hart und ohne Beschönigung die Waage über ihnen erhob. Aber er wußte auch, daß die Frau ihre Hände hingeben würde, um auszulöschen, was er segnete. Er sah sie sich falten und verstohlen ineinanderpressen, während sie den Kindern ein unbefangenes Wort nachrief, und seine Augen hafteten auf dieser Gebärde, als breche sie den Stab über der Hoffnung eines Toren und dem Glauben an eine Begnadigung.

Dann sprach der Arzt von den Schmerzen, in die sein Beruf ihn hineinsehen lasse, und aus seinen Erzählungen stieg langsam und fast unmerklich die zarte Absicht eines Trostes und die Weisheit eines Wissenden, dessen Hand die Schmerzen tastend fühlt, ohne sie lindern zu können.

Frau Veronika schwieg, die beschatteten Augen in die Nacht gerichtet. Zuzeiten unterbrach die leise Stimme des Freiherrn mit anteilnehmender Frage die Worte des Arztes, und einmal, wie immer häufiger in den letzten Wochen, geschah es, daß die schmerzende Stimme versagte, aussetzte, und ein ohnmächtiges Flüstern das begonnene Wort vollendete.

Der Arzt richtete einen forschenden Blick in das verstörte Gesicht des Gastes.

»Sie sollten einen Spezialisten aufsuchen,« sagte er freundlich, »mir scheint, da ist etwas nicht ganz in Ordnung ...«

Der Freiherr sah ihn an, ohne zu antworten, und in diesem schweigenden Blick lagen die Erkenntnis und die Gewißheit des Todes so unverhüllt, lag die schmerzenvolle Bedeutung dieses Besuches so hilflos geoffenbart, daß der Arzt sich verfärbte und seine Hand sich unbewußt auf das weiße Tischtuch legte, als sollte sie tröstend die Hand eines Sterbenden umfassen.

Doch winkte der Freiherr nur unmerklich und mahnend mit den Augen zu Frau Veronika, die nichts vernommen zu haben schien und deren herbes Profil so unbewegt wie vorher gegen die dunkle Wand des Nachthimmels leuchtete, mit einer leisen Gebeugtheit der Nackenlinie, als trage sie schwerer als bisher, aber als sei dieses Schwere eine Last der Buße und der Beichte, an deren Ende schon die Gnade stehe.

Dann bat der Freiherr, ob er etwas spielen dürfe.

Als er vor der Schwärze des geöffneten Flügels saß, schienen Zwang und Kraft der Offenbarung sich ihm unvermittelt zu wandeln und aus der schmerzenden Stimme, jener mahnenden Quelle des Todes, in die kühle Beherrschtheit seiner Hände zu gleiten, so daß nun in machtvoller Meisterung erklingen konnte, was sonst zu ohnmächtigem Lied erniedrigt war. Er wußte nach den ersten suchenden Klängen nicht mehr, was ihn dazu trieb, Knospe, Blüte und das Sterben dieser Liebe noch einmal darzustellen. Er wußte, daß keine Melodie jener Schöpfungen aus dem Blute dieser Frau sich verloren hatte, die nun in unausdenkbarer Qual dort unter den Bergen saß und die Schauer aller Empfängnis, aller Geburt und alles Sterbens noch einmal erlitt. Er wußte nicht, daß er grausam war über alles Menschenmaß, daß er die letzten Geheimnisse aus der Gnade der bergenden Nächte riß und sie ohne Scham und Verhüllung in das Licht des Wissens hob, unter fremde Augen, unter fremde Hände, daß die Wände stürzten, die um die Nächte ihrer Liebe gestanden hatten, und daß er die Lampe hob über dem heiligsten Geheimnis des Lebens.

Er wußte nichts, als daß er noch einmal lebte. Was den anderen nichts als Erinnerung war, vor geschlossenen Augen leuchtend, war unter seinen Händen Ewigkeit geworden, gestaltete Form und gehärtetes Blut. Er hatte den Fluß der Träume geballt, das Wasser blieb in seiner Hand, und ob er auch starb und sein Wesen und Dasein zerfiel: hier war das Unvergängliche, dem Griff alles Todes entzogen, und die Schauer der Ewigkeit standen um ihn im dunkelnden Raum.

Und als nach den letzten Klängen des Promethidenlebens seine suchenden Hände nach jener Melodie tasteten, die um das Abendrot zu ihm kommen wollte, wenn er auf den Brücken über den Strömen stand, jener dunklen und klagenden, die aus den gebogenen Holzinstrumenten kam, und die immer kampfloser und ergebener aus dem Dunkel tauchte, je mehr die Schnur seiner Tage sich verkürzte, war ihm, als werde ihm beschieden sein, auch dieses Letzte seines Lebens zu gestalten, bevor der Pfeil in seine Sehnen schnitt, als werde er ein Meister der Verklärung sein können, wie er ein Meister des Lebens und Sterbens gewesen sei, und seine Hände endeten im Frieden, weil seine Seele im Frieden war.

Als er wieder auf die Terrasse hinaustrat, schien es, als habe er die Menschen vergessen, für die er gespielt. Er nahm ohne Freude und Widerrede an, daß man ihn noch den Berg hinunterbegleiten wollte, und so gingen sie schweigend unter den hohen Sternen zu Tal, während die Kerzen des Hauses ihnen nachleuchteten im windlosen Frieden der Nacht.

An einer Bank, bei der ersten Biegung des Weges, nahm der Arzt Abschied von seinem Gast. Er wolle noch ein wenig hier sitzen. Veronika werde den Freiherrn wohl noch ein wenig tiefer ins Tal geleiten wollen und er werde hier auf sie warten und den Melodien lauschen, die er eben vernommen. Es lag vielleicht kein verborgener Sinn in seinen Worten, aber der Freiherr fühlte im Dunkeln jenen erschreckten Blick des Wissenden auf sich ruhen und erwiderte nur ohne ein Wort den Druck der festen, kühlen Hand.

Sie sprachen nicht, bis sie am Ufer des Sees standen. Der Freiherr sah den Berg hinauf, von dem das Licht der Kerzen auf der Terrasse gleich einem fernen Stern herunterschimmerte, und der Anblick dieses Lichtes in der Finsternis ergriff ihn so, daß ein leiser Laut des Schmerzes aus seinen geschlossenen Lippen drang. Und als hätte dieser Laut das Schweigen jäh entsiegelt, griff Frau Veronika mit beiden Händen nach seinem Arm, und während ihr Gesicht sich wie im Schauder der Erkenntnis zurückbeugte, flüsterte sie mit der Inbrunst einer Verstörten: »Geh fort, Amadeus! Bitte geh fort und komme nie mehr wieder, hörst du? Nie mehr, auch nach deinem Tode nicht!«

Er blickte immer noch zu dem Stern empor. »So schnell versinkt der Mensch,« dachte er. »So schnell ... aber ihre Werke folgen ihnen nach ... so war es wohl anders gemeint ... nicht die Liebe war es, sondern die Frucht der Liebe ... die Blüte vergeht, aber die Frucht folgt mir nach ...« Und es war ihm weh und selig zugleich bei dieser Erkenntnis.

»Ich komme nie mehr wieder,« sagte er leise. »Nur was ich gespielt habe, das wird ewig um dich sein, und ich habe keine Macht darüber ... leb' wohl!«

Und er wandte sich, ohne von seinem Tode gesprochen zu haben und ohne sie geküßt zu haben, mit einem schmerzlichen Lächeln, das ganz einsam in seinem Gesicht stand, und ging den See entlang nach seinem Gasthof und verbrachte die Nacht mit wachen Augen und erfuhr als ein leise Gewandelter den nächsten Morgen.

Er verbrannte ihre Briefe, legte die zu langem Verbleiben ausgepackten Dinge wieder in seinen Koffer und war um die Mitternacht schon in der mitteldeutschen Residenz, wo er einige Jahre seines Studiums verlebt hatte und wo er zum zweitenmal, wiewohl bescheidener und gleichsam gefaßter, an die Tür der letzten Kammer pochen wollte.

Und es schien, als wollte sie sich mit einem Glanz und einer Bereitwilligkeit öffnen, die für die empfindlichen Augen des Freiherrn erschreckender waren als der dumpfe Widerstand, der ihn soeben am Bekenntnis verhindert hatte, daß er gekommen sei, um nicht einem Tiere gleich zu sterben. Denn Frau Beate, die »Blühende« aus der Sprache seiner Vergangenheit, lag in seinen Armen, sobald er in ihr Zimmer geführt worden war, überschüttete lachend und weinend seine erschütterte Seele mit den unvergessenen Schmeichelworten ihrer vergangenen Liebe, wie sie sein erschüttertes Antlitz mit Küssen bedeckte, und war wie ein Mensch, den ein herbes Schicksal in einen Kerker gesperrt und der sein Leben und Sprechen und Sein an dieselben Fäden knüpft, von denen man ihn erbarmungslos gerissen, um die Türe hinter ihm zu schließen. Ihre blonde, ein wenig zu weiche Schönheit erblühte aus einer blassen Welkheit mit einer Glut, vor der der Freiherr erbebte, weil er als ein leise Scheidender in die Stille eines Friedhofs hatte kommen wollen und ihm nun war, als sprängen die Gräber auf und als rissen die Toten oder Totgeglaubten ihn in einen berauschenden Tanz, der doch still vor den Hügeln hatte sitzen wollen, zur letzten Reise bereit gleich ihnen, die ihm vorangegangen waren.

»Beate,« sagte er mühsam, »hast du nicht vergessen?«

»Nie!« flüsterte sie leidenschaftlich. »Nie werde ich vergessen. Bei dir war das Paradies, und sie haben mich verstoßen. Aber nie werde ich das Paradies vergessen ... ach, Amadeus, mein Geliebter ...«

Der Freiherr saß in dem Sessel, zu dem sie ihn geführt hatte, glitt mit seinen zitternden Händen über ihren Kopf, der auf seinen Knien lag und sah über die Rosen des Gartens auf den großen Strom, der zwischen begrünten Hügeln in den Abend glitt. »Hier also wird es sein,« dachte er in müdem Ergriffensein, und er sah sich, einen seltsamen Doppelgänger, auf der Brücke stehen, deren eiserne Bögen in das Gold des Unterganges schnitten, und jener Melodie lauschen, die wie ein letzter Kranz auf seinen Hügel sich senkte. Und er sah das Haupt des Lauschenden sich lautlos neigen, immer gespannter, immer gequälter, aber es zerrann vor seinem Lauschen, und die abendliche Flöte erstarb. »Hier also wird es sein?« wiederholte er, fragend diesmal, und ein leiser Unglaube erfüllte seine Frage. Inmitten des Glanzes und der Bereitwilligkeit stockte sein Fuß, an der Schwelle des Wunders erbebte sein Glaube, und laut und unvermittelt sagte er in das erschöpfte Schweigen: »Die Menschen wissen nichts vom Tode ...«

Auf ihre erschreckte Frage lächelte er begütigend, fragte dann teilnehmend und schonend nach ihrem Leben, erfuhr, daß sie in unglücklicher Ehe lebe, nicht erfüllt vom Dasein eines Kindes, erriet, daß sie Trost in mancherlei Hingabe an Menschen und Dinge gesucht und ab und zu gefunden habe, und daß sie oft bedauert haben mochte, die damalige Ärmlichkeit seines Daseins um äußeren Glanzes willen verlassen zu haben, ohne doch wohl die letzte Kraft zu besitzen, das Spiel des Lebens auf die Karte einer einzigen Leidenschaft zu setzen: daß sie ein Bettler und Spieler aus Not und Laune zu sein vermochte, aber nicht ein Bettler und Spieler aus Sehnsucht und Leidenschaft, weil sie den Schlüssel nicht aus der Hand geben mochte, der in den Frieden des Besitzes zurückführte, dessen Schalheit sie zuzeiten verließ.

Ein wenig später standen sie, auf des Freiherrn Bitte, auf der Brühlschen Terrasse, Arm in Arm, und sahen über den verglühenden Strom, während das Lachen und Plaudern der Menge wie ein blühender Duft aus den warmen Steinen stieg.

»Ach, Amadeus,« flüsterte sie, »fühlst du, wie herrlich das Leben ist, wenn Gott uns anrührt?«

Er kehrte ganz langsam aus den Klängen des Abends zurück und blickte zu ihren leuchtenden Augen nieder. »Du möchtest nicht sterben?« fragte er ernst.

»Amadeus! Wie kannst du vom Tode sprechen, wo du gekommen bist, damit wir leben?«

»Und doch,« sagte er sehr langsam, »rührt Gott uns nur an, damit wir sterben.«

Er sah ihre Augen scheu werden wie Augen eines Vogels vor einer Mauer, lächelte wie über seine eigene Torheit und bat, nun wieder zu ihrem Hause zurückkehren zu dürfen.

Das Essen war ein wenig zu feierlich, die Gespräche ein wenig zu ernst, das Schweigen bedeutsamer und gleichsam drohender, als es an Frau Beatens Tisch hätte sein dürfen. Ihre Augen glitten nun mitunter über sein Gesicht, als suchten sie nach Verborgenem und als fürchteten sie doch, es zu finden.

»Du bist so anders, Amadeus,« sagte sie einmal, und es war, als wollten Tränen in ihre Augen steigen. Aber er spielte nur lächelnd mit ihrer Hand.

Als sie die Gläser zum letztenmal füllte, sagte er, das seine hebend: »Wir wollen auf das Gewesene anstoßen, Beate, daß es schön war wie du und dein Name, und kein Tod es anrühre bis in alle Ewigkeit ...«

Sie weinte nun wirklich, und mit tiefer Zärtlichkeit sagte er ihr, daß sie ihre eigenen Tränen trinke.

Darauf setzte er sich an den Flügel, und von allen Klängen jener Zeit spielte er nichts als den »Beate-Walzer«. Er spielte ihn zweimal, das zweitemal ihn auf eine fast schauerliche Weise in Moll verwandelnd, immer leiser, bis er wie ein Abschied verklang.

»Du kommst nicht wieder, Amadeus,« schluchzte sie mit gerungenen Händen.

»Ich wäre geblieben,« erwiderte er, die Hände noch auf den Tasten, »wenn du einen Raum gehabt hättest, wo ich sterben könnte. Aber du hast nur Räume, wo man leben kann ... Du bist zur Freude geschaffen, Beate, und dich graut vor dem Tode ... aber sieh, mich hat Gott angerührt ...«

Sie warf sich an seine Brust, und er fühlte, wie ihre Schultern bebten. »Ich bin dein eigen,« flüsterte sie außer sich. »Willst du es vergessen?«

»Ich vergesse es nicht, Beate, aber ich bin eines anderen eigen, verstehst du? An deiner Brust muß man blühen, das ist es ... man darf nicht welken an deiner Brust.«

»Was ist mit dir, Amadeus?«

»Ich habe dir gesagt, daß Gott mich angerührt hat, und du mußt mich nun zu ihm gehen lassen, nachdem deine Lippen mich geküßt haben.«

»Früher ... früher wärest du zu mir gegangen statt zu Gott ...«

»Nur Gott nimmt die Aussätzigen an, Beate, nicht der Mensch. Den Menschen schaudert, wie dich eben schaudert.«

Sie versuchte zu lächeln, aber ihr Lächeln war wie eine Gebärde des Grauens im Gesicht einer Maske.

Als der Freiherr in dieser Nacht das zweite Bündel der Briefe verbrannte, zitterten seine Hände ein wenig wie die eines Todspielers, der nun die Würfel zum letzten Male ergreift, und seine Augen ruhten mit einer langen Frage auf den Blättern, die ihm nun verblieben und deren stolze Handschrift über sein Sterben hinwegzugleiten schien wie über den Staub einer Straße.

Am Morgen stand er vor dem Fahrkartenschalter, nannte den Namen jener letzten Station auf seiner Kalvarienreise, widerrief ihn wieder in jäher Angst und beschloß endlich, sich eine Frist der Gnade zu vergönnen und für ein paar Wochen ans Meer zu gehen, wo er einen Sommer des erschütterten Lebens mit ihr verlebt hatte, deren Briefe er nun als ein letztes Amulett auf seinem Herzen trug. Es war ihm, als der Zug ihn nach Nordosten trug, als dürfe er nun noch für einige Zeit im Vorhofe weilen, bevor er an die letzte Tür zu klopfen habe, und als sei dieser Vorhof gnadenvoll erfüllt von dem Nachklang jener Verheißung, die er dort einstmals erfahren, als die Felder des Lebens noch unendlich waren und der Klang der Sense nichts war als eine Melodie wie andere Melodien, erfunden und geformt, um mit der Macht der Töne jenes Unendliche zu gestalten, an dessen Saum die Hand des Künstlers tastet.

Und als er um die Abendzeit des nächsten Tages den Zug verließ und zwischen rötlich beglänzten Feldern die Straße zu der Höhe hinaufschritt, von der man Meer und Haff in den Frieden sich breiten sah, als die klare Ewigkeit des Horizontes die Schale begrenzte, in deren Rund die Werke Gottes zu liegen schienen wie am ersten Tag, von seiner Saat erfüllt wie von der Verheißung seines ersten Bundes, von seinen Abendwolken feierlich überzogen, da schien die dunkle Tür dem Freiherrn zum ersten Male wie eine Tür in einen Morgen und das Sterben eines blühenden Lebens ihm heiter und barmherzig wie das Sterben eines Kindes. »Durch soviel Angst und Grauen,« sprachen seine lächelnden Lippen. »Durch soviel Angst und Grauen ... und sollte doch alles so einfach und so schweigend sein wie dieses hier ...« Und er wußte, daß er recht getan hatte, bei den Werken Gottes einzukehren, bevor er noch einmal zu den Menschen ging.

In diesen Wochen des ruhigen Verweilens zur Seite des steil sich neigenden Weges, in deren jeder Stunde Vergangenheit und Zukunft ihre Wurzeln zusammenflochten, legte der Freiherr die letzte reife Hand an das Unvollendete seines Lebens wie seiner Werke. Er hatte seinen Flügel kommen lassen, wie ein anderer seine Angehörigen rufen läßt oder den Diener Gottes. Wenn er den Kopf zur Seite wendete, sah er durch die geöffneten Türen über den Rand des schmalen Balkons die Wipfel der vier Tannen sich erheben, die den Park gleich einer Verkündigung überstiegen, und dahinter einen Streifen des Meeres und die unerhörte Bläue des Himmels. Die Amseln riefen im Park wie damals, als er mit Margarete hier gestanden hatte und die Sommergewitter über die Wipfel niederbrachen, als das Meer die hellen Nächte durchbrauste und die Melodie des Adagios bei ihm einkehrte aus jenem ersten Streichquartett, das er das Syringenquartett genannt hatte. »Nicht sie sind unsterblich geworden durch mich,« dachte er, jener Frauen gedenkend, »sondern ich werde unsterblich sein durch sie.« Und zu den reifenden Früchten dieser Monate gesellte sich als die reifste ein tiefes Dankbarsein, beglückend im Nachblühen der Erinnerung und in der erlösenden Befreiung von der Selbstsucht der Wünsche und jeder habsüchtigen Bindung an das vergleitende Leben.

Um die Abendstunde schloß er dann den Flügel und ging langsam durch die sich beschattenden Wälder dem Meere zu. Zwischen den Buchenstämmen lag schon das Dunkel, und der Kauz rief aus den Wipfeln, aber zur Linken stand das Abendrot noch tröstend über der vergehenden Welt, und die Brandung erfüllte die lauschenden Räume, als spreche Gottes Stimme mit sich selbst in Ewigkeit. Dann stand er auf dem hohen Ufer, und vor seinen Füßen breitete sich das Unendliche, als brauchte er nur die Arme zu heben und sich hineinzustürzen, wie ein Vogel sich in die Wälder der Heimat stürzt. Dann fiel von seinen Schultern, was nur von den Schultern der Greise zu fallen pflegt: die Schmerzen und Wünsche der Unvollendeten. In einem dunklen Hause stieß man die Fenster auf, von einem ewigen Kerker nahm man die Gitter. Auf der letzten Klippe, nur schaudernd geahnt und erstiegen, hob der Leib sich auf, und im Augenblick des Sturzes, wo die Tiefe ihre Arme hob, geschah das nicht Gewußte, daß die Hand, in die Leere des Todes tastend, an eines anderen Hand stieß, die sich erbarmend neigte, daß die Welt zerfiel und das neue Reich begann.

Und hier war es auch, wo der Freiherr wußte, daß an einem solchen Abend jene Melodie in seine Seele treten würde wie ein letzter Gast in ein dunkelndes Haus. Jene Melodie, die der Zeuge der Vollendung sein würde, weil in ihr nicht Abglanz sein würde und nicht Wiederholung, sondern die Klänge des neuen Reiches, weil in ihr nicht die Offenbarung des Lebens sein würde, nur tausendfach gewandelt, sondern das Letzte menschlicher Kunst: die Offenbarung des Todes.

Und der Freiherr ging langsam heim, am Rande des Meeres, legte ein Notenblatt auf seinen Flügel und schrieb mit großen, gleichsam glücklichen Buchstaben »Messe in a-moll«. Und während er auf die langsam trocknende Schrift niederblickte, war es ihm, als erstarre das Flüchtige und noch zu Verwischende nun unaufhaltsam zum Ewigen, den Händen menschlicher Schöpfung schon entgleitend und bereits in Gottes Hände sich legend. »Hier dürfen keine Vorzeichen stehen,« dachte er, von allen Zweifeln befreit, »denn an diesem Wege stehen keine Zeichen ...«

Als die Schwalben sich sammelten und der dumpfe Schmerz des Leibes sich verstärkte, glaubte der Freiherr, daß es nun an der Zeit sei, wie ein demütiger Wanderer noch einmal bei den Menschen anzuklopfen, damit man wisse, ob man unter den Sternen schlafen werde oder an der Flamme eines Herdes. Aber die Furcht war nun erloschen wie das Begehren. Wohl würde eine kühlere Einsamkeit sein unter den Sternen und nur die Tiere würden gleich ihm dort schlafen, ausgeschlossen von der Wärme eines Herdes, aber in beiden war das Licht, das auf den Morgen wartete, und er wußte, daß das Licht nicht aus der Welt zu löschen war.

Am letzten Abend ging er nach der Schonung, die er bisher wiederzusehen vermieden hatte. Er fand den Horst junger Douglastannen und jene Stelle, wo er ihr gesagt hatte, daß er sie verlassen müsse. Er stand dort, den Hut in der Hand, im leise fallenden Regen, und ein schwerer Schmerz stieg unvermutet in alle Kammern seiner Seele. Sie war die einzige gewesen, die er gewaltsam aus seinem Leben gestoßen hatte, weil ihre Liebe ihn so durchglühte, daß er die Blüte seiner Kunst darin verbrennen fühlte. Er hatte das Quartett geschrieben und nicht eine einzige Note darüber, und seine Seele ertrank so tief in dem Blute dieser Frau, daß alle Wände sich verdunkelten, auf die das Bild der Schöpfung hätte geworfen werden müssen. Und in der wilden Angst des Verblutenden hatte er die Hände von ihr gelöst und sie um die verströmenden Adern seines eigenen Lebens gepreßt. Sie hatte dagestanden, mit großen, erschreckten Augen in ihrem weißen Gesicht. » Du mußt aufsteigen, Amadeus,« hatte sie gesagt, »aufsteigen wie ein Adler ... Das sollte ich nie vergessen ... sieh ein wenig zur Seite, daß ich schnell fortgehen kann ... nur das tu mir zuliebe, daß es nicht so furchtbar schwer ist.« Und dann war sie gegangen.

Der Regen fiel stärker. Kein Vogel sang mehr, nur das Meer brauste an den Rand der Wälder. Und der Freiherr wußte nun, daß es gut gewesen war, die Gnade nicht dort gefunden zu haben, wo er beglückt hatte und gleichsam als ein Fordernder kam, sondern daß er sie nur finden konnte, wo er gesündigt hatte und als ein Büßender kam. Und in seinen dunklen Heimweg fiel das tröstende Licht der Erkenntnis, daß es schön sei, gefehlt zu haben, schöner als ohne Fehl zu sein, daß das Knien besser sei als das Aufgehobenwerden zu Gott, daß die Beichte seliger sei als die Lossprechung, und daß eines Menschen Abend beglückender sei, wenn er eine Last von den Schultern lege, als wenn er nichts weiter zu tun habe als einen Stab an eine Bank zu lehnen und seine reinen Hände zu falten.

Gegen Abend traf er in der kleinen Provinzstadt ein. Er ließ sein Gepäck auf dem Bahnhof und ging langsam durch die Straßen, in denen das Gras wuchs. Die letzte Sonne lag über den Dächern, die kleinen Gärten brannten mit den Flammenbündeln der Dahlien und des Herbstflieders, die Kinder lärmten gleich den Vögeln in ihrer Abendseligkeit, und dem Freiherrn war es, als sei der morgige Tag ein Sonntag und als müsse es jeden Abend hier so sein. Selbst das ewige Nagen des Schmerzes schien hier leiser geworden, und im immer wachsenden Beglücktsein schritt er tiefer und tiefer in den Frieden hinein, als könne diese Stadt nie aufhören und dieser Abend nicht, hinter dem der Morgen unwirklich war und alle Zukunft ein verschollenes Wort.

Er kam ohne zu fragen nach der Gärtnerei am Ufer des Sees und stand nun doch eine lange Zeit vor dem Tor. Rot und verschwenderisch hing der wilde Wein über die Sprossen des hohen Zauns, und der Freiherr mußte die Ranken leise zur Seite schieben, um die weiße Tafel lesen zu können: »Frau Margarete Rosendahl – Blumen- und Landschaftsgärtnerei«. Margarete Rosendahl ... es war ihr Mädchenname, und er wußte, daß sie nach der Trennung von ihm ihre Ehe gelöst hatte, als dürfe nun keines Mannes Hand mehr an ihre verstoßene Schönheit rühren. Er hatte es gewußt, und doch war ihm nun, als wachse seine Schuld ins Ungemessene. Er blickte die Straße zurück und dann nach den Wäldern am anderen Ufer hinüber, wie ein Verfolgter, dem die Wege versperrt sind, und dann wußte er, daß er hier hineingehen und um sein Leben bitten müsse.

Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, stand er geblendet, so brannte das Blühen der schweigenden Erde ihm entgegen. Der Gang vor ihm, von weinroten Dahlien gesäumt, schien in die Unendlichkeit zu laufen, Häuser und Schuppen verschwanden im brennenden Laub des Weines, und was der trunkene Blick erfassen konnte, war nicht Form, nicht Linie und Gestalt, sondern die flammende Vergeudung einer Erde, die im Opfer zu verglühen schien, schweigend und fast hilflos das tausendfältige Antlitz nach der letzten Sonne wendend, in der stummen Inbrunst wortloser Sprache, die hinter die endlichen Dinge greift.

Aber über der brennenden Offenbarung stand das Tönen jenes Schweigens, das tiefer ist als Andacht und selbst Schlaf des Menschen, jenes Schweigen, das dem Stein und der Pflanze zugehört, in denen Gottes Atem steigt und fällt, von Wort und Gebärde nicht entstellt, und in dem doch das Ewige tiefer beschlossen ist als in der Glut des Gebetes oder im Lächeln des Kreuzestodes. Und in dem Tönen dieses Schweigens erschien plötzlich wie ein tiefvioletter Bogen die dunkle Abendmelodie, nach der der Freiherr vergeblich die Arme gehoben hatte, erschien in so leuchtender Klarheit, als schriebe eine unsichtbare Hand sie an den verglühenden Himmel, war der Süße, des Ernstes und aller Überwindung so voll, war dem tiefsten Leben und dem lächelndsten Tode so gleichermaßen zugehörig, war so sehr der eine und einzige Ausdruck des allein in das Antlitz des Todes zu Sprechenden, daß der Freiherr die Hände vor seiner Brust faltete und die Stirne neigte, weil er fühlte, daß Gottes Finger den Kranz des Sieges um sie flochten.

»Was tust du, Amadeus?« flüsterte Margarete, als er ihre Knie umfing und sein erschüttertes Antlitz in ihrem Schoße lag. »Was tust du denn? Du darfst das nicht tun, hörst du?«

»Ich wollte dich fragen,« erwiderte er, »ob ich bei dir sterben darf, aber ich brauche es nun nicht mehr zu fragen ... ich weiß nun alles ... als ich das Tor öffnete, war es geschehen.«

»Mein Kind,« sagte sie mit unendlicher Zartheit, »mein geliebtes Kind ... selbst dein Tod ist eine Gnade, wenn ich deine Hand halten darf ... komm nun in deinen Frieden.«

Er hob sein Gesicht zu ihr auf, dicht vor die beiden Schmerzenslinien ihres Mundes. Alles Kindliche ihrer Züge schien ihm noch kindlicher geworden, alles Klare und Tapfere noch klarer und tapferer. Aus diesem Gesicht war das Höchste geworden, was ihm zu werden gegeben war. Es mochte schönere geben, aber keine, die vollkommener gewesen wären, wie die Vollkommenheit des Baumes nicht größer ist als die des Mooses an seinem Fuße. »Kleine Amsel,« sagte er mit seiner gebrochenen Stimme. »Einst verstieß ich dich um des Werdens willen, und nun, als ich in deinen Garten trat, vernahm ich das, was größer sein wird und wonach ich gesucht habe mein Leben lang: Agnus Dei, dona nobis pacem ... und die Menschen werden weinen über diese Melodie ...«

Sie lächelte zu ihm nieder. »Sieben Jahre hat der Garten getragen daran, Amadeus, und kein Fußbreit ist ohne meine Tränen geblieben. Nun lege deine Hand um seine Frucht und nimm dein Eigentum.«

Es war nichts weiter zu besprechen oder zu verbergen zwischen ihnen. Es war nur, als sei über Nacht eine neue Blume in Margaretens Garten erblüht, und wenn sie um die Morgenstunde in das Gartenhaus trat, in dem der Freiherr lebte, glitten ihre Hände ebenso zart und behutsam um sein Dasein wie um das schweigende Leben ihrer Blumen, von denen sie eben kam und zu deren geliebtester sie eben zu treten schien.

Der Flügel kam an, und die Kinder der Stadt erzählten sich, in der Gärtnerei sei nun ein Zauberer eingekehrt und um die Mittagsstunde, wenn die Tiere schliefen, müsse man schweigend am Zaun stehen. Dann begännen die Blumen zu singen, während die Sonne in ihre blühenden Herzen schiene, und das Harz fließe tönend von den alten Bäumen, die Geschöpfe der Tiefe flögen aus ihren Höhlungen zu den Gängen des Gartens empor und alle Kreatur singe leise zu Christo empor, und es klänge fern und unsäglich traurig wie der Gesang der Kinder aus dem Berge, vor den der Rattenfänger den ewigen Riegel gestoßen.

Die Erwachsenen sagten es anders, aber keines Wortes Spott oder Schmähung hob sich gegen das Paar, das um die Abendzeit am See zu treffen war und das anzusehen war, als führe ein früh vollendetes Kind einen Blinden, oder als strahle von beider Stirn der Widerschein einer Krone, die Gott den Gekreuzigten gibt, weil sie wissen, daß sie am Abend im Paradiese sein werden.

Das Werk des Freiherrn wuchs wie die Früchte des Gartens. Er hörte sie in den stillen Nächten auf den Boden klopfen, wenn er schlaflos in Schmerzen lag, wie eine leise Mahnung, daß es Zeit sei. Er bewegte die Lippen, leise, als könnte man es selbst im Dunklen sehen, noch einmal und immer wieder, bis er es fühlte mit schrecklicher Deutlichkeit und Gewißheit: den leisen, nie mehr weichenden Geschmack von etwas Bitterem und Wesenlosem, den Geruch von etwas Welkendem, dicht an der Grenze beginnender Verwesung, die Wolke des Todes, die den Kommenden verkündete. Und seine Hand tastete nach dem flachen Fläschchen auf seiner Brust.

Von nun an wendete er sein Gesicht zur Seite, wenn Margarete ihn morgens und zur Gutenacht küßte, daß ihre Lippen seine Wange streiften, und hielt den Atem an wie vor der Kostbarkeit eines Schmuckes, daß er nicht erblinde. Ihre klaren Augen, erschreckt wie die eines geschlagenen Kindes, blickten fragend in ihn hinein, aber er antwortete nicht.

»Wenn ich ein Aussätziger wäre,« sagte er plötzlich auf einem ihrer Abendwege, »und meine Schwären würden die Luft vergiften, würdest du mich aus deinem Garten verstoßen?«

Sie griff mit beiden Händen in den Mantel über seiner Brust, daß es ihn schmerzte. Er sah finster auf sie nieder, und die Qual eines Gemarterten stand in seinen Augen. Da sank sie vor ihm in den Staub der Straße und beugte sich, bis ihre Lippen auf seinen Füßen lagen, und wiewohl Menschen von ferne zu ihnen hinüberblickten, blieb sie so, als sei sie in einer Kirche und umfange die Füße des Gesalbten und habe sich dieser Gebärde nicht zu schämen vor allem Volke.

»Meine Heilige,« flüsterte er, »vergib mir meine Todesangst ...«

Sie hob das überströmende Antlitz zu ihm auf. »War es dieses, mein Lazarus?« fragte sie wie aus einer Seligkeit.

»Im Evangelium des Johannes ...« erwiderte er, kaum hörbar. »Spricht zu ihm Martha, die Schwester des Verstorbenen: Herr, er stinket schon; denn er ist vier Tage gelegen ...«

»Du Tor!« rief sie. »Du geliebter Tor ... ich will deinen Atem trinken!« Und sie zwang sein widerstrebendes Haupt zu sich hernieder und küßte ihn, wie Verzückte die Wunden eines Sterbenden küssen.

Dem Freiherrn aber war es, als sei er nun nach soviel »Angst und Grauen« auf die Brücke hinausgetreten, die sich von dem Festen in das Leere spannte, oder als habe der Engel Gottes seine Hand noch einmal ergriffen, um ihn zu segnen.

Am Abend, unter der Lampe, als er einen der Pfirsiche zerschnitt, die Margarete in ihrem Garten gezogen hatte, sah er plötzlich erblassend auf seine Hände nieder.

»Was ist dir, Amadeus?«

Er antwortete nicht, nur seine Lippen zitterten.

Sie kam um den Tisch herum, schnell, mit angstvollen Augen. Sie wußte es sofort. In der Höhlung der einen Hälfte, wo der Kern gelegen hatte, war die quellende Zartheit des Fleisches zerstört, von einem bösen und dunklen Rot, und man sah den Körper des Wurmes sich scheu zurückziehen in die dunklen Höhlungen seiner Gänge.

Der Freiherr hatte die Augen geschlossen, und sein Gesicht sah nun aus wie das eines Sterbenden.

Sie nahm die Frucht leise aus seiner Hand. »Mein Amadeus,« sagte sie, »weißt du denn noch nicht, daß es heißt: ›Aber die Liebe ist die größte unter ihnen‹?« Und ehe er die Hand erheben konnte, hatte sie die kranke Frucht zum Munde geführt, und ihr Antlitz war beglänzt wie beim Genuß des Abendmahles.

Und von diesem Abend ab waren sie einander zu eigen wie in dem Sommer am Meer, und der Freiherr küßte ihre Füße, als seien sie gesalbt von einer unermessenen Gnade.

Nach Weihnachten, als der Garten verwunschen im tiefen Schnee lag und alles Leben schon gedämpft in die Ferne zu rücken schien, setzte der Freiherr die Überschrift über das Agnus Dei. Das Eis schrie auf dem See, und wenn er ans Fenster trat, sah er die Sterne über dem jenseitigen Wald, so leuchtend, als ständen sie über der Hütte von Bethlehem. Seine Augen schlossen sich vor den Stürmen der Melodien, die sich über ihn ergossen, und er fühlte fast taumelnd in der Aufgebrochenheit seines Lebens, daß auf dieser bestirnten Erde um diese stille Mitternacht keinem Lebenden ein solches Maß der Gnade zugemessen war wie ihm. »Amsel,« sagte er wie ein Schlafwandelnder, »siehst du meine Flügel?«

Sie kauerte auf dem tiefen Stuhl neben dem Ofen, die Hände um die hochgezogenen Knie gefaltet und das schmal gewordene Gesicht zu dem Raum seines Lebens wie zu einem Altar gehoben. Es schien nun zu jeder Stunde des Tages und der Nacht, als verströme ihr ganzes Leben unaufhörlich in die schmale Frist des Sterbenden und als flössen in ihrem gleichsam körperlosen Antlitz die beiden großen Gebärden des Frauenschicksals zusammen: der Gesegneten, die ihrem Kinde das Blut ihres Leibes zum Trinken gibt, und der Geschlagenen, die den Leib des Gekreuzigten umfängt und ihre Lippen auf die Wunde drückt, die der Speer der Kriegsknechte ihm geöffnet.

»Ich sehe sie,« erwiderte sie wie er. »Sie waren dunkel, als du zu mir kamst, und sie sind nun silbern geworden wie zum Flug in die Ewigkeit ... komm zu mir, Amadeus, und knie bei mir nieder. Diesmal mußt du es schon tun ... Ich wollte bei dir bleiben, Amadeus, wie ich dir damals geschworen hatte, auch im Tode wollte ich bei dir bleiben und darüber hinaus, verstehst du? Aber nun werde ich es nicht tun, nicht so tun, denn du wirst bei mir bleiben. Ich ... ich trage dich unter meinem Herzen, Amadeus, und du darfst nicht fortgehen von dort, hörst du? Denn ich habe dein Blut empfangen und du sollst ewig sein ... und ich will ihn Amadeus nennen, denn das ist der Gottgeliebte.«

So gewann der Freiherr das dritte Reich, während die Töne des zweiten sich noch zur Vollendung rundeten.

»Das Größte, was ein Mann kann,« sagte er nachher, als er aus seinem Schlafzimmer kam, um das Licht bei ihr zu löschen, »ist zu sein wie Moses auf dem Berge Nebo. Aber eine Frau kann nicht nur dieses, ein Leben lang, sondern sie kann ihn noch bei der Hand nehmen und ihn lächelnd in das Tal führen, wo Gott ihn begraben will.«

»Du geliebter Tor,« erwiderte Margarete fröhlich. »Du wirst dich umsehen, wenn die Sonne dich bescheint, und fragen, für wen sie eigentlich scheine. Schlafe wohl und Gott behüte dich!«

Am nächsten Tage schrieb der Freiherr den ersten und letzten Brief seiner Fahrt um die Liebe. Er trug ihn selbst zur Post, obwohl die kalte Winterluft ihn schmerzte, und sah lange auf die Schriftzüge des Umschlages, bevor er ihn in den blauen Kasten gleiten ließ. Es war der Name eines berühmten Dirigenten, und er hatte oft mit des Freiherrn Namen auf einem Blatt gestanden.

Die Antwort kam, ein Telegramm. Als Margarete erschreckte Augen hatte, lächelte der Freiherr. »Ich werde Abschied nehmen wie ein König,« sagte er heiter, »und solange laß es mein Geheimnis sein.«

Und fortan gingen sie gemeinsam durch ihre blühende Zeit, die erfüllt war vom Werden seines Werkes wie vom Wunder ihres Leibes, so daß sie von sich abtaten alles Spiel des Lebens gleich einem Baum, der Früchte trägt, und der Tod, der hinter dem Werke des einen stand, war seltsam feierlich verschlungen in das Leben, das hinter dem Werke des anderen stand.

»Wenn ich den Tod besiege,« sagte der Freiherr mitunter, »indem ich das Unbesiegliche hinterlasse, dann bin ich nicht geringer als die meines Geschlechtes, die auf dem Schlachtfeld starben, und sie werden ihre Degen vor mir senken, wenn wir uns wiedersehen sollten.«

Als der Freiherr die Fermate über den letzten Akkord setzte, sah er noch für eine Weile auf die Feder in seiner nun immer fieberheißen Hand. Dann schrieb er auf den unteren Rand der Partitur, wo das » Dona nobis pacem« der Singstimmen endete, mit großen Buchstaben » DONAVIT«, das heißt »Er hat gegeben«, und dann ging er zu Margarete, die im Gewächshaus bei den Christrosen stand, und sagte leise: »Ich bin nun bereit ...«

Sie erfuhr das Geheimnis des Telegramms erst, als sie nach der ohne Einweihung angetretenen Reise am späten Abend in der Reichshauptstadt eingetroffen waren und der Dirigent mit dem großen Namen bei ihnen im Hotel erschien. Am nächsten Tage, dem Karfreitag, würde die Messe aus dem Manuskript aufgeführt werden.

Sie scherzten über ihre Fassungslosigkeit und sprachen ihr gütig zu, als sie in Tränen ausbrach. Aber sie sah hilflos von einem zum anderen, hatte die gefalteten Hände vor die Brust gehoben und sagte plötzlich in die Bedrücktheit des Schweigens: »Und der Vorhang über dem Tempel zerriß in zwei Teile ...«

Erst als der Besuch, nun erst im erschütterten Wissen um die Bedeutung seines Werkes am nächsten Tage, gegangen war, fand sie ihre Fassung wieder und entsann sich, daß keiner Minute ihres Lebens das Recht gegeben war, im Eigenen der Freude oder des Schmerzes zu versinken.

Sie traten spät in ihre Loge, und als sie in den erfüllten Saal niederblickten, war es ihnen beiden, als habe nun schon die letzte Wolke sie emporgehoben, und sie blickten schweigend auf die Erinnerung des Lebens nieder, die mehr und mehr unter ihnen dahinschwand. Margarete, ein wenig in sich zusammengesunken und die Augen auf Chor und Orchester gerichtet, hielt des Freiherrn heiße Hand zwischen ihren kühlen, tröstenden Fingern. Amadeus, blaß und doch von einem inneren Leuchten strahlend, saß sehr aufrecht und ganz unbeweglich. Er dachte nicht mehr in Worten und Gedanken, Erinnerungen, Hoffnung oder Furcht. Er dachte gleichsam nur in Melodien und Klängen, und aller Glanz der Stunde und des Schicksals sammelte sich dort unten in den tönenden Formen und Farben der Instrumente, in der Sehnsucht der Geigen, der Klage der Celli, dem schreitenden Drohen der Bässe, in der tränengedämpften Seligkeit der Holzbläser und dem unerbittlichen Funkeln der Posaunen. Und ganz flüchtig weitete sich einmal der erleuchtete Raum zu der Vision von etwas Unabsehbarem, was wie ein Schlachtfeld war, und auf dunklen Pferden zogen sie ganz langsam vorüber, die Ernte seines Geschlechtes, die dort gemäht worden war, sehr aufrecht im blutigen Sattel, sehr bleich und sehr ernst. Sie sahen nicht auf zu ihm, sondern sahen geradeaus vor sich hin, aber er fühlte, daß sie um ihn wußten, und es war ihm, als versöhne diese Stunde ihn wortlos mit allem Gewesenen, als stoße sie nicht aus, sondern als nehme sie auf und als stehe der Großvater dort unten auf dem unermessenen Felde und spreche, gleichsam vorstellend, mit einer feierlichen Gebärde seiner kühlen und vornehmen Greisenhand: »Und dies ist Amadeus.«

Und dann begann die Messe und schritt von der gebeugten Klage des Kyrie zum strahlenden Glanze des Gloria, sammelte sich in der ehernen Festigkeit des Credo, spannte die tönenden Flügel zur Inbrunst des Sanctus und verließ die Welt des Irdischen im Agnus Dei. Sie war gleich einer klingenden Kelter, die die gereiften Früchte eines Lebens verwandelte, das Grün der Frühlingsmittage und das Gold der Herbstmorgen, die aufgebrochene Glut des Tages wie die schweigende Verhüllung der Nächte, die Ekstase der Liebe wie die Beugung des Beters, das klirrende Entschreiten der Jugend wie das Sinken des Hauptes am Kreuze. In der zerwühlenden Gewalt des » Miserere nobis« schienen sie alle aufzuschreien mit gerungenen Händen, die dort unten den Saal erfüllten, und im » Dona nobis« hob sich das Antlitz der Menschheit, wie das Antlitz des Freiherrn sich vom Orchester hinauf zum erleuchteten Gewölbe emporhob. » Donavit,« flüsterte er und legte leise seine Hand auf Margaretens Haupt, deren Stirn auf der Brüstung der Loge lag.

Im dunklen Zimmer ihres Hotels standen sie eng beieinander am geöffneten Fenster und sahen auf den erleuchteten Platz hinunter, den sie den Markusplatz nannten. Die Fenster der Kirche unter ihnen waren erhellt, die Tore geöffnet, und das Dröhnen der Glocken schleuderte die erzenen Wellen in Häuser und Menschen hinein, daß der ganze Raum erfüllt schien von dem Leben der Botschaft, Christ sei gestorben.

Sie sprachen nicht, aber das Wunder des erschütterten Lebens umhüllte sie wortlos gleich zwei Auferstandenen.

Am nächsten Tage war der Freiherr bei einem der großen Spezialisten, deren Name ihm bekannt war, kam still und heiter zurück und verbrachte den Tag in beglücktem Umherschlendern mit Margarete. Um die Abendzeit, als die Amseln im Tiergarten sangen, blieben sie auf des Freiherrn Bitte noch eine Weile beim Moltkedenkmal stehen und sahen zu, wie die Sonne den kühlen Marmor entzündete und langsam verließ. »Wenige können so aussehen ...«, sagte der Freiherr demütig.

Dann kaufte er einen großen Strauß der Osterlilien, die man überall feilbot, legte ihn Margarete in den Arm und ging langsam mit ihr ins Hotel zurück.

Das Abendessen im Speisesaal war von betonter Feierlichkeit. Der Freiherr erschien im Frack, ließ Kerzen für den Tisch bringen und Rosen, die er bestellt hatte. Das Aufrechte seiner Haltung war noch beherrschter als am Vorabend, und jede Bewegung, die zu Margarete ging, ging wie zu einer Fürstin.

Als sie ihre Zigaretten entzündet hatten, brachte man ihm die Zeitungen, und er bat Margarete, die Besprechungen vorzulesen. Er hörte aufmerksam zu, mit ernsten Augen, während seine Lippen leise lächelten. »Sie haben es alle gut gemeint,« sagte er. Und dann begann er von ihrer Liebe zu sprechen, so leise, daß sie sich vorneigen mußte. Es war wie eine beglückte Beichte, ein Nachschaffen beglänzter Erinnerung, das Geringste wie das Größte mit gleicher Inbrunst umfassend, und der Fieberglanz seiner Augen bestrahlte das Leben, das er aus seinen Händen abrollen ließ, daß es wie ein leuchtendes Wunderband zwischen ihnen dahinglitt und im Dunkel des fernen Raumes versank.

»Mein geliebter Amadeus!« flüsterte sie, in den Glanz seines Antlitzes verloren.

Mit dem Nachtzug fuhren sie dann zurück.

Am ersten Osterfeiertag, eine Stunde nach dem Einfall der Dunkelheit, starb der Freiherr Amadeus. Die Kerzen brannten auf seinem Flügel, und er lag, feierlich gekleidet wie am Abend zuvor, auf seinem Ruhebett. Er hatte Margarete um eine auf die Minute bestimmte Zeit zu sich gebeten und bat nun, seine Hände still zu falten. Auf dem Rauchtisch am Kopfende stand das kleine, flache Fläschchen, und er deutete mit einer Bewegung seiner Augen darauf hin. »Du mußt es verzeihen, Amsel,« flüsterte er, »daß ich es getan habe und nicht die dunkle Gestalt. Drei Monate, hat der Professor gesagt, und das Ende würde häßlich sein. Die Auflösung, weißt du, und ... die Verwesung. Das wollte ich nicht, und der Großvater hätte es auch nicht gewollt ... Dies wird ganz still sein und ganz ohne Schmerzen ... im Schreibtisch liegt mein letzter Wille ... nun halte meine Hände ... so ... und laß es mich noch einmal sagen: Du Gnadenvolle ... Du Gnadenvolle ...«

Seine Augen leuchteten noch einmal über ihr Gesicht und verdunkelten sich dann. Von den Rändern schien eine matte Trübe gleichmäßig und unerbittlich über einen beglänzten Spiegel zu wachsen wie eine sich verengende Blende über eine lebendige Linse. Gleichzeitig veränderten sich die Linien des Mundes, als falte er sich still zur ewigen Gebärde, in der er zu verharren wünsche, und die Stirn wuchs aus dem Schatten der Schläfen und der Augenbrauen in die feierliche Starre des Unvergänglichen.

Noch immer waren seine Augen groß und stumm in die ihrigen gerichtet, aber ihr Blick ertrank in sich, tiefer und tiefer, und sie sah ihm nach, dicht über sie gebeugt, wie über einen Brunnen, in den ein Stein fiel und fiel, nicht mehr zu halten, nicht mehr zu sehen, nur zu wissen, bis er unten in das Ewige schlug und der Nachhall aus engen Wänden hinaufstieg und verklang.

Sie schloß seine Augen, unbewußt, weil ihre Seele noch weit hinter den Ereignissen war und langsam nachfolgen mußte, wie einem Vogel, den die Augen stürzen sehen und dem man mühsam nachgeht, bis die Hände ihn aufheben am Ort seines Todes.

Und dann saß sie bei ihm, die lange Osternacht, tränenlos und schweigend, und ihr Gesicht war wie ein Gesicht unter einem Helm. Sie fühlte Schweigen und Regungslosigkeit wie die Wände eines großen Raumes und sich selbst als ein unerhört Lebendiges in dem Gewölbe des Todes. Denn etwas war, das die Gewölbe zerbrach und ein Herr des Todes war: ihr Herzschlag, der das Schweigen zerschlug, und das lautlose Sichregen dessen, das unter ihrem Herzen lag, das hinaufgewandelt schien aus der starren Verweslichkeit des Leibes in das Unverwesliche der Auferstehung, und sie fühlte ihren Körper wie die glänzende Lautlosigkeit eines Tempels, der sich um das Allerheiligste baute: um das Antlitz des Gottgeliebten.


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