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MacLean hatte gesagt, daß sie im September fahren würden. Mit einem Dampfer, so groß wie beide Dörfer zusammen. Und die Uniform des Kapitäns sei ganz mit Gold bedeckt, solch eine Macht besitze er. Denn die Leute, die Reisende von Europa nach Amerika übersetzten, seien etwas andere Leute als die, die sonstwo Reisende übersetzten. Und die Maschine des Dampfers sei so groß wie eine Kirche, ganz aus Stahl, und während der ganzen Reise mache sie nur »Tum tum tum … tum tum tum«, ohne eine Sekunde Pause, und schleppe damit zwei Dörfer hinüber wie nichts. Heini erzählte es mit einem spöttischen Lächeln um die bitteren Mundwinkel. So erzählte seine Mutter es hundertmal am Tage, und es müsse wirklich eine »Goldene Stadt« sein, da sie Verlangen nach seiner Mutter habe.
So begannen im Sommer, die Höfe und Kätnergrundstücke verkauft zu werden, und das Eisen an der anderen Seite des Stromes rief Jürgen oft hinüber, damit er die Käufer übersetze. Jedesmal stand Marte in der Tür des Hauses und sah schweigend und ernst auf die Fremden, die allein und mit ihren Frauen kamen, um Hof und Vieh und Ernte anzusehen. Und nach ein oder zwei Tagen, wenn Jürgen sie wieder über den Strom gebracht hatte, wandte sie aus der ruhigen Arbeit ihrer Hände ihre dunklen Augen zu ihm und fragte: »Nun, haben sie gekauft?« Und dann sah sie über ihn hinweg in die Ferne und nickte vor sich hin, als zähle sie den Zug der Auswanderer oder sehe ihm nur nach, ernst und von Gedanken der Zukunft beschattet, wie Zurückbleibende dem Staub über einem Wege nachzublicken pflegen.
Es war ein schlechtes Handeln und Verkaufen, weil jedermann in der ganzen Gegend wußte, daß sie zum Herbst außer Landes gehen wollten, und weil ihre Äcker und ihr Vieh aussahen wie in einer Wüste. Die Herbsternte war ihnen verdorben. Dann hatten sie Frost und Wassernot gehabt. Dann hatten sie mit Hohn und Gelächter gesät, zu einer Zeit, in der um andere Dörfer die Krähen sich schon in der Saat verstecken konnten. Und dann war seit Christi Himmelfahrt nicht mehr als ein spärlicher Regen gefallen. Zuerst sagte MacLean, daß es ein Zeichen des Gottes sei, der sie rufe, denn er breche Hütten ab und baue sie wieder auf und wolle ihnen den Übergang leichter machen aus einem verfluchten in ein gelobtes Land. Aber dann, als die Weiden verdorrten, als die Erde in Rissen aufsprang und Kröten und Gewürm aus den Spalten der Erde zu steigen schienen, sagte er zum erstenmal, leise und wie unter der Bedrückung eines Gesichts, daß es wie eine Verzauberung aussehe und er zu Gott beten wolle, daß er ihnen die Augen öffne für den Weg, der zur Erkenntnis des Bösen führe.
»Doskocil«, sagte der Schneider Südekum eines Abends am Strom, als er Jürgen durch das Schilf zu sich herangewinkt hatte, »ich habe eine von den Blindschleichen drüben in der Klammer gehabt. Mit dem Kopf unter dem Wasser, weißt du, daß er schon ein bißchen blau war um die Augen. Und habe nicht losgelassen, bis er mir erzählt hat. Ich würde mir ein Gewehr anschaffen, Doskocil, und viele Patronen mit Schrot laden, Rehposten natürlich. Und einen Balken vor die Haustür, von innen. Denn sonst, weil es sein könnte, daß sie mal wieder Lust bekommen, einen Zauberer mit Dreschflegeln totzuschlagen, der ihnen den Regen nimmt und ihr Vieh verhext. Kapiert?«
Jürgen war sehr langsam nach Hause gefahren und war sehr still an diesem Abend gewesen. Und mehrmals war er in der Nacht aufgestanden und leise vor die Tür gegangen, und wenn er wiedergekommen war, hatte er sich mit angehaltenem Atem über Marte gebeugt, wie über einen vergrabenen Schatz, um den man Sorge im Herzen trägt.
Er kaufte sich kein Gewehr. Die Kunst des Schießens erschien ihm als eine feige Kunst. Was er tat, erwarb und schenkte, ging durch seine Hände, und wenn sie stark genug waren, einen Baum zu fällen, würden sie auch ausreichen, einen Menschen zu fällen, der die Hand nach seinem Leben ausstreckte. Doch nahm er ohne Widerstreben einen Wolfshund, den Südekum ihm von einer seiner Schneiderfahrten brachte, damit Marte nicht ohne Schutz sei, und legte auch einen schweren Balken innen vor die Tür. »Nein, es ist nichts«, sagte er zu Marte, »aber wenn die Erde böse wird, werden auch die Menschen böse, und viele sind jetzt unterwegs, die um ein Brot Blut vergießen würden.«
Er fürchtete sich nicht. Er fühlte auch in einer dumpfen Sicherheit, daß die Hand, die sich ausstreckte, nach Marte griff und nicht nach ihm, und daß er nur das Schloß war, das zerschlagen werden mußte, damit man die Tür zu seinem Weibe öffnen konnte. Aber eine bittre Traurigkeit fiel langsam in ihn hinein, daß man ihm nicht gönnte, was sein eigen war, und daß die Tiere des Waldes gerechter waren als der Mensch.
Indessen ging die Sonne erbarmungslos auf und nieder und verbrannte die Weiden und Felder. Das Gras wurde braun, das Kartoffelkraut zerfiel unter den Händen wie Zunder, die Saaten entfärbten sich wie in der Lichtlosigkeit eines Kellers. Über dem Moor stand ein grauer giftiger Dunst, als schwele der Torf unter seiner Oberfläche, und wenn ein heißer Wind über das Land ging, stand eine gelbe Staubwand über Wegen und Feldern, hob sich bis unter das glühende Himmelsgewölbe und verfärbte die Sonne zu einer roten Scheibe, die allen Umriß verlor und in einer fließenden Aufgelöstheit wie Blut erschien, das sich langsam über eine gelbe Wunde breitete. Über den taulosen Nächten brütete die Glut des Tages wie in einem Ofen. Der Mond hatte ein totes Gesicht, und alle Dinge, die man berührte, schienen Funken zu sprühen, als seien sie von schlafenden Feuern erfüllt. Das Wasser des Stromes fiel, und über den aus der Tiefe steigenden Gründen lag ein süßlicher Verwesungsgeruch, von Blasen, die aufstiegen und gleichsam teilnahmslos zerplatzten. Die Fische starben in den Fischkästen, obwohl Jürgen täglich ihren Platz wechselte, und er mußte jeden zweiten Tag zur Stadt rudern, um zu verkaufen, was er gefangen hatte. Im Juni fiel die erste Kuh auf der Weide, und im Juli raffte eine Rotlaufseuche alle Schweine aus beiden Dörfern an zwei Tagen hin.
Die Häuser waren wie Gräber, aus denen bei Tage niemand stieg. Ein Kätner, der bei den Erweckten war, kam auf den Gedanken, sein Roggenfeld, das anderthalb Morgen groß war, allnächtlich mit einer Gießkanne zu gießen, aber da er das Wasser aus dem Brunnen des Nachbarhofes holen mußte, stellten sie Wachen um den Brunnen und schlugen den Wasserholer, als er sich nicht zufrieden geben wollte. Erst wenn die Sonne gesunken war, stiegen die Menschen aus ihren Gräbern. Dann standen sie in der Dämmerung auf ihren Feldern, regungslos wie Grabsteine gegen den nachglühenden Abendhimmel. Manche knieten nieder und beteten, manche zerstampften mit den Füßen die sterbende Saat, und einmal ging bei sinkender Sonne eine Prozession mit heiserem Gesang um die stäubenden Felder, MacLean voran. Sie trugen auf einer Bahre etwas mit sich, aber Jürgen und Marte, die vor ihrer Tür saßen, konnten bei dem sinkenden Licht nicht erkennen, was es war. Nur daß sie die Fäuste nach ihrem Hause erhoben, konnten sie erkennen. Erst Heini erzählte es Jürgen am nächsten Tage, daß sie ein entstelltes Christusbild mit sich getragen hätten und daß von dem Fährmann als dem »Gottesmörder« die Rede sei.
Es traf ihn sehr schwer, denn alle Bilder waren lebendig in seiner kindlichen Phantasie, und das einzige Mal, daß sein Vater ihn hart gezüchtigt hatte, war gewesen, weil er als Kind ohne Gedanken einen jungen Birkenstamm zerbrochen hatte, der am Wege zum Dorf stand. »Der Zorn ist wie ein Hammer«, sagte er grübelnd, »du kannst den Hammer in den Strom werfen, aber das Zerschlagene nimmt er nicht mit in die Tiefe.«
Tage und Nächte schleppte er schweigend an seiner Schuld. Wenn sie mit Flegeln und Sensen kämen, würde er sich wehren können, aber wenn es dem Prediger einfiel, ihnen das Christusbild mitzugeben, würde er die Augen schließen müssen. Zweimal kehrte er um, aber das drittemal wendete er plötzlich auf der Fahrt zum nächtlichen Fang das Boot, machte es am Ufer fest und ging schnell, ohne aufzusehen, zu MacLeans Hütte. Es war ihm gleich, ob er zu Hause war oder nicht, ob er Gäste hatte oder nicht. Er ging den Weg mit gesenkter Stirn, und wenn die Tür verschlossen gewesen wäre, hätte er sie eingedrückt wie eine Maschine, die in der befohlenen Richtung stampft.
Aber die Tür war nicht verschlossen. MacLean, den schwarzen flachen Hut in der Hand, stand so dicht an der Schwelle, daß die aufgehende Tür ihn traf, und seine erste Bewegung war die mit der freien Hand in die Tasche, als greife er nach einer Waffe. Jürgen sah ihn nicht an. Seine an das Dunkel gewohnten Augen sahen das Kruzifix auf dem Tisch. Er trug es an das Fenster, und ehe MacLean die Lippen geöffnet hatte, hatten seine schweren Hände es in die alte Lage zurückgebogen. Er glitt mit den Fingern ein paarmal prüfend über den nackten Leib, bis er fühlte, daß die Risse im Metall sich wieder geschlossen hatten, trug das Kruzifix dann wieder zum Tisch zurück, stellte es behutsam auf und blieb noch eine Weile schweigend davor stehen, die Hände auf den Tisch gestützt, die Augen auf den blinden Schimmer des Metalls gerichtet.
Als beim Hinausgehen MacLean den Versuch machte, ihm in den Weg zu treten, schob er ihn, ohne aufzusehen, mit einer Bewegung seines Armes zur Seite, und erst als er auf der Schwelle stand, sagte er, als stehe der Prediger vor ihm und nicht hinter ihm: »Ein Stellvertreter war er, wie in der Bibel steht … sonst hätte ich dich damals erwürgt …«
»Auch du, mein Freund«, erwiderte MacLean, ihm auf die Schwelle folgend, »bist nur ein Stellvertreter …« Seine Worte waren ganz ruhig, ohne Drohung, ohne Haß. Jürgen verstand sie nicht. Er fühlte sie wie die Kühle eines Messerrückens in seinem Nacken, aber er schüttelte sie ab, daß sie hinter ihm zu Boden fielen, und ging den Weg zum Strom langsam zurück. Die Nacht war glühend und luftlos, aber Jürgen atmete so tief, als ob er in einem Regen ginge. Es war ihm, als habe er ein Ruder wiedergefunden, das er verloren hatte, und richte nun seinen Kahn aus den Wirbeln der Strömung wieder zur geraden Fahrt. Sie können mich nun nicht mehr schlagen, dachte er.
Die dünnen Nebel des Strombettes hoben sich vor ihm auf, der leise Ton der strömenden Wasser, der kühle Geruch der Tiefe. Er sah sein Haus vor seinem inneren Gesicht, Martes über der Brust gefaltete Hände, den Hund, der hinter der Schwelle schlief. Es schmerzte leise in seiner Brust wie von aufsteigenden Tränen, und in dem schweren Glück, das ihn fast betäubte, bückte er sich am Ufer, hob einen der schweren Steine, die das fallende Wasser bloßgelegt hatte, hoch über sich und schleuderte ihn dann über das Boot hinaus in den Strom. Das Wasser spritzte auseinander wie glühendes Metall, der dumpfe Schlag erschütterte das ganze Strombett, und der Kahn hob und senkte sich auf den Wellen, die in großen Kreisen über das Wasser liefen.
Dann stieg er leise in den Kahn, ein wenig verlegen über das, was er getan hatte, und begann seine nächtliche Arbeit. Die ganze Nacht lang lag das Wort MacLeans eingehüllt und nicht bewußt in seinem Innern, wie ein verschlossener Brief, und ohne daß er es wußte, tasteten seine Gedanken über das Verschlossene hin. Auch seine Gedanken hatten ein zweites Gesicht, das im Dunklen umherging, und alle stillen und bescheidenen Erkenntnisse seines Lebens pflegten sich nicht langsam und mühselig zu entwirren, sondern plötzlich aus einem dunklen Hause herauszutreten, wie Kinder, die sich den Schlaf aus den Augen rieben.
Und so wunderte er sich nicht, als er im Morgenrot den Kahn wieder neben der Fähre anschloß, daß er, die Kette mit den Händen durch den Ring ziehend, plötzlich wußte, was MacLean gemeint hatte. Er richtete sich nun langsam auf, blickte nach dem Hause hinüber und nahm das ganze Bild in seine schweren Augen hinein. Nein, du wirst mich nicht vertreten, dachte er nur, du nicht …
Der Hafer stand dicht und grün. Jürgen begriff es nicht. Er konnte, wenn er nicht aufs Wasser fahren mußte, lange auf dem Findlingsstein sitzen, der wie eine Bank der Unterirdischen geformt war, den Kopf in beide Hände gestützt, und nachdenken. Es konnte der Wald sein, der den Acker umgab, der die Halme vor dem Verschmachten schützte. Aber auch andere Äcker lagen am Walde und waren verbrannt und rot. Es konnte die unverbrauchte Muttererde sein, die seit Jahrhunderten ruhig schlief. Es konnte das Grundwasser sein, wenn es hier höher stand als auf den Feldern. Er wußte es nicht und begriff es nicht. Er starrte auf die dunkelgrüne Fläche, in der es sich mitunter leise rührte, als striche eine Hand an den Wurzeln entlang, und immer mehr, wenn auch verstohlen, nährte er den Gedanken, daß es die Unterirdischen sein könnten, die für den Hafer sorgten. Vielleicht hatten sie es kühler in ihren Wohnungen, vielleicht hörten sie die Halme über sich wie einen Wald rauschen, vielleicht erwarteten sie, daß Jürgen ihnen von der Ernte einen Teil zu winterlicher Speise ließ. Er trat leise auf, wenn er zu seinem Steinsitz ging, und er unterließ es nicht, sich zu verneigen, wenn er wieder aufstand, um in sein Haus zurückzukehren.
Aber eines Morgens, lange vor der Ernte, stand der Hafer nicht mehr da. Jürgen konnte von der Schwelle seines Hauses das grüne Feld sehen, und wenn er den ersten oder den letzten Fuß auf die Schwelle setzte, pflegte er nicht nach dem Strom zu blicken oder zum Himmel über dem Moor, wo die dunstigen Wolken immer zuerst aufzogen, sondern nach der Lichtung im Hochwald, von der das einzige Grün in der ganzen Runde schimmerte. Und eines Morgens war das einzige Grün erloschen. Er rieb sich nicht die Augen, er lief auch nicht, er rief auch nicht nach Marte. Langsam, mit müden Knien, ging er den Steig zum Acker, am Schuppen vorbei, vor dem das Eisen gelegen hatte, am Zaun entlang, wo er die Spur des Fremden damals gesehen hatte, über die vertrocknete Wiese zur schief hängenden Birke an der Waldecke. Seine Augen gingen mit seinen Stiefeln mit, den schweren, hohen Wasserstiefeln, deren Leder rötlich schimmerte von der täglichen Nässe.
Am Stein erst blieb er stehen und sah langsam auf. Der Hafer war geschnitten, mit Sicheln, dicht über der Erde. Er sah es an der Unregelmäßigkeit der Stoppeln. Hier und da lag ein verstreuter Halm, der sich in der Morgenschwüle schon krümmte und bräunte. Sonst lag das Feld wie das Gesicht eines Erschlagenen, mit offenen Augen, Schatten in den grauen Falten, Schmerz um den verzogenen Mund. Er setzte sich auf den kühlen Stein und blickte in das erschlagene Gesicht. Zorn und Haß schliefen noch in seiner schweren Seele. Überlegungen schliefen noch, wer es gewesen sein könnte. Er hatte einen Schlag empfangen, aus dem Hinterhalt, und sein Blut stürzte in ihn hinein. Wie Regen von den Ästen eines Baumes, den die Axt an der Wurzel trifft. Marte, zerfließende Bilder standen auf und schoben sich vor seine offenen Augen: das weiße Tuch, in das er das Kind gehüllt hatte, das Kruzifix, das er mit den Händen geradebog, die Axt, die sie ihm heimlich abgesägt hatten. Aber hinter allen Bildern, die wie Nebel über dem Strom vorüberzogen, lag unbeweglich das Gesicht des Feldes. Und dann wußte er es plötzlich: daß es nicht der Diebstahl war noch der Verlust einer Ernte, sondern daß sie gemäht hatten, bevor es Zeit war. Daß es dasselbe war wie mit dem Kind. Daß sie den Hafer aus der Muttererde gerissen hatten, wie das Wasser sein Kind aus dem Mutterleib gerissen hatte. Daß sie nicht gestohlen, sondern gemordet hatten.
Er stand auf und umschritt das Feld in immer größeren Kreisen. Er fand ein paar Halme zwischen Feld und Strom und wußte, daß sie mit Kähnen gekommen waren, weil es keine Spuren gab. Er sah Marte vom Hause kommen und ging ihr entgegen. Sie weinte, lautlos, ohne die Tränen abzuwischen, ohne ein Wort. Sie gingen zusammen zurück, bis zur Fähre, und blickten von dort nach dem grauen Dorf hinüber. Die Ziehbrunnen schnitten wie Galgen in den dunstigen Himmel. Ein Wagen fuhr die Dorfstraße hinunter, dem Walde zu, und eine gelbe Staubsäule stand hinter ihm auf, mit leise mahlenden Rändern, und ging hinter ihm her wie ein Gespenst.
An diesem Abend, als die matten Sterne schon aufgezogen waren und Jürgen auf dem Wasser war, ging Marte zum erstenmal zu MacLeans Hütte. Sie ging bis zum Kiefernbusch, von wo sie das Licht in dem kleinen Fenster sehen konnte, und kniete dort in der flachen Mulde zwischen den niedrigen Stämmen, in der es nach Harz roch und in der die Glut des ganzen Tages unbeweglich stand. Sie kniete mit gefalteten Händen, und ihre Lippen bewegten sich, ohne daß sie von den Worten wußte, die sie sprach. Und nach einer halben Stunde stand sie auf und ging langsam denselben Weg zurück. Noch viele Male ging sie in diesem Sommer denselben Weg bis zum Kiefernbusch, und jedesmal kehrte sie um, mit zerschlagenen Gliedern, die ihr geschändet erschienen von dem Knien vor dem matten Licht, das aus den Fenstern der Hütte fiel.
Der Gendarm kam, durchsuchte das ganze Dorf, fand nichts als lächelnde Gesichter, trank einen Bärenfang im Fährhaus und fuhr mit bekümmertem Kopfschütteln davon.
Seit Jürgen den Acker verloren hatte, waren Tag und Nacht schwerer zu tragen als sonst. Es war ihm, als lebe er für nichts und als sei er eine der tauben Ähren, die zu Tausenden auf den verbrannten Feldern hingen. Wenn er um die Abendzeit den Strom heraufgefahren kam, saßen die Kinder der beiden Dörfer wie sonst an den Ufern, aber sie sangen nicht mehr. Er verlockte sie, indem er den Spottvers aus früheren Tagen leise vor sich hinpfiff. Aber sie antworteten nicht. Grau und schweigend hockten sie über dem Schilf der Ufer und starrten zu ihm herüber, als warteten sie auf etwas. Aber er verstand nicht, worauf sie warteten. Bis eines Mittags, als sie beim Essen saßen, der Hund den Kopf hob und die Tür sich leise öffnete. Ein Junge stand draußen, dessen weißer Scheitel nicht bis zum Drücker reichte, barfuß, mit einem grauen Gesicht, und starrte aus großen, unbeweglichen Augen auf die Fischsuppe, die aus der Schüssel dampfte.
»Von wo kommst du?« fragte Marte.
Er hob nur die Hand und deutete über die Schulter zurück nach dem Dorf.
»Sollst du was bestellen?«
Kopfschütteln.
»Was willst du denn?«
Nichts. Nur der unbewegliche Blick auf die Schüssel.
»Hunger«, sagte Jürgen. »Komm her.«
Sie fütterten ihn, und er aß schweigend, die großen Augen fremd und scheu auf ihre zuschauenden Gesichter gerichtet.
Ob sie kein Brot hätten? Ja, sie sammelten Birkenrinde aus dem Wald, weil das Mehl nicht mehr reiche.
Jürgen stopfte sich eine Pfeife und rauchte, bis sein Gesicht nicht mehr zu erkennen war.
»Du kannst morgen wiederkommen«, sagte Marte kurz. Als er den Stuhl zurückschob, fiel ihr noch etwas ein, und sie kam mit den Tellern in der Hand noch einmal an den Tisch zurück. »Wem habt ihr den Hafer gegeben?« fragte sie. »Dem Pferd?« Der Junge nickte, sah noch einmal von ihr zu Jürgen, als wartete er auf die nächste Frage, und verschwand dann lautlos durch die Tür. Sie sahen, wie er über den Hof zum Walde schlich, mit den Gebärden eines Diebes, dem alle Dinge Augen zu haben scheinen.
Am nächsten Tag waren es drei. Dann wurden es sieben, und bei dieser Zahl blieb es. »Lachen werden sie über dich, Jürgen, wenn sie es erfahren«, sagte Marte. Aber er schüttelte den Kopf. »Kinder haben keine Schuld«, sagte er. Und immer um die Mittagszeit stand er auf der Schwelle und sah nach der Waldecke hinüber, aus der sie auftauchten, ein scheuer, grauer Zug, wie Tiere, die ihre Heimat verlieren. Es waren einige darunter, die er wiedererkannte, die mit Steinen nach ihm geworfen und das böse Lied hinter ihm hergesungen hatten. Aber er schob ihnen die Bank näher an den Tisch und paßte auf, daß sie keine Gräten verschluckten. Marte sah ihn mitunter von der Seite an, sein erhelltes Gesicht, die schwere Zärtlichkeit seiner Hände, und wieder ging sie in Gedanken, Stunden voraus, den schweren Weg des Abends zu der Mulde zwischen den Kiefernbüschen, in der sie um Kraft betete und in der sie Ohnmacht empfing.
»Regen kommt nicht«, sagte Jürgen, »aber dafür kommen die Kinder.« Langsam verschmerzte er, was das Dorf ihm antat. Selbst der Acker war nur wie eine Narbe, die nur leise brannte, wenn er sich unachtsam an ihr stieß. Doch vergaß er nicht, daß es fremde Kinder waren, und Marte fühlte, wie seine Blicke, wenn sie wieder allein waren, in ihrer Spur gingen, stumm und niedergeschlagen, wenn sie ihn ansah, aber immer wartend.
Nach dem Essen ging er nun oft mit den Kindern in den Wald, ein zweiter Rattenfänger, mit einem dünnen, grauen Zuge hinter sich her. Hier unter den hohen Fichten, wo noch etwas Kühle war und golddurchwirkter Schatten, fühlten sie, daß alles Gefährliche hinter ihnen geblieben war: Hunger, Glut, schwelender Haß der Häuser. Hier zeigte Jürgen ihnen, wie man Pilze suchen und sie an einem kleinen Feuer rösten konnte. Wo die Heidelbeeren noch nicht vertrocknet waren und die ersten Brombeeren sich dunkel färbten. Wie man Wurzeln graben und sie im Munde halten mußte, um die Qual des Durstes nicht zu empfinden. Wie man Spielwerk schnitzen und formen konnte, aus Schwämmen, aus Flechten, aus Rinden. Wie man auf Gräsern, auf Schilfhalmen, auf Lindenblättern pfeifen konnte, daß die Rehe hinter dem Gebüsch auftauchten oder die jungen Raubvögel klagend über den Rand der Horste blickten. Und wie mit allem diesem die Zeit freundlich dahinging, bis die Sonne nur noch schräge Balken durch das Astwerk legte und ein Hauch von Kühle aus den Gründen stieg.
Und die Kinder, scheu und verschlossen zuerst vor der schwerfälligen Wildheit seiner Gestalt und bedrückt von der Erinnerung an Steinwürfe und Lieder, sahen, wie diese dunkle Riesengestalt sich langsam und fast verlegen vor ihnen auftat und wie in dem wilden Gehäuse weder ein Teufel noch ein schwarzer Mann erschien, sondern ein Zauberer, der mit seinen groben Händen Wunder aus der Erde rufen konnte, die er nur für sie zu rufen schien. So dauerte es nicht lange, bis Jürgen Doskocil beides war, ein Heiliger und ein Teufel, und es war gut, daß die beiden Gemeinden nichts voneinander wußten, sondern beide in Heimlichkeit ihren Götzendienst versahen.
Und eines Nachmittags enthüllte Jürgen seinen großen Plan, an dem er lange gegrübelt hatte, bis er gleichsam jeden Ruderschlag voraus wußte, den er zu tun hatte. Es gab keine Sorgen und Bedenken, wie er gefürchtet hatte. Es war nicht mehr selten, daß Kinder des Dorfes sich zusammentaten und einen ganzen Tag fortblieben, um bei den Bauern der Umgegend zu betteln. Schläge gab es nur, wenn sie nichts heimbrachten, und Jürgen versprach, daß sie viel heimbringen würden.
Marte widersprach ihm nicht. »Einmal wird es dir vergolten werden, Jürgen«, sagte sie nur. »Hab' nur Geduld mit Gott und mit mir.« Nein, sie wollte nicht mitfahren. Die Kinder seien etwas ängstlich vor ihr. Sie habe den Hund, und er brauche sich nicht zu fürchten.
So stieg er eines Morgens in das leichte Boot, machte ein Lager aus trockenem Schilf und nahm das Segel mit. An der ersten Wendung des Stromes, im Weidendickicht, warteten die Kinder. Sie hatten graue Leinensäcke über den schmalen Schultern, wie sie auszugehen pflegten, wenn sie die nahen Dörfer besuchten. Sie kletterten schweigend über den Kahnbord, kauerten sich auf dem Schilflager nieder, ermahnten sich durch Zeichen zum Schweigen und waren blaß und erregt, als seien beide Ufer mit Schützen besetzt, die den Pfeil schon an der Sehne hatten, um ihn in das Herz ihres Fährmanns zu bohren.
»Strom frei!« sagte Jürgen hinter der ersten Rohrinsel. Und dann begann die große Fahrt zur Stadt. Jürgen zog das Segel auf, und zwischen verbrannten Ufern trieben sie dahin, eine quirlende, rufende, singende Schar, die Gesichter vorausgewendet, als führen sie über den Ozean und als sei, was hinter dem See mit verschwommenen Türmen in einen bleigrauen Dunst ragte, die versprochene »Goldene Stadt«. Aber bevor sie Häuser und Menschen erkennen konnten, tauchte Jürgen die graue Plane, die unter seinem Sitz lag, ins Wasser und breitete sie von Bord zu Bord über das Schilflager und sah in schweren Gedanken auf die schlafenden Körper, die bald in erschöpfte Träume gefallen waren. Es war ein seltsamer Zug für die kleine Stadt, der sich langsam durch viele Straßen zum Rathaus bewegte. Voran der Fährmann Jürgen Doskocil, den jedermann kannte und von dem alle Kinder der Stadt glaubten, daß er unter dem Wasser wohne und weiße Jungfrauen zu sich herunterlocke in ein einsames und trauriges Reich. Er trug seine beiden Ruder auf der Schulter, von denen er sich nie trennte, sowenig wie ein Fuhrmann von seiner Peitsche. Und hinter ihm, eins in der Spur des anderen, die »sieben Raben«, barfuß, barhäuptig, mit alten Gesichtern, die grauen Säcke um die schmalen Schultern. Zuerst gingen die Kinder mit, die auf der Schattenseite der Straßen spielten. Und dann gingen die Mütter mit, die vor den Türen oder in den Geschäften standen. Und dann gingen die alten Rentner mit, die ihren Morgenspaziergang machten, die Hände auf dem Rücken und die halblange Pfeife im Mund. Und dann gingen die Dienstmädchen mit, den Korb unter dem Arm und den Hausschlüssel in der Hand. Und auf jede der hundert Fragen, die an den Zug gerichtet wurden, schwiegen die Kinder mit verschlossenen Gesichtern und sagte Jürgen immer nur das gleiche: »Sie essen Brot von Birkenrinde und fahren im Herbst nach Amerika, und vorher wird man sie auf die Totenbahre legen.«
Vor dem Rathaus hielten sie an, und Jürgen gab ihnen die beiden schweren Ruder zu halten und stieg langsam und bedrückten Herzens die Steintreppe hinauf. Man hatte sie aus den Fenstern gesehen, und in allen Türen standen Beamte und sahen ihnen entgegen und wußten nicht recht, ob sie über die Erscheinung des Wassermanns lächeln oder ob sie traurige und mitfühlende Gesichter machen sollten. Bis einer, dem der ganze Aufzug amtlich nicht korrekt erschien, ihn mit strenger Sachlichkeit fragte, was er wünsche.
Ja, er wolle zum Herrn Bürgermeister. In welcher Sache? In einer Sache der Barmherzigkeit. Dafür sei das Wohlfahrtsamt zuständig. Aber da schob ihn einer der älteren Beamten sacht zur Seite, sagte ruhig, daß für eine solche Sache kein Amt zuständig sei, sondern ein Mensch, der selbst Kinder habe, nahm Jürgen leise beim Arm und führte ihn zum Bürgermeister.
Hier stand Jürgen neben der Tür, setzte sich nicht auf den Stuhl, der ihm angeboten wurde, sah aufmerksam und bescheiden in das nicht unfreundliche Gesicht mit der goldenen Brille und erzählte mit schwerfälligen Worten, daß die Dörfer verhungerten und daß man für die Kinder etwas sorgen müsse, bevor sie hinübergingen nach der »Goldenen Stadt«.
Der Bürgermeister ließ ihn aussprechen und sagte dann, daß der Kreis in der gestrigen Sitzung beschlossen habe, den Dörfern mit Lebensmitteln zu helfen, daß auch die Stadt sich an diesem Werk beteiligen wolle und er so ohne Sorgen zurückfahren könne. Für die Sieben, die er mit habe, werde sich schon Wegzehrung finden. Aber er möchte ihm nur noch sagen, weshalb gerade er, von dem bekannt sei, daß er ein scheuer und stiller Mann sei, diesen Zug unternommen habe. Darauf wußte Jürgen nur zu sagen, daß nur zu einem stillen Wasser die jungen Tiere kämen, um zu trinken, und wenn das Wasser leer getrunken sei, dann müsse die Erde schreien, damit die anderen es hörten.
Der Bürgermeister ging mit ihm hinunter, wo die Sieben noch immer, dicht zusammengedrängt, standen, die beiden Ruder wie Fahnenstangen aufgerichtet in ihrer Mitte. Er blieb auf der Steintreppe stehen, sah die Kinder lange an und sagte dann zu den rings um sie Versammelten, daß hier die kleinen Abgesandten einer großen Not ständen, geführt von einem wahrhaft barmherzigen Manne, der ein einfacher Fischer sei wie Petrus, der Jünger des Herrn; daß die Bürger zum Rathaus bringen möchten, was sie an leiblichen Gütern entbehren könnten, damit es in den nächsten Tagen auf die Dörfer verteilt werden könne; daß sie aber darüber hinaus diesen Sieben heute noch, bevor sie wieder abführen, etwas Wegzehrung in ihr Boot bringen möchten, damit die Kinder erführen, daß man auch in der Stadt seinen Nächsten liebe wie sich selbst.
Er sagte es einfach und schön, so daß die Frauen weinten und die alten Rentner übermäßig an ihren Pfeifen zogen, bedankte sich nochmals bei Jürgen, bat ihn, nicht länger mit den Kindern in der Sonnenglut des Platzes zu stehen, und forderte dann mit einer stummen Handbewegung die Menge auf, sich nicht länger der bloßen Neugier hinzugeben, sondern zu tun, worum er gebeten hatte.
Jürgen mußte Auskunft geben, wo sein Boot lag und wann er wieder abfahren wolle. Und dann verschwanden seine sieben Kinder in der Menge, an den Händen fortgezogen, auf den Armen fortgetragen, und bald stand er allein mit seinen beiden Rudern auf dem schattenlosen Marktplatz, ein bißchen müde von dem Aufruhr der letzten Stunde und ein bißchen traurig, daß sie ihm die Kinder fortgenommen hatten und er nun wieder nichts war als der Fährmann, der seine Wanderer übergesetzt hatte. Um die Mittagszeit kamen sie zurück, eins nach dem anderen.
Ihre Gesichter waren froh verstört, ihre Leinensäcke gefüllt, und darüber hinaus wurde der Kahn beladen mit Kartoffeln und Mehl, mit Brot und Zucker, so daß sie nun in Wahrheit abfuhren wie über ein großes Meer, mit gehißtem Segel und winkenden Händen, nach einer fernen Küste.
Sie kamen, da Jürgen gegen den Strom zu rudern hatte, erst um die Abendzeit an, entluden das Boot an derselben Stelle im Weidendickicht, verabredeten, nach einer halben Stunde erst zwei Boten zu den Dörfern zu schicken, und leisteten einen großen Schwur, nichts von Jürgen zu sagen und ein Märchen zu erzählen, daß ein fremdes Boot sie zur Stadt gefahren habe.
»Wenn sie es wissen, daß ich es gewesen bin«, sagte er zu Marte, »würden sie es vielleicht wegschütten und die Kinder schlagen.« »Sie würden es erst essen und dann dich schlagen«, erwiderte Marte. »Oder hast du gesehen, daß Wasser bergauf fließt?«
Aber das Geheimnis zerbrach schon am nächsten Tage. Sie lagen am Rand einer Moorwiese und beschlossen, eine Hütte aus Zweigen und Moos zu bauen, damit sie für kommende Regenzeiten ein Haus hätten wie die sieben Zwerge im Märchen. Und während sie begannen, Äste und Moospolster zusammenzutragen, schrie der kleine Michael, ein Kätnerkind, gellend auf und stürzte aus den Porstbüschen heraus, die Arme in einer entsetzten Gebärde weit von sich gestreckt. »Eine Kreuzotter!« schrien die andern. »Sie hat ihn gebissen.«
Es ändert nichts daran, daß Jürgen die Schlange mit dem Pfahl, den er auf der Wiese aufgelesen hat, tötet. Es ändert auch nichts daran, daß er den Pfahl fallen läßt und beide Hände gegen die Brust legt. Er weiß es selbst und sieht nur einen Augenblick den Kindern nach, die Michael verlassen und weinend und schreiend durch den Fichtenwald davonstürzen. Es durchfährt ihn noch der Gedanke, daß die Furcht vor dem Bösen stärker ist als alle Liebe, und er fühlt den Gedanken als einen bitteren Geschmack auf den Lippen. Dann hebt er das Kind auf und trägt es in den Schatten. Auf dem Blatt des linken bloßen Fußes sieht er die beiden roten Punkte, die sich schnell bläulich färben. »Weine nicht, Michael«, sagt er, »es tut nur einen Augenblick weh.« Er kniet so, daß das Kind seine Hände nicht sieht, und mit einem schnellen Schnitt fährt die Spitze seines Messers durch die bläulichen Punkte hindurch. Noch bevor das Kind aufschreien kann, hat er seine Lippen auf die Wunde gedrückt und saugt das strömende Blut aus. »Alles Gift trinke ich heraus«, sagt er dann. »Nichts wird geschehen, und Jürgen verträgt es schon.«
Das Kind, mit blauen Schatten unter den Augen, sieht ihn an. Es kann nicht mehr weinen. Es sieht rotes Blut auf Jürgens Lippen, und ein immer wiederkehrendes Beben läuft über sein Gesicht. Jürgen bindet das Bein unter dem Knie mit seinem roten Taschentuch ab, schiebt einen Fichtenast unter die Binde und dreht sie fest. Dann hebt er das Kind auf die Arme und geht mit langen Schritten durch den Wald. Er läuft nicht, weil er sich erinnert, daß Erschütterung nicht gut für solche Wunden ist.
Als er das Feld durch die Stämme schimmern sieht, erschrickt er vor der glühenden Sonne, der Nacktheit der Fläche, dem freien Raum zwischen sich und dem Dorfe. Er macht einen Bogen um die Felder herum, immer im Schatten der Bäume, bis er von der anderen Seite an das Dorf kommt. Michaels Hütte ist die letzte in der Reihe, und er sieht vom Walde aus, daß die Straße sich mit Menschen füllt, er hört, daß eine Frauenstimme schreit, hoch und durchdringend, und er fühlt, daß es nicht gut ist, was geschehen ist. Hinter einer Hecke kommt er auf den Hof. Die Eltern sind nicht da, aber die Großmutter steht vor der Schwelle und ringt die Hände.
Er reicht ihr das Kind. Sie reißt es ihm aus den Armen, und ihre Augen sind mit Haß gefüllt. »Laß das bis später«, sagt er. »Lege saure Milch auf die Stelle und gib ihm etwas Schnaps. Es ist nicht schlimm, denn ich habe das Gift ausgesogen.«
Das Kind öffnet die Augen, deren Lider noch immer zittern, und sagt langsam: »Ja, er hat mein Blut ausgetrunken … ganz rot waren seine Lippen …« Jürgen will die Hand heben, um es noch einmal zu streicheln, aber er wagt es nicht, weil die Worte des Kindes ihn bedrücken. Es kann sein, daß sie etwas Gutes meinen, aber es kann auch sein, daß es seine Hand zurückstoßen würde, weil es sich graut vor ihm.
So geht er schnell vom Hof, denselben Weg an der Hecke entlang zurück, und ist im Walde, bevor die Frau die Eltern von der Straße zurückgerufen hat. Dort geht er langsam und wischt den Schweiß vor seiner Stirn. Und da ihm der Rand des Waldes zu hell ist, biegt er von seinem Wege ab, immer tiefer zwischen die Stämme hinein, und bleibt ab und zu stehen und blickt stumm auf seine Hände. Es ist ihm, als habe er etwas zerbrochen und trage die Scherben nun ohne Sinn mit sich. Sie werden es nun erzählen, alles. Vom Essen und von den Spielen im Walde und von der Fahrt in die Stadt. Sie werden die Kinder schlagen und niemals mehr erlauben, daß sie zu ihm kommen. Michael wird gesund werden, daran hat er keinen Zweifel, aber auch er wird nicht kommen, und nicht lange wird es dauern, dann werden sie wieder am Strom stehen und Steine werfen und böse Lieder singen. Ein fremdes Blut sind sie, das man zu sich biegen kann wie eine Weidenrute, aber wenn man sie losläßt, schnellt sie zurück, und weiter treibt das Boot im Strom.
Eine schwere Müdigkeit überfällt ihn. Er sitzt auf einem Baumstumpf, den Kopf in die Hände gestützt, und sieht zu, wie zwei Ameisen eine tote Raupe schleppen. Bei jedem Grashalm entgleitet ihnen die Beute, überschlägt sich einmal und liegt wie ein brauner Sarg auf dem Waldboden. Und immer von neuem beginnen sie mit ihrer hoffnungslosen Arbeit, und jedesmal bewegt sich die Last um eines Grashalmes Breite weiter.
Er steht erst auf, als die Sonne schräg durch die Äste fällt. Eines Schrittes Breite sind die Tiere in Stunden vorwärts gekommen, und bevor er geht, hebt er einen Ast auf, der auf ihrer Bahn liegt. Ein wenig beschämt ist ihm zumute, und als er an Marte und seine Netze denkt, geht er schnell quer durch den Wald, als habe er sich beim Spielen wie ein Kind verspätet. »Es schadet wohl nichts, Jürgen«, sagt Marte in ihrer nachdenklichen Art. »Es ist nicht gut, zu spielen, wenn der Wald brennt … komm nicht zu spät zurück heute.«
Es ist der erste Abend mit schweren Wolken über dem Moor. Aus dem grauen Dunst heben sich lautlos graue Gebirge mit rotfließenden Rändern, rücken zueinander, schieben sich über fahle Spalten, werden eine einzige hohe, verschleierte Wand, die nun still steht in sich und nur lautlos sich aufrichtet über dem Horizont. Die Vögel fliegen niedrig und stumm über den Strom, die Bremsen stechen, daß Jürgens Hände mit Blutstropfen bedeckt sind, die Fische springen auf dem Strom, daß überall weiße Kreise stehen, und im Schilf schlagen die schweren Hechte mit dumpfem Fall auf das schwärzliche Wasser. Die Erlen stehen fahl im letzten Licht, und bei jedem Windhauch spricht das Schilf von vielen Stimmen, die an seinen Halmen sind.
Ein Gewitter könnte kommen, denkt Jürgen. Gut wäre es, und die Menschen würden besser werden im Regen.
Er legt die Netze in den stillen Buchten und Altwässern aus. Das Garn der Netze rauscht bleich in die schwarze Tiefe, und jede Bleikugel, die an den Kahnrand schlägt, klingt noch einmal wider in den dunklen Erlen und den Rohrwänden, die lautlos aus dem Wasser steigen. Kein Vogel ist zu hören, weder über dem Moor noch über den dunklen Wiesen. Wie ein Totensaal ist das ganze Land, mit verhängten Fenstern und einem süßlichen Geruch, und nur die Strömung, die leise durch die Buchten zieht, gurgelt und klingt und klagt zwischen den Halmen.
Als Jürgen die letzten Krebsreusen ausgeworfen hat, bleibt er noch ein wenig in der dunklen Bucht, von der man über den Strom auf das Moor und die Wolkenwand sehen kann. Der Kahn, an eine Rohrwand gedrückt, liegt still, und nur die Halme scheuern an seinem Rand. Es klingt wie das Rauschen von Papier, das verstohlen um etwas gewickelt wird. Jürgen sitzt im Steuersitz, das Ruder vor sich über den Knien, und ab und zu fällt ein Tropfen vom Blatt in das Wasser, mit einem hellen Aufschlag und einem dumpfen Nachklang. Ganz regelmäßig, wie Wasser aus einer Rinne tropft.
Er ist sehr müde, aber sein Blut ist ganz ruhig, und die große Stille der Landschaft ebnet alles ein, die Gedanken, die Sorgen, die Wünsche. Zu Hause ist er in diesem Lande, in dem Geruch von Wasser, Erlen und Gras, in der dunklen, schweren Strömung, die dies alles trägt. So zu Hause, daß die Nachtschwalbe, die über dem Wasser spielend steigt und fällt, auf den Rand des Kahns sich niederläßt, ein dunkles, lautloses Bündel, aus dem nur der eintönige, schwermütige Gesang aufsteigt. Fern hinter den Wäldern fährt ein Wagen durch die Nacht, und das langsame, traurige Lied des Fuhrmanns hebt sich auf aus der stäubenden Spur, erfüllt den ganzen Raum zwischen seinem Wege und den verschleierten Sternen, keine Worte, nur der sanfte, große Bogen einer Melodie, und fällt verklingend zur Erde zurück, wie ein Vogel mit ausgebreiteten Schwingen sich fallen läßt, immer flacher, immer ferner, bis das Dunkel ihn verbirgt.
Immer noch springen die Fische, und mitunter tastet schon ein bläuliches Licht über die schwarze, geschliffene Fläche. Dann zuckt es über das Rohr, rührt die Blätter der Erlen und erstirbt, von einer dunklen Hand weggewischt. Lange nachher, sehr lange, hebt ein dunkler Ton sich hinter dem Moor auf, als gehe jemand über ein Gewölbe. Aber es kann auch eine ferne Rohrdommel sein oder ein schwerer Wagen, der weit hinter dem Moor über eine Brücke fährt.
Langsam taucht Jürgen das Ruder in das Wasser. Er möchte hier sitzen, die ganze Nacht, und den kühlen Tau auf seiner Stirn spüren, aber Marte hat gebeten, er möchte nicht zu spät kommen. Als er auf den Strom hinausfährt, dicht am dunklen Ufer entlang, knickt dort ein Ast, und ein Vogel schreit im Schlafe auf. Es ist ein leiser Ton, und schon ist alles wieder vorbei, aber in dem lautlosen Abgrund der Nacht zerbricht er das Schweigen so, daß Jürgen zusammenfährt und mit gehobenem Ruder in das Dunkel starrt. Nichts war, denkt er, ein Otter, der einen trockenen Zweig zertrat … Aber es ist ihm nun, als gehe dort jemand mit ihm mit, am Ufer entlang, von Stamm zu Stamm, barfuß, ein böses, spähendes Gesicht. Und er rudert schnell und atmet erst auf, als das Haus unter den Eichen erscheint und das matte Licht hinter den Scheiben steht.
Dann erlischt das Licht, und die Sterne ziehen auf. Die dunkle Wand steigt und steigt. Blaue Flammen schießen über ihren Rand empor, reißen Wald und Strom und Feld aus dem Verborgenen heraus und lassen sie wieder stürzen ins Bodenlose. Ein leiser Wind geht einmal den Strom entlang, beugt das Schilf, wendet jedes Blatt, ist jetzt an der Fähre, jetzt am hohen Rohr. Und dann ist er fort, und alle Türen wehen lautlos hinter ihm zu. Und lange hinterher geht der Donner über die Welt, noch immer fern, aber nun mit hergewandtem Mund, und seine dunklen Worte fallen nun schon einzeln und schwer aus dem Gewölbe heraus. Marte ist die erste, die es hört, und gleich nach ihr hebt der Hund den schmalen Kopf. Einen laufenden, stürzenden, schnell sich nähernden Schritt, und dahinter ein verstohlenes, dumpfes Gewühl, in dem es sich rührt und klirrt wie Eisgang am Horizont. Es klopft schon leise und schnell an das Fenster, als sie die Hand auf Jürgens Schulter legt. »Ja«, sagt Jürgen und steht auf den Dielen, ganz wach, obwohl er nichts weiß. »Den Schlüssel!« ruft der Bucklige in das geöffnete Fenster. »Schlüssel zum Kahn … schnell … sie kommen!«
Marte fragt nichts. Sie reicht den Schlüssel hinaus. Das ferne Wetter flammt auf, und sie sieht die verwachsene Gestalt, die sich an die Hauswand preßt, um nicht gesehen zu werden. Das Licht wirft sich bläulich auf sein altes Gesicht. Die Schatten um seine Augen sind schwarz wie in leeren Brunnen. Beim nächsten Aufleuchten ist er fort, und seine verkrümmte Gestalt kauert schwarz über dem aufglühenden Strom.
Sie wachsen auf um das Haus, aufschießend aus der geblendeten Erde, bis der Kreis geschlossen ist. Sie haben rußgeschwärzte Gesichter. Sie haben Dreschflegel und Wagenrungen. Sie haben einen Leiterbaum, der gegen die Tür donnert. Wie Wölfe stehen sie um das Haus, und jeder Blitz umzieht ihre Gestalten mit glühenden Umrißlinien und schleudert einen blauen und flimmernden Hintergrund um das Rasende ihrer Gebärden.
Aber alles ist stumm, bewegt, aber ohne Laut. Es würde klarer und leichter sein, wenn sie heulten, wenn Flüche aufstiegen und Verwünschungen niederstießen. Aber sie sind stumm, und ihr Haß hat die Gefährlichkeit, die der Haß der Stummen hat, der sich nicht im Schreien entlädt, sondern im Blut.
»Halt den Hund fest!« befiehlt Jürgen. Die Scheiben zerklirren unter einem Stein. Er reißt Marte zur Seite und greift nach dem flachen Ruder, das am Herd steht. Es macht ihn unsicher und hastig in seinen Bewegungen, daß es so still ist. Daß nur das Wetterleuchten lautlos aufflammt und Feuer in die Stube wirft. Und es macht ihn sofort ruhig, daß der Hund aufheult und an seinem Halsband würgt, als er die Hand hebt, um den Balken von der Tür zu nehmen. Aber er hat die Eisenkrampe noch nicht gehoben, als das Haus unter den dröhnenden Schlägen der Pflugschar auf der anderen Stromseite zu erzittern beginnt. Dort steht jemand und hämmert wie ein Rasender gegen das schwingende Erz. Die Schläge überstürzen sich, und aus den tiefen, schweren, einzelnen Rufen, die sonst über das Wasser gingen, wird ein einziger heulender Ton. Schwingungen, die sich übereinanderstürzen wie Glocken, an deren Strängen Verzweifelte hängen, um die Welt zusammenzuschreien zu einer Stätte des Brandes oder des Todes oder des Mordes.
Es ist ein totes Metall, das schreit, aber seine Stimme ist die Stimme eines Menschen, und das ganze Gewölbe, das lautlos und ungeheuer auf dem Kreis des Horizontes liegt, springt vor dieser Stimme auseinander, und die Stimme bricht heraus aus den Spalten des Gewölbes bis ins Unsichtbare, aus dem ein jammerndes Echo antwortet.
»Heini«, sagt Marte, »er ruft.«
Das erste, was ihm antwortet, ist ein Geheul der Wut rund um das Haus. Die Stimme hat das Schweigen zerschlagen, die Heimlichkeit des Gerichts. Es ist, als ob ein Schlafender sich aufrichte, über den man das Messer schon gehoben hatte.
Und nun tritt der Schlafende heraus, schließt die Tür hinter sich, stellt das Ruder mit beiden Händen vor sich hin. »Leute, was tut ihr?«
In diesem Augenblick stürzt auf der anderen Stromseite die Pflugschar von ihren Drahtbändern auf die Erde. Man hört ganz deutlich, wie sie auf einen Stein schlägt und der schwingende Erzton klagend abbricht wie der Ton einer schwingenden Saite, die man zerschneidet. Einen Augenblick lang hört man den Wind wieder den Strom entlanggehen, durch das Schilf, über die Erlen, in das Rohr. Und noch einmal fragt die schwere Stimme: »Leute, was tut ihr?«
Dann fliegt der erste Stein. Er streift Jürgens Wange und dröhnt gegen die Tür. Der Hund heult auf, und dann tritt Jürgen von der Schwelle hinunter und beginnt, um sein Leben zu kämpfen. Er kennt kein Gesicht und keine Stimme. Aber er braucht das auch nicht. Er sieht ein Rudel Wölfe, und es ist gleich, ob sie Namen haben oder nicht. Er weiß, daß es nicht um ihn geht, daß es um das »weiße Lamm« geht. Irgendwo hinter den verrußten Gesichtern steht das fremde Gesicht mit den engen Augen wie der Jäger hinter der Meute. Und wenn er zuschlägt, ist es ihm, als schlage er in das fremde Gesicht.
Die Masse macht sie feige und ungeschickt. Und wenn sie geschlossen herandrängen, läßt Jürgen das Ruder im Kreise sausen. Dann weichen sie zurück, und dann schlägt er zu. Es klingt dumpf, als schlage er den Körper eines schweren Fisches gegen die Kahnwand. Und so sieht er sie auch vor sich: Hechtgesichter, die die Zähne entblößen. Er ist nicht zornig, aber er ist berauscht. Glut und Bitterkeit des ganzen Sommers brechen aus ihm heraus. Das schwelende Fieber aller Monde steht auf und entlädt sich in dem blauen Licht. Und er lächelt, als er denkt, daß sie am Fenster steht und ihm zusieht, die er auf den Händen getragen hat auf das Lager der Liebe.
Er hört ihren Schrei früher, als er das Messer in der linken Schulter spürt. Er ist herumgefahren bei dem Schrei, und das ist ihm gut gewesen. Er kann das Ruder jetzt nur noch in der rechten Hand halten, aber der Rausch ist nun verflogen, und der Zorn ist da. Er brüllt einmal auf, und damit ist es entschieden. Es ist nicht mehr nötig, daß Marte die Tür aufstößt und der Hund aufheulend dem Mann mit dem Messer an die Kehle springt. Es ist nicht nötig, daß vom Strom her der keuchende Schrei Südekums ertönt und seine Eisenelle auf die »Blindschleichen« niedersaust. Daß Heini auf dem Wege kauert und mit einer Schleuder Steine in die zerstiebende Masse schleudert, die wie Geschosse in die Körper schlagen. Es wälzt sich alles fort, dem Dorfe zu, das Aufheulen des Hundes, die Flüche des Schneiders, das Schreien der Getroffenen.
Marte aber steht in der Tür und sieht zu, wie die am Boden Liegenden sich aufrichten, einer nach dem anderen, und sich zum Strom hinunterschleppen. Bei jedem Blitz beugt sie sich vor, als suche sie jemanden, aber der Gesuchte ist nicht da. Und so bleibt sie stehen, bis Jürgen mit den andern zurückkommt, die Augen in die Blitze gerichtet, die ihr weißes Gesicht aus dem Dunkel heraufheben und wieder fallen lassen.
Jürgen ist nun wieder still. Sie waschen seine Wunde aus und verbinden sie. Heini zittert am ganzen Körper, und Südekum ruft die Blitze an, daß sie herniederfahren und das Nest der Blindschleichen ausbrennen von der Erde. »Eine hübsche Reihe von Monaten wird es geben«, sagt er händereibend, »Vorbereitung für die ›Goldene Stadt‹.«
Aber Jürgen schüttelt den Kopf. »Kein Gendarm, kein Doktor«, sagt er. »Sie müssen fort nach Amerika, und wenn du sie anzeigst, müssen sie bleiben.«
Südekum stößt die Elle auf den Boden. »O du Fährmann Gottes«, erwidert er, »in den Strom könnten sie ihn werfen, und er würde noch die Hand heben, daß es niemand weitererzählt.«
»Es soll so bleiben«, sagt Marte, »wie Jürgen es will … sie werden nun nicht wiederkommen.«
Bald nachdem sie fort sind und Heini den Kahnschlüssel wiedergebracht hat, zieht das Gewitter auf, und ein schwerer Regen stürzt über das Land. Marte hat sich noch nicht niedergelegt. Sie sitzt auf dem Bettrand, hält Jürgens Hand und sieht hinaus. Die Donner brüllen nun über Strom und Wald, die Stube ist weiß, und durch das zerbrochene Fenster strömt der Geruch der erweckten Erde.
»Sie werden nun sagen, daß sie den Teufel ausgetrieben haben, Marte. Und daß Gott mit dem Regen ein Zeichen gibt, daß sie wohlgetan haben.«
Sie fährt nur mit den Fingern leise über seine Hand, und beim nächsten Blitz sieht er, daß sie weint. Mit offenen Augen, ohne ihre Haltung zu verändern.
»Hab keine Angst«, sagt er. »Sie gehen bald fort … ein faules Wasser kann neu werden, weshalb nicht ein faules Dorf? Neue Menschen werden kommen, grün wird die Erde wieder sein. Fest muß man stehen im Strom wie der Heilige, von dem die Fischer erzählen. Christophorus, der das Jesuskind trug. Auch du wirst ein Kind tragen, später, wenn es Zeit ist … weine nun nicht mehr.«
Nichts weiß er, denkt sie, von dem, worum ich weine. Der Gute und Starke. Bald gehen sie fort, aber vorher muß es geschehen, so oder so. Damit ich ein Kind tragen kann, das nicht erblindet in meinem Leibe. Kraft hat er, ein ganzes Dorf zu schlagen und auszutreiben, aber mehr Kraft brauche ich, eine andere Kraft … Zehnmal bin ich dort gewesen, zwischen den Kiefern, und wieder umgekehrt, aber einmal muß ich gehen, bald, ehe die andern gehen …
Dann legt sie sich nieder neben Jürgens unruhigen Schlaf.
Die Wunde heilte ohne Arzt. Zwar war am Morgen das Fieber da, aber er stand auf und bat Marte, mit ihm in den Wald zu kommen. Der Regen fiel noch immer. Sie gingen bis zu einem Wiesenrand, und hier zeigte Jürgen auf ein niedriges, feinblättriges Kraut. Marte mußte es pflücken, weil er sich nicht so tief zur Erde beugen konnte. »Mein Vater«, sagte er, »kam einmal mit der Hand unter das Fährseil. Sie dachten, daß die Finger abfallen würden, aber er nahm mich mit an diese Stelle, und ich mußte es pflücken für ihn. Nach zwei Wochen ruderte er wieder. Viel wußte er von dem, was die Erde heilt.«
Als sie zurückgingen, mußte sie ihn stützen. Es war das erstemal, daß er sich auf sie lehnte, und in aller Dunkelheit ihrer Seele fühlte sie die tiefe Beglückung ihrer Liebe. Sie hatte nie viel davon gewußt. Sie hatte gesehen, daß der Vater die Mutter schlug, wenn er betrunken vom Markt kam, wie es im Dorfe üblich war, und daß ihre Mutter sich zur Wehr gesetzt hatte mit allem, was ihr in die Hände gekommen war. Sie hatte dann erfahren, daß sie begehrt wurde und daß es süß sein konnte, dem nachzugeben. Aber es war das gewesen, was Jürgen die »Lust« nannte, ein berauschtes Gefühl, das mit Bitterkeit schnell erstarb.
Nun aber ging sie neben diesem, der ein Riese und ein Kind war, der die Hand unter das Beil halten würde für sie, der ein Dorf auseinandergetrieben hatte und nun den Arm um ihre Schulter legte, um nicht zu fallen. Sie blieben am toten Acker stehen, den Jürgen noch nicht gepflügt hatte. Die Stoppel war vom Sommer verbrannt, und die Steinbank glänzte dunkel im Regen. Von allen Zweigen tropfte es in die gelockerte Erde. Sie standen unter der letzten hohen Fichte und hörten, wie der Wald im Regen klang. Es war noch Blattzeit, und ein Bock trieb seine Ricke quer über das Feld an ihnen vorbei. Sie hörten den hohen, halb klagenden, halb lockenden Ruf des getriebenen Tieres, wie er hin und her durch das Gebüsch ging und dann über brechende Zweige hinaus verklang. Jürgen sah zur Seite, nach dem Dorf hinüber, als ob er nichts gesehen hätte, aber sie legte die Arme um seinen Hals und drückte ihren Körper dicht an den seinen. »Ein Kind wirst du haben, Jürgen«, sagte sie leise, »wie ich dir versprach. Bald wirst du es haben, und es wird bei dir bleiben, alle Zeit … wenn sie fortgegangen sind, wirst du nicht mehr zu warten brauchen …«
Zu Hause legte sie die Kräuter auf seine Wunde, und am nächsten Morgen war das Fieber fort. Er wollte nicht liegenbleiben, sondern saß draußen vor der Schwelle, zum erstenmal in seinem Leben die Hände müßig gefaltet, und sah zu, wie die Wolken über das Moor zogen, wie die Schwalben sich sammelten und das Gras sich aufrichtete. Indessen säuberte Marte das Haus, als stehe Ostern vor der Tür. Bis in die Bodenkammer hinauf scheuerte und wusch und putzte sie, nahm jeden Gegenstand in ihre Hände, stellte ihn neu an seinen Platz, sah die Kleider durch, die Truhen, die Netze, holte Glas aus dem Schuppen und setzte die zerbrochenen Scheiben ein und war von der Frühe bis zum Abend so, als bereite sie ein Fest oder als rüste sie alles zu, um ihren Dienst zu übergeben und ohne Tadel vor dem Herrn zu bestehen.
»Was räumst du?« fragte er. »Lange ist es doch noch bis Weihnachten?«
Aber sie sah lächelnd an ihm vorbei über den Strom. »Ordentlich und sauber muß es sein«, erwiderte sie, »nach allem, was gewesen ist …«
Und dann stieg Jürgen wieder in seinen Kahn und begann zu fischen. Die Nächte mit den Sternschnuppen kamen, und die ersten Abendnebel kamen. Die späte und kümmerliche Ernte kam, die Tage verkürzten sich, und die Eichelhäher kamen auf die Felder, um zu sehen, ob die Frühkartoffeln schon gegraben waren. Ein Motorboot war von der Stadt gekommen und hatte seine Vorräte ausgeladen, und ein Brief vom Bürgermeister und vom Landrat war gekommen, in dem der Fährmann und Fischer Jürgen Doskocil bedankt wurde für seine Nächstenliebe und gute Tat. Und der Pfarrer war dagewesen und hatte drei Obstbäume gebracht und sie selbst gepflanzt und lange bei Jürgen an der Fähre gesessen und mit ihm gesprochen. Aber Jürgen hatte den Kopf geschüttelt. Nein, er wollte keine Bestrafung. Wenn bei Gott ein Gerichtssaal wäre, dann würden sie alle schlecht bestehen, und solange er nicht selbst vorlade, habe Jürgen kein Recht, den Amtsdiener zu spielen.
Und eines Tages in der Frühe, als Jürgen zum Wasser gehen wollte, stand auf der Schwelle ein kleines Boot aus Kiefernrinde, ungeschickt und etwas schief aus dicker Borke ausgehöhlt, mit einer geschälten Weidenrutenspitze als Mast und einem weißen Tuchfetzen als Segel. Ein Boot, wie er es den Kindern im Sommer geschnitzt hatte, wenn sie im Wald lagen und beim Blick auf das Schnitzmesser in seinen Händen ihren Hunger vergaßen.
Er bückte sich und hob es vorsichtig auf. Eine Malvenblüte lag im Kiel, ohne Stengel abgepflückt, wie Kinder Blumen pflücken. Und über diesem Boot vergaß Jürgen alle Bitterkeit des Jahres. Er lächelte wieder zum ersten Male seit der nächtlichen Schlacht, ging noch einmal zurück und stellte das Geschenk mitten auf den Tisch an Martes Bibel, so daß der Mast aufrecht stand und das weiße Segel freundlich über den schwarzen Einband leuchtete. Und eines Tages kam Heini und erzählte, daß die Papiere gekommen seien, die Einreiseerlaubnis und die Fahrkarten, und daß heute eine große Versammlung sei und daß am fünfzehnten September das Dorf nach Amerika gehen werde. Und daß, ja, daß auch für ihn eine Freikarte gekommen sei, weil seine Mutter das mit dem Amerikaner heimlich beredet habe und daß sie ihn eher totschlagen könnten, als daß er mit den »Erweckten« nach Amerika ginge.
Sie achteten nicht darauf, daß Marte aufstand und hinausging. Auch nicht darauf, daß sie beim Gehen ihre Gelenke vorsichtig bewegte, als seien sie gefroren. Nur der Hund stand langsam vom Herd auf und folgte ihr.
Sie ging langsam zum Strom hinunter, trat auf die Fähre und setzte sich an dem Ende auf die Seitenwand, so daß sie den Rücken an das Fährseil lehnen und die Hände um die Knie falten konnte. Hier saß sie gern, wenn Jürgen auf dem Wasser war. Hier konnte man die Strömung hinuntersehen, und wenn man die Augen zur Hälfte schloß, konnte man denken, daß die dunkel ziehende Flut sie langsam heben würde mitsamt der Fähre und sie ruhig gleitend hinaustragen würde. So wie eine Wolke, die sich langsam verändert, sich auflöst, nicht mehr da ist.
Aber wenn sie auf der anderen Seite der Fähre saß und stromauf blickte, dann war alles unruhig und schwer und gefährlich. Das Licht fiel anders auf den Strom, jeder Wirbel war sichtbar, wie er ankam, und es war, als stürze alles Wasser sich unaufhaltsam in sie hinein und sie müßte ersticken wie ein Ertrinkender, der den Mund voll Wasser bekommt.
Die Sonne stand ganz niedrig über dem Moor, dunkelrot, ohne scharfe Ränder. Das Wasser des Stromes glühte, und die Büsche und Torfhauben auf dem Moor warfen lange Schatten, so daß sie die Füße anzog und mit dem Rock bedeckte. Kinder riefen auf den Feldern. Ein blauer, warmer Rauch stieg von frühen Kartoffelfeuern in die stille Luft, und an einer der Eichen am Hause klopfte noch ein später Specht. Sie saß ganz still und ganz geöffnet und ließ dies alles in sich hineinfallen. Sie hatte von der Erde nichts gewußt, als daß es schwer sei, sein Brot aus ihr zu graben, daß der Pfarrer wohl von Saat und Ernte sprach, aber daß der Rücken schmerzte, wenn man säte und erntete. Daß die Sonne brannte und der Regen näßte und der Frost in den Händen schmerzte, wenn man die letzten Rüben ausnahm. Daß der Wald und die Erde schön sein mochte für die Frau des Landrats, wenn sie in ihrem Wagen saß, aber daß man von Wald und Erde nur die Mühsal erfuhr, wenn man in Arbeit und Armut aufwuchs.
Aber nun, in dieser Stunde, in der alles auf der Schwelle stand, wußte sie, daß dieses Land schön war, auch für sie. Der Strom und dahinter das Moor, der Wald und davor die Felder. Daß es schwer sein würde, dies alles zu lassen und fortzugehen. Jürgen und den Strom, den Hund und die Blumen am Fenster, die Sonne über dem Moor und den Rauch über den Feldern. Daß alles gut sein könnte ohne das Kind. Denn da war doch Grita und der Hund und die Finken, die von ihrer Schwelle Körner holten. Und Jürgen war da, ein ganzes Reich voller Freude und Lust. Mochten die Tiere des Waldes Kinder tragen und aufziehen, weil niemand da war, der ihre Kinder verzauberte und blind machte im Mutterleib.
Aber weshalb sollte sie gehen, zuerst zu den Kiefernbüschen, um auf den Knien zu liegen, und nachher weiter, um wieder auf den Knien zu liegen? Mußte ein Tier auf den Knien liegen, um ein Kind zu haben? Wo war ihre Sünde, daß sie auf den Knien liegen mußte?
Sie wendete ein wenig den Kopf, weil sie den Motor eines Bootes stromauf hörte. Ja, das war das Boot aus der Stadt. Morgens war es vorbeigekommen, mit Fahnen geschmückt, eine Kapelle an Bord und viele Menschen, die zum Hause hinaufgewinkt hatten. Ein Fest hatten sie gefeiert, und nun kamen sie zurück. Aber sie wußten nicht, was hier geschah. Niemand wußte es, nicht einmal Jürgen. Nur sie allein. Da saß sie auf der Fähre, mit gefalteten Händen, still wie eine Schlafende. Aber ihre Hände spannen. Niemand sah es, aber sie sah es. Spannen an einem grauen Faden, der auf dem dunklen Holz der Fähre sich aufrollte, und die rote Sonne machte ihn rot …
Das Boot kam in die Biegung. Eine Mädchenstimme sang, von gezupften Saiten leise begleitet. »Standen einst fünf junge Birken … Birken jung am Memelstrand … sing, sing, was geschah … keines den Bräutigam fand …«
Wieder wendete sie langsam das Gesicht und sah es alles hineingleiten in das Feld ihrer Augen: die weiße Welle vor dem Kiel des Bootes, die Fahnen, die Kleider, die Gesichter. Wenn das Boot gegen das Fährseil stößt, dachte sie, dann schleudert es mich vielleicht in den Strom … sie werden schreien, aber sie werden mich nicht finden, weil ich mich mit meinen Händen anklammern werde am Kraut des Grundes, wie die Wasservögel, wenn sie verwundet sind … Aber das Boot glitt über das Seil hinweg, und sie winkten ihr mit Tüchern und Gläsern und Händen zu. Sie wußten wohl, daß sie des Fährmanns Frau war. Sie wollte die Hand zur Antwort heben, aber sie konnte sie nicht von dem Faden losreißen, an dem sie spann. Sie mühte sich, und ihre Augen starrten voller Angst auf das schnell vorbeiziehende Boot. Sie öffnete die Lippen, um zu schreien, aber sie konnte nicht. Nun war es schon an der Rohrinsel, noch eine blaue Fahne am Mast, und dann verschwand es hinter den Erlen.
Gleich darauf tauchte der letzte Sonnenrand unter das Moor, und ein kühles Licht floß von allen Seiten über ihr zusammen. Die Fähre schwankte leise unter den nachziehenden Kielwellen, und ein feiner, weißer Schaumstreifen lief murmelnd an beiden Seiten hinter dem Boot her. Dann schwieg auch dieses, und der erste Reiher fiel mit schweren Flügeln aus dem Abendhimmel ins Rohr. Der Hund stand auf, sah sie einmal an und ging dann langsam zum Hause hinauf. Und dann war sie ganz allein. Über dem dunklen Wasser und unter dem Abendstern, der weiß und klein über dem Abendrot stand.
Von diesem Abend an war Heini verschwunden. Man suchte nach ihm, in den Wäldern und im Strom, aber man fand keine Spur. Seine Mutter sagte, daß sie ihm noch einen zweiten Buckel anschlagen würde, wenn sie ihn fänden, aber sie fanden ihn trotzdem nicht. Und dann begannen sie ihr Hab und Gut zusammenzupacken für die ›Goldene Stadt‹.
Am Ende der ersten Septemberwoche kam Jürgen in der Abenddämmerung von der Stadt zurück, wo er Fische abgeliefert hatte. Der zunehmende Mond stand vor ihm über dem Wasser, und dunkle, lose Wolken gingen langsam in einem warmen Wind über die weiße Sichel. Dann verfinsterte sich die Erde, ohne ganz dunkel zu werden, und dann brach das Gestirn, wandernd scheinbar, wieder aus einer Lücke der Wolken heraus. Es war ein unruhiger Wechsel, und alle Formen der Erde, das Schilf, die Erlen, der Saum des Waldes, hatten etwas Schwankendes, das floh und wiederkam, sich verhüllte und wieder an alter Stelle war.
Jürgen liebte dieses Licht nicht. Es blendete und verwirrte ihn, und er mußte einmal um eine Rohrinsel zurückfahren, weil er die Mündung des Stromes verfehlt hatte. Die Stadt war ihm laut und böse erschienen, und über seinen Augenbrauen war ein dumpfer Schmerz, den er kannte und vor dem er sich fürchtete. Er sah sich von Zeit zu Zeit um, wobei er den Kopf ganz langsam zur Schulter wendete, aber nichts war zu sehen als Wasser, ein fernes Ufer, ein einsames Licht.
Mitten zwischen den Rohrkämpen, die auf dem geraden Wege von der Stadt vor der Strommündung lagen, sah er plötzlich, daß seine Füße im Wasser standen. Er beugte sich vor und tauchte die Hand hinein, aber es war kein Zweifel, daß Wasser im Boot war. Er trieb den Kahn in das Rohr, damit er still lag, griff nach der Kelle und begann das Wasser auszuschöpfen. Eine dunkle Unruhe erfüllte ihn, aber dann dachte er, daß das Boot den ganzen Tag in der Sonne gelegen hatte und daß es möglich sein konnte, daß das Pech an einer Stelle sich gelöst hatte und eine Fuge gesprungen war. Doch schöpfte er hastig, obwohl er sah, daß keine Gefahr war.
Das Wasser aus der Kelle fiel mit dumpfem Klatschen in das Rohr, und der Lärm seiner Arbeit bedrückte ihn noch mehr. Er ließ die Hand ruhen und hob den Kopf. Das Rohr flüsterte im Wind, ein Fisch sprang draußen auf der freien Fläche, und dann ging jeder Ton wieder fort, schnell und lautlos, zum Rand eines ungeheuren Kreises, an dem es den Atem anhielt. Was für ein Unsinn, dachte er und beugte sich wieder zum Boden des Kahns. Und bei dieser Bewegung sah er, daß ihm gegenüber auf der Ruderbank jemand saß. Ein dunkler Mantel, ein beschattetes Gesicht, bloße Füße, die weiß im dunklen Wasser standen. Eine Wolke stand vor dem Mond, aber es war da.
Vielleicht dauerte es nicht länger als der Raum zwischen zwei schnellen Herzschlägen. Aber in diesem Raum erkannte Jürgen, daß es MacLean war. Und MacLean war zum Boden des Kahns gebeugt wie er selbst und starrte auf seine weißen Füße. Die rechte Hand hing ins Wasser, als spiele sie, und die linke hielt den großen, flachen Hut an die Brust gedrückt. Keine Kälte ging von ihm aus, kein Grauen. Er saß wie ein Fahrgast, den man mitnimmt und der gedankenverloren und müßig ins Wasser blickt. Und dann war er fort, und der Mond kam wieder und beschien das graue Holz der Ruderbank.
Jürgen schöpfte den Rest des Wassers aus, kniete auf dem feuchten Boden nieder, fand den Spalt zwischen zwei Brettern und stopfte einen von den Lappen hinein, die immer unter dem Steuersitz lagen. Er wartete noch eine Weile, ob es dicht hielt, und fuhr dann aus dem Rohr in die Strommündung hinein. Die Landschaft schien ihm nun ganz ruhig und geordnet wie sonst. Er roch das welkende Erlenlaub, das Schilf, die letzten Schleier des Kartoffelrauches, die in den geschützten Buchten hingen. Er sah auf seine Hände: sie waren ruhig wie immer, und der Schmerz über den Augenbrauen war fort. Wie ein Geschwür sammelt es sich, dachte er, und dann bricht es auf, und dann ist es gut … Nur seine Füße waren kalt, und in seinen Knien war ein dumpfes Gefühl, als seien sie zu lange gebeugt gewesen.
Als er um die letzte Biegung kam, sah er Marte auf der Fähre knien und ihre Hände waschen. Zu Hause könnte sie es doch tun, dachte er noch, nicht gut ist es, über dem treibenden Wasser zu knien.
Aber dann beugte er sich ohne Gedanken vor und sah ihr zu. Es war zu weit, um ihr Gesicht zu erkennen. Nur die Gebärde war im Mondlicht sichtbar. Immer beugte der Körper sich und tauchte die Hände in das Wasser, und dann hoben sie sich auf, flach nebeneinandergelegt, als wollten sie das Geschöpfte halten. Aber es zerrann ihnen zwischen den Fingern, und dann strichen die Hände aneinander auf und nieder, als wollten sie auch der letzten Tropfen sich entledigen. Und dann hoben sie sich ins Mondlicht, als würden sie prüfend betrachtet, und plötzlich, wie in einem Schauder, tauchten sie wieder in die Tiefe.
Zuerst sah es ganz natürlich aus, obwohl etwas seltsam in dem ungewissen Licht. Aber dann wurde die Unermüdlichkeit und die starre Gleichmäßigkeit der Bewegung unheimlich, als steige dort in der Strömung etwas auf und nieder, und Jürgen begann sich plötzlich zu fürchten.
Aber als er die Ruder mit hartem Schlag ins Wasser tauchte, hielt Marte ihre Hände still, als lausche sie, richtete sich langsam auf und ging ruhig zum Hause hinauf.
Als er aus dem Boot stieg, fühlte er von neuem, daß seine Knie müde waren, und noch einmal dachte er an die Erscheinung zurück. Aber auch jetzt war sie nur wie ein Traum, ohne Grauen und das Kaltdurchwehende, das sonst hinter dem zweiten Gesicht war.
Marte hatte sich schon hingelegt. Es brannte kein Licht in der Stube. »Ich hörte dich kommen«, sagte sie, »hast du schon gegessen?« Ja, er hatte im Kahn gegessen, bevor er abgefahren war. »Dann komm zu mir«, sagte sie. Ihre Stimme war leise und ruhig, aber etwas verwunderte ihn an dieser Stimme. Sie sprach, als schlafe sie schon, und die Stimme kam aus der Ferne zu ihm. Nicht aus ihrem Körper, sondern weit hinter ihrem Körper her, wie eine Stimme, die im Dunkeln von einem See ruft, und man weiß nicht, ob der Rufende in einem Boot ist oder schwimmt oder am andern Ufer steht.
Er hielt in der Bewegung des Auskleidens inne und beugte sich ein wenig vor, um besser hören zu können, aber ihr Atem war ganz ruhig, und ihre braunen Arme lagen still nebeneinander auf dem weißen Kissen. »Du sollst nicht mehr am Strom sitzen«, sagte er, »das Wasser ist zu kalt, und man kann dich sehen, wenn der Mond scheint.«
»Der Hund war da«, erwiderte sie mit der gleichen Stimme, »komm zu mir.«
Wieder ging die Stimme kühl und seltsam durch ihn hindurch, und plötzlich erschien ihm alles anders: die Stube, in der Licht und Schatten einander ablösten, seine bloßen Füße auf den beschienenen Dielen, der Stuhl, auf dem Martes Kleider sauber und ordentlich lagen, die Schuhe davor, die Strümpfe über der Lehne, die Bibel auf dem gestreiften Rock. Es waren ihre Sonntagskleider, und wieder verwunderte er sich.
»War jemand da?«
»Nein, niemand war da.«
Er faltete die Stirn in schweren, langsamen Gedanken, die wie Blasen aus dunklem Wasser stiegen, legte den Balken vor die Tür und ging dann zum Bett, das im Schatten stand. Ein weißer Streifen des Mondlichts lag zwischen ihm und dem Bett, und wieder sah er auf seine Füße, als er ihn durchschritt. Sehr weiß waren MacLeans Füße gewesen. Als paßten sie nicht zu ihm und als müßten sie eigentlich braun gewesen sein oder noch dunkler, so wie sein Mantel.
Marte rückte ein wenig zur Seite. Sie lag auf dem Rücken, die Arme noch immer nebeneinander auf den Kissen. Es war wie sonst, aber als er sich bedeckt hatte und still lag, hörte er plötzlich ihr Herz schlagen. Er hob den Kopf vorsichtig und lauschte. Zuerst war es nur sein Blut, aber dann hörte er deutlich, wie ihr Herz schlug. Er legte sich auf die linke Seite und schob den Arm unter ihren Kopf, aber bevor er etwas sagen konnte, schlang sie die Arme um seinen Körper, legte den Kopf auf seine Brust und sagte leise: »Ich will nun das Kind haben, Jürgen.«
Er fühlte, wie sie zitterte, unaufhörlich, aber dann betäubte die Freude ihn. Alles, was am Tage gewesen war, stürzte in einen Strudel, und alles andere, ihre Stimme, ihr Herzschlag, ihr Zittern, war nun klar und ohne Geheimnis. Das Kind wollte sie haben … nichts verstanden hatte er, das Waschen im zunehmenden Mond, ihre Stimme, das »Komm zu mir!« Nie wird er etwas verstehen, bis man es ihm sagt, so, über seiner Brust: »Das Kind will ich haben, Jürgen.« Und er legte seine großen Hände auf ihren Scheitel und küßte sie auf die Schläfe, die feucht war wie von einem kühlen Tau.
Jürgen weiß nicht, wie lange er geschlafen hat. Der Mond ist gewandert. Er liegt jetzt auf seinem Gesicht und schüttet das weiße Licht in seine geöffneten Augen. Zuerst glaubt er, daß er auf dem Strom ist und daß zu seiner Rechten das Schilf sich flüsternd bewegt. Aber dann spricht es zu seiner Rechten, eine bekannte, aber weit, weit entfernte Stimme, die vom See herkommt und kühl wie ein Wind durch ihn hindurchgeht. »Du mußt aufstehen, Herr«, sagt die Stimme. »Zur Stadt müssen wir gehen.« Er schließt noch einmal die Augen, aber das Rascheln bleibt, und er hört, daß es Marte ist, die ihre Kleider anzieht.
Dann steht er auf den Dielen, ganz wach, und sieht sie an. »Was ist, Marte? Weshalb schläfst du nicht?« Aber noch während er fragt, sieht er ihr Gesicht, ein weißes, erstarrtes, ganz steinernes Gesicht. Die Form ist dieselbe geblieben, aber dahinter steht ein anderer Mensch, von dem er nichts weiß, der ihn aus fremden Augen ansieht und immer nur wiederholt: »Zur Stadt müssen wir gehen … laß mich nicht allein gehen, Herr … dort werde ich es sagen … frage nicht … lieber Herr, frage nicht …«
Ein zerbrochener Klang ist in der Stimme, so zerbrochen, daß Jürgen schnell in seine Kleider fährt. Aber er wirft sie wieder fort und nimmt den Sonntagsanzug, der hinter dem Vorhang hängt. Sie ist vor ihm fertig und sitzt wartend auf dem Stuhl, mit Schuhen und Strümpfen, wie bei ihrer Trauung, und die Bibel hält sie auf dem Schoß mit gefalteten Händen, neben dem Bündel, das sie aus einem roten Kopftuch geknotet hat.
Sie fährt dem Hund über den Kopf, sagt ihm, daß er dableiben solle, und läßt die Tür hinter sich offen. Und dann gehen sie vom Hof. Sie will nicht über das Wasser fahren, sie will gehen, denselben Weg, den sie damals gekommen ist, und dann hinter dem Moor durch die Wälder. Es sind vier Stunden, aber da sie es will, so sagt Jürgen nichts dagegen. Der Mond steht schon schief, Nebel liegen über den Gründen, aber noch ruft kein Vogel über dem Moor. Die Luft ist warm und still, und im Eichenwald klopfen die frühreifen Früchte durch das welkende Laub auf den Boden. Martes Gesicht hat das Versteinerte verloren. Sie atmet tief, und mitunter ist Jürgen, als lächle sie vor sich hin. »Darf ich deine Hand halten, Herr?« fragt sie leise. »Weshalb sagst du, ›Herr‹?« Sie sieht ihn von der Seite an, lange, mit einer schmerzlichen Bedeutung. »Es könnte nun sein«, erwiderte sie, »daß mein Dienst zu Ende ist.« – »Marte!« Aber sie wiederholt ihre Frage.
Dann faßte sie seine Hand. Er trägt ihr Bündel am Stock über der Schulter, und so gehen sie nebeneinander den betauten Weg entlang. Niemals sind sie so gegangen, Hand in Hand, in der lautlosen Frühe, ohne Arbeit, im Feiertagskleid. Es ist wie ein Hochzeitsgang, und obwohl Jürgen noch alles wie ein böser Traum ist, fühlte er doch etwas Großes und Weites in diesem Traum. Niemals war in seinem Leben solch ein Gang. Er möchte sie aufheben in seine Arme und bis zur Stadt tragen, weil sie in dieser Nacht eine Mutter geworden ist und weil sie zerbrechlich und süß wie eine Blume erscheint. Geschehen ist etwas, wovon er nichts weiß, aber zum Segen wird es werden. Gut ist sie und eine Heilige, die an seinem Strom steht wie die Kapellen in den Ländern, wo sie einen anderen Glauben haben.
Sie gehen eine Stunde, und dann sitzen sie eine Weile, auf einem Baumstamm oder auf einem Grenzhügel, und Jürgen zieht seinen Rock aus und legt ihn sauber zusammen, das Futter nach außen, damit Marte nicht im Tau zu sitzen braucht. Bei der ersten Pause zieht sie Schuhe und Strümpfe aus, weil sie nicht gewohnt ist, so weit in ihnen zu gehen. Er sieht auf ihre braunen Füße mit den zerbrechlichen Gelenken, und die Liebe zu ihr erfüllt ihn so, daß es in seiner Brust schmerzt.
In dieser ersten Pause beginnt sie auch zu sprechen. Leise, fast fröhlich, wie ein Kind, und es ist auch ihre Kinderzeit, von der sie erzählt. Von den wenigen Puppen, die sie gehabt hat, vom Hund Karo, der nur ein Ohr hatte, vom Lehrer, von den Ziegen, die sie gehütet hat. Und wie sie abends auf den Feldern saßen, bei den letzten Kartoffelfeuern, und wie der Mond über den Wald kam und sie Lieder sangen, um sich nicht zu fürchten. »Es dunkelt schon auf der Heide … nach Hause wollen wir gehn …« Das hatte sie am meisten geliebt. Und daß der Vater trank und die Mutter sie auf Erbsen knien ließ, wenn sie eine Tasse zerbrochen hatte. Aber keine Traurigkeit war in diesen Erzählungen, nur ein heiteres Zurückgewendetsein, als fahre sie in einem Boot denselben Weg zurück, den sie mühsam und zu Fuß an den Ufern hinaufgegangen war. Und als singe sie ganz leise dabei vor sich hin.
Und nun spricht sie auch, während sie gehen. Zuerst von ihrer Konfirmationszeit und daß sie sehr fromm gewesen sei. Daß ihr alter Pfarrer noch lebe und daß sie ihn wohl gern wiedersehen möchte. Und auch von dem Vikar erzählt sie, den sie geliebt habe, und daß es ihr immer schwer gewesen sei, die Liebe zu Gott als eine reine Liebe der Seele in ihren Händen zu tragen. Zu gläubig sei sie gewesen und einmal, als man sie hart geschlagen habe zu Hause, habe sie fortgehen und eine Nonne werden wollen. Der Seelenbräutigam, das sei so ein schönes Wort gewesen. Und dann, als mit dem Abendmahl alles Sichtbare zu Ende gewesen sei, da sei sie so geworden, nicht gut und leichtsinnig, und viel Liebe habe sie verschenkt, um den Grund zu finden für ihren Anker, wie es in der Bibel steht. Aber sie habe ihn auf diesem Wege nicht gefunden, und sie sei seiner Liebe wohl nicht wert, wieviel sie sich auch im Strom gewaschen habe.
Er sieht gerade vor sich hin, auf den Weg, der nun schon hell zwischen den bräunlichen Wäldern läuft. »Einmal kamst du zu mir«, sagte er leise, »in der Nacht. Nicht zu deiner Lust, sondern zu deiner Barmherzigkeit. Und für diese bloßen Füße, mit denen du kamst, sind dir alle andern Wege vergeben … Nicht vor mir, sondern vor dir, denn wie sollte ich der erste sein?«
Sie legt ihre Hand noch tiefer in die seine, und als er zur Seite blickt, sieht er, daß wieder etwas in ihrem Gesicht geschmolzen ist, etwas Gefrorenes, das nun weich und fließend geworden ist. Aber er sieht auch, daß es nicht nur eine Rückverwandlung in das alte Gesicht ist, sondern eine Verwandlung darüber hinaus, zu einem neuen Gesicht, das er noch nicht kennt.
Ja, und dann sei der neue Glaube gekommen, und das Schlimmste an ihm sei gewesen, daß Sichtbares in ihm gewesen sei, die »Goldene Stadt«, und … ja, noch vieles andere. Und da sei sie hineingesprungen wie in einen Brunnen, mit geschlossenen Augen. Und so habe er sie kennengelernt. Und das sei nun wieder schlimm gewesen, denn er habe sich über den Brunnenrand gebeugt und sie angesehen, und da sei es ihr kalt geworden in dem Brunnen, und langsam, ganz langsam habe er sie heraufgehoben. Aber das andere habe sie festgehalten, und so sei sie fast zerrissen worden. Und da habe sie durchgeschnitten, ein für allemal, sonst wäre sie gestürzt für alle Ewigkeit, und das sei es nun, dieses allein.
Wieder sitzen sie auf einem Grenzhügel. Sie haben das Moor umgangen, und die Sonne hebt sich zu ihrer Linken auf. Felder und Wiesen funkeln im Tau, und über einem Hügel steht der Kirchturm der Stadt. Das Kreuz an seiner Spitze blitzt in der Sonne wie ein Stern. Noch sind die Lerchen da, und Wildtauben sammeln sich auf den abgeernteten Feldern. Rechts in der Ferne zieht eine Herde auf einem staubigen Wege, und das Rinderhorn des Hirten wandert mit vielfachem Echo von Hügel zu Hügel. »Roggen mußt du säen, Herr«, sagt sie, »in diesem Jahr. Sie werden fort sein, und kein Feind wird an deinen Acker kommen …« Sein Gesicht wird nun immer schwerer vor Qual. Noch immer versteht er nichts, als daß Feierliches und Schweres geschieht. »Du willst es nicht sagen?«
»Nein, Herr, ich darf es erst in der Stadt sagen. Hab' Geduld mit mir … Und ich weiß nun, wie du ihn nennen sollst. Innozenz sollst du ihn nennen. Der Pfarrer sagt, daß es der ›Unschuldige‹ heißt, und so sollst du ihn nennen.«
Dann sitzen sie noch einmal auf dem letzten Hügel vor der Stadt. Sie zieht Schuhe und Strümpfe an, und es dauert lange, bis sie die Schleifen gebunden hat. Ihre Finger sind unruhig, und während er auf ihre Hände blickt, denkt er, daß sie aussehen, als hätten sie lange im Wasser gelegen. So matt und ausgebleicht erscheint ihm die Haut.
Sie läßt seine Hand nicht los, aber das Bündel trägt sie nun selbst. In den Straßen sehen die Menschen ihnen nach, nicht nur weil sie Hand in Hand gehen, sondern weil ihre Gesichter sonderbar aussehen zwischen dem Grau der Häuser.
Als Marte quer über den Marktplatz auf das Gerichtsgebäude zugeht, beginnt Jürgen zu zittern. Er fühlt, daß ihre Hand kalt wird, inmitten seiner großen, warmen Hand, und daß sie seine Finger preßt, als habe sie an einer andern Stelle ihres Körpers einen großen Schmerz. »Sei ganz ruhig, Herr«, sagt sie leise, »ganz ruhig sei bitte.« Aber er kann es nicht verhindern, daß sein ganzer, schwerer Körper bebt, und es dauert eine Weile, bis sie die Treppe hinaufgestiegen sind.
Ja, der Staatsanwalt sei da, aber nicht zu sprechen. Worum es sich denn handle? »Es ist etwas geschehen«, sagt Marte, »und dafür wird er schon zu sprechen sein.«
Der Justizwachtmeister sieht sie aufmerksam an, und plötzlich verändert sich sein Gesicht. Er hat viele Gesichter gesehen in seinem Leben, und er weiß, was es bedeutet, wenn in den Augen ein gleichsam starrer Schimmer steht, der durch alles hindurchgeht und sich nicht ablenken und beugen läßt. »Ist was passiert?« fragt er leise.
»Ja, es ist etwas passiert«, erwidert Marte langsam.
Sie werden durch eine breite Doppeltür hineingelassen. Jürgen will an der Schwelle stehenbleiben, aber Marte hält immer noch seine Hand und geht mit ihm bis zu dem großen Tisch vor den Fenstern, hinter dem der Staatsanwalt sitzt. Er hat ein schmales, glattes Gesicht, braun und ohne Falten, wie ein Tuch, aber seine Augen sind groß und grau und sanft, als gehörten sie nicht zu diesem Gesicht, sondern zu einem zweiten, das hinter dem braunen Tuch im Verborgenen lebt.
»Sie wollen etwas anzeigen?«, fragt er, und auch seine Stimme ist grau und sanft. »Wer sind Sie, bitte?«
»Ich heiße Marte Doskocil, geborene Grotjohann, Frau des Fischers und Fährmanns Doskocil … hier … und ich zeige an, daß ich gestern abend den Prediger der Mormonenkirche MacLean mit einem Messer getötet habe.«
Sie fügt Wort an Wort, langsam, aber ohne Pausen, mit einer stillen, weiten, etwas verhüllten Stimme. Es ist, als ob die Stimme hinter einer Nebelwand stehe und in sie hineinspreche. Und als sie schweigt, versinkt alles, und nur die Nebelwand steht unbeweglich im Raum und die drei Augenpaare, die durch sie hindurchzusehen versuchen.
Dann fällt Jürgens schwerer Stock zu Boden. Er fällt mit einem einzigen dumpfen Schlag auf den Linoleumbelag, und in diesem einzigen, scharf abgegrenzten Klang liegt etwas Unabwendbares, eine endgültige und nicht mehr aufzuhebende Bestätigung.
Ja, sie wolle alles erzählen. Der Protokollführer kommt herein, ein grauer Mann mit steifem Haar, der aussieht, als sei er unter einem Stein aufgewachsen. Sie bekommen zwei Stühle, weil sie vier Stunden gegangen sind, und dann beginnt Marte. Sie hält noch immer Jürgens Hand, aber sie sieht ihn nicht an. Sie sieht geradeaus in die grauen Augen des Staatsanwalts, und nur am Rande ihres Blickfeldes kann sie sehen, daß Jürgen gerade wie aus Holz auf seinem Stuhl sitzt und durch alles hindurchsieht, wahrscheinlich bis zu der Hütte hinter den Kiefernbüschen, wo der Tote weiß und ausgestreckt auf seinem Feldbett liegt.
Sie beginnt mit der Erweckung ihres Heimatdorfes durch MacLean. »Bitte zu buchstabieren«, sagt der Protokollführer. Der Staatsanwalt unterbricht sie und ruft das Landjägeramt an. Ja, dies und das sei geschehen, es solle sofort der zuständige Beamte nach dem Dorf fahren, zu der Hütte des Predigers MacLean, und dafür sorgen, daß niemand das Haus betrete, bevor die Gerichtskommission eintreffe.
Marte fährt fort. Ihre Übersiedlung in Jürgens Haus und daß MacLean ihr gefolgt sei. Daß er sie begehrt habe als eine ihm zustehende Braut der Kirche, und daß er die Frucht in ihrem Leibe verflucht habe, solange sie ihm nicht zu Willen sei. Den Eisgang und die Totgeburt des Kindes. Und von da an habe sie geglaubt, daß er Macht über ihren Schoß habe. Zu niemandem habe sie sprechen können, denn Jürgen würde ihn erwürgt haben. Von der Fastnacht, vom Hafer, von dem Überfall in der Gewitternacht. Seine Hand, die über Jürgen hinweg nach ihr griff. Von der Mulde zwischen den Kiefernbüschen, in der sie gekniet habe, ohne die Kraft zu finden. Von dem Kind, das Jürgen sich wünschte und das sie nicht haben durfte, weil es blind gewesen wäre.
Die Feder kratzt und läuft. Jürgen ist immer noch wie aus Holz. Der Staatsanwalt hat den Kopf in die rechte Hand gestützt, die grauen Augen unbeweglich auf sie gerichtet.
»Dann kam Heini, der Verwachsene, und sagte, daß die Papiere und die Fahrkarten angekommen waren. Noch vierzehn Tage. Und dann noch acht. Dann ging er fort, und der Fluch blieb über mir. Gestern war Jürgen in der Stadt. In der Dämmerung ging ich hin. Das Messer hatte ich an der Brust. Ich betete bei den Kiefern, und dann ging ich hin. Ja, in acht Tagen würde er fahren. Den Fluch? Nein. ›Das ist kein Fluch‹, sagte er, ›das ist ein Gebet.‹ Ich kniete vor ihm, ich umschlang seine Füße und küßte sie. Nein. Ich sollte mich ausziehen und bei ihm liegen, dann würde er aufhören zu beten. Er sollte schwören, und er beschwor es. Auf die Bibel. Ich legte das Messer heimlich fort und tat es. Ich hatte keine Kraft zu dem andern. Ich … ja … als ich fortgehen wollte, fragte er, wann ich wiederkomme. Er wollte die Auswanderer bis zum Schiff bringen und wiederkommen und im Dorf bleiben. Und dreimal in der Woche sollte ich zu ihm kommen, sonst würde er wieder beten. Ich hatte das Messer wieder hier an der Brust. Er lag noch auf seinem Bett, und ich stieß es ihm ins Herz. Er war gleich tot. Ich habe hinter mir abgeschlossen. Hier ist der Schlüssel.«
Sie knotet das rote Tuch auf und legt den Schlüssel auf den Tisch. Sie bleibt stehen und sieht durch die Fenster auf den Marktplatz hinaus. »Es ist Sünde«, sagt sie noch, »und ich will sie büßen. Aber so lange muß man mich leben lassen, bis ich Jürgens Kind geboren habe. Es ist sein Kind, das ich trage, seins allein, und er wird es Innozenz taufen, denn das heißt ›der Unschuldige‹.«
»Innozenz?« fragt der Protokollführer. Aber sie antwortet nicht. »Ja«, sagt der Staatsanwalt nach einer langen Pause und sieht auf den Schlüssel, »Sie werden nun hierbleiben müssen, Frau Doskocil … ich glaube, daß die Richter milde gegen Sie sein werden, wenn es alles so gewesen ist, aber …«
»Sie sollen richten Auge um Auge«, sagt Marte, »wie es geschrieben steht, aber sie müssen warten, bis das Kind geboren ist.«
»Ihrem Kinde wird nichts geschehen«, sagt der Staatsanwalt, und dann nickt er Jürgen zu.
Jürgen steht auf. Wenn Gefahr ist, versteht er alles, und er weiß, daß sie nun fortgehen wird für lange Zeit. Er tritt zu ihr an den Tisch und legt ganz vorsichtig die Hand auf ihre Schulter. Sie schwankt unter der leisen Bewegung, so schwach ist sie nun, und er weiß nichts anderes, als daß er sie aufhebt wie damals aus dem Wasser und an seiner Brust hält. »Für mich«, sagt er, »hast du es getan. Abgenommen hast du es mir. Zum Minister werde ich gehen, zum Präsidenten, damit sie es mich verbüßen lassen für dich … eine Heilige bist du, wie sie an den Strömen stehen, in den Kapellen …«
Sie hat die Wange an seiner Schulter und die Augen geschlossen. Alles löst sich in ihrem Gesicht, in ihrem Körper, während sie seinen Worten lauscht: die Gespanntheit der Stirn, die Augenlider, der Mund, die Arme … »Nein, nein«, sagt sie wie ein eifriges Kind, »nur ich kann es lösen, Jürgen, nur ich allein. Aber nachher, dann soll alles gut und neu sein, ja? Der Acker und das Kind, und das Leben, ja? Behalten willst du mich, ja? Und … hörst du, Jürgen … ich schwöre dir, jetzt, hier, daß es dein Kind ist, hörst du? Nur deins … ich weiß das … von früher … glaubst du mir das, Jürgen?«
Ja, er glaubte es und führte sie bis zur Tür, und der Staatsanwalt ging mit ihr hinaus und nickte ihm zu, daß er bleiben sollte. Sie fuhren mit dem Motorboot des Fischereiaufsehers hinaus. Sie sprachen gut mit ihm, jeder von den Herren, und daß es keine hohe Strafe sein würde. Und er nickte, aber alles an seinen Bewegungen war noch langsamer und schwerer als sonst, als habe man etwas zerbrochen in ihm und nur ein dünnes Gelenk halte die zerbrochenen Teile zusammen. Und außerdem hatte er auf das Wasser zu sehen und auf die Stelle im Rohr, wo er mit weißen Füßen vor ihm gesessen hatte.
Sie hoben die Fäuste gegen ihn und schrien, das ganze Dorf, und der Staatsanwalt mußte befehlen, daß die Beamten die Gummiknüppel in die Hand nahmen. Sie fanden alles, wie Marte es erzählt hatte. Das Messer stak noch in seinem Herzen, und der Gerichtsarzt, nachdem er ihn untersucht hatte, sagte, daß auch das andere wahr sei, was sie von der Gewalttat erzählt hatte. Auf dem Herd, in Ölpapier flüchtig eingeschlagen, lagen die Bilder, und der Pfarrer erkannte fünf Mädchen aus dem Dorf.
In der großen Stube des Gemeindevorstehers fanden die Vernehmungen statt. Die Mädchen leugneten nicht. Es gab keine Widersprüche oder Dunkelheiten, nur die Blindheit eines fanatischen Glaubens. Keine Schuldigen, keine Mitwisser, keine Verdächtigen.
Sie trugen die Leiche zum Boot und fuhren ab.
Der Pfarrer ließ das Dorf bei dem Gemeindevorsteher zusammenkommen und erzählte, wie alles gewesen sei. Sünde sei geschehen, von dem Toten und von ihnen. Aber sie möchten es nun als ein Zeichen nehmen, daß Fluch auf dem Wege zur »Goldenen Stadt« liege, und bleiben und von den falschen Propheten und ihrer Lehre lassen. Aber sie starrten finster zu Boden und schwiegen und betrachteten ihre Stöcke, und der erste, den der Pfarrer um seine Meinung ansprach, sagte, daß er keine Zeit habe und packen müsse zu der großen Reise. Und nach ihm drängten die andern sich hinaus, und nur die Jungen blieben zurück, die nicht mitgingen und sich nun als Knechte verdingen mußten.
Der Pfarrer war ein schwergewachsener Mensch, an Leib und Seele, und alle Leidenschaften standen lange wie vor einer Schleuse, bis sie in ihn hineinbrachen. Aber nun hob er doch die Fäuste und schrie: »So geht zum Teufel in des Teufels Namen!« Und es half ihm nichts, daß er es gleich bereute und vor Scham errötete.
Er stützte sich schwer auf seinen Stock und ging langsam den Weg zum Fährhaus hinunter. Es gab keine Vorhänge mehr an den Fenstern des Dorfes und keine Blumen. Kisten und Körbe standen auf den Höfen, und die Hunde schlichen geduckt über die Straße, weil sie wußten, daß sie herrenlos waren. Im zwanzigsten Jahr saß der Pfarrer im Dorf, und er ging mit niedergeschlagenen Augen durch seine Ernte.
Jürgen saß auf der Fähre, und der Pfarrer setzte sich zu ihm. Das Wasser gab unter ihren schweren Gestalten nach, und sie saßen nun so, als ob sie ein wenig bergauf sähen, nicht auf den Spiegel des Wassers, sondern auf die Wipfel der jungen Erlen.
»Zwei Sünder, Jürgen«, sagte der Pfarrer und fühlte gleich, daß sein Scherz mißlungen war.
Aber Jürgen hatte gar nicht gehört. »Sie sagen mir alle«, fuhr er fort, als spreche er schon lange, »daß sie sie nicht lange behalten werden. Und das ist gut. Aber auch das Gute ist noch Unrecht. Wenn Sie eine Kreuzotter treffen, Herr Pfarrer, dann schlagen Sie sie tot. Und Sie werden nicht bestraft. Weshalb soll sie dableiben in dem grauen Haus?«
Der Pfarrer malte mit seinem Stock Kreise auf das graue Holz der Fähre. »Wenn du anfängst, zu hadern und zu grübeln«, sagte er, »dann ist es aus. Siehst du, wenn das Dorf dich für eine Kreuzotter hält und totschlägt, dann wird es bestraft, weil es einen Menschen für eine Kreuzotter angesehen hat, und dieser Mensch ist keine. Und wenn Marte jetzt am Strom entlangkäme und sagte, daß sie freigesprochen sei, dann würdest du froh sein, und sie würde traurig und unruhig sein ihr ganzes Leben, sie und das Kind, das sie trägt. Denn wer Blut vergießt, muß büßen, damit er wieder froh wird.«
»Unruhig, ja, das könnte wahr sein, Herr Pfarrer.«
»Ach, Doskocil, es sitzt nur ein Narr auf dieser Fähre, und das bist nicht du. Zwanzig Jahre habe ich gepflügt hier. Sieh' dir die Ernte an.« Er hob den Stock und schlug einen Halbkreis um das Dorf.
»Nein, Herr Pfarrer, das ist wie mit meinem Hafer. Soll ich mich hinknien und die Stoppeln raufen? Wenn der Hafer nicht für mich war, so wird der Roggen für mich sein oder die Kartoffeln, und wenn es auch damit nichts ist, so wird Gott vielleicht wollen, daß da wieder junge Bäume wachsen. Probieren muß man es und keine Angst haben.«
Der Pfarrer stand auf. »Ich danke dir, Jürgen«, sagte er und lächelte ein wenig in seinen Mundwinkeln. »Nun wissen wir beide, was wir zu tun haben.«
Das Dorf wanderte aus. Aber kein Wagen fuhr über Jürgens Fähre. Sie machten alle den großen Umweg bis zur nächsten Brücke, und Jürgen sah nur die Staubwolke über dem Wege und ab und zu eins der Kindergesichter, die von der Höhe der beladenen Wagen nach dem Strom hinüberblickten, an dem er stand. Und in der Nacht erwachte er vom Geheul des Hundes. Ein roter Schein stand im Zimmer, und als er vor die Schwelle trat, sah er, daß die Hütte MacLeans brannte und die letzten Dachsparren in die funkenstäubende Glut stürzten.
Und als das Schiff schon abgegangen sein mußte, saß eines Abends, als er vom Wasser kam, Heini auf seiner Schwelle. Seine Kleider waren zerrissen, welkes Laub lag noch in seinem Haar, und sein Gesicht war grau vor Hunger und Erschöpfung, aber er lächelte mit seinem schmerzlichen Mund. Ja, er war in den Wäldern gewesen, bis es Zeit war, und nun war das Schiff schon auf dem Ozean. »Sie haben mich wieder genommen«, sagte er und deutete mit dem Kopf auf das Dorf, »und wenn du mich brauchst, dann schlage wieder zweimal an das Eisen, und ich werde da sein.«
Das Schwurgericht war noch im Oktober, und die Verhandlung dauerte nicht länger als eine Stunde. Marte wurde zu einem Jahr Gefängnis verurteilt und wollte nicht, daß man ein Gnadengesuch für sie einreiche. »Ich habe getötet, um ein Kind zu haben«, sagte sie. »Das ist meine Gnade, und eine andere will ich nicht.« Aber Jürgen bat um Gnade. Er stand von seiner Bank auf und trat vor den Tisch des Gerichts. Sein Gesicht war grau, wie aus der Welt gegangen, und seine Arme hingen wie fremde an ihm herab, aber er sah dem Vorsitzenden furchtlos ins Gesicht und sagte laut, daß er um die Gnade bitte, seine Frau und das Kind, das sie trage, auf seinen Armen bis in ihre Zelle tragen zu dürfen, wie er sie aus dem Wasser in den Frieden getragen habe. Denn auch er möchte etwas zu dem tun, was sie ihm abgenommen hatte.
Einen Augenblick war ein verlegenes und unsicheres Schweigen, weil unter seinen einfachen Worten das Recht, so milde es gehandhabt worden war, sich vom Unrecht nicht mehr unterscheiden zu lassen schien und der Obmann der Geschworenen, ein großer Fischereipächter und lebenssicherer Mann, aufstand und an das Fenster trat, als wolle er dies alles nicht mehr sehen. Aber dann durfte Jürgen tun, worum er gebeten hatte, und er nahm Marte behutsam in seine Arme und trug sie aus dem Saal, als seien keine Menschen um ihn, sondern ein schweigender Wald, zwischen dessen Stämmen er vorsichtig hindurchging, damit ihre müden Füße nicht an ihre Rinde streiften. Und sie hielt die Augen geschlossen wie ein Kind.
Um die Nachmittagszeit kommt Jürgen aus der Stadt zurück. Es ist ein stiller, grauer Tag, und der Ruf der Wildgänse ist weit zu hören. Die Wälder sind aus grünem Glas, und Jürgen ist leise mit seinen Rudern, weil bei jedem Laut die welken, Blätter an den Uferbäumen zu fallen scheinen. Aber es ist nicht kalt. Nur still und zusammengerückt ist alles, und das kleine Torffeuer auf dem Moor ist nicht wie ein Feuer in der Landschaft, sondern wie auf einem Herd zwischen stillen Wänden.
Jürgen denkt, daß er Blumen pflanzen muß im Frühjahr, damit im nächsten Herbst, wenn sie wiederkommen, Marte und das Kind, etwas Buntes und Frohes um das Haus ist. Für ihn ist es gut so, das Graue und Stille, aber für sie muß etwas da sein, woran sie ihre müde Seele hängen können. Wie ein Nagel für ein Wanderkleid. An Malven denkt er und an Astern. Und außerdem wird er das Haus streichen, weiß, und die Balken wird er grün absetzen. Und eine kleine Mühle wird er schnitzen und sie auf den Zaun setzen, damit der Wind mit ihr spiele, auch wenn sonst alles still ist.
Aber zwischen allen diesen Gedanken, die langsam und hell über sein Gesicht gehen, kommen wieder die andern Bilder, der Korridor, die Treppen, die Türen. Und der graue, enge Raum, den er nie gesehen hat, aber in dem sie nun leben wird, ihr schmales Gesicht, ihre festen, braunen Hände und das, worauf sie sie legen wird, in der Nacht, wenn niemand da ist, der ihr zusehen könnte. Und als er den Kahn festgemacht hat und zum Hause hinaufgeht, ist er wie ein grauer Wolf, der durch einen leeren Wald schleicht. Auf der Schwelle sitzt Heini. »Ich dachte, daß wir heute pflügen müssen«, sagt er, »ich habe alles fertiggemacht. Die Haferstoppel liegt noch immer, und es ist Zeit, daß der Roggen unter die Erde kommt.« Zuerst sieht Jürgen an ihm vorbei, mit leeren Augen, in die alles spurlos hineinfällt, der Verwachsene, das Haus, das Feld. Aber dann nickt er und geht in die Stube, um sich umzuziehen. Er tritt so leise auf, als schlafe jemand in dem großen Bett, und er sieht von der Seite auf den Herd. Aber es sitzt niemand da.
Und dann pflügen sie. Der Verwachsene geht hinter dem Pfluge her, und Jürgen beugt sich unter dem breiten Gurt. Der Hund scharrt in den Mäuselöchern und steckt die Nase in jede Wildfährte. Der Wald ist düster und still, und nur das Rauschen der Schollen geht als leiser Ton mit ihnen mit. Wenn sie den Pflug zu einer neuen Furche gewendet haben, ruhen sie ein wenig aus.
Sie sprechen kein Wort und pflügen bis in die Dämmerung. Es ist nur ein kleines Feld, und als das Abendrot über dem Moor steht, sind sie fertig. Der Acker liegt dunkel und feucht da, und ein dünner Nebel steht über der frischen Erde. Jürgen nickt nur, und die Gestalt des Verwachsenen taucht langsam in den Feldern unter.
Der Hund steht wartend an der Waldecke, aber Jürgen geht noch nicht. Er hat den Gurt noch immer um die Schultern und eine Hand auf dem Griff des Pfluges. Er sieht in das Abendrot, aber nur der rote Schein ist in seinen Augen, nicht seine Bedeutung. Er fühlt an der Luft und an dem großen Schweigen, daß er allein ist, aber er fühlt auch die frische Erde an seinen bloßen Füßen. Und daß ihre Kühle in ihnen emporsteigt wie in einem Baum. Er steht ganz still, als ob er wachsen wolle, und er spürt, daß es immer weiter steigt, immer höher, ein starker und demütiger Saft, der zu seinem Herzen will.
Und er sieht ein Feld mit grünen Halmen, die gelb werden und sich unter Ähren neigen. Und er sieht ein Kind, das unter diesen Halmen liegt und schläft, indes ein Mann und eine Frau das Korn schneiden und binden und die Garben aufstellen.
So steht er, bis der dünne Nebel über der frischen Erde immer höher steigt und ihn immer dichter einhüllt. Und zuletzt ist er wie ein Baum, der die Feuchtigkeit der Nächte lautlos trinkt.