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In der Kirchengasse gab es keine Laternen. Aber die Straße war so schmal, und die Häuser waren so niedrig, daß der weiße Schnee und der Schein aus den kleinen Fensterscheiben hinreichend Licht spendeten.
Der gute Oberlehrer war ziemlich sentimental veranlagt, und diese Abendwanderungen ringsumher in den Gassen und Straßen der alten Stadt waren ihm eine wahre Herzerquickung. Namentlich an einem Weihnachtsabend und bei Schneewetter!
Er schlich in seinen Galoschen dahin, lauschte und spähte. Und wenn er Reden und Lachen hinter den herabgelassenen Rolläden oder den weißen Fenstervorhängen hörte, so blieb er einen Augenblick stehen, um sich mit den fröhlichen Menschen da drinnen zu freuen. Wenn er aber Weinen und Klagen und harte Worte hörte, so machte ihn das traurig. Gern wäre er hineingegangen, um zu vermitteln und zu trösten, aber er wagte es nicht. Teils weil er eine unüberwindliche Scheu empfand, sich unberufen in anderer Leute Angelegenheiten zu mischen, teils, und wohl hauptsächlich, weil er fürchtete, Zeuge von Szenen und Verhältnissen zu werden, die ihm die nüchterne, unbarmherzige Wirklichkeit vor Augen stellen würden. Er wußte, daß es viel Häßliches, Unvollkommenes hier im Leben gab, aber er stand dem nicht gern von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Man konnte das vielleicht eine Schwäche bei ihm nennen, man konnte es aber auch als Feinheit und Kultur bezeichnen. Und so nannte er es selber mit Vorliebe.
Heute abend war aber wohl kaum ein Grund vorhanden, Befürchtungen in der Beziehung zu hegen. Heute abend, wo hinter allen Mauern nur Frieden und Freude herrschte!
Er war fast bis an das Ende der Gasse gekommen. Überall hatte er nur Kinderlachen und fröhliche Stimmen gehört. (In einigen Häusern hatte er sogar einen brennenden Tannenbaum stehen sehen und mit seinen kleinen, gelben Lichtpunkten durch die dünnen Fenstervorhänge schimmern sehen.
Aber dann plötzlich – gerade als er an dem allerletzten Haus in der Straße vorüberkam – wurde eine Tür geräuschvoll aufgerissen. Drinnen auf der Diele erscholl Lärm und Geschrei, lautes Getrampel und ein Stöhnen wie im Kampf. Und im nächsten Augenblick taumelte eine Frau über die Türschwelle, fiel platt auf die Erde und blieb mit dem Gesicht im Schnee liegen.
»Raus mit dir, du verfluchtes Weibsbild!« schrie eine heisere, wütende Männerstimme, und die Tür fiel dröhnend ins Schloß.
Oberlehrer Clausen stand starr vor Entsetzen da.
Nun war er gerade in eine so weiche, sanfte Weihnachtsstimmung hineingekommen – Und dann –! Aber er mußte wohl helfen – Er konnte doch nicht untätig stehenbleiben. – Er mußte doch hingehen und sehen, ob die Frau nicht zu Schaden gekommen war.
Sie lag noch immer ausgestreckt im Schnee, nur ein paar Schritte von dem Oberlehrer entfernt, regungslos und ohne ein Lebenszeichen von sich zu geben.
Er näherte sich ihr zögernd.
»Sie haben sich doch nichts getan?«
Keine Antwort.
Vorsichtig beugte er sich über die auf der Erde Liegende und erfaßte leicht ihren Arm.
»Kann ich Ihnen nicht helfen?« fragte er. »Was hatten Sie denn nur einmal?«
Jetzt wandte die Frau ihm langsam ihr Gesicht zu, ein rotes, verzerrtes, schmutziges und vom Trunk aufgedunsenes Gesicht.
Dem Oberlehrer schauderte es, aber er bezwang sich:
»Haben Sie sich verletzt?« fragte er teilnehmend.
Die Frau richtete sich ein wenig auf dem Ellbogen auf, starrte ihn mit einem Paar blöden, blutunterlaufenen Augen an. Und indem sie ihm gerade ins Gesicht laut aufstieß, murmelte sie mit wütender, lallender Stimme:
»Was schert das dich, du langer Laban! Laß du mich nur liegen!«
Der Oberlehrer fuhr einen Schritt zurück und ergriff, von unsagbarem Entsetzen erfaßt, schleunigst die Flucht. Er rannte, was das Zeug halten konnte, bis in die nächste Straße.
»Das war ja kein Mensch mehr! Das war ja kein Mensch mehr!« schrie es in ihm. – »Du großer Gott, du großer Gott! wie ist so etwas doch nur möglich!«