Christoph Martin Wieland
Euthanasia
Christoph Martin Wieland

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Drittes Gespräch.

Blandine. Wilibald.

Blandine. Siehst du mir's nicht an, Wilibald, daß unser gestriges Gespräch mich eine schlaflose Nacht gekostet hat?

Wilibald. Das bedaure ich, liebe Schwester. Wer hätte aber auch gedacht, daß du dir das Verschwinden eines süßen Wahns so zu Gemüthe ziehen würdest?

Blandine. Es ist mein Unglück, daß ich ein Gedächtniß habe, das nichts durchschlüpfen läßt. Mir ist kein Wort von Allem, was du gestern sagtest, entfallen; ich konnte mir deine Sophistereien (denn das sind sie doch, so Gott will!) nicht aus dem Kopfe schaffen, und da brachte ich, gern oder ungern, die ganze Nacht mit Nachsinnen zu, ob sie nicht zu widerlegen oder wenigstens zu entkräften wären.

Wilibald. Nichts soll mir angenehmer seyn, als wenn es dir gelungen ist. Ich hange, wie du weißt, nicht so fest an meinen Meinungen, daß ich nicht immer bereit wäre, sie gegen bessere zu vertauschen.

Blandine. Aufrichtig zu seyn, Bruder, wenn ich mir deine Gründe gegen die Fortdauer der Erinnerung des vorigen Lebens nach dem Tode deutlich denke, finde ich, daß es mir unmöglich ist, sie zu widerlegen. Aber kaum hab' ich sie mir aus dem Sinne geschlagen, so kehrt mein alter Glaube 230 wieder zurück; mir ist, als habest du mir meine Zustimmung mit Gewalt abgedrungen, mein Herz empört sich dagegen, und eine heimliche Stimme ruft mir zu, es könne und solle nicht seyn, wie du sagst. Nun sinne ich von Neuem auf Gründe, meinen Glauben zu unterstützen. Von Zeit zu Zeit dämmert ein Gedanke in mir auf, der einen erfreulichen Schein um sich wirft, aber wie ein Blitz wieder verschwindet, sobald ich ihn durch Worte festhalten will. Indessen finde ich das Gefühl, das sich dir entgegenstemmt, immer wieder in meinem innersten Herzen, und der Glaube behält über die Zweifel, wie oft sie auch das Gefecht erneuern, am Ende doch immer den Sieg. Und dennoch kann ich mich nicht enthalten zu wünschen, daß sich ein Mittel finden möchte, auch meinen Verstand auf immer zu beruhigen; was unfehlbar geschähe, wenn wir deinen Schlüssen etwas entgegen zu stellen hätten, das dem Glauben an die Fortdauer der Persönlichkeit wenigstens einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit gäbe.

Wilibald. Suchet, so werdet ihr finden, liebe Blandine. Vielleicht, wenn wir uns recht ernstlich dazu halten, findet sich noch dieß und das. In der That gingen ja auch meine Einwürfe nicht bis zu einem überzeugenden Beweis der Unmöglichkeit des Satzes, den ich bestritt. Am Ende stützten sie sich blos auf die Voraussetzung, daß unsre Seele nach dem Tode in allen ihren Wirkungen an eben dieselben Bedingungen gebunden seyn werde, von welchen sie in diesem Leben gefesselt war. Aber wer bürgt uns für die Wahrheit dieser Voraussetzung? Oder wer kann sie beweisen? Daraus z. B., daß die Verletzung oder gänzliche Zerstörung gewisser Organe unsers Körpers den Verlust des Gedächtnisses nach sich zieht, folgt nicht nothwendig, daß die Seele, wenn der Tod sie von den Fesseln des irdischen Lebens befreit hat, seiner Vermittlung 231 zu Wiederbelebung oder Auffrischung ihrer ehmaligen sinnlichen und geistigen Vorstellungen schlechterdings nicht entbehren könne. Eben so kann die Erfahrung, die wir so häufig in diesem Leben machen, daß die Länge der Zeit und die Menge neuer Vorstellungen und Beschäftigungen die Bilder der Vergangenheit zum Theil aus unserm Gedächtniß verdrängen und auslöschen, keineswegs einen überzeugenden Grund abgeben, daß eben dasselbe nothwendig stattfinden müsse, wenn die eigenthümliche Denkkraft der Seele von ihrem dermaligen Körper nicht länger beschränkt wird. Endlich läßt sich auch das Daseyn eines mit der Seele unzertrennlich vereinigten ätherischen Sinn-Organs zwar nicht beweisen; aber es ist eben so wenig erweislich, daß sie mit einem solchen Organ nicht versehen sey.

Blandine. Mich dünkt, lieber Wilibald, wir hätten schon viel gewonnen, wenn wir irgend einen Weg ausfindig machen könnten, uns das Daseyn eines solchen Seelen-WagensPlaton soll davon, nach der Annahme seiner ältesten Erklärer, im 81sten Capitel seines Phädon geredet haben; sein neuester Erklärer Wyttenbach aber sagt sehr richtig, daß hier nicht von einem Seelenorgan die Rede sey, sondern von einem Fahrzeuge über den Acheron. (wie ihn Plato genennt haben soll) wenigstens nur wahrscheinlicher zu machen als das Gegentheil.

Wilibald. Stände uns nur der verwünschte Einwurf nicht immer entgegen, den ich gestern schon gegen alle vorgebliche Thatsachen, die in dieses Capitel gehören, geltend gemacht habe.

Blandine. Du meinst, wenn wir nur gewiß wissen könnten, daß sie wahr wären?

Wilibald. Da liegt eben der unauflösliche Knoten, liebe Seele!

Blandine. Man muß aber auch nicht gar Alles mit Händen greifen wollen, wie Doctor W**l!

Wilibald. Ich selbst könnte dir eine Geschichte erzählen, die für mich wenigstens ein desto leidigeres Räthsel 232 ist, da ich sie weder begreifen noch an ihrer Wahrheit zweifeln kann.

Blandine. O, ich bitte dich, erzähle! Ich bin lauter Ohr.

Wilibald. Es werden nahezu fünfzig Jahre seyn, als ich während meines langen Aufenthalts in H**** mit einer edeln Familie bekannt wurde, die in allen ihren Gliedern aus eben so sonderbaren als achtungswürdigen Personen bestand. Ich werde dich vielleicht ein andermal mit der ganzen Sippschaft bekannt machen; jetzt mag es, um mich nicht zu weit von unserm Gegenstande zu verlieren, genug seyn, wenn ich dir von der Dame, die in meiner Erzählung die Hauptrolle spielt, so viel Vorläufiges sage, als mir zu besserm Verständniß des Folgenden nöthig scheint. Ich bin zwar nicht so glücklich gewesen, sie von Person zu kennen, denn sie starb kurz zuvor, ehe ich mit ihrer Familie in nähere Verhältnisse kam; aber ich habe Alles, was ich von ihr weiß, aus den reinsten Quellen. Ueberhaupt war sie eine der außerordentlichsten Personen ihres Geschlechts und ihrer Zeit; was mit dem Umstand, daß sie der Welt immer unbekannt blieb, sehr wohl bestehen kann. Etwas Excentrisches in ihrer Natur, ein starkes Uebergewicht der Einbildungskraft, ein Herz voll Liebe, das Lesen mystischer Schriften und eine Kette von besondern, selten zusammen treffenden äußern Umständen vereinigten sich, eine ganz eigne Art von schöner und ehrwürdiger Schwärmerei zum Grundton ihres Charakters zu machen. Ich bezeichne die wesentlichsten Züge desselben mit zwei Worten, wenn ich dir sage, daß sie eine Geistesverwandtin der berühmten Madame GuyonJohanna Maria Bouvières de la Mothe Guyon, geb. zu Montargis 1648 und gest. 1717 zu Blois, war eine der eifrigsten Verbreiterinnen des Quietismus, den der Spanier Michael Molinos zu befördern nicht sehr glücklich gestrebt hatte. Man versteht unter Quietismus jenes System der Mystik, zufolge dessen die wahre Religiosität und die höchste Glückseligkeit in einer völligen Einkehr in sich selbst und der höchsten Gemüthsruhe besteht. Madame Guyon hatte von Natur Anlage dazu, denn sie war schwächlich und hysterisch. Aus diesem Gesichtspunkte will Wieland ohne Zweifel sie hier betrachtet wissen und nicht aus dem ihrer Gegner, die sie der Sinnlichkeit und Ruhmsucht beschuldigten und bei diesen Beschuldigungen freilich die Psychologie so wenig als die Geschichte gegen sich haben. Eine Schwärmerin, die gern eine Heilige geworden wäre, war sie gewiß, und es bleibt wenigstens sehr zweifelhaft, ob ihre mystische Liebe zu Gott aus ganz so reiner Quelle floß, als vielleicht ihr Freund und Vertheidiger Fenelon bei seiner zwar auch mystischen, aber reinen Frömmigkeit selbst glaubte. Die von ihr selbst verfaßte Lebensbeschreibung der Madame Guyon kam nach ihrem Tode (Köln 1720, eigentlich zu Amsterdam) heraus, die Auflage ward aber meist von ihren Töchtern, der Herzogin von Sully und Madame de Sardières aufgekauft; man hat jedoch eine vollständige deutsche Uebersetzung, Frankfurt und Leipzig 1727. 8. war, deren Schicksale und mystische Liebe zu Gott und dem Erzbischof von Cambray Fenelon dir nicht unbekannt sind. Wäre sie ein Glied 233 der katholischen Kirche gewesen, so würde sie im Geruch der Heiligkeit gestorben und jetzt vielleicht schon kanonisirt seyn.

Wie bei allen reinen Seelen dieser Classe, war auch bei ihr die Liebe zu Gott eine nie versiegende Quelle von Werken der Menschenliebe und Wohlthätigkeit, zumal von solchen, die mit Beschwerlichkeit und sinnlicher Unlust, kurz mit dem, was die Mystiker Selbstverleugnung nennen, verbunden waren; und da ihr die Mäßigkeit ihres Vermögens nicht erlaubte, ihren Trieb, allen Nothleidenden zu helfen, ein so unbeschränktes Genüge zu thun, als ihrem Herzen Bedürfniß war, so hatte sie sich allerlei Kenntnisse und Geschicklichkeiten erworben, wodurch sie den armen Landleuten, unter welchen sie wohnte, nützlich seyn konnte. Sie besaß z. B. viel Geschick in Bereitung solcher Arzneien, deren diese Menschenclasse am meisten bedarf, und, da sie Alles unentgeltlich gab, rettete sie Manche, die sich aus Armuth oder unverständiger Sparsamkeit die nöthigsten Hülfsmittel versagt haben würden, wenn sie etwas dafür hätten geben müssen. Vorzüglich war sie eine eben so geschickte als glückliche Geburtshelferin. In einem Umkreis von etlichen Meilen um ihren Wohnsitz war der Glaube an ihre beinahe wunderthätige Hand bei dem dürftigsten Theil des Landvolks eben so groß, als ihre Bereitwilligkeit, ihnen mit ihrer Gabe zu dienen, grenzenlos war. Nicht selten wurde sie in der strengsten Jahrszeit und bei dem unfreundlichsten Wetter mitten in der Nacht aus ihrem Bette geholt, um einer verlassenen und an Allem Mangel leidenden Gebärerin zuzueilen, und immer war ihre Ankunft in den Augen der armen Leute die Erscheinung eines Engels, mit welchem Trost, Rettung und reichliche Spende Alles dessen, was in solchen Fällen das Nöthigste 234 ist, und woran es ihnen gerade am meisten fehlte, in ihre Hütte kam.

Diese Dame, die von Allen, die einen Sinn für die hohe Einfalt und Güte ihrer Seele hatten, verehrt, von Mann, Kindern und Hausgenossen geliebt und von den Armen beinahe angebetet wurde, war bei dem Allem seit mehrern Jahren mancherlei zum Theil seltsamen und unerklärbaren Zufällen unterworfen. Sie stieg z. B. öfters mitten in der Nacht, schlafend oder vielmehr träumend, aus dem Bette auf, kleidete sich an, wanderte mit geschlossenen Augen im Hause herum, verrichtete allerlei Geschäfte, und wenn sie durch irgend einen Zufall oder von ihrer Tochter (die aus vorsichtiger Liebe sie zu beobachten und zu hüten pflegte) erweckt wurde, wußte sie nicht nur nicht das Geringste von dem, was sie vorgenommen hatte, sondern fühlte sich auch unmittelbar darauf so matt und krank, daß sie ohne Hülfe kaum ihr Bette wieder zu erreichen vermögend gewesen wäre. Auch geschah es nicht selten, daß sie, mitten unter den Ihrigen bei einer häuslichen Arbeit sitzend, auf einmal in eine Verzuckung gerieth, worin sie, kalt und starr an allen Gliedern, des Gebrauchs aller äußern Sinne beraubt und einer marmornen Bildsäule ähnlich, öfters ziemlich lange beharrte, bis sie von selbst wieder ins Leben zurückkam und zu erkennen gab, daß während dieses seltsamen Paroxismus außerordentliche, aber unbeschreibliche Dinge in ihrem Innersten vorgegangen.

Blandine. Vermuthlich ist dieß eben die Dame, deren du gestern schon im Vorbeigehen Erwähnung thatest?

Wilibald. Eben dieselbe. Der erwähnte Zufall begegnete ihr so oft, daß die Ihrigen, welche anfangs dadurch in den größten Schrecken gesetzt worden waren, es zuletzt 235 ziemlich gewohnt wurden und, außer einigen nöthigen Vorsichtsanstalten, ihre Zurückkunft in die Sinnenwelt ruhig abwarteten; zumal da Alles ohne schlimme Folgen ablief, und sie während dieses wunderbaren Stillstandes alles äußern Lebens unbeschreiblich herrliche Dinge zu sehen und zu hören versicherte.

Dieß Alles, liebe Blandine, glaubte ich voranschicken zu müssen, um dir zu zeigen, daß die Frau von K. in jeder Betrachtung unter die ungewöhnlichsten Personen gehörte, und daß von allem Wunderbaren, was von ihr zu erzählen ist, sie selbst das Allerwunderbarste war.

Nahe an dem Orte, wo sie sich gewöhnlich aufhielt, liegt ein von dem fürstlichen Stift **** abhängiges Kloster von Benedictiner-Nonnen, welches von dem jeweiligen Abt, als sogenanntem Pater domus, aus der Zahl seiner Conventualen mit einem Probst, der über das Zeitliche des Klosters die Aufsicht hat, und mit einem Beichtiger, der die geistlichen Anliegenheiten der guten Mädchen besorgt, versehen wird. Seit mehreren Jahren hatte ein gewisser Pater Cajetan (wie ich ihn nennen will, da mir sein wahrer Name entfallen ist) die letztere Stelle verwaltet; ein Mann, der aus einer edeln niederländischen Familie stammte und seiner vorzüglichen Eigenschaften, so wie seines unsträflichen Lebens wegen in allgemeiner Achtung stand. Zwischen diesem und dem Herrn von K., der als Herr von **** ein Lehensmann des besagten Klosters war, hatte sich eine vertraute Freundschaft entsponnen, an welcher die ganze Familie um so mehr Antheil nahm, da der Mangel an einer zu ihnen passenden Gesellschaft den Umgang mit einem Manne von so vielen Kenntnissen und so gefälligen Sitten (nichts von seinem musikalischen Talente zu sagen) zu einem sehr schätzbaren Vortheil für sie machte. 236 Kurz, Pater Cajetan ward der Freund vom Hause und, des Unterschieds der Religion ungeachtet, von Allen nicht weniger geliebt, als ob er ein Glied der Familie gewesen wäre.

Eine geraume Zeit vor dem Ableben der Frau von K. wurde Pater Cajetan von seinem Fürsten nach Bellinzona versetzt, um auf einer dortigen Schule, die mit Lehrern aus seinem Stifte versehen werden mußte, in der Mathematik und Naturlehre Unterricht zu geben. Da diese Trennung dem wackern Benedictiner und dem Herrn und der Frau von K. gleich schmerzlich war, so versprachen sie einander, ihre Freundschaft wenigstens durch einen traulichen Briefwechsel warm zu erhalten, der denn auch zwischen beiden Theilen ziemlich fleißig geführt wurde.

Nach Jahr und Tag fiel Frau von K. in eine Krankheit, worüber die Ihrigen sich keine sorgliche Gedanken machten, weil sie die nämliche Krankheit mit eben denselben Zufällen schon mehrere Mal glücklich überstanden hatte. Sie allein dachte anders davon und sagte ihrer einzigen Tochter, die damals siebzehn oder achtzehn Jahre haben mochte, den Tag und die Stunde, wann sie sterben würde, ganz bestimmt voraus, doch mit dem ernstlichen Verbot, Niemanden, selbst den Vater, nichts davon merken zu lassen. Dieser blieb auch ganz unbekümmert und zweifelte so wenig an der baldigen Genesung seiner Gemahlin, daß er Bedenken trug, seinen Freund in Bellenz durch die Nachricht von ihrer Krankheit zu beunruhigen. Indessen war unvermerkt der Tag herangekommen, an welchem Frau von K. (ihrer Vorhersagung zufolge) sterben sollte. Sie schien sich um Vieles besser zu befinden, war sehr heiter und sprach mit ihrer Tochter (der einzigen Person, die sie an diesem Tage um sich haben wollte) von ihrem bevorstehenden Tode so gelassen, als ob von einer 237 kleinen Fahrt nach Z. oder B. die Rede wäre, wandte aber doch die wenigen Stunden, so sie, nach ihrem Vorgefühl, noch zu leben hatte, dazu an, ihrer noch immer zwischen Angst und Hoffnung schwebenden Tochter eine Menge guter Lehren und Warnungen zu geben. Diese schöpfte aus der Lebhaftigkeit und Freiheit der Brust, womit die vermeinte Sterbende sprach, immer mehr Hoffnung und erhielt dadurch die gelassene Fassung, worin die Mutter sie zu sehen verlangte. Gegen Mitternacht endlich richtete sich die Kranke auf und sagte mit einem ihr eigenen holden Lächeln: Nun ist's Zeit, daß ich gehe und vom P. Cajetan Abschied nehme. Mit diesem Worte legte sie sich auf die andere Seite und schien in wenigen Augenblicken sanft eingeschlafen zu seyn. Nach einer kleinen Weile erwacht sie wieder, wendet sich mit einem Blick voll Liebe und Ruhe zu ihrer Tochter, spricht noch wenige einzelne Worte und entschläft auf immer.

An eben diesem Tage und (wie es sich in der Folge zeigte) in eben dieser Stunde saß Pater Cajetan zu Bellinzona in seinem Zimmer am Schreibtisch, bei einer Studirlampe, mit Ausrechnung einer mathematischen Aufgabe, die er am folgenden Tage seinen Lehrlingen vortragen wollte, ernstlich beschäftigt und an nichts weniger als an seine Freundin denkend, von deren Krankheit er nicht die geringste Kunde hatte. An einer Seitenwand neben der Thür des Zimmers hing seine Pandore, ein Instrument, das er liebte und sehr geschickt zu spielen wußte. Auf einmal hört er die Pandore einen starken Knall, als ob der Resonanzboden gesprungen sey, von sich geben. Er fährt auf, sieht sich um und erblickt mit einem Schauder, der ihn einige Augenblicke unbeweglich macht, eine weiße, der Frau von K. vollkommen gleichende Gestalt, die ihn mit freundlichem Ernst ansieht und verschwindet. Er faßt 238 sich wieder, ist sich aufs deutlichste bewußt, daß er wacht und die Gestalt seiner mehr als dreißig Meilen von ihm entfernten Freundin gesehen hat; er untersucht die Pandore und findet den Resonanzboden gesprungen. Er weiß sich eine so sonderbare Erscheinung nicht zu erklären, kann aber doch die ganze Nacht durch den Gedanken nicht los werden, daß sie ihm vielleicht den Tod der Frau von K. angekündigt habe. Er schreibt mit der nächsten Post an ihren Gemahl, erkundigt sich mit einer Unruhe, deren Ursache er jedoch verschweigt, nach ihrem Befinden, erhält die Nachricht von ihm, daß sie in eben derselben Stunde, da er die Erscheinung hatte, gestorben sey, und entdeckt ihm nun in einem zweiten Briefe, was ihm in der nämlichen Stunde begegnet war. – Was sagst du nun zu dieser Anekdote, Schwester?Da ich, meines Wissens, in Deutschland wenigstens der Einzige bin, dem diese Begebenheit aus der ersten Quelle zugeflossen, so wurde ich nicht wenig überrascht, als ich sie vor einem Paar Jahren, ich weiß nicht mehr in welchem Almanach oder Taschenbuch, wiewohl sehr zusammengezogen und mit Weglassung einiger nicht überflüssiger Umstände, gedruckt zu lesen bekam. Ich erinnerte mich aber bald, daß der Verfasser des Aufsatzes sie im Jahre 1800 in einer kleinen Gesellschaft von mir selbst erzählen gehört hatte. Die Anekdote hat zwar den Reiz der Neuheit dadurch verloren; doch glaube ich, daß es selbst denen, welche jenen Aufsatz gelesen haben, nicht unangenehm seyn werde, sie hier genauer und gerade so, wie sie mir unmittelbar von der Tochter der Frau von K. mitgetheilt wurde, erzählt zu finden. W.

Blandine. Gestehe mir's aufrichtig, bist du von ihrer Wahrheit überzeugt?

Wilibald. Du mußt nicht mehr von mir verlangen, als ich gewähren kann. Ich habe sie unmittelbar aus dem Munde des damaligen Fräuleins von K. Diese war zu der Zeit, da sie mir bekannt und (wie ich nicht berge) sehr interessant wurde, eine gute unverfälschte Tochter der Natur, nicht ohne Bildung, aber mit der Welt gänzlich unbekannt. Sie hatte von ihrer Mutter, an welcher sie wie eine Frucht am Zweige hing, eine starke Anlage zu frommer und zärtlicher Schwärmerei geerbt und lebte mehr in einer Zauberwelt von dichterischen und mystischen Ideen, als in der wirklichen, die ihr fremd und gleichgültig war. Gleichwohl bin ich völlig überzeugt, daß sie mir nichts als die reine Wahrheit sagen wollte, d. i. kein Wort mehr, als was sie selbst für wirkliche Thatsache hielt und, allen Umständen nach, halten mußte. Nicht weniger Ursache habe ich, an die zuverlässige Wahrhaftigkeit 239 des wackern Benedictiners zu glauben, der in einem zu guten Ruf stand, als daß seine Versicherung, von der Krankheit der Frau von K. nicht das Geringste gewußt zu haben, bezweifelt werden könnte; zumal da sich schlechterdings nicht absehen läßt, was für einen Nutzen er von einer Lüge über diesen Punkt hätte ziehen können. Dieß ist aber auch Alles, meine Liebe, wofür ich mich verbürgen kann. Täuschte sich die sterbende Frau von K., da sie ihrer Tochter sagte: sie wolle nun gehen und vom P. Cajetan Abschied nehmen? Täuschte sich dieser, da er plötzlich die Gestalt seiner Freundin vor sich zu sehen glaubte? War es bloser Zufall, daß die Stunde der Erscheinung mit derjenigen, worin die Sterbende ihm erscheinen wollte, zusammentraf? Auf alle diese Fragen habe ich keine andere Antwort zu geben, als den ewigen Refrain der Zweifler. Es ist mir nicht klar, ich weiß es nicht.

Blandine. Ich dächte doch, es ließe sich noch etwas Besseres darauf antworten. Wenn ich diesen Abend zu Louisen sagte: Morgen um fünf Uhr soll dein Vater einen frischen Strauß von Maiblümchen auf deinem Schreibtische finden, und du fändest um diese Zeit wirklich einen solchen Strauß auf deinem Tische, wirst du glauben, er sey durch einen blosen Zufall dahin gerathen? Ist es mit der Erscheinung der Frau von K. nicht derselbe Fall? Sie sagt, sie wolle gehen, um von einem abwesenden Freund Abschied zu nehmen; und einige Augenblicke darauf erblickt dieser ihre Gestalt in seinem Zimmer, und dieß zu einer Zeit, da seine ganze Aufmerksamkeit auf eine mathematische Ausrechnung geheftet ist, da er an nichts weniger als die Sterbende denkt und kein Wort von ihrem Krankseyn weiß. Wenn ein solches Zusammentreffen Zufall ist, so möchte ich wohl wissen, was man absichtliche Ursache und Wirkung nennen kann. Wie hätte 240 Pater Cajetan unter diesen Umständen sich selbst täuschen oder getäuscht werden können? – Nimm dazu noch das Zerspringen der Pandore, wodurch er aufgeschreckt und bewogen wurde, nach dem Orte, wo die Gestalt seiner Freundin sichtbar war, hinzuschauen. Ein Instrument kann ja wohl aus irgend einer zufälligen Ursache einen Riß bekommen und einen Knall thun; aber, daß dieß gerade in dem Augenblick geschah, wo die Erscheinende (welche vermuthlich dazu nur wenige Augenblicke in ihrer Gewalt hatte) seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte, das scheint mir ein ziemlich handgreifliches Zeichen, daß hier ein absichtliches Verhältniß von Ursache und Wirkung Statt fand.

Wilibald. Gut! Angenommen also, daß diese Erscheinung der Frau von K. unmittelbar vor ihrem Tode eine wirkliche Thatsache sey, was für Folgerungen glaubst du daraus ziehen zu können?

Blandine. Erstens: es sey also möglich, daß unsere Seele, wenigstens kurz vor der gänzlichen Trennung von ihrem Körper, aus demselben herausgehen und ihre Gegenwart anderswo offenbaren könne; zweitens: daß die Erscheinung der eigensten Gestalt der Frau von K., da sie sich schwerlich auf eine andere Weise erklären läßt, für einen Beweis gelten müsse, daß sie es selbst gewesen sey, die ihm in dieser Gestalt erschien; drittens: daß sie also entweder die Gabe gehabt haben müßte, sich in aller Geschwindigkeit aus einem sichtbaren Stoffe einen neuen, ihrem irdischen Körper völlig ähnlichen Leib anzubilden, oder, daß es mit dem ätherischen Körper, von welchem gestern die Rede war, seine Richtigkeit habe, und daß dieser das Vermögen besitze, nach dem Willen der Seele in wenigen Minuten so viel gröbern Stoff aus der Luft an sich zu ziehen, als nöthig ist, 241 um sichtbar zu werden. Nun scheint mir jenes ungleich weniger natürlich und begreiflich zu seyn, als dieses; ich halte mich also an das Letztere und glaube, durch die Erscheinung der Frau von K. für die Existenz des ätherischen Seelen-Organs ein Großes gewonnen zu haben.

Wilibald. So rasch geht es bei mir nicht, liebe Blandine; ich sehe in deinen Resultaten noch eine Menge unauflöslicher Schwierigkeiten. So bestehen z. B. alle unsere gestrigen Einwürfe gegen das ätherische Seelen-Organ noch immer in ihrer vollen Kraft, und, es sey nun, daß du den sichtbaren Leib, welchen es sich in der Geschwindigkeit angebildet haben soll, für ein Werk der Natur oder für ein Kunstgebilde erklären wolltest, so bleibt immer unbegreiflich, wie das Seelen-Organ oder die Seele selbst zu dem Naturvermögen oder zu der Kunstfertigkeit gekommen seyn sollte, sich in wenigen Minuten mit einem solchen Leibe zu bekleiden. Aber noch viel unbegreiflicher ist, wie und warum die Seele der Frau von K. das sonderbare Vorrecht besessen haben sollte, nach Belieben aus ihrem Leibe auszuwandern und wieder dahin zurück zu kommen. Denn, daß dieß keine Eigenschaft aller menschlichen Seelen sey, bedarf doch wohl auch für dich keines Beweises? Bei uns Andern ist die Seele so lange, bis der wirkliche Tod erfolgt, durch so starke, wiewohl unendlich feine Faden mit unserem Leibe verwebt, daß es ihr, wie stark und leidenschaftlich ihr Wollen und Streben auch wäre, schlechterdings unmöglich ist, sich ohne Hülfe ihres gröbern Körpers nur aus einem Zimmer in ein anderes zu versetzen. Ich finde also das willkürliche Herausgehen der Seele unserer Dame aus ihrem Leibe nicht nur unbegreiflich, sondern geradezu unmöglich; es wäre denn, daß du (mit deiner Erlaubniß!) an die Feenmährchen der Dame 242 d'Aunoy und an die Kraft des Zauberwortes QuiribiniVon der Zauberkraft dieses Wortes finden sich die Beweise in dem Mährchen, der Wohlthätige, in den Illustres Fées der Gräfin d'Aulnoy. glaubtest.

Blandine (lachend). Du machst mich mir selbst lächerlich, Bruder, und das ist nicht sehr artig von dir. Könnte denn nicht die sterbende Frau von K. sich bereits vom Leide so weit losgewunden haben, daß sie, so zu sagen, nur noch an einem einzigen, freilich ziemlich langen Faden an ihm hing, an welchem sie, gleichsam wie eine Spinne, bis zu ihrem Freund nach Bellenz und von da wieder in ihren Leib zurücklief –

Wilibald. Um das Reißen dieses letzten Fadens vollends abzuwarten?

Blandine. Allerdings! Denn, wenn sie selbst ihn zerrissen hätte, wäre das nicht wahrer Selbstmord gewesen? – Aber, ernsthaft zu reden, was sollen wir denn von dieser seltsamen Geschichte denken?

Wilibald. Daß sie eine nicht zu bezweifelnde, aber unbegreifliche, unglaubliche, übernatürliche Thatsache ist und folglich, wie wahr sie auch seyn mag, keine Resultate geben kann.

Blandine. Das ist recht ärgerlich! Ich möchte so gern was daraus schließen können.

Wilibald. Es ließe sich ja wohl noch Ein und Anderes zu ihrem Behuf vorbringen; z. B. daß ein Geist, unter gewissen besondern Umständen, ohne an Raum und Zeit gebunden zu seyn, auf einen andern Geist wirken könne, und daß unsre Dame in dieser Weise auf das Innerste ihres Freundes gewirkt und ihre Gestalt seiner Phantasie vorgespiegelt habe.

Blandine. Aber konnte ihr Geist auch eben so unmittelbar auf den Resonanzboden seiner Pandore wirken? 243

Wilibald. So geht es uns, Blandine, wenn wir uns Unbegreifliches durch Unbegreifliches – begreiflich machen wollen! Der heilige Kirchenvater Augustinus könnte uns vielleicht noch andern Ausweg zeigen. Die Seele, sagt er irgendwo, ist da, wo sie liebt.

Blandine. Wenn dieß buchstäblich wahr wäre, Bruder, müßten wir beide, du und ich, wohl auch etwas davon wissen. In einem gewissen Sinn ist die Seele freilich nicht nur da, wo sie liebt, sondern auch da, wohin sie sich denkt. Wenn ich in Vossens Homer lese, bin ich mitten in Troja, mitten im Lager der Griechen, im Olympus, auf der Erde, bei den Phäaken und in Ithaka. Aber diese Erklärungsart löset das Räthsel deiner Erscheinungs-Geschichte nicht auf.

Wilibald. Wir thun also wohl am besten, liebe Blandine, wenn wir uns unsere Unwissenheit in dämonischen Dingen aufrichtig gestehen und uns darüber in dem Gedanken beruhigen, daß etwas, was wir unmöglich wissen können, uns vernünftiger Weise eben so wenig kümmern sollte, als was der Mann im Mond (wenn einer ist, und wenn er was zu essen braucht und hat) heute zu Mittag gegessen habe.

Blandine. Das möchte angehen, wenn uns das Verlangen, zu wissen, wie es mit denen, die wir lieben, und mit uns selbst nach dem Tode stehen werde, nur nicht so natürlich wäre.

Wilibald. Natürlich! Ich meines Orts möchte vielmehr behaupten, daß es dem Menschen gar nicht natürlich ist, an den Tod zu denken. Ich zähle jenes vorwitzige Verlangen unter die vielen erkünstelten Begierden, die uns durch die Erziehung und überhaupt durch den Einfluß der bürgerlichen Gesellschaft, worin wir leben, eingepflanzt werden. Und doch denken wir, dieses fremden Einflusses 244 ungeachtet, selten ernstlich und anhaltend an den Tod und werden meistens von ihm überschlichen, ohne ihn gewahr zu werden.

Blandine. Wenn wir aber an ihn denken müssen – und dazu gibt es doch genug Veranlassungen – so wäre doch gut, wenn man mit Ruhe und mit fröhlichen Erwartungen an ihn denken könnte.

Wilibald. Und wer in der Welt sollte mit Ruhe und frohem Muthe an den Tod denken können, als ein so unschuldiges und gutes Wesen wie du? Denn ich wenigstens kenne dazu kein anderes Mittel, als das Geheimniß des alten Sokrates, das Bewußtseyn eines wohlgeführten Lebens. Erinnere dich der tiefen Ruhe, womit unsere Fannia – in welcher auch nicht ein Fünkchen Schwärmerei jemals geglommen hatte – dem Tod entgegen sah! Das Bewußtseyn, daß man nie Böses, immer nur das Gute gewollt und nach Vermögen gethan hat, setzt das Gemüth, vornehmlich in den letzten Stunden des Lebens, in eine heitere Stille, die ich einen Anfang der Seligkeit, welche uns die Religion verspricht, nennen möchte. Wer sich in diesen Augenblicken Gutes bewußt ist, traut der ganzen Natur Gutes zu, ist ohne Furcht und Sorge für die Zukunft und erwartet gelassen und getrost was da kommen wird. Ein solche Seele senkt sich, wie ein Kind in den Busen der Mutter, mit voller Zuversicht in den Schoß des Unendlichen und schlummert dann unvermerkt aus einem Leben hinaus, worin sie nie wieder erwachen wird. Dieß, liebe Blandine, ist, nach meiner Ueberzeugung, im reinsten Sinne des Wortes, was meine alten Griechen Euthanasia nannten, die schönste und beste Art zu sterben; und da sie von einer Bedingung abhängt, die immer in unsrer Gewalt ist, warum sollten wir 245 uns vergebliche Mühe machen, den undurchdringlichen Vorhang wegzuziehen, der das Leben nach dem Tode vor uns verbirgt? – Zwar sehe ich nicht, warum wir, in schwächern Augenblicken, nicht befugt seyn sollten, mit der liebenswürdigen Elisa RoweElisabeth Singer, eine Deutsche, vermählt mit dem engländischen Dichter Rowe, ist die Verfasserin des Werkes: Friendship in death (London 1726. Die Freundschaft im Tode, Frankfurt und Leipzig 1770), welches Wielanden veranlaßte, seine Briefe von Verstorbenen an hinterlassene Freunde zu schreiben. den süßen Träumereien des Herzens und der Phantasie nachzuhängen oder mit Eduard YoungYoung – der Verfasser der Nachtgedanken. auf die erhabensten Ahnungen eines über die Sinnenwelt emporstrebenden Geistes zu horchen; aber von Allem, was guten Menschen gewiß ist, das Gewisseste bleibt doch immer, daß sie sich nicht betrügen können, wenn sie in ruhiger Ergebung und gleichsam mit geschlossenen Augen bis zum letzten Athemzug das Beste hoffen.

Blandine. Mein Herz sagt mir, daß du Recht hast, Bruder, und dabei soll es für immer bleiben.

 


 


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