Christoph Martin Wieland
Musarion oder die Philosophie der Grazien
Christoph Martin Wieland

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Erstes Buch.

                    In einem Hain, der einer Wildniß glich
Und nah' am Meer ein kleines Gut begrenzte,
Ging Phanias mit seinem Gram und sich
Allein umher; der Abendwind durchstrich
Sein fliegend Haar, das keine Ros' umkränzte;
Verdrossenheit und Trübsinn mahlte sich
In Blick und Gang und Stellung sichtbarlich;
Und was ihm noch zum TimonTimon: Eine Anspielung auf den armseligen Aufzug, worin Lucian in einem seiner dramatischen Dialogen den berüchtigten Timon, den Menschenhasser, aufführt. – »Wer ist denn (fragt der auf die Erde herab schauende Jupiter den Merkur) da unten am Fuße des Hymettus der lumpige schmutzige Kerl in dem Ziegenpelze, der ihm kaum bis über die Hüften reicht?« u.s.w. S. Lucians sämmtl. Werke, I. Theil, S. 60 der neuen Deutschen Übersetzung. fehlt', ergänzte
Ein Mantel, so entfasert, abgefärbt
Und ausgenutzt, daß es Verdacht erweckte,
Er hätte den, der einst den Krates deckte,
Vom Aldermann der Cyniker geerbtAls hätt' er den... geerbt: In der Ausgabe von 1769 lautete der letzte Vers so: (Ihr wißt ja wo?) vom Diogen geerbt. Nun wußten aber die meisten Leser nicht wo? Man hat also für besser gehalten, den Vers abzuändern, und dem Leser, dem die Anekdote, auf welche hier angespielt wird, unbekannt oder entfallen seyn könnte, durch eine kleine Anmerkung zu dienen. Der Sinn dieser Stelle ist also: Der Mantel des aus seinem ehemaligen Wohlstande, gleich dem Timon, herunter gekommenen Phanias, der seine ganze Kleidung ausmachte, habe so abgenutzt ausgesehen, als ob es eben derselbe wäre, welchen Diogenes über seinen Freund und Schüler Krates ausgebreitet haben soll, als dieser (aus einem kleinen Übermaß von Eifer, die Cynische Lehre, »daß nichts natürliches schändlich sey,« durch eine auffallende That zu bekräftigen) sich die Freiheit nahm, sein Beylager mit der schönen Hipparchia in der großen Halle (Stoa) zu Athen öffentlich zu vollziehen. – Daß dem Diogenes die Benennung eines Aldermanns der Cyniker zukomme, bedarf wohl keines Beweises, und man hat sie in dieser Ausgabe der in einigen vorgehenden, wo es, dem Aldermann der Stoiker, d. i. dem Zeno, hieß, vorgezogen, weil von einem Mantel, der vom Diogenes bis auf den Zeno, und sodann weiter von einem philosophischen Bettler zum andern endlich bis auf den Phanias fortgeerbt worden wäre, wahrscheinlich gar nichts mehr als Fetzen übrig geblieben seyn müßten. .

Gedankenvoll, mit halb geschloßnen Blicken,
Den Kopf gesenkt, die Hände auf den Rücken,
Ging er daher. Verwandelt wie er war,
Mit langem Bart und ungeschmücktem Haar,
Mit finstrer Stirn, in Cynischem Gewand
Wer hätt' in ihm den Phanias erkannt,
Der kürzlich noch von Grazien und Scherzen
Umflattert war, den Sieger aller Herzen,
Der an Geschmack und Aufwand keinem wich,
Und zu Athen, wo auch Sokraten zechtenwo auch Sokraten zechten: Daß Sokrates bey Gelegenheit ein strenger Zecher gewesen sey, erhellet aus verschiedenen Stellen des Platonischen Symposion. So rühmt es ihm z. B. Agathon, der Wirth in diesem berühmten Gastmahl, als keinen geringen Vorzug vor den übrigen Anwesenden nach, daß er den Wein besser ertragen könne als die stärksten Trinker unter ihnen, und der junge Alcibiades, da er, um die Gesellschaft zum Trinken einzuladen, dem Sokrates einen großen Becher voll Wein zubringt, setzt hinzu: »Gegen den Sokrates, meine Herren, wird mir dieser Pfiff nichts helfen; denn der trinkt so viel als man will, und ist doch in seinem Leben nie betrunken gewesen«. – Auch leert Sokrates den voll geschenkten Becher nicht nur rein aus, sondern, nachdem, auf eine ziemlich lange Pause, das Trinken wegen einiger noch von ungefähr hinzu gekommenen Bacchusbrüder von neuem angegangen war, und, unter mehrern andern, die es nicht länger aushalten konnten, auch Aristodemus sich in irgend einen Winkel zurück gezogen hatte und eingeschlafen war, fand dieser, als er um Tagesanbruch wieder erwachte und ins Tafelzimmer zurück kam, daß alle andern weggegangen, und nur Agathon, Aristophanes und Sokrates allein noch auf waren, und aus einem großen Becher tranken. Sokrates dialogierte noch immer mit ihnen fort, und fühlte sich durch allen Wein, den er die ganze Nacht durch zu sich genommen hatte, so wenig verändert, daß er, als es Tag geworden war, mit besagtem Aristodemus ins Lyceon baden ging, und, nachdem er den ganzen Tag nach seiner gewöhnlichen Weise zugebracht, erst gegen Abend sich nach Hause zur Ruhe begab. – Ein Zug seines Temperaments, welcher (däucht uns) bey Schätzung seines sittlichen Karakters, nicht aus der Acht zu lassen ist. Denn mit einem solchen Temperamente kann es, bey einem einmahl fest gefaßten Vorsatz, eben nicht sehr schwer seyn, immer Herr von seinen Leidenschaften zu bleiben. ,
Beym muntern Fest, in durchgescherzten Nächten,
Dem Komus bald, und bald dem Amor glich?

Ermüdet wirft er sich auf einen Rasen nieder,
Sieht ungerührt die reitzende Natur
So schön in ihrer Einfalt! hört die Lieder
Der Nachtigall, doch mit den Ohren nur.
Ihr zärtlicher Gesang sagt seinem Herzen nichts;
Denn ihn beraubt des Grams umschattendes Gefieder
Des innern Ohrs, des geistigen Gesichts.
Empfindungslos, wie einer der Medusen
Erblickt und starrt, erwägt er zweifelsvoll
Nicht, wie vordem, wofür er seufzen soll,
Für welchen Mund, für welchen schönen Busen?
Nein, Phanias spricht jetzt der Thorheit Hohn,
Und ruft, seitdem aus seinem hohlen Beutel
Die letzte Drachme flog, wie König Salomon:
Was unterm Monde liegt, ist eitel!

Ja wohl, vergänglich ist und flüchtiger als Wind
Der Schönen Gunst, die Brudertreu der Zecher;
So bald nicht mehr der goldne Regen rinnt,
Ist keine Danae, sobald im trocknen Becher
Der Wein versiegt, ist kein Patroklus mehr.
Was Fliegen lockt, das lockt auch Freunde her;
Gold zieht magnetischer, als Schönheit, Witz und Jugend:
Ist eure Hand, ist eure Tafel leer,
So flieht der Näscher Schwarm, und Lais spricht von Tugend.

Der großen Wahrheit voll, daß alles eitel sey
Womit der Mensch in seinen Frühlingsjahren,
Berauscht von süßer Raserey,
Leichtsinnig, lüstern rasch und unerfahren,
In seinem Paradies von Rosen und Schasmin
Ein kleiner Gott sich dünkt, setzt Phanias, der Weise,
Wie Herkules, sich auf den Scheidweg hin,
(Nur schon zu spät) und sinnt der schweren Reise
Des Lebens nach. Was soll, was kann er thun?
Es ist so süß, auf Flaum und Rosenblättern
Im Arm der Wollust sich vergöttern,
Und nur vom Übermaß der Freuden auszuruhn!
Es ist so unbequem, den Dornenpfad zu klettern!
Was thätet ihr? – Hier ist, wie vielen däucht,
Das Wählen schwer! dem Phanias war's leicht.
Er sieht die schöne Ungetreue,
Die Wollust – schön, er fühlt's! – doch nicht mehr schön für ihn –
Zu jüngern Günstlingen aus seinen Armen fliehn;
Die Scherze mit den Amorinen fliehn
Der Göttin nach, verlassen lachend ihn,
Und schicken ihm zum Zeitvertreib die Reue:
Hingegen winken ihm aus ihrem Heiligthum
Die Tugend, und ihr Sohn, der Ruhm,
Und zeigen ihm den edlen Weg der Ehren.
Der neue Herkules schickt seufzend einen Blick
Den schon Entfloh'nen nach, ob sie nicht wiederkehren:
Sie kehren, leider! nicht zurück,
Und nun entschließt er sich der Helden Zahl zu mehren!

Der Helden Zahl? – Hier steht er wieder an;
Der kühne Vorsatz bleibt in neuen Zweifeln schweben.
Zwar ist es schön, auf lorbervoller Bahn
Zum Rang der Göttlichen die in der Nachwelt leben,
Zu einem Platz im Sternenplan
Und im Plutarch, sich zu erheben;
Schön, sich der trägen Ruh entziehn,
Gefahren suchen; keine fliehn,
Auf edle Abenteuer ziehn,
Und die gerochne Welt mit Riesenblute färben;
Schön, süß sogar – zum mindsten singet so
Ein Dichter, der zwar selbst beym ersten Anlaß flohEin Dichter... floh: Horaz, der, ungeachtet seines »Süß ist's und edel sterben fürs Vaterland« in einem andern Gesang offenherzig genug ist zu gestehen, daß er in der Schlacht bei Philippi sogar seinen kleinen runden Schild von sich geworfen habe, um dem schönen Tod fürs Vaterland desto hurtiger entlaufen zu können. – Wiewohl nicht zu verschweigen ist, daß unser Autor selbst an einem andern Orte nicht ganz unerhebliche Gründe, den Dichter gegen sich selbst zu rechtfertigen, vorgebracht zu haben scheint. S. die erste Erläuterung zur zweyten Epistel des Horaz an Julius Florus. , –
Süß ist's, und ehrenvoll fürs Vaterland zu sterben,
Doch auch die Weisheit kann Unsterblichkeit erwerben!
Wie prächtig klingt's, den fesselfreyen Geist
Im reinsten Quell des Lichts von seinen Flecken waschen,
Die Wahrheit, die sich sonst nie ohne Schleier weist,
(Nie, oder Göttern nur) entkleidet überraschen;
Der Schöpfung Grundriß übersehn,
Der Sphären mystischen verworrnen Tanz verstehn,
Vermuthungen auf stolze Schlüsse häufen,
Und bis ins Reich der reinen Geister streifen:
Wie glorreich! welche Lust! – Nennt immer Den beglückt
Und frey und groß, den Mann der nie gezittert,
Den der Trompete Ruf zur wilden Schlacht entzückt,
Der lächelnd sieht was Menschen sonst erschüttert
Und selbst den Tod, der ihn mit Lorbern schmückt,
Wie eine Braut an seinen Busen drückt:
Viel größer, glücklicher ist Der mit Recht zu nennen,
Den, von Minervens Schild bedeckt,
Kein nächtliches Phantom, kein Aberglaube schreckt;
Den Flammen, die auf Leinwand brennen,
Und Styx und Acheron nicht blässer machen können;
Der ohne Furcht Kometen brennen sieht,
Die hohen Götter nicht mit Taschenspiel bemüht,
Und, weil kein Wahn die Augen ihm verbindet,
Stets die Natur sich gleich, stets regelmäßig findet.


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