Christoph Martin Wieland
Betrachtungen über J. J. Rousseau's ursprünglichen Zustand des Menschen
Christoph Martin Wieland

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Christoph Martin Wieland.

Betrachtungen
über
J. J. Rousseau's

ursprünglichen Zustand des Menschen.

Selten ist wohl über etwas ungleicher geurtheilt worden, als über die zwei Schriften Rousseau's, gegen welche Wieland diese und die folgende Abhandlung (Ueber die von J. J. Rousseau vorgeschlagenen Versuche) gerichtet hat. Ob der Verfasser ein Weiser oder ein Thor, seine Absicht redlich oder unredlich gewesen sey, ob er habe täuschen wollen oder sich selbst getäuscht habe, darüber stritt man nicht weniger, als über die vorgetragenen Paradoxen selbst, welche durch die Art, wie sie ins Publicum eingeführt wurden, eine um so größere Aufmerksamkeit erregten. Die Akademie zu Dijon hatte im Jahr 1750 die Preisfrage aufgegeben: ob die Wiederherstellung der Künste und Wissenschaften zur Verbesserung der Sitten beigetragen habe? Rousseau, damals 38 Jahre alt, von dem Schicksal wunderlich umhergeworfen, kränklich und in melancholischer Stimmung, beschloß, mit der Beantwortung jener Frage als Schriftsteller aufzutreten, und würde sie ohne Dazwischenkunft eines Freundes – wo ich nicht irre, war es Diderot – bejahend beantwortet haben. Dieser aber erklärte die Frage für eine wahre Eselsbrücke, sagte, daß alle gemeine Köpfe sie bejahend beantworten und in Lobpreisungen kein Ende finden würden, und rieth Rousseau, lieber das Gegentheil zu thun und die Behauptung aufzustellen, die Wissenschaften seyen den Sitten schädlich gewesen. Daß hierdurch Rousseau erst auf seine Idee kam, ist gewiß, allein nicht eben so gewiß, ob er nun gegen seine Ueberzeugung, als bloser Sophist, geschrieben habe. Er führte wirklich die hingeworfene Idee aus: und da die Akademie seiner Abhandlung, weil sie am reifsten durchdacht und mit hinreißender Beredsamkeit geschrieben war, den Preis zuerkannte; so war es sehr natürlich, daß Jeder begierig wurde, zu sehen, mit welchen Gründen solch eine Behauptung unterstützt sey. Der Erfolg von jenem Rathe fiel also so glücklich aus, als nur möglich war; Rousseau's schriftstellerischer Ruhm war begründet. Wohl möglich wäre es gewesen, daß er nun aus bloser Ruhmsucht auf dem einmal so glücklich betretenen Wege fortgegangen wäre, – und seine Feinde haben nicht ermangelt, dieß zu behaupten – eben so möglich aber und bei der Lage, der Stimmung Rousseau's noch wahrscheinlicher, daß jene Idee ihn weiter geführt hatte, als er anfangs selbst vermuthen konnte, und dieß haben seine Freunde geltend zu machen gesucht. Rousseau hatte, bei aller Menschenscheu, ein Herz, das die Menschen liebte, er hatte in einer traurigen Lage Gefühl seines Werthes und – wie alle Menschen – Eigenliebe; bedurfte es bei einem Manne, der Alles mit einer gewissen leidenschaftlichen Wärme that, mehr, als in seiner Nähe den Contrast zwischen Cultur und Elend, Kenntniß, Geschmack, Anstand und einer ungeheuren Frivolität und Bedrückung zu bemerken, um nach der Richtung, die seine Gedanken einmal genommen hatten, erst den Wunsch und dann die Ueberzeugung zu bewirken, es möchte wirklich um die Menschen besser stehen, wenn sie niemals Wissenschaften und Künste gehabt hätten? Wie steht es um die Menschen? Wie stand es um sie? Wie sollte es um sie stehen? Diese Fragen beschäftigten von jetzt an seinen Geist aufs lebhafteste und veranlaßten die Entwickelung einerseits seiner politischen, andererseits seine pädagogischen Ideen und Schriften, die so folgenreich für die ganze policirte Welt geworden sind. Zunächst mußte er bei der Art, wie er seine erste Idee ausführte, und unter den Umständen, unter denen er sie ausführte, auf den Gedanken kommen: wie es denn nun wohl unter den Menschen ausgesehen habe, als sie noch keine Wissenschaften und Künste hatten? Dieß führte ihn auf eine zwar nicht ganz neue, aber kräftiger von ihm angeregte und seitdem öfter verhandelte Idee, von dem Stande der Natur. Daß er diese Idee nicht rein an sich, sondern lediglich im Contraste mit der Wirklichkeit aufgefaßt habe, kann Niemand bezweifeln, der sich darauf versteht, außer in dem Buche zugleich in der Seele seines Verfassers zu lesen. Die Schicksale, die ihn hierauf betrafen, die Verfolgungen, die er zu erdulden hatte, waren nicht geeignet, ihn von seiner Bahn abzubringen, und man sieht daher schon dem Titel des zweiten Werkes, von welchem hier die Rede ist, an, wie die erste Idee in ihm nachgewirkt hatte. Im Jahre 1755 erschien sein Discours sur l'origine et les fondemens de l'inégalité parmi les hommes, der als eine wirkliche Fortsetzung der ersten Schrift betrachtet werden kann. Er leugnet, daß die Menschen ursprünglich gesellig seyen, vielmehr hätten sie Hang zu Unabhängigkeit. In ihrem Naturstande, der (wie schon mehrere Alte behauptet hatten) von dem thierischen nicht sehr verschieden und (wie er hinzufügte) dem Menschengeschlecht am angemessensten sey, sagt er, sind auch alle Menschen frei und haben gleiche Rechte; die bürgerliche Gesellschaft hat die Menschenrechte unterdrückt, und die Menschen haben die Ordnung der Natur umgekehrt, indem sie sich in Staatsverbindungen eingelassen haben. – Dieß sind die in dieser Schrift ausgeführten Hauptideen, von denen, wie man sieht, er nachher auf dem geradesten Wege zu der Idee seines Gesellschaftsvertrages kommen mußte.
Es ist hier der Ort nicht, auszuführen, wie ganz anders die Resultate ausgefallen seyn würden, wenn nicht Geselligkeit und Gesellschaft, Gesellschaft und Staatsverbindung, Menschengeschlecht und Menschheit mit einander wären verwechselt worden; genug, die Schrift, gerade so, wie sie war, mußte noch größeres Aufsehen erregen, als jene erste, und es fehlte daher auch ihr, die mit allen glänzenden Eigenschaften der ersten nicht weniger reich ausgestattet war, so wenig an Bewunderern als Gegnern. In die Reihe dieser letzten trat unter uns auch Wieland, der sich weislich den Vortheil sicherte, nicht blos für den Augenblick zu schreiben, wo man aus einem der Wissenschaft fremdartigen Interesse Widerlegungen gern liest und dann für immer vergißt. Er wählte sich einen Hauptpunkt, der seine culturhistorische Wichtigkeit nie verlieren kann, weil alle Culturgeschichte von ihm ausgehen muß, und führte diesen polemisch durch, um seiner Abhandlung ein Interesse mehr zu geben. Der Gegenstand selbst gehört zu denen, die in allen Zeitaltern und für alle Menschen neu sind. Ist doch Rousseau's Schrift selbst nichts Anderes, als eine Variation zu dem uralten Thema von dem entschwundenen goldenen Zeitalter oder von dem verlorenen Paradiese!

In dieser Ansicht von der Entstehungsgeschichte der genannten Schriften Rousseau's ist nichts zu ändern, als was aus der Anekdote folgt, die Wieland noch nicht bekannt seyn konnte, daß R. anfangs in der That für die Wissenschaften sich erklären wollte und erst auf fremde Veranlassung sich gegen dieselben erklärte. In der Hauptsache ist seine Ansicht doch die richtige.

1770.

 


 


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