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Die Pfingstferien waren kurz, aber die einzelnen Tage waren lang, lang für Klemens, dem es seit jenem Abend wie eine drückende Last auf Kopf und Herzen lag. Wie und wo er konnte, mied er das Haus, denn ihm war, als blickten ihn aus Ecken und Winkeln die Geister vergangener Stunden mit staunenden Augen an, als fragten sie ihn: »Bist Du derselbe, der einst unter uns gewohnt?« – Und war er denn noch derselbe? Er, der sich jetzt freute, daß der Bruder nicht vom Schreibtisch fortkam, weil er ihm nicht in die Augen hätte sehen können? Der des Abends in die Stadt hinunterging, nur um nicht wieder mit dem Weibe allein zu bleiben, und der sich dennoch, wenn er nachts zur Ruhe ging, eines Wonneschauers nicht erwehren konnte bei dem Gedanken, daß ein und dasselbe Dach es war, welches über seinem Lager war und über ihrem?
Was er in der tiefen Erregung seiner Seele am wenigsten begriff, das war die gleichmäßige Ruhe, welche Lucie während dieser Zeit bewahrte.
Es faßte ihn wie Ingrimm, daß sie bei Tische, wenn sie 144 zu dreien beisammen saßen, harmlos plaudern, lächeln und scherzen konnte. Hatte sie vergessen, was sie in ihm aufgerührt und entzündet hatte? Oder war das alles nur ein Spiel für sie gewesen? Er fing an, es zu glauben, er wollte sich in Grimm und Groll gegen sie hineindenken und fühlen, und er glaubte es wirklich bis zum Augenblick, da er, zur Abreise nach Heidelberg fertig, ihr die Hand zum Abschied bot.
Denn als er nun ihre bebende Hand in der seinigen fühlte, als er die sonst so geläufigen Lippen lautlos zucken und die sonst so kecken Augen in hilflosem Flehen auf sich gerichtet sah, da erkannte er, wie tief das Herz dieses Weibes aufgewühlt war, und welch verzweifelten Kampf sie während dieser letzten Tage mit diesem ihrem Herzen bestanden hatte.
»Auf Wiedersehen im Sommer,« sprach er leise; und daß es erst im Sommer sein sollte, erfüllte ihn mit Weh. Er konnte sich nicht von der seltsamen Vorstellung befreien, daß sie ihm in der Zwischenzeit verloren gehen könnte. Immer kehrten seine Gedanken zu der Stunde zurück, als sie zusammen auf der Bank gesessen hatten, und Lucie erklärt hatte, daß sie an der Stelle begraben zu sein wünsche. Es hatte eine Zeit gegeben, da er Lucie für eines jener Geschöpfe gehalten hatte, die zu kalt sind, um jemals unglücklich zu werden – und nun hatte er mit eigenen Augen gesehen, wie unglücklich sie war.
Wie er in der Nacht gekommen war, so reiste er in der Nacht zurück, und wie ihr Bild ihn bei der Herreise begleitet hatte, so begleitete es ihn bei der Heimreise.
Nicht nur das weiße Kleid aber war es mehr, das rauschend vor seinen geschlossenen Augen gaukelte, sondern das Weib selbst, das Weib, das er in dem verhängnisvollen 145 Augenblick gesehen hatte, vom Schlafe aufgelöst, mit der wogenden nackten Brust.
Ein dumpfes Fieber hatte seine Seele ergriffen; seine Sinne und Gedanken reckten sich wie inbrünstige, sehnende Arme nach der Gestalt des schönen Weibes aus.
Und dieses Fieber verließ ihn keinen Tag und keine Stunde mehr. Seine Arbeit ward ihm zur Last, und er, der einst so fleißige Jünger der Wissenschaft, trieb sich jetzt planlos und ziellos in den Umgebungen Heidelbergs herum und sog aus ihrer Anmut jenen gefährlichen, verweichlichenden Rausch ein, mit welchem die Schönheit der Natur eine haltlos gewordene Seele vergiftet.
Er hatte mit sich gerungen, aber endlich hatte es ihn übermannt; er hatte an sie geschrieben. Einen Brief voll wütender, stammelnder Glut. Dann, als nach langem Harren eine Antwort von ihr gekommen war, hatte er das duftende Papier des Briefes wie ein Trunkener an die Lippen gedrückt und in die Brusttasche gesteckt, und dort, über seinem Herzen, trug er ihren Brief wochen- und monatelang.
Endlich brach der Ferienmonat an, der August, und es nahte die Zeit, welcher zwei Menschen mit dem dumpfen Vorgefühl entgegenblickten, daß sie ihnen eine letzte, furchtbare, vielleicht tödliche Entscheidung bringen würde.
So wenigstens waren Luciens Empfindungen; denn wohin anders als zur Vernichtung sollte er sie reißen, der Strom des Verderbens, der ihre Sinne und Seele zusammengewühlt hatte zu einem gärenden Gemisch, und der sie dahintrieb, dem Absturz entgegen, dessen Getöse sie von ferne vernahm.
Klemens hatte ihr noch einmal geschrieben und sein Kommen angezeigt; mit erbleichenden Lippen legte sie seinen Brief 146 aus der Hand. Ihre Gedanken wurden plötzlich zu dem Bilde zurückgerissen, auf dem sie den Todesengel geschaut, und zu der Stunde in der Kirche, als sie den Furchtbaren in Klemens wiedererkannt hatte.
»Der Todesengel naht,« flüsterte sie vor sich hin. Auf dem Bilde war eine Seele dargestellt gewesen, auf welche der Engel die Hand legte; und so wie jene sich bleich und stumm in das rauschende Gewand des Gewaltigen schmiegte, so ergab sie sich, widerstandslos, nach Hilfe nicht verlangend, bebend vor der Vernichtung und zugleich durchschauert von einer tiefgeheimen, unaussprechlichen Wonne.
Klemens erschien, und als er ihr, keines Wortes mächtig, schweigend die Hand drückte, erkannte sie in seinem Antlitz die Spuren, welche die verzehrende Leidenschaft während der letzten Wochen hineingegraben hatte.
Im Verhältnis der beiden Gatten fand Klemens keine Veränderung vor, sie gingen nebeneinander her wie immer. In der äußeren Erscheinung des Bruders aber nahm er einen erschreckenden Verfall wahr. Er hatte sich überarbeitet, das war klar, und er überarbeitete sich immer noch, denn seine Tätigkeit war jetzt eine rastlose, vollständig aufreibende.
»Ich muß fertig werden,« das war die stets wiederholte Erklärung, mit der er den leisen Mahnungen des Bruders begegnete, »ich muß fertig werden.« Tonlos fügte er hinzu: »Wer weiß, wie lange es noch hält.« Er fühlte sich vor dem Zusammenbruch all seiner Kräfte; er war wie ein Schiffsführer, der die Maschine überheizt, um den Hafen zu erreichen, bevor der Sturm ihn einholt.
Der getroffenen Verabredung gemäß übernahm Klemens für den Bruder die nächtlichen Himmelsbeobachtungen, 147 insbesondere kam es dem Professor zur Vervollständigung seiner neuen Sternkarten darauf an, daß die Sternschnuppenfälle des August genau beobachtet und eingezeichnet wurden. Er hatte die Zuverlässigkeit seines Bruders in dieser Hinsicht bei früherer Gelegenheit kennen gelernt und übertrug ihm diese Arbeit mit vollem Vertrauen.
Am Abend, als Klemens sich von Lucie verabschiedete, um auf seinen Posten zu gehen, sah er ihre Augen mit stummer Bitte auf sich gerichtet. Er wartete, was sie ihm zu sagen haben würde.
»Dein Bruder,« begann sie stockend, »hat mich nicht ein einziges Mal des Nachts mitgenommen und mir die Sterne gezeigt –« Sie schwieg.
»Und Du möchtest, daß ich es tue,« ergänzte er ihre Worte.
Statt aller Antwort erhob sie bittend wie ein Kind die Hände.
»Lucie,« erwiderte er, nachdem er eine Zeitlang unschlüssig geschwiegen hatte, »es kann nicht sein – wirklich, es kann nicht sein.«
Er hatte sich von ihr abgewandt; es war ihm fast unmöglich, ihr die Bitte zu versagen, aber eine stärkere Macht regierte seine Worte. Die Sterne! die ewigen Sterne! Sollte er auch an ihnen treulos werden?
Mit stummem Druck ergriff er ihre Hand; dann ging er hinaus, und beinah sah es aus, als flüchtete er.
Abend für Abend wiederholte sich der gleiche Kampf. Sie sagte nichts mehr, wenn er davonging, aber ihr stummer, bittender Blick folgte ihm und verfolgte ihn bis unter das Sterngewölbe. Der Gedanke ließ ihn nicht mehr los, wie 148 berauschend es sein müßte, wenn er dem schönen, empfänglichen Weibe die Wunder der Planetenwelt erschlösse, wenn sie beide wie zwei abgeschiedene Seelen, die nichts mehr gemein haben mit der irdischen Welt, dort in tiefer nächtlicher Einsamkeit verkehrten.
So kam der Laurentiustag heran, an welchem der große Sternschnuppenfall zu erwarten stand. Klemens hatte die Sternkarte auf den Tisch genagelt; eine kleine Lampe, deren er sich zu bedienen pflegte, verbreitete ein dämmerndes Licht in dem weiten Gewölbe. Er blickte auf; eine tiefe, wundervolle Klarheit war über den ganzen Himmel gebreitet. Und plötzlich ergriff ihn mit unbezwinglicher Gewalt die Sehnsucht, Lucie heute an seiner Seite zu sehen. Vorsätze und Bedenken versanken, er beschloß, sie zu rufen.
Lucie hatte sich bereits zu Bett gelegt und war eben in den ersten Schlaf gefallen, als es leise und hastig an ihre Tür schlug. »Komm rasch,« hörte sie Klemens' flüsternde Stimme, »komm!«
Sie sprang aus dem Bett, halb verwirrt vom Schlafe, mit einem Gefühl, als handelte es sich um etwas Ungeheures.
Mit einem kleinen Fernrohr bewaffnet, wollte Klemens sich eben an die Beobachtung der vorüberziehenden Himmelserscheinungen machen, als die Tür sich hinter ihm öffnete. Er wandte sich um – der Arm, der das Fernrohr hielt, sank nieder, und der Himmel und alle Gestirne des Himmels erloschen in seinem Bewußtsein, und alles, was er vermochte, war nur noch, die Gestalt anzustarren, die dort vor ihm stand.
In der Hast, mit der sie aufgesprungen war, hatte Lucie nur das Notdürftigste von Kleidungsstücken übergeworfen; mit nackten Füßen war sie in die Morgenschuhe geschlüpft; 149 ein Sommermantel, den sie über der Brust zusammenhielt, deckte ihre Blöße.
Klemens griff mit beiden Händen an die Stirn, dann stieß er einen dumpfen Laut aus und stürzte auf sie zu.
Erschreckt wich Lucie einen Schritt zurück. »Klemens,« stammelte sie; aber er hatte bereits beide Arme um ihren Leib geschlungen, unter seiner wilden Bewegung war der Mantel, den sie trug, von ihren Schultern geglitten, und nun preßte er die herrliche Gestalt, die hilflos in seinen Armen lag, an seine Brust, indem er ihr Gesicht, ihren Hals, ihre Schultern mit seinen Küssen überflutete.
»Was tust Du?« stöhnte sie. Er aber warf den Arm um sie und riß sie zu einem Stuhle fort, der am Tische, auf dem die Karte aufgenagelt war, sich befand.
»Komm,« flüsterte er heiser, »komm, komm!«
Sie sank auf den Sessel, zu ihren Füßen lag Klemens auf den Knieen, zu ihr emporschauend mit trunkenen, verzückten Augen.
Sie hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen; mit fiebernder Hand zog er sie ihr hernieder. Und wie sie nun so in das schöne, von Liebeswonne lodernde Antlitz schaute, das zu ihr emporverlangte, warf sie beide Arme um seinen Hals, ihr langgelöstes Haar umfloß sein Haupt.
»O Du,« flüsterte sie, »Du Geliebter, Geliebter! Daß ich sterben könnte in diesem Augenblick an Deinem Herzen!« Und sie küßte ihn und küßte ihn wieder und wieder.
»Warum sterben?« stammelte Klemens, »warum sterben?«
»Weil ich weiß,« hauchte sie in sein Ohr, »daß Du gekommen bist, um mich zu töten.« 150
Klemens drückte das Haupt in ihren Schoß; richtete es dann empor und starrte sie mit fragenden Blicken an. '
»Denn Du hassest mich,« fuhr sie fort.
»Nein! nein! nein!«
»Aber Du hast mich einmal gehaßt?«
Klemens ergriff ihre Hände und versenkte das Gesicht darin.
»Laß das!« flehte er, »laß das!«
Lucie aber, von dem dämonischen Drange des Weibes ergriffen, in der Stunde des Triumphes vergangene Schmerzen wieder aufzuwühlen, ließ nicht ab.
»Sag mir, warum Du mich gehaßt hast,« heischte sie mit süßem Schmeicheln, »sag es mir, sag es mir.«
Er warf das Haupt empor, er schüttelte die Locken.
»Weil ich –«
»Weil Du –?«
Er preßte das flammende Gesicht an ihren Hals.
»Weil ich geglaubt hatte, daß Du eine Verderberin wärest,« seufzte er aus tiefster Brust.
Sie umschlang ihn mit beiden nackten Armen.
»Aber Du glaubst es jetzt nicht mehr? Jetzt nicht mehr?«
Er riß das Haupt zurück, als wollte er sich aus ihren Armen befreien. Ihre Hände aber klammerten sich in seinem Nacken ineinander und hielten ihn fest in der warmen wonnevollen Gefangenschaft.
»Glaubst es jetzt nicht mehr?«
Mit dunklen, wilden Augen starrte er sie an; seine Lippen zuckten.
»Ich – ich weiß es nicht!«
»Du weißt es nicht?« schrie sie beinah auf. 151
»Nein,« stöhnte er, »ich weiß nur, daß Du Macht über mich gewonnen hast, Macht über meinen Leib und meine Seele! Ich weiß nicht, ob zu meinem Heil oder Unheil, ich weiß nur, daß ich Dich liebe, und daß ich nicht nach Seligkeit und Verdammnis frage!«
Mit zwei Griffen hatte er die Bänder gelöst, welche ihr Hemd auf den Schultern zusammenhielten, das verhüllende Gewebe sank. Seine Arme umfingen sie. Ein letztes Ringen, ein Ächzen aus dem Munde des Weibes, und wie in der Umarmung eines Löwen zitternd lag sie da. Auf ihrem Busen fühlte sie die Glut seiner brennenden Lippen, auf ihren Armen, ihren Knieen; dann riß er die Schuhe von ihren Füßen und bedeckte die weißen Füße mit stürmischen Liebkosungen.
»Laß mich sterben,« ächzte sie, »laß mich sterben; ich kann nach dieser Stunde nicht mehr leben!«
Ein schrilles Klingelgerassel zerriß plötzlich die lautlose Stille der Nacht.
Lucie und Klemens fuhren auf und starrten sich mit entsetzten Augen an, regungslos, wie vom eisigen Schreck gelähmt.
Der Klingelruf kam von droben, aus dem Zimmer des Professors; beide hatten es erkannt, keiner sprach es aus.
Eine Sekunde darauf schoß Lucie, welche ihre Kleidung an sich gerafft hatte, in ihr Zimmer hinunter; Klemens ergriff die Lampe und erwartete sie auf dem Flur. Es mußte dort oben etwas geschehen sein, sie mußten hinauf und sich überzeugen, was es war.
Als sie in das Zimmer des Professors traten, fanden sie ihn lang ausgestreckt auf der Diele liegend, er war 152 vollständig angekleidet; auf dem Schreibtische brannte die Lampe. Die Sachlage war deutlich: vielleicht noch während er beim Arbeiten saß, vielleicht im Augenblick, da er aufgestanden war, hatte ihn der Anfall überkommen. Mit schwindendem Bewußtsein war er bis an die Klingel gestürzt; unmittelbar an der Klingel war er zusammengebrochen.
Er lag mit geschlossenen Augen, bewußtlos, dumpf und schwer atmend.
Inzwischen hatte der Alarmruf die Dienstboten zur Stelle gerufen; Klemens half den Frauen den Körper des Ohnmächtigen auf das Bett heben, dann wandte er sich zur Tür.
»Ich hole den Arzt,« sagte er, und ohne sich Zeit zu nehmen, den Hut aufzusetzen, sprang er die Treppe hinunter, zum Hause hinaus, und keuchenden Laufes, wie ein gehetzter Hirsch, flog er in langen Sätzen den Berg hinab, zur Stadt, nach Doktor Allbachs Haus.
Eine Stunde später stand Doktor Allbach am Lager des Professors.
Ihm gegenüber, an der andern Seite des Bettes, starr und blaß wie Marmor, stand Lucie; in die Ecke des Zimmers hatte sich Klemens gedrängt. Ein Grausen schüttelte ihn von Kopf zu Füßen und raubte ihm fast die Besinnung.
Der Doktor hatte sich über den Leidenden gebeugt und ihn sorgfältig untersucht. Jetzt richtete er sich auf; seine Brust hob sich in einem tiefen Seufzer der Erleichterung.
»Ich kann Ihnen gute Nachricht geben,« sagte er halblaut zu Lucie hinüber, »es ist nicht, was ich befürchtet hatte, kein Schlaganfall, sondern nur eine Ohnmacht. Eine schwere Ohnmacht allerdings, die gehoben sein will, aber sie wird keine nachteiligen Folgen hinterlassen.« 153
Als er dies gesagt hatte, fühlte er seine Hand ergriffen; Klemens war an seiner Seite in die Kniee gesunken und küßte ihm unter Tränen die Hand.
»Nur jetzt keine Aufregung,« sagte der Doktor, »jede Aufregung kann alles in Frage stellen. Gehen Sie, ich werde selbst die Nacht bei ihm wachen.«
»Darf ich bleiben?« fragte Lucie tonlos.
»Gewiß,« entgegnete Allbach, indem er ihr selbst einen Stuhl an das Lager ihres Mannes rückte. Klemens ging stumm hinaus.
Ohne mit einer Wimper zu zucken, leistete Lucie den Anordnungen Folge, die Allbach zur Wiederbelebung des Ohnmächtigen traf. Nach Verlauf einer halben Stunde schlug Doppnau die Augen auf, atmete tief und erleichtert, schloß die Augen von neuem und sank in ruhigen Schlaf.
Über das Bett hin streckte Allbach ihr die Hand zu. »Die Gefahr ist vorüber,« sagte er flüsternd.
Lucie erwiderte nichts; die Hand, die sie in seine dargebotene Hand legte, war kalt wie Eis.
»Möchten Sie sich nicht lieber zur Ruhe begeben?« fragte er.
Sie schüttelte schweigend das Haupt.
Das Wort des Doktors schien sich zu bewahrheiten: als Doppnau am nächsten Morgen erwachte, war er zwar so matt, daß er kein Glied zu rühren vermochte, aber das Bewußtsein war völlig klar in seinem Kopfe.
Er erinnerte sich ganz genau alles dessen, was am Abend vorher mit ihm vorgegangen war, und erkannte Lucie sowie den Doktor, denen er beiden zunickte.
»Wo steckt denn Klemens?« fragte er. 154
»Den unruhigen Geist lassen wir vorläufig noch draußen,« entgegnete der Doktor.
»Es ist nur, daß ich ihn nach der Sternkarte fragen wollte,« meinte der Professor. Sein erster Gedanke war wieder bei seinen Arbeiten.
»Das wird ja alles in schönster Ordnung sein,« versicherte Allbach, »und tun Sie mir den Gefallen, denken Sie heut noch nicht an die Arbeiten.«
Er ging mit Lucie hinaus, ein Rezept zu verschreiben.
»Alles, worauf es ankommt,« sagte er, »ist Ruhe; Fernhaltung jeglicher Aufregung und Schlaf soviel als möglich.«
Lucie nahm das noch feuchte Papier in die Hand. »Morphium?« fragte sie.
»Ja,« erwiderte der Doktor, »und ich möchte Sie bitten, daß Sie die Pulver in Verwahrung behalten; es ist eine ziemlich starke Dosis, ich brauche Ihnen also Vorsicht nicht weiter zu empfehlen.«
Sie legte das Rezept auf den Tisch zurück. »Ein unheimliches Bewußtsein,« sagte sie mit einem unmerklichen Lächeln, »daß man von einem Pulver zu viel nicht wieder aufwachen würde.«
»Wenn es auch so schlimm nicht ist,« meinte der Doktor, »so könnten doch drei davon einen das Wiederaufstehen vergessen machen. – Klemens kann mich begleiten,« fuhr er fort, »und die Pulver gleich aus der Apotheke mitbringen.«
Lucie kehrte zu ihrem Manne zurück.
»Wo ist Klemens?« fragte der Professor, sobald er ihrer ansichtig wurde.
»Er ist mit Doktor Allbach in die Stadt gegangen, eine Kleinigkeit aus der Apotheke zu holen.« 155
»Diese Ärzte mit ihren ewigen Quacksalbereien!« sagte Doppnau ungeduldig, »mir fehlt ja gar nichts; ein bißchen überangestrengt hab' ich mich, das ist alles. Ich muß durchaus wissen, wie es mit der Sternkarte steht.«
Lucie gab keine Antwort; es wurde ihr unheimlich, zu hören, wie er immer wieder auf diese Angelegenheit zurückkam. Sie wußte, daß die Sternschnuppen nicht beobachtet worden waren, und auch, warum es nicht geschehen war. Das Blut dämmte sich ihr gegen das Herz.
Der Professor trommelte mit den Fingern auf der Bettdecke. »Morgen,« sagte er, »schreibe ich an die Verleger; ich bin gestern abend fertig geworden; dann machen wir eine Reise, und zum Winter geht's an die große Arbeit. Nur die Sternkarte!«
Lucie wandte das Haupt nach dem Fenster.
»Du wunderst Dich, daß ich immer wieder davon anfange,« sagte der Professor; »aber siehst Du, das ist der Punkt auf dem i; eine Kleinigkeit, wenn Du willst, aber die alten Sternkarten haben die Sternschnuppenschwärme nie verzeichnet; das ist mein Gedanke, und darum ist's mir von Wichtigkeit.«
Alles dies sprach er rasch, heftig und aufgeregt.
»Gib Dich doch nur für jetzt zur Ruhe,« bat Lucie; sie wußte nicht, was sie sagen sollte.
Eine halbe Stunde später kamen die Pulver; Lucie mischte ihm ein Glas.
»Also ist Klemens wieder zurück?« fragte er. »Schick' ihn mir herein.«
»Willst Du nicht lieber bis morgen damit warten?«
»Nein, nein, nein!« rief er. Seine Erregung wurde 156 so groß, daß sie keinen andern Ausweg sah, als ihm den Willen zu tun.
Draußen stand Klemens wartend auf dem Flur. »Wie geht's?« fragte er, als er ihr verstörtes Gesicht sah.
Lucie blickte ihn mit angstvollen Augen an.
»Er verlangt durchaus nach der Sternkarte,« lispelte sie.
Klemens trat einen Schritt zurück. »Um Gottes willen!« murmelte er, indem er sich den Schweiß von der Stirn wischte.
Jetzt hörten sie, wie der Professor von drinnen laut nach Klemens rief.
»Soll ich mitkommen?« fragte Lucie hastig.
»Nein, bleib,« erwiderte Klemens dumpf; er trat zu dem Bruder ein.
»Na, endlich bekommt man Dich zu sehen,« sagte Doppnau; »nun sage mir, wie es gestern nacht gewesen ist?«
Klemens verstummte; dann, als er des Bruders Augen auf sich gerichtet sah, raffte er sich zusammen. »O – es – es ist nichts Besonderes zu sehen gewesen,« brachte er stockend heraus.
»Der Himmel war doch aber ganz klar,« forschte der Professor.
»Das freilich – jawohl –«
»Na, so sprich doch deutlich,« murrte Doppnau. »Kamen die Sternschnuppen wie gewöhnlich?«
»Aus dem Perseus wie gewöhnlich,« sagte Klemens.
»Bring mir die Karte,« befahl der Professor.
Klemens stand wie angenagelt.
»Was ist denn mit Dir?« fuhr Doppnau auf. »Hörst Du nicht, daß ich die Karte haben will?«
»Es ist nur –« stotterte Klemens, »daß ich Dir 157 gestehen muß – daß – weil ich nichts Besonderes bemerkte – ich die Sternschnuppen nicht eingezeichnet habe.«
In diesem Augenblick hörte Lucie, die mit klopfendem Herzen an der Tür draußen lauschte, einen wütenden Aufschrei im Zimmer und das Klirren von Glasscherben am Fußboden.
Doppnau hatte das Glas, das er während des Gesprächs mit Klemens in der Hand gehalten, zur Erde geschleudert und sich im Bett hoch aufgesetzt. Der sonst so ruhige, besonnene Mann war außer sich, fassungslos vor Zorn.
»Das – das ist ja aber eine Dummheit ohnegleichen! Eine Elendigkeit! Eine Borniertheit! Eine Brutalität!« schnaubte er. »Da sitzt man wochenlang, monatelang und arbeitet, arbeitet, arbeitet, und in der ganzen Zeit eine einzige Stunde, sagt man ihm: ›Gehe Du einmal für mich hinaus‹, und gibt ihm eine Aufgabe, die man jedem Sextaner geben kann, und nicht für eine Stunde hat er Ausdauer und Verstand genug, zu tun, was man ihm sagt! Und läßt einen im Stich wie ein – wie ein Lump – und zerstört einem die Arbeit eines Lebens – und – und – meine Arbeit ist verloren – mein Leben – und –« Die Worte verwirrten sich auf seinen Lippen, die Sprache erlosch, sein Haupt sank in die Kissen zurück, und dumpfe, unverständliche Laute entrangen sich seiner Brust.
Die Tür des Zimmers wurde jählings von innen aufgerissen; mit aschfahlem Gesicht erschien Klemens, beide Hände in das Haar krallend.
»Er stirbt!« heulte er, »er stirbt! und ich habe meinen Bruder umgebracht!«
Er ging den Flur hinunter, taumelnd wie ein 158 Betrunkener. Der Anblick war so entsetzlich, daß Lucie, ohne an ihren Mann zu denken, hinter ihm dreinstürzte.
»Klemens!« schrie sie, indem sie die Arme um seine Schultern warf, »Klemens, um Gottes willen, gib Dich zur Ruhe; sage, was ist geschehen?«
Er drehte das Haupt von ihr hinweg.
»Laß mich,« keuchte er, »laß mich!«
Klammernd hing sie sich an ihn, so daß sie bis an die Treppe geschleift ward. »Wir werden den Arzt rufen,« stammelte sie, »nur komm zur Besinnung!«
»Dahin gehe ich selbst,« grollte er zur Antwort. »Laß mich los, sag' ich Dir! Laß mich los!«
Er hatte ihre Hände gefaßt und zerrte daran, um sie von seinem Halse zu lösen.
»Was habe ich Dir getan?« flehte sie. »Was habe ich Dir getan?«
In diesem Augenblick hatte er die Klammer ihrer Hände gesprengt. Er warf das Haupt zu ihr herum, und der schreckliche Blick von einstmals, der Blick des Hasses, aber verdoppelt, verdreifacht, brach aus seinen rollenden Augen. Seine Zähne knirschten.
»Du hast meinen Bruder verderbt! Du hast mich verderbt! Geh hinweg von mir, Du – Du Verderberin!«
Mit wütender Gewalt stieß er sie zurück; am Geländer der Treppe brach sie zusammen, ihre Kniee schlugen an den Boden; mit langen Sprüngen flog er hinunter, um den Arzt zu Hilfe zu rufen.
Als Doktor Allbach erschien, fand er Lucie damit beschäftigt, dem Professor Eisumschläge auf den Kopf zu machen. 159 Doppnau hatte die Besinnung wiedererlangt; der Anfall war vorüber.
»An Ihnen ist ein Arzt verloren gegangen,« sagte Allbach bewundernd, als er mit Lucie vor der Tür stand.
»Sie glauben nicht, daß er sterben wird?« fragte sie tonlos.
»Es ist ein so mächtiger Organismus,« erwiderte er, »in ein paar Tagen, hoffe ich, ist er wieder auf den Beinen. Was hat es denn gegeben?«
»Ein Streit mit seinem Bruder,« antwortete sie kurz.
Wie es bei Nervenüberreizungen zu geschehen pflegt, daß eine Entladung eine plötzliche Wendung zum Besseren hervorruft, so hatte der Auftritt zwischen dem Professor und Klemens merkwürdig günstig auf dessen Zustand gewirkt.
Der schweren Erregung war die Ermüdung gefolgt, und mit der Ermüdung kehrte ihm die Ruhe zurück.
Aus einem mehrstündigen Schlafe erwachend, verlangte er, den Bruder wiederzusehen.
Lucie wollte das Zimmer verlassen, als Klemens erschien.
»Bleib doch, ich bitte Dich,« sagte Doppnau.
Er streckte dem Eintretenden die Hand entgegen; Klemens sank am Lager des Bruders in die Kniee, drückte das Gesicht in die Decken und schluchzte wie ein Kind.
»Es tut mir leid, daß ich so heftig gegen Dich geworden bin,« sagte begütigend der Professor, »Du mußt es mir zugute halten, Du weißt, wenn der Mensch seine Nerven nicht in der Gewalt hat.«
Klemens erwiderte nichts; man hörte nur sein dumpf ersticktes Weinen. 160 Doppnau legte die Hand auf seinen Kopf und streichelte sein Haar.
»Sei doch nicht so außer Dir,« sagte er, »es war ja nur eine Aufregung von meiner Seite. Die Sternkarte leidet ja gar nicht darunter – aber mein Kerlchen, mein altes, liebes Kerlchen –«
Bei diesen zärtlichen Worten, die wie das Echo alter Zeit an sein Ohr und Herz drangen, erhob Klemens das tränenüberströmte Gesicht, warf die Arme um den Hals des Bruders und drückte sein Gesicht an seine Wange.
Regungslos, wie versteinert hatte Lucie dem Vorgang beigewohnt. Sie sah, wie ihr Mann sich auf die Seite drehte, von ihr hinweg zu Klemens, leise mit ihm plaudernd, scherzend und lachend, sie sah, wie die Brüder sich wiederfanden, und ein eisiges Gefühl stieg in ihr auf, daß zwischen diesen beiden Seelen ein dritter nicht mehr nötig sei.
Sie erhob sich von ihrem Platze, niemand rief sie zurück; lautlos ging sie hinaus.
Als sie ihr Zimmer erreicht hatte, fiel sie auf ihr Ruhebett, das Gesicht nach unten gewandt, und wie sie so dalag, starr, ohne Regung und Bewegung, war nur ein Bewußtsein in ihr lebendig, eine Frage: Warum hast Du Dich hineingedrängt zwischen diese Menschen, die Deiner nicht bedurften?
Sie setzte sich auf, sie sammelte ihre Gedanken.
»Von da, wo man nicht hingehört,« sprach sie zu sich, »geht man eben wieder hinaus.«
Aber daran schloß sich eine Frage: Wohin gehen? Ja freilich – wohin? Sie blickte über ihr Dasein hin, voraus in die Zukunft – zur Seite in die Gegenwart – nirgends 161 etwas, wohin sie verlangte, nirgends etwas, das ihr zuwinkte – Öde ringsumher – Einsamkeit und Wüste.
Durch das Fenster, gegen das sie mit dem Rücken saß, drang das Zwielicht herein; auf dem Arbeitstischchen, das neben dem Ruhebette stand, schien sich ein fahler Lichtstrahl verirrt zu haben, von dort glänzte etwas in mattem Weiß – Lucie griff danach, und es fiel ihr ein, daß sie ihrem Manne den Schlaftrunk bereiten mußte; sie hielt die Pulver in der Hand. Sie erhob sich, und als sie hinausgehen wollte, kehrte sie noch einmal zurück, ein Tuch um die Schultern zu knüpfen; sie hatte einen fröstelnden Schauer im Rücken gefühlt.
Als sie dem Professor den Trank gemischt und er das Glas ausgetrunken hatte, blieb sie neben seinem Bette stehen. In ihrem Gesicht regte sich keine Miene, an ihrem Leibe kein Glied, unbeweglich, aufmerksam beobachtete sie sein Einschlafen.
Doppnau hatte das Haupt zurückgelehnt, die Augen geschlossen; die Erquickung der nahenden Ruhe breitete sich über seine Züge; eine Viertelstunde später atmete er in tiefem, wohltuendem Schlaf.
Ein Hauch glitt über ihre Lippen: »So leicht geht es und so sanft?«
Die ganze Nacht hindurch brannte Licht in ihrem Zimmer, und Klemens, der keine Ruhe fand, hörte in jeder Stunde der Nacht, wie sich die Tür zum Schlafzimmer des Bruders leise öffnete und wieder schloß; unablässig wie ein Uhrwerk erfüllte sie ihre Pflicht. Er hörte den weichen Schritt, der die Treppe hinabstieg, und dann das leise Geräusch der Haustür. Er stand auf und blickte in den Garten 162 hinunter, und er sah eine dunkle Gestalt, die im Laubgange wandelte, auf und ab, auf und ab.
So verging die andere Nacht und die nächste und die folgenden Nächte.
Nach Verlauf von acht Tagen erklärte Doktor Allbach, daß der Professor aufstehen könne; alle Gefahr war gehoben.
»Jetzt aber müssen Sie durchaus etwas für sich tun,« sagte er, indem er in Luciens bleiches Gesicht schaute. Ihre Wangen waren eingefallen; die Augen lagen tief im Kopfe. »Sie haben wenig geschlafen in der Zeit?« fragte er.
»Nicht viel,« entgegnete sie; »Sie könnten mir von Ihren Pulvern verschreiben.«
»Sie haben ja das Rezept,« erwiderte er. »Ihnen braucht man ja keine weiteren Vorschriften zu machen.«
Sie nickte. »Nein,« sagte sie leise, »nicht nötig.«
Noch acht weitere Tage vergingen; der Professor kam wieder zu Kräften; fast den ganzen Tag über ging und saß er im Garten; Klemens war sein stetiger Begleiter. Lucie hielt sich in ihrem Zimmer; Doppnau sorgte sich nicht weiter darum, er wußte ja, daß es auf Anordnung des Arztes geschah.
Nach Ablauf dieser zweiten Woche erklärte Klemens, daß er abreisen wolle. Er hatte Lucie seit jenem schrecklichen Augenblick nicht wieder gesehen, er war ihr ausgewichen, wo und wie er konnte; den Gedanken, daß er ihr jetzt bei den gemeinsamen Mahlzeiten wieder gegenübersitzen sollte, ertrug er nicht.
Am Abend vor seiner Abreise ging er noch einmal in den Garten. 163
Es war spät; der wachsende Mond schwamm durch den tiefdunklen Himmel, sein Licht blinkte in dem rinnenden Strom, und wie die silberne Fläche hier aufblitzte und dort in weiter und immer weiterer Ferne, sah es aus wie eine märchenhafte Straße, auf welcher die Phantasie hinauszog in eine Weite, die kein Horizont mehr umspannte, wo Licht war ohne Untergang und Freiheit ohne Schranken.
In den Anblick versunken, schlenderte er den Laubgang entlang – und plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen: auf der Bank dicht vor ihm saß jemand; eine weibliche Gestalt, in einen dunklen Mantel gehüllt, unbedeckten Hauptes. Der Mond bestrahlte ihre Züge – es war Lucie.
War es das Mondlicht, das ihr Gesicht so bleich erscheinen ließ? Mit verhaltenem Atem blieb er stehen; sie regte und bewegte sich nicht. Offenbar hatte sie ihn nicht bemerkt; er konnte nicht einmal erkennen, ob ihre Augen geöffnet waren oder geschlossen. Er wagte nicht weiter zu gehen, nicht zurückzukehren; er stand ohne Laut, und nun überrieselte ihn jählings ein kalter Schauer, als er in der tiefen nächtlichen Stille eine Stimme vernahm, die er noch nie gehört hatte. War das Lucie, die da sprach? Ja wirklich, ihre Lippen regten sich, wenngleich ihr ganzer übriger Leib ohne Bewegung blieb – aber dieser Ton, dieser schwere, müde, bleierne Ton, war das ihre Stimme? Sie blickte nicht nach ihm um, sie sprach vor sich hin, in die leere Luft:
»Du willst entfliehen – es ist nicht nötig – Du brauchst Dich nicht mehr vor mir zu fürchten.«
Zögernden Schrittes trat er zu ihr heran.
»Lucie –?« fragte er, und das war alles, was er hervorbrachte. 164
Sie saß, in die Ecke der Bank gelehnt; als er vor ihr stand, hob sie die rechte Hand, anscheinend mit Mühe, er nahm sie in die seine und fühlte, wie schwer und kalt ihre Hand war.
»Denk' an die Agave,« sprach sie mit schwerer Zunge, »sie sammelt Kraft, bis daß sie blüht – sammle – Du mußt noch lange sammeln –«
»Willst Du nicht ins Haus gehen?« fragte er.
»Nein,« sagte sie, »leb' wohl.«
Er fühlte einen leisen Druck ihrer Finger, dann sank ihre Hand herab.
»Geh doch lieber ins Haus,« bat er noch einmal.
»Laß mich – ich gehe zu Bett – laß –« ihre letzten Worte verhauchten wie in einem Lallen.
Er wußte nicht, was er tun sollte; den Bruder wecken? Aber das hätte ihm Schaden bringen können. Ratlos ging er auf sein Zimmer. Sie hatte ja versprochen, zu Bett gehen zu wollen; wenn sie wirklich noch in der warmen Sommernacht da draußen sitzen blieb, so konnte es ja keine Gefahr haben. Er blieb angekleidet, von dumpfer Unruhe bedrückt, und legte sich auf das Sofa. Dort fiel er in schweren Schlaf.
Als er erwachte, war es noch früher Morgen, aber heller Tag. Das erste, was vor seine wirren Sinne trat, war der Gedanke an Lucie.
Ob sie nun nach Haus gekommen sein mochte? Sicherlich doch. Trotzdem ließ es ihm keine Ruhe, er stieg in den Garten hinab.
Als er sich der Bank näherte, fuhr er beinah mit einem Schrei zurück; sie saß noch da. 165
»Lucie!« rief er und stürzte auf sie zu.
Sie war eingeschlafen, ihr Haupt auf der Rücklehne der Bank, der Morgentau lag in Tropfen, wie in Tränen auf ihrem Gesicht.
Er ergriff ihre niederhängende Hand – und mit einem Entsetzensschrei fuhr er zurück – kein Hauch ging mehr über ihre Lippen – er hatte eine Tote angerufen. –
In der Stadt war ein allgemeines bedauerndes Kopfschütteln über das plötzliche Ende einer so kurzen und, wie alle Welt wußte, so harmonischen Ehe.
Die arme junge Frau! Es war so erklärlich und darum so doppelt traurig; von den Pulvern, die für ihren Mann bestimmt waren, auch einmal für sich selbst Gebrauch machen zu wollen, weil sie nicht schlafen konnte, und sich in der Dosis zu vergreifen!
Als einen Beweis für die Innigkeit, mit welcher die drei Leute dort oben gelebt haben mußten, erzählte man sich von dem verzweifelten Schmerz, den der junge Doppnau beim Tode der Schwägerin gezeigt hatte.
Er war ganz außer aller Fassung gewesen; mit Mühe hatte man ihn von der Leiche zu trennen vermocht, und nur der angestrengtesten Kunst des Doktor Allbach hatte man es zu verdanken, daß er an einem schweren Nervenfieber vorbeigekommen war.
Bald nach der Beerdigung war er nach Heidelberg zurückgekehrt, wo er studierte; die Bestattung hatte im Garten der Sternwarte stattgefunden.
Wie in einer Vorahnung ihres frühen Todes sollte die arme junge Frau einmal den Wunsch geäußert haben, an 166 einer Stelle des Gartens, die ihr besonders lieb geworden war, begraben zu werden. Der Professor hatte es durch seinen Bruder erfahren, und wie sehr er seine Frau geliebt hatte, das zeigte sich an der Energie, mit der er für ihren letzten Wunsch eintrat. Die Regierung, der das Grundstück gehörte, hatte anfänglich durchaus nicht gewollt – endlich hatte sie aus Rücksicht für den verdienten Mann nachgegeben. –
Und von der Stätte, an der Lucie Immenhof einstmals zum ersten Male gestanden und dann so manches Mal und zum letzten Male gesessen hatte, blickt nun das Kreuz Lucie Doppnaus, von rauschendem Kastanienbaum überschattet, auf Tal und Fluß hernieder.
Winter ist es geworden; der Schnee liegt auf Wegen und Stegen, und der Hügel, unter dem ein Mensch ruht, verschwindet in der eintönigen Fläche.
Droben im Zimmer sitzt ein Mann; ein einsamer Mann, aber nicht ein unglücklicher; denn der große Nerv des Manneslebens ist ihm lebendig, die Arbeit.
Er hat sich die Sonne in seine einsame Stube herabgeholt; aus ihrem Sein und Wesen, das er beschreibt, quillt ihm sein Werk. Manchmal vielleicht, wie im Traume, kommt ihm der Gedanke, daß andere ihn vorzeiten um die Sonne gebeten haben, und daß er sie ihnen nicht zu geben vermocht hat – dann steht er auf, blickt in den Garten, und für einen Augenblick vergißt er die Sonne, weil er der Erde gedenkt und dessen, was die Erde birgt.
Und jede zweite Woche kommt ein Brief von fernher, der ihm verkündet, daß ein Bruder ihm lebt, in dessen Herz 167 dereinstmals sein Herz, in dessen künftigen Werken das Werk seines Lebens weiter leben wird.
An dem Wege aber, der zu dem einsamen Kreuze führt, steht unter ihrem Glasdache eine Agave, immer gekleidet in das nie wechselnde Grün, wandellos, scheinbar leblos.
Nur wenn die Wandervögel zu ziehen beginnen, dahin, wo eine wärmere Sonne Blüten reift, dann wacht sie auf und blickt umher, und wenn sie alsdann nur Schnee um sich her sieht, Einförmigkeit und Öde, dann regt es sich in ihr wie ein dämmerndes Bewußtsein von dem Boden, dem sie eigentlich gehört, und dem man sie entrissen, wie ein dumpfes Sehnen, wie eine Frage, ob es besser sei, zu leben, zu blühen und, wenn es sein muß, an der Blüte zu sterben, oder sicher zu bleiben vor dem Tode und ewig, ohne Blüte, zu leben.