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Marie und Maria.

Eine Novelle.

Von alten Zeiten her ruht auf den Mühlen ein gewisser romantischer Zauber, den sie wohl zumeist ihrer Lage verdanken. Aus den langweiligen Häuserreihen der Städte, aus dem Schmutz der Dörfer an rasche Flüsse oder einsame Bäche verwiesen, zwischen Erlen und Weidengebüsch, mögen sie in einer regen Phantasie all die lieblichen und wehmütigen Bilder wecken von schönen Müllerstöchtern, getreuen Mühlburschen und rauschenden Mühlbächen, die eine ganze Mühlenliteratur bilden.

Freilich dürfte es für poetische Gemüther meist rathsam sein, sich in mäßiger Entfernung von der Mühle am grünen Rain zu lagern und »dem Wasserspiele und den Wellen« zuzusehen, denn die Insassen selbst und ihr Leben und Treiben möchten manchmal nicht gut taugen zu der reizenden Idylle, die der malerische Anblick der Mühle hervorgerufen hat; wiewohl auch vielleicht hie und da die abgeschiedene, beschauliche Lage in den Mühlbewohnern selbst ein sinniges poetisches Element geweckt hat.

Die Buschmühle nun, die in irgend einer Gegend des gesegneten Schwabenlandes steht, vereinigt in ihrer Lage Prosa und Poesie. Die Vorderseite bietet nicht die geringste Nahrung für ein romantisches Gemüth, sie zeigt die tüchtige reelle Seite, die gerade die Mühlen in den Augen des Volks zu einem beneidenswerthen Besitzthum machen: also, daß zu den Glanzzeiten des ersten Napoleon ein Bäuerlein gemeint: »jetzt, wenn ich der Napoleon wär', so thät ich mir zusammensparen zu einer Mühle,« – woran, beiläufig gesagt, der Napoleon vielleicht nicht übel gethan hätte.

Von vorne also, da führt ein holpriger Fahrweg von dem nahen Dorf und der etwas entlegenern Stadt in den Mühlhof, in dessen Mitte ein stattlicher Düngerhaufen, der Neid aller Landwirthe, prangte. Da schnatterte eine schneeweiße Gansheerde, da watschelte eine Truppe fetter Enten herbei, die sich mästeten von dem nahrhaften Mühlenstaub, da wieherten in den Ställen die starken Rosse, die muntern Füllen, da grunzten aus niedrigen Gehäusen die »fürnehmen Säue,« der Stolz des Müllers, in deren Ankauf und Mästung der Müller besonders berühmt war. Die benachbarte Gutsbesitzerin hatte ihm deshalb einmal, als er zu Markte fuhr, aufgetragen: »Bitte, Herr Gevatter, wenn Sie ein recht nettes, junges Schwein auf dem Markt sehen, so denken Sie auch an mich!« – Das Alles war gute, reelle Prosa, nicht ganz zu verachten in unsern magern Zeiten, aber nicht anregend zu Mühlenromanzen.

Geht man aber die bestäubte Treppe hinauf, durch die große Vorderstube, wo an reingefegten Tischen auf hölzernen Bänken das Gesinde und die jeweiligen Mahlkunden saßen und die je nach Rang und Stand bewirthet wurden, kommt man durch dies Empfangszimmer in die etwas kleinere Wohnstube, dann erst offenbart sich die heimliche, poetische Seite der Mühle.

Weite Fernsicht bietet sie nicht, aber unter den Fenstern rauscht wild und lustig der Bach vorüber und geht das Mühlenrad, so daß der Fußboden beständig in angenehm zitternder Bewegung ist, als ob man segelte auf hoher See. Ueber den Bach führt ein luftiger Steg auf eine ganz kleine buschige Insel, die, vom Wasser umrauscht, immer im frischesten Grün prangt. Weiter hinab senkt sich ein weicher Wiesengrund, den ein melancholisches Wäldchen abgrenzt, ein Ausblick, so recht zum Ruhen, nicht zum Genießen für das Auge, zu dessen tiefer Stille das Rauschen des Wassers und des Rades keine unharmonische Begleitung ist.

Das Ehren- und Besuchzimmer des Hauses war nun freilich nicht sehr symmetrisch in seiner Einrichtung. Der Müller hat eine kleine Vorliebe für Auktionen, und brachte von jeder Fahrt in die Stadt, zum geheimen Schreck seiner Frau, irgend ein neues Stück Geräthe mit. So standen Kanapee und Stühle nicht in der mindesten Beziehung zu einander, die Standuhr, darauf ein schlummernder Amor lag, der im Drang der Zeitläufte seine ruhenden Füße abgestoßen hatte, stammte, sammt dem Ovalspiegel in Goldrahmen, aus dem Nachlaß einer gnädigen Frau; an der Wand hing ein farbenreicher Herzog Ulrich von Württemberg in ewigem Kampf mit einem Sturmfeder in blauem Waffenrock, daneben sehr gutgemeinte, aber höchst garstige Lithographieen aus der Reformationsgeschichte, auch eine belle Africaine und Amérique, deren leichtfertige, höchst sparsame Toilette der Müllerin ein steter Dorn im Auge war.

Behaglich war aber die Stube doch, denn sie wurde rein und in guter Ordnung gehalten, wenn auch keine Symmetrie möglich war bei dem vielgestaltigen Geräthe. Wenn die Müllerin die schöne, roth und weiß gewürfelte Decke über ihren alten Tisch breitete und die große Kaffeekanne nebst dem köstlichen Rahm in weißem Porzellangeschirr, und einen selbstgebacknen Butterkuchen auftrug, so setzte man sich recht gern und gemüthlich auf die verschiednen Stühle und vermißte durchaus kerne elegantere Einrichtung.

Gäste waren nicht eben häufig in der Mühle außer den Kunden, die freilich täglich im Hause bewirthet wurden, die aber selten in ein näheres Verhältniß zu der Familie traten. Die Müllerin gehörte zu den Stillen im Lande, ihr war nichts lieber als ein ruhiger Sonntag, wo sie sich mit ihrem Arndt und Bogatzky und mit Rieger's Predigtbuch in ihrer großen Stube erbauen konnte; sie war auf der Mühle geboren und noch nicht weiter als drei Stunden im Umkreis über sie hinaus gekommen. Der Müller, der war schon in der Welt draußen gewesen; er war der Sohn eines Holzhändlers vom Schwarzwald und in seiner Jugend öfters bis Holland mit seinen Stämmen gefahren. Ein hartnäckig kalter Winter hatte ihn einmal mit seinem Floß in der Nähe der Buschmühle wochenlang festgehalten; ob es nun die frommen Augen der stillen Müllerstochter waren, was ihn wünschen ließ für immer da zu bleiben, oder die nüchterne Erwägung, daß die Mühle ein schönes, sicheres Besitzthum sei und besser als der Holzhandel im Unfrieden mit seinen Brüdern, – das wollen wir im Interesse feinfühlender Leser unerörtert lassen; genug, die Müllerstochter gab dem stattlichen Flößer ihre Hand und der Bund, im Eise geschlossen, zeigte sich auch im Sonnenschein als ein guter und probehaltiger. Der Müller, selbst munterer und oft sehr geräuschvoller Natur, ließ seine Frau in ihrer stillen Weise gewähren und wenn die lustigen Kameraden, die er da und dort auf seinen Geschäftsreisen traf, ihn neckten, daß er »eine Fromme,« eine »Tepistin« daheim habe, so sagte er: »Lasset sie zufrieden! Rechtschaffen ist sie, und wenn sie zehnmal fromm wäre! Daheim ist alles in Ordnung und wird gehörig geschafft und ist kein Geschrei mit dem Gesinde, da kann ich ihr die Freud' ja schon lassen mit ihren Gebetbüchern und Tepistenstunden.« Er selbst ging seine lustigen, zum Theil auch wilden Wege und sein Weib machte ihm keine Vorwürfe, nur ganz allmälig lernte er sich vor diesen stillen Augen fürchten, die ihn so sanft und so traurig anschauten, wenn er mit »etwas zu viel« heimkam. Nach und nach wurden ihm die Sonntage lieb, wenn er so am lichten, goldnen Morgen mit seinem Weib durch die grünen Wiesen, zwischen den hohen Kornfeldern, ins Dorf hinauf zur Kirche wandelte, sie dagegen brachte ihm auch manchmal ihren stillen Sonntag Nachmittag zum Opfer, um auf dem blauangestrichenen Bernerwägelein einen Besuch bei guten Freunden mit ihm zu machen, oder um solche bei sich zu empfangen. So wuchs das Paar mit den Jahren immer besser in einander hinein, und dem Müller kam sogar oft der Gedanke, sein Weib sei so brav und so tüchtig, nicht nur obgleich, sondern weil sie fromm sei.

Seine wilden Kameraden verloren sich nach und nach von selbst, die Müllerin verkehrte mit ihren stillen Freunden meist im Dorf; ein steter und freundschaftlicher Verkehr wurde vom Anfang an unterhalten mit Gevatters vorn Tannenhof.

Die Frau Gutsbesitzer Rau, obgleich eine Base der Müllerin, hielt es zwar für einige Herablassung, daß sie so auf gleichem Fuß mit ihr verkehrte. Ihr Vater freilich war nur Bauer auf dem Tannenhof gewesen, aber sie hatte sich nach seinem Tode bei Verwandten in der welschen Schweiz aufgehalten und wußte heutzutage noch einige Phrasen von daher; auch kleidete sie sich nach neuem Geschmack, während die Müllerin ihre ehrbare, dunkle Bauerntracht beibehielt. Herr Rau, der Gutsbesitzer hatte einige Zeit in Hohenheim studirt, trug einen Schnurrbart, und hatte das alte Bauernhaus auf dem Tannenhof einreißen und neu aufführen lassen.

Trotz dieses Standesunterschieds hatte sich die Müllerin von Anfang an den Nachbarsleuten als eine getreue, hilfreiche Freundin mit Rath und That bewiesen. Gutsbesitzer Rau war eine etwas phlegmatische Natur, sehr froh, an dem Müller eine praktische Stütze zu haben und manches von seiner Erfahrung zu profitiren, was er nicht in Hohenheim gelernt hatte. Und schließlich, – die Nachbarn »mochten einander«, sie hatten sich im Lauf der Jahre zusammengewöhnt in Freud und Leid.

Es kann bei menschlichen Verhältnissen von tiefster Bedeutung, man weiß nicht wie? die Seele abhanden kommen, so daß sie nur äußerlich noch fortbestehen. Es gibt aber auch Freundschaften, nur vom Zufall zusammengewürfelt, die allmälich, fast unbewußt, am Herzen festwachsen. Der Müller gab sich gern und offen hin, die Müllerin ließ alles an sich kommen, aber was ihr freundlich nahe kam, das hielt sie fest, mit der ganzen Treue ihres Wesens.

Müllers hatten einige Jahre früher als Raus ihren jungen Hausstand gegründet, auf dem Tannenhof wurde aber das erste Tauffest gefeiert, Müllers waren Gevattersleute und der Bube wurde nach seinem Pathen Georg getauft, – Hansjörg, wie eigentlich der Müller hieß, konnte man ihm doch nicht zumuthen.

Nach diesem hatte Frau Rau ein Mägdlein und später noch ein Zwillingspärchen geboren, – nur fürs Grab.

Zwei Jahre nach des kleinen Georgs Geburt kam der Müllerbursch von der Buschmühle, stattlich angethan, auf den Tannenhof herüber, um zur Taufe zu laden; es war ein klein wunziges Mägdlein drüben angekommen.

Die Mädchen thun viel besser, sich etwas später einzufinden, sie werden dann mehr geschätzt, als wenn es gleich zu Anfang heißt: »nur ein Mädchen.« Auch der Müller ließ sich nicht nehmen, ein Tauffest anzustellen, wie die Gegend noch keines gesehen hatte. Während der Taufzug zur Kirche wallte, krachten so gewaltige Schüsse, daß die Nerven des Kindleins für sein ganzes Leben abgehärtet werden konnten. Mühlknappen und Knechte, alte und neue Kunden, wer da Lust hatte, heute in die Mühle zu kommen, wurde in der vordern Stube so reichlich bewirthet mit Braten und Wein, daß er sein Lebtage an der Erinnerung zehren konnte. Im ganzen Dorfe wurden Kaffeetöpfchen mit großen Stücken Butterkuchen ausgesandt, selbst eine Gesellschaft Korbflechter und Kesselflicker hatte sich oben unter dem Nußbaum gelagert und durch Gesandtschaft sich einen Abfall vom Schmaus erbitten lassen, der auch verabfolgt wurde.

In der Herrenstube hatte sich der Müller auf Bitten seiner Frau auf eine kleinere, gewählte Gesellschaft beschränkt: Gevatter Raus, der Herr Pfarrer, der wenigstens ein Täßchen Kaffee mit trank, Schulmeisters, und eine Base der Müllerin, die in der stillen Bürgergemeinde zu K. ihre Wittwentage verlebte. Der Müller hatte zwar immer geheime Angst, die Base könnte sein Weib »noch frömmer« machen, aber am Tauftag hatte er ihr die Bitte nicht abschlagen können, sie zu Gaste zu laden.

Nach altem Brauch stand im Zimmer, wo geschmaust wurde, die Wiege und das schön weiß und rosenroth bezogne Himmelbette der Wöchnerin, die mit gefalteten Händen schwach und müde dalag und den Gästen mit freundlichen Blicken zunickte. Die Base saß neben ihr im ruhigen Gespräch, als der Taufjubel und das Gläserklingen lauter wurde.

Der kleine Georg vom Tannenhof, ein ganz netter Bursch, der zu allseitiger Bewunderung rüstig auf eignen Füßen herumsprang, war auch mit herübergebracht worden, in einem Sammtröckchen und einem seltsamen, turbanartigen Kopfputz, »wie ein junger Prinz,« meinte seine Mutter, »wie ein Aefflein,« meinte das Mühlenpersonal. Dem kleinen Taufkindlein wandte er wenig Aufmerksamkeit zu, desto mehr den Biskuittorten und Gugelhopfen der Tafel, bis er, weinend vor Ueberfülle, dem Kindsmädchen übergeben wurde, die ihm die Füllen und Schweine im Hof zeigte, und dadurch eine wohlthätige Pause herbeiführte.

Das Taufkindlein, das ebenfalls weiß und rosenroth im höchsten Täuflingsstaat in seiner Wiege lag, entwickelte die höchste Vortrefflichkeit, die man von einem Kindlein erwarten kann: es schlief den ganzen Tag, die zusammengeballten Händlein zu beiden Seiten des Köpfchens gelegt. Als der Kleine etwas erleichtert von seinem Ausflug zurückkam, wurde ihm auch als besondre Vergnüglichkeit das Kindlein gezeigt, das eben erwachte und seine niedlichen Fingerchen weit auseinander breitete; »'s ist lebig!« rief er in höchster Verwunderung, und wagte sogar das weiche, warme Gesichtchen zu streicheln.

»Das gäbe gerade ein nettes Pärchen,« meinte lächelnd die Frau Schulmeisterin.

»Ist erst noch wahr,« rief der Müller aufgeregt von Festwein und Vaterfreude, »die würden eben recht für einander, was meinst, Gevatter?«

»Warum nicht? hab' nichts dagegen,« sagte Rau, und schlug in die dargebotene Hand.

»Bleib's dabei!« rief der fröhliche Gevattersmann, »eingeschlagen, Frau Gevatter! Angestoßen! Ihr Georg und unsre Marie! Ihr Frauensleute habt doch nichts dagegen?«

»Im Gegentheil, keineswegs,« sagte höflich Frau Gevatter Rau, die in der Stille dachte, es werde noch nicht so ernst sein, – Sie haben ja die Mittel, Herr Gevatter, dem Töchterlein eine gute Erziehung zu geben.«

»Will's meinen,« rief der Müller. »Spanisch und türkisch soll die lernen, wenn's noth thut! Na, will sehen, ob wir bei der Hochzeit auch einmal alle beisammen sind! Weib, Du schwätzst ja gar nichts! Was sagst Du dazu, wie, da trink!«

»In Gottes Namen, so es Sein Wille ist,« sagte die Müllerin und nippte.

»Nun wurde in sehr heiterer Weise des jungen Brautpaares Gesundheit getrunken und seine Zukunft besprochen; wurden auch unterschiedliche Beispiele erzählt von so früh beschlossenen Heirathen, die später glücklich zu Stande gekommen. Die Base und die Müllerin schlugen in der Stille miteinander Sprüche im Losungsbüchlein auf, der junge Bräutigam aber, der schon wieder im Essen des Guten zu viel gethan hatte, verlangte ungalanter Weise mit Geheul nach Haus. Das Bräutchen, das schlief, und schlief den ganzen Abend und die Nacht.


Georg blieb der einzige Sprosse auf dem Tannenhof, in der Mühle aber wurde nach längerem Zwischenraum noch ein bausbackiger Knabe geboren. Das kleine Pärchen kam in den ersten acht Jahren ziemlich oft zusammen, übrigens wuchsen sie ganz ohne Ahnung ihrer künftigen Bestimmung auf; es wurde jener scherzhaften Uebereinkunft nie mehr gedacht, als höchstens vom Müller, wenn er recht guter Laune war. Frau Rau hoffte bei aller Freundschaft denn doch in der Stille, ihr einziger Sohn werde einmal andre Ansprüche machen, als eine Müllerstochter.

So lang die kleine Marie noch getragen wurde, nahm ihr Zukünftiger ein sehr flüchtiges Interesse an ihr, als sie aber einmal neben ihm hertrippeln konnte, da bildete sich wirklich eine Art zärtliches Verhältniß zwischen den Kindern und das Dienstpersonal der beiden väterlichen Häuser fand wiederholt, daß es ein ganz nettes Pärchen geben würde. Beruhigt zwar konnte die Müllerin keinen Augenblick sein, wenn sie ihr Töchterchen in Gesellschaft des Knaben wußte, denn er schleppte sie einmal in den Stall, dann wieder in die Mühle oder an den Entenkanal, die Kleine folgte ihm überall hin in blindem Gehorsam, so daß Leib und Leben und Kleidchen in beständiger Gefahr waren.

Hie und da, als sie etwas größer wurden, saßen die Kinder auch einträchtig beisammen im Gärtchen, machten Jungferlein aus Mohnknospen und führten sie spazieren im kleinen Puppenwägelchen, oder steckten Kastanienblüthen in die Erde und freuten sich, bis große Bäume daraus wachsen würden; vor den Käfern, deren Georg nicht genug zusammenschleppen konnte, behielt Marie ein unbesiegliches Grauen, aber als er einmal bei einem großen Knaben eine Steinsammlung gesehen hatte und anfing rare Steine aufzulesen, da wollte Mariechen auch eine »Steinerversammlung« halten und trug ihr Schürzchen voll Kieselsteine zusammen. Eins ihrer liebsten Spiele war, sich zusammen an den Uferrain zu setzen, da wo der Mühlbach am schnellsten floß, und Blumen hineinzuwerfen, denen sie dann nachsahen, welche wohl am weitesten schwimmen. »Die schwimmen jetzt in die Donau, und bis ins Meer hinaus,« belehrte Georg, der bereits Unterricht beim Herrn Provisor genoß, die Kleine; »ist aber schad', wenn die Wallfische dann die schönen Blumen fressen,« meinte Mariechen, die vom Meere noch nichts wußte, als daß es Wallfische darin gebe. »Dummes Ding,« sagte Georg, »Wallfische fressen keine Blumen! Die schwimmen vielleicht bis auf eine Insel, wo Wilde wohnen, die noch gar keine Blumen gesehen haben, oder sie fangen sie auf auf einem großen Meerschiff.« »Wenn Du einmal groß bist und weit verreist,« sagte Marie, die er oft von seinen Plänen unterhielt, »dann laß' ich auch Blumen zu Dir schwimmen.« »Lieber Aepfel,« meinte Georg, »aber die könnten verfaulen unterwegs.«

Als Georg acht Jahr alt war, da kam er, mit seinem nagelneuen Schulranzen auf dem Rücken, um sich zu verabschieden, da er nun in eine lateinische Kostschule kommen sollte. Er war bestimmt, des Vaters Gut zu übernehmen, da er aber gute Anlagen zeigte, so wollte der Vater nichts versäumen, ihm »einen guten Schulsack« zu sichern, da Herr Rau selbst oft mit Beschämung empfand, daß der seinige sehr mäßig sei.

Im Gefühl seiner künftigen Würde als Kostgänger verbiß Georg muthig das aufsteigende Bangen vor der Fremde und that schon sehr groß mit seiner künftigen Gelehrsamkeit. Auch Marie nahm den Abschied noch gar nicht sentimental, sie schlug die größere Entfernung nicht so hoch an und betrachtete den kleinen Gespielen mit gewissem Respekt, daß er jetzt Kostgänger werde, was ihr schon wie eine Art von Beruf vorkam. Sie opferte ihm auch ihr ganzes »Maugenest«: den Vorrath von Aepfeln und Birnen, den sie heimlich vom vorigen Herbst her in einem leeren Stall im Heu verborgen hatte. Da der Weg gerade etwas schmutzig war und die Pferde daheim, so ließ sich's der Müller nicht nehmen, den Gevatter mit dem Kleinen auf dem blauen Bernerwägelchen nach Haus zu führen. Georg erstieg den hohen Sitz etwas mühsam, die wohlgefüllten Taschen machten ihn fast so ungelenk wie eine Boa Konstriktor, die zum Benefiz des Publikums sich vollgegessen; als er aber oben war, zog er den schönsten seiner geschenkten Aepfel heraus und biß beim Abfahren mit vollen Backen hinein, – es war das, unbewußt, eine Art Huldigung für die kleine Marie, – eine Anerkennung ihrer Liebesgabe, auch freute sich Marie sehr darüber und kehrte ganz befriedigt ins Haus zurück mit dem kleinen dicken Brüderlein, das kaum anfing zu gehen, Christian hieß, und bis jetzt noch keineswegs zu den vielversprechenden Kindern gehörte.


Nun war's ein andres mit dem Verkehr der Kinder, und wenn Marie hie und da vielleicht noch des Gespielen dachte, so spielte er doch ganz und gar keine Rolle in ihren Träumen. Sie mußte jetzt früh Morgens hinauf ins Dorf zur Schule und nachher gleich mit ihrem Strickkörbchen bei der Frau Schulmeisterin bleiben, die eine Industrieschule hielt. Damit sie den mühseligen Weg nicht wieder zurück machen durfte, war ihr Körbchen ziemlich mit Proviant versehen, zudem theilte sie des Schulmeisters bescheidnes Mahl.

An schönen Tagen war das ein ganz vergnüglicher Tageslauf für die Kleine; kein lustigeres Leben als so ein tägliches Wandern zur Schule an sonnigen Tagen! Da ging der Weg zwischen Hecken, an denen sich die ersten grünen Blättchen vom Stachelbeerbusch loswickelten, bis man später die rothen Beeren schmausen durfte, da wuchsen die weißen Palmkätzchen, die ersten Frühlingsboten, Weißdornblüthe und später die wunderlich geformte Frucht der Berberitze, aus der sich die Mädchen Korallenschnüre machten, – jeden Tag gab es etwas Neues in die Schule mitzubringen.

Dann führte der Weg über Vaters große Wiese und die Birn- und Aepfelbäume streuten im Frühling die weißen Blüthenblättchen und im Herbst die saftigen Früchte auf den Pfad. So ein rother Apfel, der unversehens im grünen Grase blinkt, schmeckt viel besser, als die man daheim bekommt. Und nun ging's durchs Aehrenfeld, da waren im Sommer die Aehren so hoch, daß man Mariechen gar nicht dazwischen sehen konnte; da pflückte sie blaue Kornblumen, aus denen sie mit den Mädchen Zöpfe flocht, rothe Stechnelken, die ins Näschen stechen, wenn man daran riechen will, purpurrothe Mohnknospen, aus denen sie mit Georg schon die schönen Prinzeßlein gemacht, und Ritterspornen, deren innere Blüthen man zu so zierlichen Kränzlein ineinander schieben kann. Auf diesen stillen Schulpfaden, allein mit dem getreuen Wächter, führte das Kind so ein reiches, wechselvolles Naturleben voll immer neuer Genüsse.

Zur Gelehrten zeigte sie wenig Anlage, und lernte mehr dem guten, freundlichen Schulmeister zu lieb, als aus eignem Trieb.

Viel lieber waren ihr die Nachmittagsstunden, wo in der großen Schulstube die Frau Schulmeisterin ihre Arbeitsstunden gab, großartiger Weise Industrieschule genannt.

Da herrschte minder strenge Disciplin als in den Schulstunden; wenn man nur seine »Mal rum« von dem bunten eingestrickten Seidefädlein an ordentlich gestrickt hatte, so war dazwischen Lachen, Singen und Plaudern gestattet; man hielt Wettkämpfe im Stricken: »Hasenjagen, Garnmessen, Zählerles,« wie sie alle hießen. Wenn die Frau Schulmeisterin fort war, erzählte man mit halblauter Stimme schauerliche Spuk- und Hexengeschichten: von dem grünen Männlein, das in der Schule selbst umging, von dem Pfarrtöchterlein, das von einer bösen Hexe das Hexen gelernt hatte, also, daß es aus dem Handtuch Milch melken konnte, das sein Vater dann einschläferte mit Mohn, daß es nimmer erwachte, damit er vielleicht seine Seele noch retten könne. O, was war das ein behagliches Gruseln, mit dem sich die kleinen Mädchen zusammendrängten und kaum mehr zu flüstern wagten, zumal wenn es schon dämmerig wurde. Dann kam zum Glück oft der alte Schulmeister selbst dazwischen und las ihnen ein Geschichtchen von Christoph Schmid vor, darin ein klareres und freundlicheres Element spielte, von den Ostereiern oder dem Blumenkörbchen, wo sie über das Loos der unschuldig angeklagten Marie bittre Thränen vergossen und sich gar zu gern in die schönen Gemächer versetzten, wo lauter grundedle Gräfinnen und Grafen walteten.

Mariechen fühlte immer am tiefsten mit. »Dui heult glei,« bemerkten ziemlich roh die andern Kinder, als Marie fast in Thränen zerfloß über Genovefa und Schmerzenreich, namentlich über die rührende Botschaft der todtkranken Gräfin an ihren ungerechten Gemahl. »O Herr Schulmeister, nur auch bis sie wieder beisammen sind!« bat sie flehentlich, so oft er aufhören wollte, »ich kann ja sonst nicht heim.« »Dummes Ding, die wären jetzt eineweg gestorben, all miteinander,« sagte Lammwirths Rosine, »um die heulst jetzt nimmer.« »Ich kann's eben nicht vertragen, wenn Leute von einander kommen, die einander lieb haben.« »Mußt noch allerlei lernen, was Du nicht kannst,« sagte gutmüthig der alte Schulmeister.

Bei Sturm, Schnee und Regenwetter, da durfte Marie nicht zu Fuß in die Schule, da führte sie der Müllerbursch auf dem Bernerwägele hinüber, – war's gar zu schlimm, so blieb sie daheim und setzte sich mit dem Strickkörbchen zu der spinnenden Mutter, auch kam der alte Schulmeister wohl am Sonntag Nachmittag herüber, trank ein Schälchen Kaffee mit Müllers und bemühte sich, mit Marien nachzuholen, was sie etwa in der Schule versäumt hatte. Ein Gelehrter war der alte Schulmeister nicht, in keinem Seminar gebildet, und keineswegs auf der Höhe der Zeit. Aber er war so unrecht nicht; er hatte außer der Bibel, aus der er all seine Lehren und Grundsätze schöpfte, nur Ein weltliches Bildungsmittel, dessen Früchte auch seiner Schülerin zu Gute kamen; er las, wie er selbst sehr wohlgefällig erzählte, seine Zeitung mit der Landkarte und mit dem Konversationslexikon, da suchte er alle Länder, alle Fremdwörter und alle historischen Namen und da in seinem stillen Leben nicht viel Gelegenheit zum Zerstreuen und Vergessen war, so hatte er sich allmälich einen ganz netten Vorrath allgemeiner Kenntnisse gesammelt und konnte fast bei allen Gelegenheiten mit einer Notiz aushelfen. Marien ging der alte Schulmeister über alles, er war zugleich ihr Freund und Vertrauter und war als Lehrer nicht eben schwer zufriedenzustellen.

Es wurden auf besondern Rath der Frau Pathin Rau sogar Versuche mit Musikunterricht bei Marie angestellt. Der Müller erstand in einer Auktion ein »Staatsklavier«, wie er rühmte, um das »Heidengeld« von drei Kronenthalern, aber Mariens musikalische Leistungen der Ecossaise und Walzer nebst der Arie: »Schmückt euch, Blümchen auf der Wiese,«, die sie bei Herr Fingerle, dem Provisor, einstudirte, waren so schwach, als der Ton des »heidentheuren« Instruments. Frau Rau brachte einst mit großem Staat eine Frau Pfandkommissär, die bei ihr zu Gast war, als Besuch herüber und Mariechen sollte eine Probe ihres Talents ablegen. »Wer hat denn dies Stück componirt?« frug die Frau Pfandkommissär, die ihre Kenntnisse zeigen wollte, bei den zweifelhaften Klängen, die Marie hervorbrachte. »Ich glaube, der Herr Andante,« sagte Mariechen unschuldig.

Thut nichts, Mariechen, wenn auch die musikalischen Versuche mangelhaft bleiben! An Harmonie fehlte es doch dem Leben des Kindes nicht, das muntre Rauschen des Baches, das rastlose Getöse der Räder, die goldnen Frühmorgen allein auf Feld und Wiese, die stillen Abende neben der Mutter mit der großen, alten Familienbibel, – das alles waren einzelne Töne, die in der jungen Seele zu lieblichem Wohllaut zusammenklangen, um so lieblicher vielleicht, weil sie ihn unbewußt in sich trug.

Georg, der äußerst befriedigende Schulzeugnisse nach Haus schickte, kümmerte sich sehr wenig um den Bildungsgrad seiner Zukünftigen. Er kam in den Ferienzeiten immer noch mit seinem Vater in die Mühle herüber, weil er so gern mochte auf den Mühlgäulen reiten; er freute sich an dem Gehämmer, Geklipper und Geklapper in der Mühle und verschmähte auch die schmalzgebacknen Küchlein und Fische nicht, mit denen die Müllerin werthe Gäste bewirthete. Aber mit Marie wußte er nicht viel anzufangen, er kam sich so viel gescheidter vor, als das Schulmädchen, das in eine Dorfschule ging, nur hie und da ließ er sich noch herab, in ihrem eignen Gärtchen mitzuarbeiten; er brachte ihr einen Epheuzweig vom Wald, um ihn an ihrer Mauer hinaufzuziehen und machte mit ihr Versuche, durch sorgfältige Verpflegung gemeine Gänseblümchen zu gefüllten zu machen, was zu großem Vergnügen der Kinder gelang. Marie hatte denn doch eine heimliche Freude, wenn der hochaufgeschossene Schuljunge sich mit ihr befaßte, obgleich sie mit unbewußter Mädchenlist sich höchst unbekümmerlich anstellte; wenn die Mutter sagte: »heut kommen wohl Rau's, wollen sehen, ob sie den Georg mitbringen,« so meinte sie ganz gleichgiltig: »ist mir eins, ob der wilde Bub kommt, er verscheucht nur allemal unsre Hühner und Enten.«

Der Verkehr mit dem Tannenhof war aber nicht so gemüthlich mehr als er gewesen, – ein schlimmer Wurm hatte sich in dem harmlosen Leben dort eingenistet: ein Familienprozeß. Ein dereinst durchgegangener Bruder der Frau Rau war wieder aufgetaucht und machte Ansprüche an das Gut geltend, die Rau's nicht geneigt waren ihm zuzugestehen. Das gab nun wöchentliche Reisen in die Stadt zum Advocaten, täglichen Aerger und Verdruß. So oft Rau wieder auf die Mühle kam, war seine Stimmung reizbarer, seine Haltung schlaffer, selbst sein sonst so wohlgepflegter Schnurrbart verwahrloster. Seine Frau gab alle vornehmere Haltung auf und weinte bitterlich im Oberstübchen bei der Müllerin über das viele Geld, das der Prozeß koste, und den schweren Aerger und Verdruß, den ihr Mann dafür eintausche. »Vergleichen, Gevatter, vergleichen,« rief der Müller, »werft dem Kerl in die Rippen, was er haben will, eh' euch der verfluchte Prozeß das Herz abfrißt und Haus und Hof ruinirt«, und Frau Rau nickte ihm beifällig zu.

»Soweit sind wird noch lange nicht,« sagte Rau, »wollen sehen, wer's länger aushält, er oder ich; wo ich recht habe, da geh' ich keinen Vergleich ein.« »Gevatter, 's reut euch,« warnte der Müller. »Ist mir eins,« sagte der Gutsbesitzer. »Selig sind die Friedfertigen,« sprach in ihrer ruhigen Weise die Müllerin dazwischen, »denn sie werden Gottes Kinder heißen.« »Alles zu seiner Zeit, Frau Gevatterin,« meinte der Gutsbesitzer, »habe gar nichts gegen die Religion, im Gegentheil, ich wollte, mein Schwager hätte mehr, so hätte er den Unfug nicht aufgebracht. Der soll friedfertig sein, der hat's nöthig. Ich habe keine Händel angefangen, ich will mein Recht; es steht auch in der Bibel, daß Recht und Gerechtigkeit sein soll auf Erden. Meinem Buben muß der Hof bleiben. Punktum!«

»Und Du wirst sehen, es frißt ihm noch das Herz ab,« sagte der Müller, als er am Abend nach einem solchen Gespräch mit seiner Frau noch im Hof stand und der abfahrenden Kalesche nachblickte; »das hab' ich meinem Vater selig zu danken, daß ich mich in keinen Prozeß einlasse, der hat gesagt: »An dem Tag, wo du zuerst vor Amt gehst, um einen Prozeß anzufangen, da kauf' auf dem Heimweg beim nächsten Seiler einen Strick und häng' dich dran, so ist's mit Einem Verdruß abgemacht.«

Der Müllerin war dies eigenthümliche Rezept gegen Prozeßärger nicht eben einleuchtend; ihr Rezept aber war Schweigen, so sagte sie nur: »Mit dem Rau kannst Du recht haben,« und ging nachdenklich in das Haus zurück.

Georg war heute mit da gewesen, er hatte sich verabschiedet, da er nun auf das Gymnasium einer größern Stadt kommen sollte; er und Marie hatten wenig Notiz von einander genommen; er fühlte sich bedeutend als angehender Gymnasiast, und der Abschied war ziemlich kühl und verlegen gewesen. Des Vaters bedenkliche Worte über Georg's Vater fielen Marie aber schwer aufs Herz, – sie hatte bei dem Schulmeister einmal eine Abbildung des gefesselten Prometheus gesehen, und sie mußte sich nun, so lang sie ihn nicht sah, den Gutsbesitzer fortwährend vorstellen, mit so einem großen, schwarzen Vogel, der ihm auf dem Herzen saß und daran fraß.


Der Müller hatte nicht Unrecht gehabt. Es war drei Jahre nach diesem Besuch, da kam das blaue Wägelein langsam und traurig heimgefahren, der Müller und seine Frau, ganz schwarz gekleidet, stiegen langsam ab und wurden von Marie mit Thränen empfangen, – sie kamen vom Leichenbegängniß des Gutsbesitzers auf dem Tannenhof.

Traurig und still saßen sie mit einander oben in der innern Stube um den Tisch, an dem der Freund so oft mit ihnen gesessen. Der Müller wußte vielleicht kaum, was ihn denn eigentlich mit dem Gutsbesitzer verbunden, und doch war's ihm, als sei ein Stück von seinem Leben mit ihm gegangen; sie hatten doch so lange Jahre Freud und Leid mit einander getheilt!

»Und ich sag' doch, es hat ihm das Herz abgefressen! sag' ich,« sagte der Müller, ohne daß jemand zuvor etwas anderes behauptet hätte; »man hat's ja all die drei Jahre her gesehen, wie er zusehends abgenommen, sein Rock ist nur so an ihm herumgeschlottert,« »und sein Haar war nie mehr gekämmt,« sagte Marie, »und der schöne Schnauzbart war auch so zottelig,« fiel Katharine, die langjährige Hausmagd, ein, die eben die Abendsuppe auftrug, und die sich schon erlaubte, ein Wörtchen drein zu reden. »Dummes Ding,« zankte der Müller durch all seine Wehmuth, »was Schnauzbart! das ist das Unnöthigste an ihm gewesen, um den wär's auch nicht Schade gewesen, wenn er zu Grund gegangen. Da sagen sie nun, er habe das Gallenfieber in Weilburg geerbt; ja, geerbt! das Gallenfieber kommt von innen heraus …« »Freilich, mein Vater selig hat schon zu uns g'sagt: über euch krieg ich 's Gallenfieber,« warf die unermüdliche Kathrine dazwischen. »Katharine, sei sie so gut und halt sie's Maul!« rief der Müller ärgerlich und in seiner Trauerandacht gestört.

Die Müllerin war still; sie hatte die letzten Tage ganz auf dem Tannenhof zugebracht, hatte Pflege und Nachtwachen mit der armen Frau getheilt, die der Jammer ganz unfähig zu allem gemacht, – sie hatte den Ernst des Todes wieder in furchtbarer Nähe gesehen. Der Kranke hatte sie gern um sich gehabt. Früher hatte er oft gemeint: »Wär' mir ja alles recht an der Müllerin, nur das Frommsein nicht! Obwohl sie Einem nicht beschwerlich damit fällt, so sieht man's doch ihren Augen an, was sie denkt, wenn man's einmal ein Bischen nicht genau nimmt im Reden und Thun.« Jetzt aber war ihm nicht nur ihre leichte Hand lieb und ihre ruhige, aufmerksame Pflege, auch die stillen Augen thaten ihm wohl und die wenigen sanften, tröstenden Worte, die sie sprach; er fühlte, daß sie es so recht von Herzen gut mit ihm meinte, und wenn er nun mit leisem Grauen fühlte, daß es gewagt ist, sich auf den Dieu des bonnes gens zu verlassen, auf den bequemen Glauben: »wenn Einer ein ehrlicher Kerl ist, so kann ihm Tod und Teufel nichts zu Leide thun,« dann lauschte er gerne den einfachen Sprüchen und Liederversen, die ihr fast unbewußt auf die Lippen traten.

Es war zu spät zu Besprechungen und Erörterungen, zu spät, um eine Bekehrung in Form herbeizuführen, wie sie geistliche Geschichten melden; – wie lange die Pforte der Heimath offen bleibt für den Sohn, der sein Gut ferne vom Vater verzehren wollte, wenn auch nicht in sündigem Prassen, – ob ihm der Vater entgegengeht, auch wenn er selbst die Kraft nicht mehr hat, den Rückweg einzuschlagen, – das ist das Geheimniß, das zwischen Gott und der Seele bleibt.

Einmal als die Müllerin dem Kranken eines der seligen Verheißungsworte gelesen, das den Ueberwindern die Krone des Lebens verheißt, da schüttelte er leise sein müdes Haupt und sagte mit einem Anflug seines alten Humors: »Gevatterin, von Kronen wollen wir ja nicht sprechen, wollen froh sein, wenn ich droben in einem Ecklein unterkomme.« Das war das letzte Wort, das er gesprochen, und daran hielt sich die stille Hoffnung der Müllerin, während eine glänzende Leichenrede die vielfachen, häuslichen und bürgerlichen Tugenden des Vollendeten rühmte und die Frau Schultheißin die trostlose Wittwe mit dem baldigen, seligen Wiedersehen tröstete, »und was nur mein Mann selig für eine Freude haben wird, wenn er den Herrn Rau selig so bald wieder sieht! Er hat immer so viel auf ihn gehalten. Viel durchgemacht hat Ihr lieber Mann selig in der letzten Zeit, 's ist wahr, viel Aerger und Verdruß mit dem Prozeß da, aber der Herr wird's ihm reichlich vergelten in der Ewigkeit; die mit Thränen säen, die werden mit Freuden ernten. Wie wird sich nur mein Mann selig verwundern, wenn der Herr Rau selig ihm alles erzählt, wie Ihr Bruder, mit Respekt zu melden, es ihm so wüst gemacht hat. Aber »alsdann wird der Gerechte stehen mit großer Freudigkeit!«

Es wäre komisch, wenn es nicht so traurig wäre, wie so gar leicht manche Menschen sich die Verheißungen der Schrift zu eigen machen.


Es war Sonntag, wenige Wochen nach dem Begräbniß auf dem Tannenhof. Marie hatte heute für Haus und Küche zu sorgen, da die Mutter mit den Mägden und Christian zur Kirche gegangen war. Ihre Geschäfte droben waren geordnet und sie hatte sich auf ihre Bank im Weidengebüsch auf der Insel gesetzt mit der Mutter Bibel und dem Predigtbuch. Das Predigtbuch war noch gar nicht geöffnet, die Bibel hatte sie aufgeschlagen auf ihrem Schoße, aber nur das erste weiße Blatt lag offen; was Marie da gefunden, das schien ihre Aufmerksamkeit so zu fesseln, daß sie noch nicht dazu gekommen war, im heiligen Buche selbst zu lesen.

Sie hatte gar manchmal schon der Mutter oder beiden Eltern aus der alten Familienbibel vorgelesen, – zum eignen Gebrauch hatte sie ein kleines Testament, – und es war ihr oft aufgefallen, daß das erste Blatt mit einer Oblate an den Deckel geklebt war. »Was steht denn darauf?« hatte sie die Mutter einmal gefragt, »und warum ist's zugepappt?« »Ach, laß,« sagte die Mutter, »das hat nichts zu bedeuten, wird nur so zufällig hängen geblieben sein.« Sie war aber roth geworden, weil sie so gar nicht gewöhnt war, eine Ausrede oder gar eine Unwahrheit auszusprechen.

Nun, heute hatte Marie zufällig mit dem Predigtbuche die alte Bibel mitgenommen und war nun ein bischen neugierig, was denn wohl auf dem verklebten Blatte stehe? Es konnte kein Unrecht sein, wenn sie es mit einer Haarnadel leise und sachte löste.

Das Blatt war alt und vergilbt, so wie es die Bibel war. Mit lang verblichener Tinte standen oben, in wenigen Worten von der Hand des alten Müllers, Mariens Großvater, geschrieben, die Geburts- und Tauftage und die Namen seiner Kinder, immer mit einem Spruch dabei. Die hier geschrieben standen, die waren nun alle gestorben außer der Müllerin.

In etwas neuerer Schrift stand unten von der Hand der Mutter: Am 12. Mai 1820 ist uns ein Töchterlein geboren, das am zwanzigsten in der heiligen Taufe den Namen Marie Christine erhalten hat. Der Herr gebe ihm Segen und Gedeihen und lasse es erwachsen zu Seiner Ehre und unsrer Freude! Am Tage seiner Geburt habe ich den Spruch gezogen: »Siehe, ich bin des Herrn Magd, mir geschehe wie Du gesagt hast;« am Tauftage: »Durch Stillesein und Hoffen werdet ihr stark sein.«

»Es haben am Tauftage mein Mann und unser Nachbar Rau in fröhlichem Muthe beschlossen, daß Raus Söhnlein und unser neugeboren Töchterlein in späteren Jahren ein Paar sollen werden. Ich habe des Mägdleins Zukunft in die Hand des Herrn gelegt. Ist es Sein guter und gnädiger Wille, daß dereinst die beiden sollen zusammen kommen, so möge Er es so fügen zu Seinem Preis und ihrem Heil. Des Menschen Herz schlägt seinen Weg an, der Herr aber gibt, daß er fortgehe.«

Das also war's, warum die Mutter, sonst eine so einfältige, gerade Seele, das Blatt zugeklebt hatte, als ihr Töchterlein herangewachsen! Und das war's, warum die sechzehnjährige Marie so gar nachdenklich auf der Bank im Weidengebüsch saß und trotz Sonntagmorgen und Glockengeläute von Bibel und Predigt noch nichts gelesen hatte, als das erste weiße Blatt.

Wie ganz wunderbarlich erschien ihr dieser Gedanke! Wie aus dem Himmel gefallen, und doch wieder, als ob sie das selbst heimlich schon lange gewußt. Es kam ihr wie ein Unrecht vor, fast als ob sie sich schämen müsse, daß sie, das kleine, junge Mädchen, überhaupt nur von so etwas wisse, an so etwas denke; und doch – wenn Vater und Mutter schon vor sechzehn Jahren daran gedacht, – warum sollte sie es nicht auch ein bischen thun?

Sie hatte freilich in den letzten Jahren Georg, den hochgewachsenen Jüngling, mit anderen Augen angesehen als in der Kinderzeit, aber an so etwas hatte sie im Traume nicht gedacht. Sie hatten eher eine gewisse Scheu vor einander gehabt und waren sich etwas fremd geworden, seit sie mit einander Gänseblümchen gepflanzt und Blumen hatten den Bach hinunter schwimmen lassen, doch hatte sie sich immer noch einigermaßen geehrt gefühlt, wenn sich Georg mit ihr befaßt hatte, Aber jetzt! Eigentlich kam er ihr wieder viel zu jung vor, um auch nur im Ernst an so etwas zu denken, obgleich sie erst sechzehn war. Wenn das Müllerkind, dessen Leben bisher ein zu gesundes und ausgefülltes gewesen war, um allzuviel Tagesträumereien nachzuhängen, sich doch schon ein Ideal entworfen hatte, so war es eher ein gereifteres, männliches gewesen, ein Halt und eine Stütze, als so ein aufgeschoßner Junge, der nicht so sehr viel klüger war als sie.

Und doch sah sie diesen Jungen jetzt in so ganz andrem Lichte, – es war eben gar zu wunderbar, daß sie, sie, das Müllermariele, sollte schon für jemand zur Frau bestimmt sein!

Aber natürlich, Georg wußte ja nichts davon und wenn er je davon erfahren sollte, so wollte er gewiß nicht, natürlich! und seine Mutter auch nicht, höchst natürlich! Raus waren ja im Ganzen doch viel vornehmer als sie, und Georg wurde wahrscheinlich noch vornehmer als sein Vater gewesen war; er sah schon jetzt feiner aus. Aber merken durfte er ja nicht, daß sie davon wußte, – lieber sterben – es stirbt sich so leicht mit sechzehn Jahren! – Ach, wie schnell reisen die Gedanken! Wie viel hin- und herstreitende Pläne und Träume und Beschlüsse zogen im Raum einer einzigen Viertelstunde durch Mariens Seele! die Bibel ruhte noch auf ihrem Schoße, sie dachte nicht daran, daß sie in dem heiligen Buche die schönste Lösung für alle ihre streitenden Gedanken finden könnte, – nicht eben indem sie es gebrauchte wie eine Art Orakel und einen Spruch aufs Gerathewohl aufschlug, wiewohl einfältig fromme Gemüther auch so schon wunderbar zu dem geführt worden sind, was ihnen gut that, – wohl aber indem sie daraus lernte, alle Räthsel des Herzens und Lebens im Lichte der Ewigkeit anzusehen. Sie hörte einen raschen Tritt über die Brücke, wie wunderbarlich, daß gerade in diesem Augenblick Georg kam; wie betroffen sie auch von diesem ungeahnten Besuch war, sie hatte doch augenblicklich das Predigtbuch zur Hand und war darein so eifrig vertieft, daß sie gar nichts sah und hörte von dem Näherkommenden. Sie war gewiß nicht kokett, auch nicht unwahr, es war das nur der unbewußte Instinkt eines Mädchenherzens und das tiefe Erröthen, mit dem sie aufblickte, als Georg vor ihr stand und sagte: »Guten Morgen, Marie; aber das ist eine Andacht!« – das war gewiß aufrichtig und echt!

»Ist der Döte nicht daheim?« fragte Georg, er nannte den Müller so noch von den Kinderjahren her; »ich sollte mit ihm sprechen.« »Sie sind alle beide in der Kirche,« sagte Marie, immer noch befangen. Georg kam ihr heute älter, gereifter, bedeutender im Ganzen vor, – es war nicht die Trauerkleidung allein, es war das Leid der letzten Tage, das über seine junge Seele gegangen, es war ein gewisses Gefühl der Verantwortlichkeit, seit er wußte, daß er nun in die vorderste Reihe gerückt sei, was ihn männlicher erscheinen ließ! so oft sie ihn etwas scheu von der Seite ansah, mußte sie die Augen wieder senken, verwundert, daß er so gar anders geworden. Aber auch Georg erschien diese halb kindliche Mädchengestalt mit den tiefgescheitelten blonden Haaren und den braunen Kinderaugen anders, als je zuvor. Er hatte daheim in keiner alten Bibel gelesen, – sie lag auf dem Tannenhof leider zu tief im Staub, als daß sie nur zu finden gewesen wäre, aber in den stillen Tagen der ersten Trauerzeit hatte er im Auftrag der Mutter die alten Hauskalender des Vaters durchgesehen, und dort neben den Notizen über Käufe und Verkäufe allerlei tagbuchartige Aufzeichnungen gefunden.

Da fand sich denn auch unterm Mai des Jahres 1820: »Der Metzger wollte die zwei großen Kälber holen, war aber nichts, weil wir zur Taufe bei Müllers drüben waren. Habe bei dieser Gelegenheit unsern kleinen Schlingel mit dem neugebornen Töchterlein drüben verlobt; so ist der auch schon versorgt! Der Frau Gemahlin ist's nicht vornehm genug; mich sollte freuen, wenn es wahr würde.«

Wenn nun auch diese flüchtige Notiz keinen solchen Sturm von nie gekannten Gefühlen und Gedanken in Georg erweckt, als in Marien die Worte in der Mutter Bibel, so gaben sie ihm doch viel zu denken; er hatte die kleine Marie seit Monaten nicht mehr gesehen, nun war er in Wahrheit begierig, wie sie wohl aussah: natürlich dachte er gar nicht im Ernst an jene elterliche Verabredung, – welcher Unsinn! er sich verloben!

Mit dem Müller, da hatte er freilich auf einmal höchst nothwendig zu reden, der war ja nach des Vaters letztem Willen zu seinem Vormund ernannt. Frau Rau war damit nicht recht zufrieden gewesen, sie meinte in all ihrem Leid, es wäre doch besser, wenn die Familie suchen würde sich zu heben durch Wahl eines gebildeten Vormunds, doch wollte sie keine Einrede thun, der Müller hatte sich als treuen Freund in der Noth bewährt.

»Ich warte gern, gibt's da noch Platz für mich?« fragte Georg etwas kecker als er je zuvor gewesen; die Bibel ward sorgsam in's grüne Gras gelegt, die beiden saßen beisammen, sie sahen nicht viel vor sich als die grünen Gebüsche und den blauen Himmel drüber und hörten die Vöglein zwitschern und singen, aber dem Georg war's ein bischen seltsam zu Muthe, der Marie vielleicht auch. Diesmal fing sie an zu reden, von seinem Vater zuerst, wie er immer so freundlich gegen sie gewesen und wie leid es ihr um ihn gethan; dann kamen sie auf die alten Zeiten, – man hat bereits alte Zeiten, wenn man sechzehn und achtzehn Jahre alt ist, – auf ihre Wasserfahrten, die Steinerversammlung und die Blumensendung ins Meer. Sie waren recht gut im Gespräch, als die Magd von oben rief: »Jungfer Marie, sie sind da, und 's Feuer ist aus, und 's Fleisch kocht nicht!«

Glühend roth sprang Marie auf, nun hatte sie Küche, Fleisch und Feuer droben rein vergessen.

In einem neuen Roman sagt die Heldin, als sie in die Küche muß: »ich muß Sie verlassen, die unscheinbare und doch so gebietende Pflicht ruft mich.« Ach, Mariechen war nicht so belesen, daß ihr so schöne Phrasen eingefallen wären, sie hatte an die »unscheinbare und doch so gebietende Pflicht,« eben leider gar nicht gedacht und sie ging mit recht bösem Gewissen hinauf.

Bis nun durch ein wahres Höllenfeuer in der Küche der Versäumniß nachgeholfen wurde, wandelte Georg lange in eifrigem Gespräch mit dem Müller im Hausgärtchen auf und ab. Es handelte sich um seine Zukunft. Der Prozeß des Vaters war nach dessen Tode endlich mit einem Vergleich beendet worden, aber das Gut hatte durch Kosten und durch Vernachlässigung in letzter Zeit so viel gelitten, daß es kaum rathsam war für die Wittwe, es zu behalten. Georg wäre jedenfalls zu jung gewesen, es zu übernehmen, seine Pläne waren aber auch andre und er setzte sie dem Müller auseinander, der zunächst nicht sehr viel darauf geben wollte, am Ende aber sich doch mehr herbeizulassen schien.

Marie, die nun mit ganz beispiellosem Eifer in der Küche schaltete, lugte doch so ein wenig durchs Küchenfenster hinaus; es war ihr ein eigenthümliches Bangen und Behagen, die zwei so vertraulich und angelegentlich mit einander reden zu sehen, der schlanke Jüngling im modernen kurzen Röckchen, ihres Vaters breite Gestalt in dem hellblauen Müllersrock, den er sich durchaus nicht absprechen ließ: sie schienen ihr ganz gut zusammen zu taugen. Georg sprach rasch und eifrig in den Müller hinein, der sehr gemächlich zuhörte und nur hie und da sachte den Kopf schüttelte.

»Nun, 's ist Essenszeit,« sagte endlich der Müller laut, »Du ißt mit, Georg, Deine Mutter erwartet Dich doch nicht mehr, willst ja Nachmittag ohnehin in die Stadt hinüber. Heut wird jetzt nichts mehr geredt, morgen früh kannst wieder herüberkommen, da sollst dann Auskunft haben; muß mir's heute Nachmittag noch überlegen.«

Bei Tische war Georg schweigsam; er sprach nicht mehr mit Marie, die ihm still gegenübersaß und nicht recht aufblickte; die Müllerin war mit dem Christian beschäftigt, der bei Tische nie viel redete, aber desto mehr aß und womöglich mit beiden Händen hineinschob, der Müller war gut aufgelegt, er blickte hie und da nach seinem aufblühenden Töchterlein mit einem pfiffigen Lächeln hinüber, das der Müllerin etwas unbehaglich war. Nun, das Müllerkind war schon ein herzerfreulicher Anblick, und war einem Vater nicht übel zu nehmen, wenn er seine Augen weidete an ihr; über das kornblumenblaue Kleid hatte sie, dem verstorbenen Döte zu Ehren, ein schwarzseidenes Schürzchen gebunden, es hob so recht ihre frische, blühende Farbe; das blonde Haar, die klaren Augen, der ganze liebliche Duft der reinen, ersten Jugendblüthe lag über der jungen Gestalt – es war Georg vordem noch kein einziges Mal eingefallen, daß das Müllermariechen so hübsch sei.

Die einfache Mahlzeit war beendet, obgleich sie etwas länger gewährt hatte, da das Fleisch, durch Mariens Schuld, ziemlich hart zu beißen war. Georg hatte einen Freund in die Stadt bestellt, so ging er nach Tisch fort. Er nahm mit wenig Worten Abschied, behielt aber Mariechens Hand länger in der seinen, als nöthig war.

So recht sonnenwarm und still lag der Sonntagnachmittag über der Mühle, das Gesinde hatte sich nach allen Seiten hin verlaufen; Marie war zum alten Schulmeister hinaufgegangen, ihr bester Freund noch von den Schultagen her; seine Frau war etwas invalid und keine Freundin vom Spazierengehen: da war's ihm denn gar lieb, wenn seine alte Schülerin mit ihm einen gemächlichen Gang durch die Felder machte, er that sein Bestes, seinen ganzen Vorrath von Schul- und Lebensweisheit in ihre empfängliche Seele niederzulegen, und es war ihm oft, als ob bei verwickelten Fragen, die ihm lange zu denken gegeben hatten, die kleine Marie mit ein Paar einfachen Worten das Rechte gefunden habe.

Christian trieb sich draußen mit Kameraden um, so saß der Müller und seine Frau in ihrem Stübchen allein. Die ungewohnte Stille – nur selten konnte die Mühle am Sonntag ganz still stehen – das warme, tiefe Sonnenlicht, das Summen und Singen der Käfer und Vögel vom Inselein her, das alles gab ihnen so recht das Gefühl einer Feiertagsstunde, wie sie selten einkehrt bei älteren Leuten, die sich in regem Geschäftsleben umtreiben.

Weite Spaziergänge sind nicht im Geschmack der Landbewohner, ein langsames Wandeln um die eigenen Wiesen und Felder, die man gern sieht im Lichte der Sabathruhe, nachdem man sie die Woche durch bearbeitet im Schweiß des Angesichts, oder solch ein Stillesitzen daheim, das lieben sie, und das brachte auch der Müllerin das friedlichste Sonntagsgefühl. »Es gibt Zeiten,« pflegte sie zu sagen, »wo man den Herrn suchen muß, oft recht mit Müh und Sorge. Aber es gibt auch Tage, und das sind die besten, wo man nur ganz stille halten und reinen, freien Raum machen muß, damit er hereintreten kann. So ist er zu den Jüngern getreten am See Genezareth, so zu der Maria im Garten,« – und so saß die gute Müllerin mit einem recht sonntagsstillen Herzen und ließ die goldne Sonne hineinscheinen und hörte gelassen auf die Mittheilungen ihres Mannes.

»Also siehst, Weib,« fuhr der Müller fort, »so steht's. Der Rauin ihr Schwager hat nun einmal seinen Sinn auf den Hof gestellt, und sie thut am besten und läßt ihn ihm, so lang er noch einen ordentlichen Preis dafür zahlt …«

»Aber ihrer Eltern Gut und Sitz!« seufzte die Müllerin, »es ist noch eine G'schrift da, wie ihr Urähne nach dem dreißigjährigen Krieg das Haus hat wieder aufgebaut.«

»Ist einerlei,« sagte der Müller, »wär mir auch nicht lieb, aber besser den Hof lassen, als daß er vollends zu Grund geht. Mein Vater selig hat gesagt; ›wenn D' ein Gut hast, und läßt einen guten Baum drauf umhauen, so geh' am selbigen Tag hin und laß dein Gut ins Wochenblatt setzen zum Verkauf, denn hin ist's und der Segen fort, wenn's an die Obstbäum' geht.‹ Und drüben auf dem Tannenhof haben sie schon manch schönen Baum abg'schlagen, 's geht 'runter, Weib, 's geht' runter!« Die Müllerin machte nie eine Einrede, wo die Autorität des Vaters selig in's Spiel kam.

»So kann ich's also dem Georg nicht verdenken,« sprach der Müller weiter, »wenn er an dem Hof keine Freude hat und etwas anders werden will. Bin zwar nicht arg fürs Studieren, »ung'studierte Leute sind auch keine Esel,« hat mein Vater selig g'sagt, »und um das Geld, was einer verstudiert, könnt' man die schönsten Aecker kaufen und hätt' zu essen sein Lebtag.«

»Bin einmal in Tübingen gewesen, wo sie studieren, noch wie ich ledig war, und bin in einem Wirthshaus gewesen, haben da die jungen Herrn geschrieen und gesungen und gerandalirt und Bier hinuntergeschüttet, daß es ein Graus war! »Höret, ihr Herrn,« hab' ich g'sagt, »macht man's so, wenn man studieren und g'scheidt werden will?« »Das verstehst Du nicht, Knot,« hat der eine g'sagt, – er muß nicht recht verstanden haben, daß ich Roth heiße – »wenn man in Tübingen studiert, so wird man von selbst gescheidt.« »Hab's nicht gewußt,« sagt' ich wieder, »hab' zwar gelesen: Der Herr gibt's den Seinen im Schlaf, war mir aber unbekannt, daß er's ihnen auch im Saufen gibt, aber der Mensch muß freilich etwas voraus haben vor dem lieben Vieh, das sauft nur wenn's Durst hat, der Student herentgegen auch ohne Durst.«

»Wegen dem Georg?« warf die Müllerin ein, die diesem Ausfall gelassen zugehört hatte. »Ja so,« besann sich der Müller wieder, »nun, so arg wird's der einmal nicht treiben, ich kann ihm nicht so ganz entgegen sein, wenn er studieren will, man braucht's nun einmal auch mitunter, und ein Doktor, wenn er geschickt ist, ist so übel nicht dran.«

»Also Doktor will er werden?«

»Ja, Weib, und 's ist ihm recht ernst mit dem Studieren, und« hier stieg das listige Lächeln auf seinem Gesicht auf, »er hat auch schon an eine Frau Doktorin gedacht …«

»An unsre Marie?« fragte die Müllerin erschrocken und doch vielleicht im tiefsten Grunde heimlich geschmeichelt, »das kannst Du nicht im Ernst denken, das Kind!«

»Mag sein, Weib; pressirt ja auch nicht, aber – was sein soll schickt sich wohl, hat ja doch kein Mensch mit den Kindern von selbiger Abrede an der Taufe geredet, und ist ihnen nun von selbst ins Herz gekommen, oder doch dem Georg. Sei's um sechs Jahr, so kann er sein eigen Brod haben, denn bälder thu ich's nicht, dann ist ja die Marie noch blutjung und eben recht. Du siehst ja sonst allenthalben Gottes Finger.«

»Gottes Leitung wollen wir walten lassen und nicht vorgreifen,« sagte die Frau, »ich bitte Dich nur das Eine: mach nichts aus und leid nicht, daß der Georg etwas zu dem Mädchen sagt und sich durch ein Versprechen bindet, sie sind zu jung, sie kennen ihr eigen Herz noch nicht; es soll ihm keine Treubruch und keine Sünde sein, wenn's ihm wieder anders kommt; laß es im Stillen.«

»Na, meinetwegen,« bruttelte der Müller, der gar ungern etwas auf dem Herzen behielt. »Mein Vater selig hat zwar gesagt, wenn er von einem Eheverlöbniß hörte: »machet voran, eh's der Teufel erfährt,« aber voran machen könnte man ja doch nicht, drum mag's meinetwegen noch in aller Stille bleiben, damit's dem Mädchen nichts schadet; ich mein' aber als, der muß in Gott froh sein, wenn er sie nur kriegt.«

»Und seine Mutter?«

»Na, die nun erst recht! Ich hab' von unserm Doktor gehört, daß es seine fünf bis sechshundert Gulden jährlich kostet, wenn einer ordentlich studieren will, und fängt er an als Doktor, so muß er auch wieder viel zusetzen, – das kann die Rauin drüben derweil gar nicht aufwenden, bis ihre Sachen in Ordnung sind; dafür ist der Müller da. Ich meine, sie müßte Gott danken, und unsere Marie gibt eine Frau wie Eine; und schlecht ist's doch auch nicht, wenn sie Frau Doktorin ist, auf die Mühle ist ja der Christian da.«

»Es sei dem Herrn befohlen,« sagte die Müllerin. Es war ihr nicht unlieb, daß ein Bäcker drunten war, der den Müller sprechen wollte und daß sie allein blieb mit ihren Gedanken und mit ihrer Bibel.


Georg machte sein Examen und kam, eh' er die Universität bezog, noch einmal auf die Mühle, um Abschied zu nehmen. Die Müllerin hatte ihn gebeten, vorher nicht zu kommen. Es wurde überhaupt von Marien und von Verlobung nicht gesprochen, die beiden Mütter schienen schweigend einverstanden, ein Alleinsein der jungen Leute möglichst zu verhindern. Bei der Müllerin war es Gewissenhaftigkeit, bei Frau Rau der stille Hintergedanke: »mein Georg könnt's auch noch besser treffen!«

Der Müller hatte in sehr unumwundener Weise, die für das Selbstgefühl des jungen Mannes einiges Verletzende hatte, seine Vermögensverhältnisse mit ihm besprochen: »Bei Deiner Mutter ist noch alles durcheinander; kein Mensch kann sagen, ob ihr etwas bleibt oder nichts; so schieß' ich derweil vor was nöthig ist; nicht weil Du von dem Mädchen da drüben gesprochen hast, – zu verkaufen brauch' ich das Kind nicht – aber weil Dein Vater mein guter Freund und Gevattermann gewesen ist und das Zutrauen zu mir gehabt hat, daß ich für seinen Sohn sorgen werde. Dreihundert Gulden kriegst für ein halb Jahr, das muß aber für alles auslangen,« – »ein Heidengeld,« brummte der Müller für sich dazwischen, – »Schulden werden nicht bezahlt. Zuerst zahlst Deine Professor, denen wirst geben müssen, was sie verlangen; ich denke, solche Herren werden ein armes Bürschlein wie Du bist, nicht überfordern,« – Georg biß sich auf die Lippen – »dann,« fuhr der Müller in seiner nützlichen Anweisung fort, »dann thust Du alles beiseite, was Du für Kost und Wohnung brauchst.«

»Bedienung?« warf Georg ein.

»Nun ja, was braucht so ein junger Mensch für Bedienung, ich weiß einen Student, der hat sich am Feierabend allemal seine Stiefel selber gewichst und seinen Rock gebürstet, will's Dir aber nicht zumuthen. Mit der Kleidung, da montirt man Dich neu, dann brauchst Du so bald nichts, Bücher wirst Dir auch etliche anschaffen müssen, wiewohl ich gemeint habe, dessenthalb studiere man, daß man auswendig wisse, was in den Büchern steht. Was Du dann noch übrig hast, von dem kannst Du Dir eine Güte thun, und hie und da Abends ein Schöpplein trinken oder am Sonntag wo 'nausspazieren und einkehren, es sollte noch zu allerlei reichen, muß ja mancher mit Weib und Kind von sechshundert Gulden leben! Abgehen darfst Dir nichts lassen.«

»Vier Jahr, sagen sie, sei nöthig, wenn einer auf den Doktor studiert,« fuhr der Müller fort, der das traurige Schweigen seines Mündels für vollkommenes Einverständniß hielt, »das will ich mir also auch gefallen lassen, wiewohl's ein Heidengeld kostet, und soll mich gar nichts dauern, wenn Du etwas Rechtes lernst; karteln, (Kartenspielen) thust mir nicht, auch nicht so wüst saufen, wie selbige Studenten. »Wenn D' zum erstenmal gekartelt hast,« hat mein Vater selig gesagt, »so geh heim und schäm Dich, daß D' so ein dummer Kerle bist, der nichts Gescheiteres zu thun weiß; wenn D' aber zum zweitenmal hingehst, und 's gelüstet Dich schon nach den Karten, so gehe vorher aufs Amt und laß Dich mundtodt machen, damit auch noch etwas übrig bleibt für Dein Weib und Kind.«

»Na, für Weib und Kind hab' ich doch nicht zu sorgen,« fiel Georg ein, dessen achtzehnjährige Geduld nicht mehr Stich halten wollte. »Hast's noch nicht,« sagte der Müller in unerschütterter Ruhe, »aber was Du thust von Jugend an: ob Du Dein Sach' verpraßt in Leichtsinn und Sünden, oder ob Du fleißig bist und rechtschaffen, Dein Leib und Seele rein hältst und in Ehren, – das hast doch für Weib und Kind gethan, und wenn Dein künftiges Weib noch nicht auf der Welt wäre; – Du wirst's einmal inne werden, mit bitterem Herzeleid oder mit Dank und Herzensfreude.«

Während des Müllers Rede lehnte Georg am Fenster, im Garten unten da stand Marie zwischen Spätrosen und Reseden und schien halb zögernd ein Sträußchen zu pflücken, dazwischen erhob sie hie und da die Augen und senkte sie rasch, als sie Georgs Blick begegnete. »Um eines so lieblichen Töchterleins willen,« dachte dieser, »kann man sich schon eine Predigt von ihrem Vater gefallen lassen, auch wenn sie knotenhaft langweilig ist.«

»Nun, weil wir doch schon daran sind,« sagte der Müller zum Schluß, »wegen unsrer Marie, da möchte meine Frau gern, daß noch gar nichts darüber geredet würde, weil ihr alle zwei noch so gar jung seid. Einstweilen soll das Kind gut auferzogen werden und behütet, daß sie eine rechtschaffene Frau gibt für jeden rechten Mann. Hast Du Dein Sach' recht gelernt, und kannst einmal Dein eigen Brod essen, verstehst mich, bälder nicht! und Du willst sie noch und sie will Dich, dann sollst Du sie haben und wenn zehn Reichere kämen. Derweile kein Gelöffel und kein Briefgeschreibe, nichts dergleichen. Und jetzt b'hüt Dich Gott und werd ein rechtschaffener Mann.«

Spät in der Nacht, als der Müller noch unten war, um in der Mühle nachzusehen und die Müllerin sich zur Ruhe gelegt hatte in dem alten großen Himmelbett, da kam Marie noch leise herein: »Mutter, ich habe von dem Georg noch allein Abschied genommen, drüben auf der Insel; ist das eine Sünde?«

»Hast Du ihn denn heißen hinüberkommen?«

»Nein, Mutter; ich habe gespürt, daß er noch kommt, und ich habe auch gespürt, daß Du nicht gern hast, wenn wir allein sind. Aber verboten hattest Du mir's nicht, Mutter, nicht wahr?«

»Nein, Kind. Was hat er sonst noch gesagt?«

»Das Sträußchen hat er mir genommen, das ich vorher im Gärtchen angesteckt habe, und dann hat er noch ein Vergißmeinnicht gefunden am Bach drunten, das hat er mir gegeben, und gesagt, ich soll ihn gewiß nicht vergessen, er wolle an mich denken alle Zeit. Mutter, darf ich's behalten?«

»Behalt's in Gottes Namen, Kind, und leg's in Deine Bibel, wenn Du es ansiehst und an den Georg denkst, so bete dabei, daß Gott ihn behüten möge und rein bewahren. Gib Dein Herz dem Herrn, dann wird es ein köstliches Kleinod, ob Du es nun für den Georg aufheben darfst oder nicht. Denk an das Sprüchlein, das ich an Deinem Geburtstag gezogen: ›Siehe, ich bin des Herrn Magd, mir geschehe wie Du gesagt hast,‹ das bete von Herzen!«

»Dein Herz und Deine Zukunft gib in Gottes Hut und nicht in die eines Menschen, und wenn's der beste wäre. Gute Nacht, Marie.«

Und Marie legte das Vergißmeinnicht in ihre Bibel und ihr Herz und ihre Zukunft in Gottes Hand und schlief ein in Frieden.


So überaus genau die Vorschrift gewesen, mit denen der Müller »seinen Studenten,« auf den er sich heimlich nicht wenig zu Gute that, zur Universität entlassen hatte, so ließ er ihn doch mit unbedingtem Vertrauen die neue Laufbahn gehen. Dies Vertrauen und das Bewußtsein, der einzige Sohn, die künftige Stütze einer Wittwe zu sein, gab Georg einen gewissen Halt, so daß er sich von dem ungewohnten Studentenleben, von dem Reiz unbedingter Freiheit nicht zu viel hinreißen ließ. Mitunter fand er freilich die Geldeintheilung, wie der Müller sie vorgeschrieben, etwas schwierig, auch blieb's nicht eben bei dem »Schöpplein Bier« am Abend, doch war er darin auch nicht überscrupulös: »der Mann versteht's nicht besser, wenn ich nur solid bleibe und schließlich mein Examen mache, so ist das andere meine Sache.«

Das blonde Kind mit den braunen Rehaugen vergaß er nicht, – nicht daß sie ihm als Kampfpreis vorgeschwebt wäre, der zu erringen sei mit Mühe und Arbeit, – ach nein, für gewonnen hielt er sie schon, aber lieblich und anmuthig, fast mehr noch als sie in Wahrheit war, malte sie ihm seine Phantasie, wie das bei einer jungen Liebe leicht zu gehen pflegt. Wenn er sich auch bei dem mitunter etwas rohen Treiben der Gefährten zu Zeiten mit gutem Humor betheiligte, so that es ihm doch wohl, etwas für sich ganz ganz eigen, heimlich in seinen Gedanken zu haben. Romantische Freundschaften unter Jünglingen waren dazumal schon selten. Die Freundschaften auf Leben und Tod sind sammt den Jünglingen mit den Nachklängen der Befreiungskriege zu Grabe getragen worden, es gibt nur noch junge Männer, Gesellschaftsmitglieder und Bekannte, – so hatte er keinen Vertrauten seiner Liebe; er schrieb nicht an Marie, an den Müller, der selbst nicht stark in der Feder war, sehr selten, aber so oft er seiner Mutter schrieb, sandte er Grüße, Bücher oder sonst einen kleinen Auftrag an Marie.


Frau Rau aber war im Begriff, ihre Heimath zu verlassen. Sie hatte den Hof verkauft und wollte zu ihrer Schwester ziehen, die »Hotelbesitzerin,« zu deutsch Gastwirthin in einer belebten Handelsstadt war. »Ich habe da natürlich mit dem Geschäft gar nichts zu thun,« versicherte sie die Müllerin, »nur vielleicht hie und da die gebildeteren Gäste zu unterhalten und hier bleiben kann ich nicht, der Kummer frißt eigentlich an mir.«

»Thu's in Gottes Namen,« sagte die Müllerin, die noch wenig Spuren dieses »fressenden Kummers« bei der Gevatterin bemerkte, »mir würd' es angst und bang mit einem betrübten Herzen in so einem Gethue.«

»Vor das habe ich mein eignes Zimmer,« belehrte sie Frau Rau, »o! da werde ich noch Zeit genug haben, betrübt zu sein, an den Abenden, wo kein Gesellschaftstag ist! Tanzmusik ist freilich oft störend, aber das ist nur alle vier Wochen beim Casino …«

»Hättest nicht lieber wollen in die Universitätsstadt ziehen, daß Dein Georg eine Heimath bei Dir gehabt hätte?«

»Weißt, Christine,« sagte vertraulich, wenn auch immer etwas herablassend, Frau Rau, »einestheils langt mein Vermögen, was mir vom Hof übrig bleibt, nicht recht, einen eigenen Haushalt zu führen, anständig, wie es doch sein müßte; andrentheils hab' ich gehört, daß bei der Universität niemand, auch die allervornehmsten und reichsten Leute nichts gelten, wenn sie keine Professor sind, das könnte ich doch auch nicht ertragen.«

Frau Rau hatte sich mehr und mehr in den Gedanken ergeben, die liebliche Müllermarie als Zukünftige ihres Georg zu sehen, namentlich als ihr die Augen aufgegangen waren über den bescheidenen Stand ihrer eignen Verhältnisse. Aber dringend legte sie Müllers die Pflicht ans Herz, etwas für Mariens Ausbildung zu thun; was sie beim Schulmeister und seiner Frau gelernt, das sei ganz und gar unzulänglich für ihren möglichen künftigen Stand, »wenn sich mein Georg nicht noch anders besinnt;« »»oder auch unsre Marie,«« sagte trotz all ihrer Sanftmuth etwas spitzig die Müllerin; – auf den Punkt versteht eine Mutter keinen Spaß.

Der Müller, der seine Marie, seinen Augapfel, gern recht vollkommen, ein ganz begehrenswerthes Gut wissen wollte, stimmte der Frau Rau bei und die Mutter gab nach, obwohl sie ein unbestimmtes Grauen vor der Residenz empfand, dem einzigen Orte, wohin ein junges Mädchen zur Ausbildung, »zum Schnellbleichen« oder »Feinschleifen« geschickt werden konnte.

Töchterpensionen galten damals noch für Ausnahmen, aber Frau Bäcker Huschwadel, die Geschäftsfreundin des Müllers in der Residenz, wußte eine Wittwe von Stand, die jungen Fräulein, die »Bildung erlernen« wollten, mütterliche Leitung, Ueberwachung und Gelegenheit zu französischer Conversation zusicherte und es wurde beschlossen, dieser Mariechen zur Politur zu übergeben.

So wurde denn unter stillem Seufzen der Müllerin eine erfahrene Nähterin ins Haus genommen, um Marie für die Residenz herauszuschneidern, der Müller entlehnte die Kutsche des Sonnenwirths im Dorf droben und das Ehepaar im schönen, ehrbaren Sonntagsputz sammt dem dicken Christian, der nagelneu montirt und mit einem rothseidenen Halstuch geschmückt war, brachten ihr Kleinod in eigner Person in die Hände der Frau Registrator Riederich.


Frau Registrator Riederich war so recht was man eine resolute Frau nennt, sie hatte den Kampf mit dem Leben rüstig aufgenommen und war bis jetzt damit fertig geworden. Das Schicksal hatte sie nie weich gebettet, man hatte sie nicht darüber klagen hören, sie war weder fröhlichen noch melancholischen Temperaments, sie gehörte nicht zu den jammernden, nicht zu den empfindlichen und nicht zu den ergebenen Wittwen, – sie war blos resolut. Ein armes frühverwaistes Mädchen, hatte sie bald lernen müssen sich unter Fremden »durchzuschlagen,« sie hatte überall ihre Schuldigkeit gethan und sich selbst nicht zu viel geschehen lassen; einen Lebensfrühling mit Lieben, Hoffen und Träumen hatte sie nicht gekannt, sie war Küchengewächs, keine Gartenblume, – Kohlraben haben keinen Blüthenmond.

In sehr gereiften Jahren war sie Haushälterin bei dem kränklichen Registrator Riederich geworden, er hatte sie zu seiner Gattin erhoben, sie hatte diese Ehre dankbar erkannt, hatte die Würde einer Hausfrau übernommen, etwa wie sie eine neue Stelle übernommen hätte, und war ihm eine getreue, aufopfernde Dienerin und Pflegerin geblieben. Sein Andenken hielt sie in Ehren, obgleich sie keine rosigen Tage an seiner Seite verlebt hatte. Denn eine glänzende Stelle war auch dieser neue Posten nicht; der Herr Registrator war nicht gesonnen, um seiner Pflichten als Gatte und Vater willen seine eigenen Bedürfnisse zu beschränken; Rauch- und Schnupftabak, sowie sein allabendliches Schöpplein in einer anständigen, stillen Kneipe nahmen unverhältnißmäßig viel von dem kleinen Einkommen weg. Drei Töchter wuchsen heran, ohne daß das Einkommen mit ihnen wuchs, ein Umstand, auf den Herr Riederich nicht gerechnet, der zunächst seine Haushälterin nur geheirathet hatte, um jeden Wechsel der Bedienung und das Salair zu ersparen.

Die Frau aber blieb resolut unter allen Umständen, sie arbeitete in die Industrie, sie besorgte Kommissionen für Pfarrfrauen gegen ein kleines Honorar an Butter, Eiern u. dgl., sie fand Mittel und Wege, in ihrem sehr engen Logis auch noch einen leibarmen Gymnasiasten unterzubringen, und trotz des billigen Kostgeldes und anständiger Ernährung noch an ihm zu profitiren. Die älteste Tochter Mine, gleich der Mama eine vorherrschend praktische Natur, wurde vorzugsweise im Kochen und Nähen ausgebildet, die zwei jüngsten, die talentvoller waren, brachte man in eine höhere Töchterschule zweiten Ranges; die praktische Frau machte es möglich, das mäßige Kapital, das Herr Riederich in die Ehe gebracht, unberührt zu erhalten bis zu seinem Tode.


Auch nach diesem traurigen Ereigniß hatte der resolute Geist bald wieder die Oberhand gewonnen. »Etwas muß angefangen werden,« besprach sie mit einer Bekannten, »die Pension und meine Zinslein reichen nicht, Nähen und Stricken trägt nicht viel, wir müssen sehen was wir thun, um das Kapitälchen nicht anzugreifen.«

»Halten Sie einen Kosttisch,« schlug Frau Verwalter Mezger vor mit pfiffigem Lächeln, »für junge Kaufleute und ledige Kanzleiherrn; wer weiß, wie sich's da schickt, ist schon so Manche angekommen …«

»Geht nicht, Mezgerin,« entschied Frau Riederich, »das führt zu nichts Solidem mehr in unsrer Zeit; ein Mädchen ohne Geld, die einen Mann kriegt, ist so rar wie ein weißer Hirsch. Hab' mich anders resolvirt. Die Elise ist die säuberste und gescheidteste von meinen Mädchen, der will der Institutsvorsteher einen Platz als Gouvernante verschaffen. Die Nane ist kränklich und die Mine wüst, Männer kriegen sie nicht, aber die Nane hat französisch gelernt und die Mine kann gut kochen und nähen. Da will ichs denn probiren, sie daheim behalten und Kostjungfern nehmen. Viel trägt das nicht, aber mag leicht sein, so schlägt man das Maul raus,« (welcher schöne Ausdruck bedeuten soll, man bestreitet die Kosten für eignen Tisch,) »und die Mädchen können immer noch daneben etwas verdienen.«

So geschah's. Elise, ein nettes, gewandtes Mädchen fand eine Stelle als Gouvernante; zwar verstand sie von den zahlreichen Fächern, die sie lehren sollte, nicht eben viel, aber sie hatte etwas von dem resoluten Wesen der Mutter geerbt und dachte sich schon durchzuschlagen. Der Gymnasiast wurde entlassen; in derselben Wohnung, wo es schon ein Kunstwerk war, den Jüngling unterzubringen, wurde jetzt Raum geschafft für vier »Kostfräulein«; es war so künstlich, wie die Spinnrädchen in einer Glasflasche: wie sie hinein gekommen, begreift niemand, aber drinnen sind sie.


Wie manches hatte Marie so von weitem gehört und gelesen von dem verlockenden Glanze und von den Gefahren eines Lebens in der Residenz, – sie wurde von keinem von beiden etwas gewahr.

Frau Riederich bewohnte sammt ihren drei Töchtern und vier Kostfräulein den vierten Stock eines saubern Hauses in einer anständigen Straße, einer stillen Straße, in der Gras wuchs, in der selten der Tritt eines Menschen und niemals der Hufschlag eines Rosses gehört wurde, außer wenn der Doktor einmal vorfuhr bei dem alten Archivrath drüben.

Wie einsam kam sich das Kind vom Lande vor, da oben, an stillen Sonntagen, wo die andern Mädchen ausgeflogen waren zu Besuchen bei Bekannten und Verwandten; – sie hatte keine einzige bekannte Seele in der Stadt, und blieb am liebsten zu Haus, wenn nicht an besonders schönen Sonntagen Frau Riederich zum Vergnügen ihrer Pflegebefohlenen einen Spaziergang in den Schloßgarten oder gar einen Ausflug zu der Milchfrau in einem benachbarten Dorf machte.

Werktags, da führte Marie ein geschäftiges Leben, – sie hatte Freude an Handarbeiten und flinke, geschickte Finger, hatte aber genug zu thun, um andern, besser geübten Mädchen gleich zu kommen. So war sie denn früh schon mit ihrer Nadel geschäftig am Fenster ihres Stübchens, wenn die andern noch schliefen. Das Stübchen, auf der Rückseite des Hauses, schaute auf ein großes Viereck von Häusern; nur in der Mitte dieses Quarré lag ein melancholisches, sonnenloses Gärtchen, wenig Blumen sproßten aus dem schattigen Grund, im Hintergrund lag eine große Gaisblattlaube, dicht verwachsen und umrankt wie Dornröschens Schloß, in der Mitte war ein künstlicher Hügel aus Tuffsteinen, dazwischen spärliche Blümlein wuchsen und auf dessen Gipfel in einer alten Steinvase eine Aloe prangte. Von wannen das Gärtchen stammte und wem es gehörte, das wußte Marie nicht, hatte auch nie darnach gefragt, sie hatte nie eine Seele darin gesehen, aber es hatte einen geheimnißvollen Reiz für sie, hinunterzuschauen, und oft bildete sie sich ein, die verschlungenen Ranken der Laube müßten sich auf einmal voneinander thun, und irgend eine liebe, bekannte Gestalt daraus hervortreten; – weiß nicht, ob sie sich sagte, welche? Mariechen hatte den redlichen Willen, nach der Mutter Geheiß zu warten, nicht nur mit Brautkleid und Kranz, – das gab sich ja von selbst, aber auch mit Herz und Gedanken.

Und Marie hatte gar viel zu thun und nicht zu lange Zeit zum Träumen, sie mußte ihre französischen Lektionen einüben, die oft blutsauer gingen, – sie hatte ja Stunden genommen bei dem alten Herrn Mercier, einem herabgesetzten Sprachmeister; und eh' sie sich versah, schlug's sieben und rief man zum Kaffee. Fräulein Mine präsidirte am Frühstückstisch und schenkte ein, Punkt sieben, Kaffee mit Syrup und bläulicher Milch für Anwesende und Abwesende; wer zu spät kam, den beruhigte sie mit dem immer gleichen Trost, daß kalter Kaffee schön mache.

Nun kamen die Nähstunden! Vormittags fein Weißnähen und Sticken, darin unterrichtete eine Dame, »die einst bessere Tage gesehen,« die war zumeist besucht von Fräulein der Residenz, da wurden neue Kleider und unmoderne Hüte unbarmherzig bespöttelt und kritisirt, und meist vom Theater und Concerten gesprochen, sogar vom Hof, denn es kam ein junges Mädchen her, deren Tante die Jugendfreundin einer Hofdame war.

In diesem Kreis war es dem schüchternen Landkind angst und bang, sie schaute nicht auf von der Arbeit und nähte mit einer fast krampfhaften Emsigkeit, auch machte keine der jungen Fräulein einen Versuch, ihr näher zu kommen; »ein Müllersmädchen,« hatte Eine mit etwas geringschätzigem Ton mitgetheilt, da war's ja natürlich, daß Keine mehr Anknüpfung mit ihr suchte. Die Jugend ist selten berechnend, aber häufig rücksichtslos.

Nachmittags aber, da ging's in die »Kleidernähet«, da präsidirte die freundliche Frau Kern, die auch ein trübes Geschick nicht vergessen gemacht hatte, daß sie einst jung gewesen war und die sich selbst wohl fühlte in dem Kreise junger Mädchen, die, von allen Theilen des Landes zusammengewürfelt, in der Residenz Kleidermachen, Bügeln und Bildung erlernen sollten.

Da flogen die Nadeln auch emsig, es gab allerlei Wetten, wer zuerst fertig sei, – aber noch viel flinker regten sich die Zünglein mit Plaudern und Lachen, bis wieder die gutmüthige Stimme der Frau Kern mahnend dazwischen rief: »ei, macht's nicht gar zu bunt! Ihr arbeitet mir ja nichts mehr, wenn ihr so viel schwatzt!«

»So? Frau Kern, wissen Sie nicht mehr:

Wenn gute Worte sie begleiten,
So fließt die Arbeit munter fort!«

rief da ein naseweißes Stimmchen, und unter fröhlichem Lachen gingen die Nadeln doppelt flink, um die Warnung der Lehrerin zu widerlegen. Da wurde erzählt und mitgetheilt aus den verschiednen Gegenden und Lebenskreisen, aus denen die Mädchen stammten, die Stände waren hier etwas mehr gemischt, und die Lehrerin selbst zeigte so freundliches Interesse für alle, daß kein vornehmes Herabsehen auf das »Müllersmädchen« Mariechens warmes Herz verkühlte. Es wurde gesungen und gespielt, so weit sich's mit dem Nähen vertrug, und wenn wieder das Kommando der Frau Kern erschallte: »jetzt aber seid auch ein bischen still!« so wurde alsbald eine »Stillstunde« ausgerufen, und wer ohne Noth das Schweigen brach, der mußte einen Kreuzer Strafe bezahlen, und die so gesammelte »Schwätzkasse« wurde später, wenn es hinreichte, zu einem gemeinsamen Spaziergang verwendet.

Es war ein fröhliches Schaffen in der Nähstube. Das Haus lag in einem noch nicht ausgebauten Stadttheil, da gab's frische Luft, grüne Bäume und Vogelgesang und die grünen Rebenhügel, die rings die Stadt umgaben, schauten herein.

Da thaute Mariens Herz auf und sie vergaß das Heimweh. Die gute Frau Kern hatte ihr ganzes Herz gewonnen und wenn sie allein ins innere Zimmer zum Anprobiren zu ihr kam, da redete die so freundlich, mütterlich mit ihr, berieth sie in allerlei Verlegenheiten und zeigte so herzlichen Antheil an all ihrem Leben und den Ihren, daß Marie zuletzt ihr schüchtern erröthend so halb und halb gestand, wie sie beinahe und fast gar Braut sei, es dürfe es aber noch gar kein einziger Sterbensmensch wissen. »Nun, Sie sind noch so jung, Marie,« sagte die freundliche Frau, »da kann freilich noch allerlei kommen; sammeln Sie sich nur indeß eine schöne Aussteuer: ein frommes Herz, gute und feine Gedanken, Fleiß und Geschicklichkeit, dann wird auf allen Fall Ihre künftige Heimath freundlich werden.«

Die »Kleidernähet« nimmt gewiß einen untergeordneten Rang in der Reihe der städtischen Bildungsanstalten ein, und Frau Kern war eine einfach gebildete Frau, und doch wurde gerade hier Mariens Blick geöffnet für Welt und Leben, hier allein fühlte sie sich daheim und jung und fröhlich. Ein gebildetes Herz und ein freundlich Gemüth verbreiten eine heitre Lebensluft um sich, mögen sie nun walten wo sie wollen, und manch dankbare, frohe Erinnerung aus der Jugendzeit weilt wohl auf jener schmucklosen Stube der »Kleidernähstunde«, wo der Boden mit Flecken aller Farben bedeckt war und wo das alte Klavier nur noch dazu diente, daß man Kleider darauf zuschnitt.

Monsieur Mercier, der französische Sprachlehrer, machte sich seine Aufgabe nicht zu schwer. »Conversation ist die Hauptsache,« wiederholte er oft, ließ seine Schülerinnen ein paar Verbs und eine Fabel von Lafontaine aufsagen; – da sie diese nie recht behielten, so war es immer wieder dieselbe:

La cigale avait chanté
Tout l'été

reichte für einen ganzen Sommer aus, dann begann Monsieur Mercier die Conversation, erzählte von seiner eignen Familie, von seiner patrie und von allen Dingen zwischen Himmel und Erde; dazwischen fragte er immer wieder gewissenhaft: comprenez vous, Mesdemoiselles? Ab Sie verstanden? » Un peu, Monsieur« antwortete sehr schüchtern Marie, weil sie nicht wußte, was »nichts« auf französisch heißt, » bien«, »gut«, sagte vergnügt Mr. Mercier, das ist genug für die Anfang, conversation, c'est die Auptsach.«

Auch im Piano waren Mariens Fortschritte nicht glänzend, obgleich sie und eine Lehrerin einander jämmerlich quälten mit Fingersatzübungen und mit einer Sonate von Herz, nur ihre wirklich liebliche Singstimme gewann noch unter guter Leitung. Musik und Französisch waren von Frau Rau angeordnet worden, – es that Mariechen leid, daß sie gerade darin nicht mehr leistete, aber – Georg würde es am Ende damit so genau nicht nehmen! hoffte sie.

Wo die Pracht und Herrlichkeit, und wo die großen Gefahren des Residenzlebens liegen sollten, das begriff Marie nicht recht, sie sah wohl hie und da mit namenlosem Respekt eine Hofequipage mit scharlachrothen, betreßten Dienern vorüberfahren und im Schloßhof halten, sie sah einmal, als sie spät durch den Schloßgarten nach Hause ging, in dem kleinen See, der vor dem Schlosse liegt, den Schimmer der Kerzen widerstrahlen, und malte sich ein unbestimmtes Bild aus voll zauberhaften Glanzes: den König mit Scepter, Krone und Purpurmantel auf goldnem Sessel und prächtige Herren und Damen um ihn her; sie durfte sich auch auf Erlaubniß der Frau Riederich je und je ein billiges Theaterbillet aus zweiter Hand kaufen und schaute aus der Tiefe einer Parterreloge mit großoffnen Augen in die Wunderwelt des Schauspiels, – es waren das alles aber nur vorüberziehende Lichtstreifen, die nicht eindrangen in ihr ziemlich einförmiges Alltagsleben, und Heimweh hatte das Müllerkind gar oft und viel; sie stieg manchmal in der Stille auf den obern Boden, von wo sie den Weg sehen konnte, der nach ihrer Heimath führte, und schaute da hinüber wie nach einem unerreichbaren Paradies.

Alle Schattenseiten der Heimath traten zurück: die tägliche, oft recht saure Müh und Arbeit, der durchaus nicht ideale Verkehrston des Vaters mit dem Gesinde, die unvermeidlichen Roheiten, die man da und dort durch die ab- und zugehenden Mühlkunden zu hören bekam, – alles, was sie früher oft verletzt und ihr eine fast unbewußte Sehnsucht nach idealern Lebensformen erregt hatte, das trat jetzt in den Hintergrund, ihr stilles Plätzchen auf der Insel, die feierlichen Sonntagsstunden an der Seite der Mutter daheim, die traulichen Lichtabende im Schulhaus und ihre Spaziergänge mit ihrem alten Freund – das alles erschien ihr jetzt im schönsten Lichte, und sie zählte, so oft sie es unberufen thun konnte, sehnsüchtig auf dem Wandkalender, wie viel Wochen und Tage die Zeit ihrer Verbannung noch währen sollte. Sie hatte auch Heimweh nach sich selbst, wenn sie dachte, wie einsam jetzt die Mühle sei, und Vater und Mutter und der dicke Christian und der alte Schulmeister, wenn sie keine Marie hätten, sie konnte fast weinen aus Mitleid mit ihnen. Sehr bescheidne Menschen können sich manchmal in der Stille für unersetzlich halten, da wo sie in ein Verhältniß ihr ganzes Herz, ihr bestes Sein und Streben gelegt haben; wenn das Täuschung ist, so ist es eine Täuschung des Herzens, nicht der Eitelkeit. Was wahrhaftige Liebe thut, ist auch unersetzlich, – unvergessen freilich nicht immer.


Wie so ganz anders, wie so viel langweiliger war ein stiller Sonntag Nachmittag in der Stadt, als er in der Mühle gewesen! Heiß und unbeweglich brütete die Sonnenglut über den Dächern, geputzte Männer, Frauen und Kinder zogen durch die schattenlosen, blank gepflasterten Straßen, die vornehmere Welt hielt sich noch in den Zimmern oder war schon zu Wagen ausgeflogen, – elegante Livreebediente und unnöthige Schildwachen sahen gähnend und verdrießlich dem Menschenstrom nach, der sich's in der Hitze blutsauer werden ließ um sein Plaisir, – kein Sabbathfrieden, aber auch nicht einmal eine recht fröhliche, frische Sonntagsfreude lag über dem Ganzen.

So saß Mariechen an einem Sonntag Nachmittag allein oben in dem trübseligen Dachstübchen in der einsamen, grasbewachsnen Straße, ganz allein am Fenster, wie »das arme vergessene Kind« in der versunkenen Meerstadt von Heine. Frau Riederich und ihre Töchter waren unerhörter Weise heute verreist zu einer Zusammenkunft mit Elise, dem Stolz des Hauses, die mit ihrer Herrschaft in der Nähe vorüber kam, aber nicht so lange Urlaub erhielt, um nach Haus reisen zu können. Die drei andern Kostfräulein machten dreierlei langweilige Spaziergänge mit dreierlei verwandten Familien, selbst die Magd war zu Besuch in ihrer Heimath, was Frau Riederich gern erlaubte, da das Vesperbrod damit erspart wurde.

Sie hatten sehr ungern die arme Marie so allein gelassen. Bertha Tiegel, eine der Kostfräulein, ein gutmüthiges Mädchen, die sich selbst als »etwas schwärmerisch« bezeichnete und die sich am meisten an Marie anschloß, hatte ihr angeboten, sie mit zu ihrer Tante zu nehmen, auf eine Parthie zu ihrem Buttermann nach Bothnang, aber Marie hatte sich heute auf einem Frühspaziergang mit Bertha den Fuß ein wenig vertreten und versicherte mit voller Wahrheit, daß sie gern allein bleibe. »Du hast auch recht,« stimmte ihr Bertha bei, »so recht gefühlvoll kann man eigentlich doch nur sein, wenn man allein ist. Wenn ich nicht meiner Tante meine Gesellschaft versprochen hätte, und nicht heute Abend zu meiner Base, der Frau Kammerlakai, zum Thee geladen wäre, ich würde auch viel lieber in Einsamkeit bleiben. O Marie, Du bist glücklich, daß Du nicht so im Strudel der Welt leben darfst:

Wohl dem, denn selig muß ich ihn preisen,
Der auf der Stille der ländlichen Flur
Fern von des Lebens verworrenen Kreisen
Kindlich liegt an der Brust der Natur!

»O, ich möchte auch kindlich an der Brust der Natur liegen! Aber der Buttermann von Bothnang ist ja doch auch eine Art von Natur!«

Emilie und Karoline Meiler, zwei Schwestern, die auch bei Frau Riederich der weiblichen Vollendung entgegenreifen sollten, und die eben an dem einzig brauchbaren Spiegel im Wohnzimmer ihre etwas kokette Toilette vollendeten, lachten spöttisch über den »Strudel der großen Welt,« in den sich Bertha bei der Frau Kammerlakai stürzte, sie gingen heut' mit ihrer Tante, der Frau Geheimenoberfinanzräthin, an den Kursaal nach K., da verlohnte sich's noch eher, sich zu putzen!

Endlich war Marie allein, – etwas wehmüthig war's ihr doch, als es so gar still um sie wurde, – so allein war sie sich zu Haus nie vorgekommen. Das Haus gegenüber, dem man aus ganz unverschämter Nähe unwillkürlich in die Fenster sehen mußte, war auch ganz leer und verlassen, selbst das ganz steinalte Wittfraueli im obern Stock hatte, geführt von seiner alten Dienerin, ein Spaziergänglein gewagt. Diese Stadteinsamkeit kam Marien unheimlicher vor, als die Stille auf dem Lande, sie flüchtete sich lieber in ihr Hinterstübchen, dort hatte sie wenigstens den Blick auf das verlaßne Gärtchen mit der geheimnißvollen Laube, es war doch etwas Grünes.

Sie hatte auch wieder Bibel und Andachtsbuch vor sich, getreu der frommen Gewohnheit daheim, sie versäumte ihre Bibel nie und las am Morgen und am Abend, wie sie der Mutter versprochen. Sie freute sich manchmal eines schönen Spruches und bemühte sich, ihn zu behalten auch im Tagesleben, sie war mitunter ängstlich gewissenhaft, ob dies oder jenes was sie thue und sage auch recht sei, sie klopfte oft und immer wieder an die Thür des Vaterhauses, aber als ein Gast, – als Kind war sie noch nicht daheim, als ein fröhliches Kind, das am liebsten beim Vater weilt, nicht weil es soll, sondern weil es da am glücklichsten ist. Sie hatte beim Aufschlagen in der Bibel das getrocknete Vergißmeinnicht gefunden, das ihr Georg einst beim Abschied gegeben, dieß Blümchen – auch von dem Frühspaziergang hatte sie einen Strauß schöner frischer Vergißmeinnicht mitgebracht, – lockte ihre Gedanken auf andre Wege, – wie an jenem Morgen daheim ruhte die Bibel ungelesen auf ihrem Schooß und sie blickte, in allerlei Sinnen und Träumen versunken, hinunter in das verlaßne Gärtchen.

Das schien aber nicht so verlassen wie sonst; Marie traute ihren Augen und Ohren nicht, als sie eine Magd mit einem ansehnlichen Bierkrug drunten auf die Laube zuwandeln sah, als sie aus der Laube selbst fröhliche Lieder singen und Gläser klingen hörte.

»Herzige Frau Nachtigall,
Grüß' mein'n Schatz viel tausendmal!«

ertönte eben ein kräftiges Solo, – die Stimme klang ihr bekannt! Und siehe, aus der Laube, aus der alten, verfallenen, verwachsenen Laube, die aussah, als ob seit hundert Jahren kein Mensch sie betreten, – aus der trat eine Gestalt hervor, kein Dornröschen und kein Königssohn, wohl aber ein lebendiges Menschenkind in kurzem Studentenröckchen und rother Cerevismütze, mit langer Pfeife und mit einem Bierglas in der Hand. Und – gewiß und wahrhaftig, das war der leibhaftige Georg! Aber konnte er's denn sein, und wie kam er daher?

»Hört, in der Kav' da ist's dumpfig,« rief einer der andern Studenten, die noch in der Laube saßen, »tragt die Sitze heraus!«

»Aber mein Onkel …« sagte bedenklich ein dritter, der auch hervorkam.

»Ach was! Deinem Onkel ist's eine Ehr', wenn man fidel ist in diesem Trübsalsloch von einem Garten!« rief der zweite wieder, »marsch, heraus mit den Bänken!«

Und sie trugen einen Tisch und ein paar hölzerne Bänke an die einzige freie Stelle des Gärtchens, ganz nah unter Mariens Fenster, und fingen an zu singen, daß da und dort an dem Hinterfenster eines der umgebenden Häuser ein einsamer Kopf verwundert herausschaute.

Marie saß noch wie im Traum mit glühenden Wangen und hochklopfendem Herzen. Es war ja doch zu wunderbar, daß der Georg gerade hier sein sollte! Und sollte sie so nah, so ganz nah bei ihm sein, ohne daß er nur auch von ihr wüßte? Aber rufen konnte sie ihn doch nicht, wenn er nicht allein war. Jetzt gingen die andern wieder in die Laube zurück, um vergeßne Cigarren zu holen und – in diesem Augenblick, – sie hatte sich nicht lang besonnen, – fiel ein Strauß der schönsten Vergißmeinnichte gerade vor Georg nieder. Ueberrascht sah er hinauf, einen Augenblick, einen flüchtigen Augenblick noch sah er Mariens Köpfchen, die, glühend erröthet, beide Hände vor dem Gesicht, sich in der fernsten Ecke des Stübchens verbarg.

Ach, hätte ich das thun sollen? hätte ich das thun dürfen? Es war doch keck und zudringlich von einem Mädchen, Georg selbst muß mich ja verachten, wenn er mich erkannt, dachte Marie. Ohne langes Besinnen, in plötzlicher Erregung hatte sie die Blumen hinabgeworfen, als sie ihn allein sah, sie hatte an die Vergißmeinnichte gedacht, die sie als Kinder hatten den Bach hinabschwimmen lassen; nun aber, seit er sie aufgehoben, fühlte sie sich nicht mehr als Kind, sie war ein Mädchen, die sich nicht den Schatten eines unweiblichen Entgegenkommens verzeiht, – o hätte sie doch die Blumen wieder!

Da klopfte es leise an die Thür, – sie wagte nicht herein zu sagen, aber er kam doch, es war Georg, und so frisch und freimüthig bot er ihr die Hand, so fröhlich und freundlich sagte er: »Guten Tag, Marie, so! da oben steckst Du?« daß sie doch wagte ihr Köpfchen wieder zu heben und ihn zu grüßen. »Aber, Georg, wo kommst denn Du her? und wie kommst Du denn in das Gärtchen? und, – was hast Du von mir gedacht? Die Blumen, – ich weiß nicht, – sie sind mir so hinuntergefallen, – und – ich dachte, es wäre doch schad', wenn Du hier wärest und wüßtest gar nichts von mir …«

»Freilich, freilich, Mariechen,« sagte in beinahe väterlich tröstender Weise Georg, der sich an des Mädchens lieblicher Verwirrung weidete. Der Student, ohnehin ein wenig aufgeregt, sprach mit so viel mehr Leichtigkeit und Sicherheit als der Gymnasiast vor acht Monden. – »Ich wußte ja, daß Du hier bist, aber wie hätte ich Deine Madame, deren Namen ich nicht einmal mehr weiß, je auffinden können, wenn Du nicht so freundlich gewesen wärest, mir ein Zeichen zu geben; und daß wir uns so nahe waren!«

»Ja, wie kommst Du denn hieher?« fragte Marie, noch immer verwirrt.

»Siehst Du, heute Abend wird bekanntlich der Don Juan gegeben, das weißt Du vielleicht nicht einmal, Du Täubchen vom Lande; da bin ich denn mit einigen Freunden heute früh herabgehaudert, um die herrliche Musik zu hören, …«

»Aber das Gärtchen drunten, in dem doch nie ein Mensch war …?«

»Das gehört dem alten Herrn Archivrath, dem leiblichen Onkel meines Freundes, der so charmant war, uns alle vier einzuladen,« belehrte sie Georg in fröhlichem Ton. »Der alte Herr lebt allein und ist gichtkrank, so daß er selbst nicht viel mehr lustwandeln wird in seinem Gärtchen, da wir aber etwas reisemüd waren von der Fahrt des Morgens, und es zu heiß fanden zu einem weitern Ausflug, so beschlossen wir, in dem kühlen Gärtchen ein wenig zu kneipen. Da ward mir so ein lieblicher Gruß und …«

»Wissen sie's alle drunten?« fragte Marie, ängstlich und aufs Neue tief erröthend.

»Bewahre, Mariechen! ich allein hatte Dich gesehen, verbarg eilig mein schönes Sträußchen und sagte, daß ich noch einen Besuch machen müsse. Daß hier im Haus eine Dame wohnt, die Kostfräuleins hält, konnt' ich leicht erfragen, und da bin ich und habe Dich gefunden, meine liebe, herzige Marie!«

Der etwas burschikose Ton wich einer viel herzlichern, innigern Stimmung, wie er das liebliche Kind vor sich sah, so ganz allein, die in jungfräulicher Scheu und doch so herzlich und vertrauensvoll zu ihm aufblickte. Er setzte sich neben sie, erzählte ihr von seinem jetzigen Sein und Leben, von seinen Planen für die Zukunft, wie er bald hoffe, sie sein nennen zu können, er zog sie an sich und küßte ihre Lippen zum erstenmal.

Marie war in heimlicher Angst und stillem Herzklopfen, so glücklich sie war. »Du kannst nicht so da bleiben, lieber Georg,« sagte sie schüchtern, »wenn Frau Riederich kommt, oder Nane …«

»Nun, das Unglück wäre so groß nicht!« sagte Georg fröhlich, »bist Du nicht meiner Eltern Pathchen, also meine nächste Verwandte in gewisser Art? Wird Dich doch auch Dein leiblicher Vetter besuchen dürfen? Weißt Du was? komm den Abend ins Theater, ich begleite Dich heim, da gewinnen wir ein köstlich Plauderstündchen.«

»Ich bin noch nie am Sonntag im Theater gewesen,« sagte Marie zögernd, »ich glaube, die Mutter hätt' es nicht gern.«

»Gehst ja nicht dem Theater zu lieb, Schätzchen,« sagte Georg, »gehst mir zu lieb, der ich einmal Dein Herr und Gebieter sein werde; und zu Frau Riederich sagst Du, es sei blos wegen der schönen Musik, das sei so bildend.«

»Nein, Georg,« sagte Marie nach einigem Nachsinnen, »ich will nicht. Warum sollen wir heimliche Wege gehen, wenn wir bald offen einander gehören sollen; nicht wahr, Du gehst jetzt? lieber Georg!«

»Wie Du befiehlst, Madonna,« rief er lachend, glücklich trotz dem Scheiden. Bei der unvermutheten Begegnung hatte ihn Mariens Lieblichkeit überrascht; was er seither als einen Besitz angesehen, nach dem er nur die Hand auszustrecken brauche, erschien ihm nun auf einmal als ein begehrenswerthes Gut. »Leb wohl denn, Liebchen, auf Wiedersehen daheim!« sagte er und umschlang sie noch einmal. Marie blieb still, nur als er schon auf der Schwelle war, sagte sie, tief erröthend, mit leicht bebender Stimme: »Georg, wir sind allein beisammen gewesen und Du hast mich geküßt; das darf ich nur leiden von dem, dem ich eigen gehöre für das ganze Leben. Ich muß der Mutter schreiben, daß wir jetzt Braut und Bräutigam sind, obgleich sie's noch nicht gewollt hat; der liebe Gott gebe seinen Segen. Wir sind ja schon verlobt worden, wie ich in der Wiege war,« setzte sie leise, wie zu ihrem eigenen Trost, hinzu. Sie hatte seither in mädchenhafter Scheu die Augen gesenkt, jetzt erhob sie sie, sah Georg so recht tief und vertrauensvoll an und sagte: »Nicht wahr, Georg, Du hast es ernst gemeint?«

»Von ganzer Seele, Du liebliches Lieb!« rief er, überrascht von dem seltsamen Ernst des sonst so harmlosen Kindes, »ich wünsche nichts Besseres und Schöneres, als daß Du bald mein eigen wirst, je früher je lieber.« Er beugte sich noch einmal zu ihr, leise berührten Mariens Lippen die seinen, sie legte ihre Hand in die seine und sagte: »Lebe wohl.« Lange noch klang ihm der tiefe, süße Ton ihrer Stimme im Herzen nach.


Sechs Jahre waren hingegangen, seit Georg sein Bräutchen im Sturm erobert, und er wunderte sich, wie dem Erzvater Jakob seine sieben Jahre kurz hatten dünken können, ihm kamen die sechs gewaltig lang vor, und doch war er noch so jung! Die »ledigen Jahre,« sonst so sehr gerühmt, hatten manches Peinliche und Drückende für ihn gehabt; er sah dem eignen Herd mehr als einer Befreiung, denn als einer Beschränkung entgegen.

Bei seiner Mutter konnte er sich nicht mehr heimisch fühlen. Sie hatte freilich ein eigenes Zimmer in dem großen Gasthof, aber sie fand das Alleinsein langweilig und angreifend, weil, wie sie sagte, der Kummer noch so an ihr nagte. So hielt sie sich denn lieber in dem sogenannten Familienzimmer der Schwester auf, wo man in Gemeinschaft mit den »Kochjungfern,« jungen Fräuleins, die hier ihre Küchenstudien machten, leichte Geschäfte für Küche und Tafel besorgte und wo alte Stammgäste und junge Handelsreisende Zutritt hatten und die Damen mit mäßigem Aufwand von Geist unterhielten.

Er konnte nicht klagen über die Aufnahme bei seiner Tante, sie war stolz auf ihren stattlichen Neffen, er hatte sein Couvert an der Table d'hôte, er durfte das Zimmer des Herrn Kolb, eines langjährigen Hausgastes und soliden Handlungsreisenden, in dessen Abwesenheit einnehmen (und ein so reinlicher und geordneter Mensch war der Herr Kolb, wie die Tante versicherte, daß der Neffe sein Bett und Zimmer unverändert in Besitz nehmen konnte.) Aber trotz dieser Wohlthaten fühlte er sich nicht daheim und freute sich auf das Dachstübchen, das ihm in der Mühle aufbehalten war und dem Marie mit einigen Auktionseinkäufen des Vaters, einem alten Himmelsglobus, einem Kompaß und ein Paar Kupferstichen ein gelehrtes Aussehen gegeben.

So freilich fand er's in der Mühle auch nicht, wie bei seinem Freund, dem jungen Referendar, wenn der seine Braut besuchte, eine reiche Kaufmannstochter in der Stadt, wo seine Mutter wohnte. Dieser wurde stets mit besondrer Ehre empfangen, mit einem Festmahl begrüßt, machte Morgens Spaziergänge und Besuche mit der Braut am Arm, und Nachmittags fröhliche Lustfahrten, zu Wagen oder zu Schiff, mit dem ganzen Familienkreis.

Da ging's in der Mühle stiller zu: ein langer Brautstand ist auf dem Lande überhaupt selten und ein bräutlicher Verkehr wird da nicht günstig angesehen, was nicht eben für die Reinheit und Zartheit der Gesinnung bei den »harmlosen Bewohnern der Hütten« spricht.

So durfte Georg nicht viel anders mit seiner Braut verkehren, als wenn er nur der Pathe der Eltern, der Georg vom Tannenhof, gewesen wäre, er durfte Sonntags mit ihr zur Kirche wandeln ehrbarlich zwischen Vater und Mutter, auch einen Spaziergang mit ihnen machen durch Feld und Wiese. Einen einsamen Gang mit Marie gestattete die Mutter schon nicht gern: »Meidet allen bösen Schein, die Leute sind nun eben einmal so,« sagte sie entschuldigend. »Ihr könnt einander noch lang genug am Arme führen,« meinte der Müller. Zu gemeinsamen Fahrten mit der Braut und dem Schwiegerpapa, zu denen dieser zu Zeiten schon willig war, hatten Marie und Georg selbst weniger Lust, an dritten Orten wußte er sich dem Müller gegenüber nicht so in den rechten Ton zu finden.

Marie selbst blieb freilich die lieblichste Erquickung der Ferienzeiten, in der holdseligen Freundlichkeit, mit der sie ihn begrüßte, in der sorglichen Geschäftigkeit, mit der sie auf all seine Bedürfnisse Rücksicht nahm, und in der kindlichen Fröhlichkeit, mit der sie auch in seine lustige Studentenlaune einging, – nur Zukunftsplane wollte sie nicht mit ihm ausmalen, wie schön er auch zu schildern wußte, wie dereinst die Frau Doktorin im traulichen Stübchen daheim ihn erwarten werde, wenn er von nächtlichen Reisen heimkehre, oder wie lustig sie mit einander im eigenen Chaischen über Land fliegen würden; – sie schüttelte leise den Kopf dazu: »Lieber nicht so vorausdenken!« bat sie, »ich meine sonst, es komme gar nicht zum Ziel. Wenn ich so weit denken will, so ist mir's, wie wenn ein schwarzer Strich mitten durchgemacht würde und ich muß immer weinen.«

Die Studienzeit hatte in einem guten Examen ihren Abschluß gefunden, aber die Abhängigkeit von dem Müller, die ihm immer peinlich gewesen, war damit noch nicht zu Ende.

Wie viel Mühe hatte Georg gehabt, dem Vormund begreiflich zu machen, daß es gut und nöthig für ihn sei, nach Vollendung seiner Studien zu reisen. »Kann mir nicht recht denken, zu was selbiges dienen soll,« sagte der Müller bedächtig. »Ich laß mir's gefallen, wenn ein Handwerksbursch reist, will sagen ein Schuster oder ein Schreiner, der sieht allenthalben wieder eine neue Mode, eine andere Manier, wie sein Handwerk betrieben wird, ein geschickteres Holz oder ein besseres Leder, das er dann verwenden kann, wenn er wieder heim kommt. Krankheiten herentgegen sind immer das nämliche, und wie man sie curiren soll, das lernt man ja auf der Universität und hernach eben, wenn man's selber probirt. Wenn einer zum Beispiel in Berlin einen Fuß bricht, so muß er akkurat so eingerichtet werden, als ob er ihn in meiner Mühle gebrochen hätte, nur daß der eine Doktor oder Chirurg eine geschicktere Hand hat, als der andere, da thut aber das Reisen nichts dazu. Unser alter Barbier Mauser drüben, der richtet gebrochene Glieder ein, wie keiner, am allerbesten, wenn er einen Rausch hat, und der ist nicht zum Ort hinausgekommen.«

»Aber die innerlichen Krankheiten, Fieber und dergleichen, treten in anderen Gegenden oft in verschiedener Gestalt auf,« sagte Georg ungeduldig.

»Hilft Dir wieder nichts,« entgegnete phlegmatisch der Müller, »denn gesetzt den Fall, ein Nervenfieber in Paris sei anders, als eins bei uns, was nutzt das Dich, wenn Du doch vaterländische und keine Pariser Nervenfieber kuriren sollst.«

Endlich hatte sich der Müller doch bereden lassen und hatte dreihundert Gulden zur Reise verwilligt, »ein Heidengeld,« mit dem man nach seiner Meinung sollte bis an's Ende der Welt reisen können; daß das nur zu ein Paar Monaten in Wien ausgereicht hatte, wollte er nun und nimmermehr begreifen, er war doch auch gereist seiner Zeit und das nicht schäbig.


Nach seiner Rückkehr wollte Georg sein Heil als Praktikus in einer kleinen Stadt versuchen. »Sobald Du Dein eigen Brod ißt, sobald Du als lediger Mann von Deinem Einkommen auch nur zweihundert Gulden jährlich zurücklegen kannst, sobald kriegst sie,« sagte ihm der Müller; »wenn's dem Mann wohl sein soll in seinem eignen Haus, so muß er wissen, daß er sein Weib ernährt. Was mein Mädchen einmal mitbringt, das wirst doch nicht wegwerfen und wirst froh daran sein, aber wissen muß ich vorher, ob Du sie auch ohne mich erhalten kannst.«

Marie war kein Kind des Dorfes in dieser Beziehung. Es fiel ihr nicht ein, sich deshalb einen Werth beizulegen, weil sie ein reiches Mädchen war. Georg stand in ihren Augen so hoch, seine Liebe erschien ihr als ein so wunderbares Glück, daß alles, was sie dagegen bieten konnte, ihr gering und klein vorkam.

Der Müller hätte am liebsten gehabt, wenn Georg in der allernächsten Stadt sein Heil als Praktikus versucht hätte. Die verwandtschaftliche Liebe auf dem Land, die in der Regel ganz und gar keinen sentimentalen Charakter hat, hat etwas Pflanzenartiges, sie kann kein Lostrennen ertragen: aus demselben Haus, aus dem man erst noch die gröbsten Schimpfwörter gehört, mit denen sich die nächsten Angehörigen beehren, ertönt ein herzzerreißendes Jammergeschrei, wenn die Tochter mit ihrem Neuvermählten etwa zwei Stunden weit wegzieht.

Bei dem Müller, dem sein Töchterlein wirklich seiner Augen Licht und seines Herzens Freude war, war es um so natürlicher, daß er wünschte, sie nahe zu behalten; er machte auch Georg den Vorschlag, eine Zeit lang ganz in der Mühle zu bleiben, unter den vielen Mahlkunden stoße doch da und dort einem etwas zu, und er könne sich da so ganz beiläufig eine gute Praxis in der Gegend erwerben. Georgs Wunsch war das gerade nicht. Er war zwar nicht so anspruchsvoll wie jener Lieutenant, der nur so weit weg heirathen wollte, daß der Brief an seine Schwiegermutter einen Thaler koste, doch wünschte er keine zu unmittelbare Nähe seines Schwiegervaters; er fürchtete, sonst gar nicht aus der Vormundschaft zu kommen. Zwar war der Müller ein gescheidter Mann, führte auch öfters als Diktum seines Vaters an: »man kann den Leuten fast bei allem helfen, aber Hausen und zäh Fleisch beißen, das muß man die Leute allein thun lassen;« aber ganz, fürchtete doch Georg, könnte er nicht unterlassen, einen jungen Haushalt einmal nach seiner Anschauung leiten zu wollen.

Auf den Rath seines Freundes, der nun als Aktuar seine Braut heimführte, hatte er sich denn in der kleinen Stadt Pulverdingen niedergelassen, die Verhältnisse sollten dort gar nicht ungünstig sein: der Oberamtsarzt war vornehm und stand nicht bei Nacht auf, der Wundarzt, der auch prakticire, sei sehr grob, was bei alten Aerzten zwar zu Zeiten eine geschätzte Eigenschaft ist, bei jungen aber doch nicht gerade empfiehlt; auch waren stehende Wasser in der Nähe, was öfters Fieber erzeugt, ferner lag ein Judendorf im Bezirk, und Juden gelten für überaus wünschenswerthe Kunden für einen Arzt, da sie sich sehr vor dem Sterben fürchten und deshalb bald ärztliche Hilfe suchen, und nicht zu Quacksalbern gehen.

Unter so günstigen Auspicien bezog denn Georg zwei bescheidne Zimmer im Hause eines Kaufmanns und bot im Pulverdinger Wochenblatt dem verehrten Publikum, – hoher Adel war nicht vorhanden, – seine Dienste an.

Ach, aber das verehrte Publikum war gar nicht beeilt, diese schätzbaren Dienste in Anspruch zu nehmen! Es schien, als ob sich der Gesundheitszustand zu Pulverdingen ohne ärztliches Zuthun wesentlich gebessert habe, als ob der vornehme Arzt leutselig und der grobe fein geworden sei, – – niemand pochte an die Pforte des jungen Arztes, als die Magd, wenn sie sein Frühstück brachte.

Er hatte, ebenfalls auf den Rath seines erfahrenen Freundes, einen grinsenden Todtenschädel und ein Paar schauerliche Armknochen auf seinem Büchergestell aufgepflanzt, um seinem Zimmer ein recht ärztliches Ansehen zu geben, er blieb den ganzen Tag zu Haus, damit er gewiß zu finden sei, er ging Abends regelmäßig in den Stern, wo die Honoratioren der Stadt ehrbarlich kneipten, um sich bekannt zu machen, – vergeblich. Zwar unterhielt ihn Jedermann, mit dem ihn sein Geschick zusammenführte, äußerst freigebig von seinen körperlichen Beschwerden: der Oberamtsrichter von seiner Gicht, der Gerichtsnotar von seinem Magen, der Kameralverwalter von seiner Leber, Frau Mezger, seine Hauswirthin, regalirte ihn nicht nur mit der Geschichte sämmtlicher Krankheiten und schweren Wochenbetten, die sie selbst durchgemacht, sondern auch mit allen abnormen Zuständen und schrecklichen Operationen, die bei ihren »Geschwistrigkindern« und sonstigen Familiengliedern schon vorgekommen seien, – aber, was half's ihm, daß er sehr sachverständig und theilnehmend über diese Leiden sprach, – die Leute hörten seine Vorschläge herablassend an, hatten selbst wohl die vorgeschlagenen Mittel gebraucht; rufen ließ ihn kein Mensch, und manch offene Seele sagte ihm geradezu, es sei eben unmöglich, sich mit dem Oberamtsarzt zu verfeinden, wenn man auch mehr Glauben an einen jungen Doktor hätte. Auch die Juden, auf deren Todesscheu man so viele Hoffnungen gebaut, wollten sich nicht einfinden; mit der ihnen eigenen Loyalität hielten sie denn doch den obrigkeitlich angestellten Oberamtsarzt für den sichersten, und Georgs einzige Patientin war nach Monaten noch die Ladenjungfer der Frau Mezger, ein älteres, etwas unterdrücktes Frauenzimmer, die ihn eines Morgens um Erlaubniß gebeten hatte, ob sie ihm nicht »ihre Leidenschaften offeriren dürfe?« die seine Salbe gegen den Fluß im Fuß mit großer Pietät gebrauchte und ihm als Honorar die Henkel an seine Röcke und Knöpfe an die Beinkleider festnähte.

Georg fühlte sich sehr gedrückt von dieser Lage der Dinge, er sah sich im Stillen nach einem andern Ort um und machte nicht gern Besuche in der Mühle, so sehr ihn oft verlangte, in Mariens treue Augen zu sehen. Marie fragte ihn nie, wie es gehe, sie hatte stets ein fröhliches Lächeln, eine kleine Ueberraschung für ihn bereit und beruhigte ihn über jedes Mißlingen; aber der Müller brachte ihn fast außer sich mit der jedesmaligen Frage: »Nun, wie viel Patienten? will's noch nicht gehen?« Die Mutter wußte stets ein tröstliches Sprüchlein, der dicke Christian hingegen, allmählich ein großer Bengel geworden, erhielt vom Schwager eine tüchtige Ohrfeige, als er ihn mit dem Schulverslein verhöhnte:

Doktor, wenn D' kuriren mußt,
Brich der z'erst Dein' eignen Fuß.

Er hätte freilich jetzt die schönste Muße zu wissenschaftlichen Arbeiten, zu allgemeinen Studien gehabt, – aber es fehlte der rechte Trieb, die rechte Freudigkeit dazu. Nur sehr wenige und besonders berufene Geister finden Freude und Lust zu geistigem Streben und Schaffen ohne den Boden eines festen Berufs, ohne unmittelbaren Zweck, auch diese vielleicht nicht, wenn sie zunächst das Verlangen nach Unabhängigkeit und einer eignen Heimath umtreibt. Ja, mit Marien freute er sich, einmal seine Lieblingsdichter zu lesen, mit ihr, die für das einfach Schöne einen so offnen Sinn hatte, – jetzt, so allein, fand er keine Freude daran, und sein Zimmer war so langweilig, so wenig anregend, mit alleiniger Aussicht auf Dächer; er ärgerte sich über sich selbst, daß er in der Stille fortwährend auf Patienten wartete, – kurz er wurde jeden Tag verdrießlicher und minder liebenswürdig. Die Müllerin hatte gut predigen:

Thu das Deine und wart in der Still.
Zur rechten Stund g'schieht Gottes Will.

Die saß ruhig in ihrer Mühle und war froh, ihr Töchterlein noch zu haben, er aber, ein Mann, seiner Kraft und seiner Kenntnisse sich bewußt, er sollte müßig dasitzen, elenden Philistern den Hof machen und sich wie ein Schuljunge die Kreuzer vorzählen lassen, denn er war noch nicht mündig und wußte nicht einmal genau, wie es um sein Vermögen stand.


Er besuchte seine Mutter wieder einmal; er wollte sehen, ob sich nicht vielleicht in der größern Stadt etwas machen ließe, etwa mit der Protektion der Tante Gastwirthin, – er lachte höhnisch über seine eigene Geringheit. Er traf die Mutter in seltsamer Aufregung und konnte sich ihr Wesen nicht recht erklären; zärtlicher als sonst in den letzten Jahren, schien sie doch eine gewisse Scheu vor ihm zu haben und womöglich zu verhindern, daß er mit ihrer Schwester allein blieb. Es war ihm lieb, daß sie ihn nach Tisch bat, mit ihr spazieren zu gehen, was sonst nicht ihre Gewohnheit war; bei der Mutter konnte er doch wenigstens sein Herz ausschütten über alles, was ihm drückend und verdrießlich war, er mochte das nicht einmal bei Marie.

»Nun bedenk, wie erstaunlich jung Du bist,« tröstete ihn auf seine Klagen zu seinem abermaligen Verdruß die Mutter. »Müßtest ja noch Altersdispens haben, wenn Du jetzt schon heirathen wolltest! Pressir's doch ja nicht, lieber Georg, die Marie ist mir lieb wie ein eigen Kind, aber jetzt ist's doch Deine beste Zeit, die Sorge und Mühsal des Ehestandes kommt früh genug.«

»Ei, Du hast's gut gehabt, Mutter,« warf Georg ein.

»Wenn's köstlich gewesen ist, so ist's Mühe und Arbeit gewesen,« erwiederte Frau Rau salbungsvoll: »ja, in späteren Jahren,« setzte sie mit einer gewissen Verlegenheit hinzu, »da spürt man oft, daß man eine Prüfung nöthig hat durch den Ehestand, aber so jung wie Du, da darf man ja in andern Ständen noch gar nicht an's Heirathen denken, laß Du Dir's nur noch recht wohl sein: ›Ledige Haut schreit laut.‹« Georg schrie nicht laut, er schwieg verdrossen.

»Es ist eben betrübt, wo kein Vater ist,« begann die Mama wieder mit einem Seufzer. »Wenn Du jetzt zum Exempel einen Vater hättest,« – hier ging's etwas zögernd, »und wenn's auch nicht dein leiblicher wäre, – einen gesetzten Mann, der Bekanntschaft in der Welt hat – und mehr Einsicht als der Müller, welcher ja übrigens ein rechtschaffener Mann ist, – der würde gewiß ein paßlicheres Ort für Dich auffinden …«

»Na, dazu braucht's keinen Vater,« murrte Georg, noch immer verdrossen, »muß es eben wo anders probiren.«

»Georg,« fing jetzt die Mutter ohne weitere Umschweife an, »was wirst Du dazu sagen, daß ich den Entschluß gefaßt habe, mir noch einmal einen Lebensgefährten zu erwählen?« Georg sagte gar nichts, besonders erfreut sah er gerade nicht aus. »Du glaubst nicht, wie schwer ich es genommen habe,« versicherte die Mutter, – Georg hatte doch so viel Selbstbeherrschung und kindlichen Respekt, um nicht herauszuplatzen: »warum hast Du's denn nicht bleiben lassen?« wie ihm allerdings auf der Zunge lag.

Trotz der nicht sehr ermuthigenden Aufnahme ihrer Mittheilung begann Frau Rau wieder in etwas kläglichem Ton: »Du glaubst nicht, wie allein und schutzlos eine Wittfrau eben in der Welt steht, und wie der Kummer um Deinen Vater an mir genagt hat; ich wäre wahrhaftig noch ausgezehrt, der Doktor sagte es selbst, wenn ich mich nicht zu einer kleinen Zerstreuung entschlossen hätte. Und der Herr Kolb ist auch so ein gesetzter, braver Mensch,« versicherte sie, immer noch in einem klagenden Ton, »gar nicht wie so ein junger Schuß, kein Mensch würde ihm ansehen, daß er etliche Jahre jünger ist als ich, und da ist die schöne Gelegenheit, ein Weißwaarenlager billig zu übernehmen, wo der Eigenthümer durchgegangen ist, und Du wirst gewiß nichts dagegen haben, uns Dein Restchen Väterliches in der Handlung zu lassen, wenn Du vollends mündig bist; es wird Dir da gut verwaltet, und eine Heimath hast Du dann auch wieder bei Deiner Mutter, und Du machst mir gewiß das Herz nicht noch schwerer, wo ich es ohnehin so gar schwer genommen habe. Ein ehrenvoller Stand ist es doch auch, ein Kaufmann; Gutsbesitzer nennt sich jeder Bauer; nicht als ob ich Deines Vaters Gedächtniß nicht hoch in Ehren hielte!« Der Athem ging ihr endlich aus von der langen Rede, und sie hielt, mit oder ohne Nothwendigkeit, ihr Taschentuch vors Gesicht, als passenden Schluß der Mittheilung.

»Mutter,« sagte Georg nach einer Pause, »Du hast gewählt. Gott gebe, daß Du gut gethan hast, ich wünsche Dir von Herzen Gottes Segen; um das Geld werde ich nicht mit Dir rechten, möge es Dir Glück bringen! Aber jetzt rede nicht mehr davon, ich muß Zeit haben, mich daran zu gewöhnen.«


Georg wartete Herrn Kolbs Rückkehr nicht mehr ab, der nach Haus gereist war, um seine Papiere zur Hochzeit zu holen, von der Mutter schied er in Frieden, es that ihm wohl, sich uneigennützig gegen sie zu zeigen: so hatte ihn doch die letzte Zeit nicht ganz heruntergebracht! Aber um ein gut Theil ärmer kam er sich doch vor, als er wieder heimwärts reiste, wenn auch nicht wegen des Vaterguts, das er dem Herrn Kolb anvertrauen sollte.

Es wurde ihm schwer, die Neuigkeit in der Mühle mitzutheilen, der Müller war nicht sehr überrascht darüber; »wundert mich nur, daß sie so lange gewartet hat,« sagte er gleichmüthig, »eine Wittfrau, die freiwillig in ein Wirthshaus zieht, die hat schönes Wiederheirathen im Sinn; habe bereits davon gehört, und der Kolb soll kein unrechter Mann sein.«

»Nun ist's an mir, des Vaters Gedächtniß lebendig und in Ehren zu halten,« sagte Georg, nicht ohne Bitterkeit, »wenn die Mutter einen andern Namen führt.«

»Wegen dem hab Du gute Ruh,« sagte lachend der Müller, »alles was Dein Vater Gut's gehabt und nicht gehabt, wird reichlich auferstehen und gehörig gerühmt werden, wenn sie einmal den Zweiten hat! »Nimm keine Wittfrau,« hat mein Vater selig gesagt, »wenn nicht der erste Mann am Galgen gestorben ist.«

»Wir wollen's der Mutter gönnen, wenn sie zufrieden ist,« sagte Marie, die sich selbst erst hatte an den Gedanken gewöhnen müssen. Die Müllerin war diesmal allein weniger tolerant, sie murmelte vor sich hin: »der jungen Wittwen aber entschlage Dich! und wie es weiter heißt ersten Timotheum am fünften, Vers elf!« doch wollte sie nichts laut sagen, was dem Sohn den kindlichen Respekt vor der Mutter nehmen konnte.

»Wegen dem Vermögen will ich, als Dein Pfleger, einige Sicherheit verlangen, und ist um so besser, daß Du noch nicht ganz mündig bist,« sagte der Müller; »verfeinden kannst Du Dich mit Deiner Mutter und dem künftigen Stiefvater nicht wegen dem Geld, zugereicht hätt's doch nicht, hast um so nöthiger, Dich tüchtig zu tummeln, daß Du Dein eigen Brod hast; gesetzt den Fall, unsre Marie käme einmal zu Dir ins Haus, so bringt sie auch soviel mit, daß Du sie damit erhalten kannst.« Der Müller wollte nie die Verlobung recht ausdrücklich anerkennen, ein so lang dauerndes Verhältniß widersprach nun einmal seinen ländlichen Anstandsbegriffen; es schickte sich nicht, so lang »einander nachzulaufen.«

Marie redete nicht viel darein, ihre Augen waren die besten Tröster. »Mutter, heute begleit ich Georg bis zum Weidenbusch,« sagte Marie sehr bestimmt, als sich Georg am andern Morgen zur Abreise rüstete. Sonst hätte sie schüchtern um Erlaubniß gebeten, ihn auch nur zwanzig Schritte weit zu begleiten. Als sie aus dem Gesicht der Mühle waren, gab er ihr seinen Arm; mit tiefgesenktem Haupt ging sie still und langsam an seiner Seite.

»Nun, Marie, was hast Du? warum so traurig? wir haben ja leider Gottes! oft genug schon Abschied genommen!«

»Ich weiß nicht,« sagte sie und erhob ihre Augen zu ihm, die voll Thränen standen, »es ist mir, als ob das ein Abschied wäre zum allerletztenmal, als ob wir uns gar, gar nicht mehr sehen sollten; ich habe auch heut Nacht so schwer geträumt …«

»Ach, Kindskopf!« sagte er leicht hin; Marie redete nicht, sie fühlte, daß sie hätte weinen müssen. »Nun, kein Wunder,« fing Georg wieder an, »wenn Du heruntergestimmt wirst, es ist freilich eine miserable Geschichte dieses lange Herumziehen, und Dein Alter – nun Dein Vater, – brauchst mir nicht so ängstlich die Hand zu drücken, – könnte wohl besser dazu helfen. Thäte bald Noth, ich spränge jedem Kaffern, der ein bischen ein krummes Gesicht macht, mit einem Arzneiglas nach und klopfte an die Thüren, ob kein Kranker drin sei, nur um Patienten zu gewinnen! Sei aber nur getrost, Kind, geht's da nicht, so muß es wo anders gehen; gib Acht, ich komme doch noch in der Kutsche und hole Dich!«

Sie waren an dem Weidengebüsch angekommen, wo der Weg auf die Landstraße führte. »Komm, bleib noch ein wenig!« bat Marie, und setzte sich mit ihm auf die hölzerne Ruhbank, die bei den Büschen stand. Zum erstenmal seit jenem Abende in der Pension lehnte sie ihr Köpfchen an seine Brust und sah ihn voll an mit den treuen, klaren Augen, die ganz in Thränen standen.

»Aber Kind, was hast Du?« fragt er, seltsam bewegt.

»O nichts, ich möchte Dich nur noch einmal so recht ansehen; lach mich nur nicht aus!« Und recht tief und innig blickte sie zu ihm auf, ihre Augen sagten so viel mehr, als je ihre Lippen hätten sagen können.

Georg theilte ihre bangen Ahnungen nicht, er hatte den Druck und die Verstimmung von all der letzten Zeit her noch nicht ganz überwinden können, so wußte er kaum, was er thun sollte, sie zu beruhigen, denn viele Zärtlichkeit, was man so nennt, mit Küssen und Umarmungen, hatte Marie nie geliebt: sie mochte gern neben ihm sitzen, ihre Hand in der seinen ruhen lassen, ihn herzlich ansehen; wo er ungestümer ward in seiner Zärtlichkeit, da schob sie ihn leise zurück und bat so dringend, so demüthig: »o nicht so! nicht wahr? Du weißt ja doch, daß ich Dich lieb habe,« daß er nicht widerstehen konnte, und das einfache Kind aus der Mühle hatte ihn seither in Respekt gehalten wie eine Königin.

Nun stand sie auf; »es wird spät, Du mußt gehen, behüt Dich Gott.« – »Behüt Dich Gott und behalte mich lieb,« waren sonst immer ihre Abschiedsworte in den kurzen Briefchen, die sie nur schrieb, wenn es besondere Veranlassung gab; den Nachsatz ließ sie diesmal weg; warum? Georg besann sich nicht darüber, aber später, lange nach diesem Morgen, fiel es ihm wieder ein.


Kurz nach seiner Rückkehr hatte Georg den Freund gesprochen, der ihm den erfolglosen Rath gegeben, sich in Pulverdingen niederzulassen, und ihm erklärt, daß er keine Woche mehr in dem Nest bleiben wolle.

»Ei was,« meinte der, »Du bist zu obenhinaus und zu vornehm, das darf einmal ein Anfänger nicht sein.«

»Vornehm,« lachte Georg bitter, »habe, weiß Gott, diesen Philistern nur zu viel den Hof gemacht!«

»Nun, in der Stadt hält's schwer, sie sind feig und fürchten den dicken Oberamtsarzt, wiewohl ich Dir sage, der wird nicht alt, sieh nur seinen kurzen Hals an; der stirbt am Schlagfluß, dann würde Dich's schön reuen, daß Du nicht dageblieben. Such Du vor der Hand mehr Landpraxis; geh mir nur ein einzigmal hinaus nach Grundlingen, da hab ich Dich kürzlich der Wirthin empfohlen und sie meinte, der Stadtarzt sei ihr schon lang entleidet, auch glauben die Leute, der müsse theurer sein, weil er so viel esse und noch zwei starke Gäule erhalte. Wenn ein jüngerer und dünnerer Herr hinaus käme, so von selbst, ohne daß man ihn besonders rufen ließe, so würde er gewiß Kundschaft bekommen. Probir's einmal, spaziere hinaus, kannst gleich die Villa unterwegs betrachten, und kehr im Adler ein.«

Georg ging hinaus; es war ein herrlicher Morgen, duftig, thauig und frisch, so recht um fröhlichen Muth für den Tag anzuregen, – er empfand nichts davon. Er wollte sich selbst weiß machen, er gehe nur so hinaus für sein Vergnügen, da er noch selten diesen Weg gemacht, und er wolle sich die Villa besehen, die unweit von Grundlingen neu hergestellt werden sollte, – er glaubte sich's doch nicht und wurde den peinlichen Gedanken nicht los: »Du gehst hinaus, um bei der Adlerwirthin von Grundlingen nach Kundschaft zu fischen.«

Er sah die neuhergestellte Villa etwa eine Viertelstunde ab vom Weg, – er ging nicht hinüber; »deshalb bist Du ja doch nicht da,« sagte er sich mit einer gewissen selbstquälerischen Bosheit. Das Gebäude hatte früher das Schlößchen geheißen und war im Besitz einer altadeligen Familie gewesen. Der letzte des Geschlechts, ein geiziger, cynischer Hagestolz, hatte es verfallen und verderben lassen und war endlich darin gestorben. Einer spanischen Gräfin von einer Seitenlinie war nun das Schloß zugefallen, wie man sagte; es war ein Baumeister mit Arbeitsleuten gekommen, die das alte Fledermausnest von Grund aus reinigten, neu und glänzend herstellten, obgleich noch ganz ungewiß war, ob die neue Besitzerin es je selbst beziehen würde; seither hatten es die gebildeten Stadtbewohner die Villa getauft. Die landschaftliche Umgebung des Schlößchens war nicht bedeutend, aber es hob sich anmuthig aus den alten hohen Bäumen, die es umgaben, in den neueingefügten gothischen Fenstern spiegelte sich die Morgensonne, vom Eckthurm wehte eine Flagge. »Nun ja, das ist nun Einem im Schlaf zugefallen,« dachte Georg in höchst unberechtigtem Aerger, und »ich kann noch zehn Jahre umherstiefeln um das tägliche Brod.«

Die Wirthin zu Grundlingen erkannte ihn, sie hatte ihn schon mit seinem Freund gesehen. »Sie kommen ja wie gerufen, Herr Doktor,« sagte sie freundlich, indem sie ihm den verlangten Schoppen einschenkte, »mein Karlchen liegt seit gestern in Einer Hitze, ich weiß nicht, was an dem Buben ist, und hätte gern schon einen Doktor gefragt, aber wissen Sie, zu einem Doktor mit Kutsch und Pferden schickt man nicht gern zwei Stunden weit wegen so einem Buben; nun stärken Sie sich nur und sind dann so gut und sehen Sie nach ihm, in der Küche haben sie auch allerlei Anliegen, meine Bäbel und der Hausbub; wenn Sie doch schon da sind, so schauen Sie nachher auch nach ihnen.«

Das Karlchen lag sehr betäubt und heiß da, der junge Doktor fühlte ihm den Puls, betrachtete die Zunge, schloß auf ein nahendes Scharlachfieber und da die Wirthin durchaus eine »Mixtur« für das Büblein wollte, bat er um Feder und Papier, um zunächst ein schweißbeförderndes Mittel aufzuschreiben.

Kaum war er fertig, als die Magd höchst aufgeregt hereinstürzte: »Frau, was fangen wir an! Der Dick' ist drunten ang'fahren, da der recht' Doktor aus der Stadt, der unsern Herrn selig kurirt hat, bis er g'storben ist, und jetzt ist ein Andrer drin! was fangen wir aber an? er schnauft schon d'Stieg 'rauf?« Auch die Wirthin schien in großer Verlegenheit: »Herr Doktor,« bat sie eilig und ängstlich, – »wenn Sie vielleicht nichts dagegen hätten, – da neben hinein, – 's ist zwar nur unser Rauchkämmerlein, – aber man wird nicht rußig darin, – es könnte doch Verdruß geben –« »Danke, ich werde bleiben,« sagte Georg sehr bestimmt. Angesteckt von der allgemeinen Hast wäre er beinah einen Augenblick in Versuchung gekommen, in das Rauchkämmerlein zu flüchten.

Sehr vornehm, sehr dick und sehr schnaufend trat in diesem Augenblick der gefürchtete Oberamtsarzt herein. »Ich höre, Sie haben einen Patienten; ah,« sagte er mit vornehmem Lächeln, »da sind der Herr Kollega! Bitte, will ja nicht stören, haben ja bereits verordnet. Sie erlauben?« Mit derselben unverschämt ironischen Miene legte er das Recept wieder hin und sagte: »charmant, wollen wünschen, daß es beste Wirkung thut. Der Herr Kollega wollen auf Schweiß wirken, rechnen, scheint's, auf eine starke Natur; ist dem Herrn Kollega vielleicht in seiner jungen Praxis noch nicht vorgekommen, daß bei Fieber zu stark schweißtreibende Mittel absolut tödtlich wirken können?« – Die Mutter des Doktors war vor Zeiten Kammerfrau an einem Hof gewesen, sein Vater Leibchirurgus daselbst, weßhalb sich der Doktor beharrlich einbildete, feine Hofsitten zu haben.

»Bitte Ihnen, Herr Doktor,« bat die Wirthin, in tödtlicher Verlegenheit hin- und herlaufend, »es war nur ganz zufällig, der Herr Doktor Rau haben …« Innerlich kochend vor Aerger, zerriß Georg seine Verordnung und warf der Wirthin ein Halbguldenstück für die Zeche hin; »ich bin weit entfernt, ältern Rechten entgegenzutreten,« sagte er, sich mühsam bezwingend, »guten Tag.«

»Thut mir leid, Herr Kollega,« sagte der dicke Doktor, der vor der Thüre stand, mit der kühlen Ruhe des Weisen, die einen Erzürnten geradezu wüthend machen kann; »bedaure, daß ich Sie nicht einladen kann, mit mir zurückzufahren, aber mein Freund, der Arzt des spanischen Gesandten, hat mich gebeten, mich der Frau Gräfin Rovera vorzustellen, die in diesen Tagen wahrscheinlich ihre neue Villa bezogen hat. Ich wollte nur zuvor meine Pferde hier füttern, wo ich leider den Herrn Kollega gestört habe.«

»Ganz und gar nicht,« brachte endlich Georg hervor ohne vor Aerger zu ersticken und machte sich mit einer stummen Verbeugung Platz zur Thüre hinaus und die Treppe hinunter, wo er noch glaubte, die Mägde und den Bedienten des Doktors hinter sich kichern zu hören; hinaus zum Dorf, wo er zufällig auf die rechte Straße kam, – ihm wäre in diesem Augenblick gleich gewesen, wenn er den großen Steinbruch auf der andern Seite des Dorfs hinunter gerannt wäre.

Die Gedanken voll tiefer Herzensbitterkeit, mit denen er heimwärts schritt, rasch und eilig um von dem verhaßten Doktor nicht eingeholt zu werden, ließen sich schwer in Worte fassen. Sein Aerger über den Freund, der ihm den fatalen Rath gegeben, über sich selbst, der ihn befolgt, über den Dicken, über die Wirthin, – erweiterte sich zum Aerger über die Menschheit im Allgemeinen und über die ganze Miserabilität ihrer Verhältnisse. Selbst der Gedanke an Marie verstärkte nur seinen Haß über die Erbärmlichkeit, in der auch dies liebe Kind zu Grunde gehen müsse. »Kannst Recht gehabt haben, mit Deiner Ahnung,« murmelte er vor sich hin; wer weiß, ob ich nicht in Bälde der ganzen elenden Geschichte ein Ende mache, mein eigner, bestkurirter Patient!«

Rasches Pferdegetrappel trieb ihn instinktmäßig, schnell zur Seite zu springen im Augenblick, wo er die schönste Gelegenheit gehabt hätte, sich überreiten zu lassen und so vielleicht mit Einemmale der ganzen Miserabilität los zu werden.

Eine junge Dame auf einem prachtvollen schwarzen Roß sprengte vorüber; lang herab floß das dunkle Reitkleid, mit schwarzem Sammt ausgeschlagen, auf dem schwarzen Hütchen wehte eine hochrothe Feder, im Fluge glaubte er ein wunderschönes junges Gesicht, von schwarzen Locken umwallt, zu erkennen, – aber sie war vorüber wie ein Traum, ein wunderbarer, feenhafter Traum.

Ein minder traumartig aussehender Reitknecht folgte im flinken Ritt der Fee, die ihn weit hinter sich ließ. Aus dem leichten Wagen mit weißen Rossen bespannt, der nachfuhr, beugte sich ängstlich eine verschleierte Dame, und eine Dienerin vom Rücksitz stieß in fremder Sprache einen Schreckensruf aus.

Wie ein Traum war die glänzende Erscheinung verschwunden, so ungewohnt in den nüchternen, hausbacknen Umgebungen der kleinen Stadt.

Unwillkürlich hatte der Anblick der leuchtenden Gestalten Georgs Aerger etwas abgekühlt, aber ein tiefes Grollen stieg wieder in ihm auf, im Gedanken, daß alle Schönheit und Poesie des Daseins denn doch an den Besitz, den leidigen, materiellen Besitz gebunden sei. »Glück und Liebe in der Hütte ist ein lächerlicher Traum,« fuhr er fort in seinen bittern Betrachtungen; »dasselbe Gesetz, das dem Sumpfkraut nicht gestattet, sich zur königlichen Höhe der Pappel zu erheben, nach dem sich der Vogel frei und leicht in den Lüften wiegt, während der Hamster im Boden wühlt, dasselbe gilt auch in der Menschenwelt und hat die Loose abgegrenzt. Muß ungemein leicht sein, edel zu sein und feinfühlend, auch sanft und heiter, wenn man in einem solchen Wagen hinfliegt,« – murmelte er; »es gibt freilich auch eine tugendhafte Zufriedenheit, eine bescheidene Art von Vergnügen für den Wurm, wenn er sich ringelt im Sonnenschein, und für den Frosch, wenn er quackt im Sumpfe, – ich bin dazu nicht organisirt.«

In vollem Galopp sprengte ein Reiter ihm entgegen. Es war der Reitknecht von vorhin. »Ist nicht ein Doktor von der Stadt diesen Weg gefahren?« rief er in höchster Eile. »Dort, gegen den Hof zu;« sagte Georg lakonisch und deutete nach der Richtung. »Kann ich ihn nicht verfehlen?« rief der Diener angstvoll, »unsere Comtesse ist gestürzt und liegt im Sterben.« »Führt mich rasch hin,« sagte Georg, im natürlichen Drange zu helfen, alles andre vergessend; »ich bin selbst Arzt, Ihr könnt den Andern doch noch holen.« »Können Sie reiten?« fragte der bedrängte Diener. »Will's meinen.« Der Diener stieg ab und half ihm aufs Pferd, »grad aus auf der Landstraße, kann nicht fehlen; – ich komme nach.«

Georg hatte seine ersten Reitstudien vor Zeiten in der Mühle gemacht und als Student nicht vernachlässigt. Er durfte nicht zu weit reiten, – an der Stelle, wo sich der Weg gegen die neue Villa wandte, da lag die Feengestalt, die er so eben bewundert und beneidet, den blutenden Kopf, der beim Sturz vom Pferd auf einen Steinhaufen geschleudert worden war, auf dem Schoß der Kammerfrau, das lange Reitkleid im Staub der Straße, das Hütchen mit der hochrothen Feder weit weggeflogen, das schöne junge Antlitz todtenbleich, die Augen geschlossen; das Pferd war fortgerannt, zur Seite hielt der Wagen, die Mutter war ausgestiegen und geberdete sich wie unsinnig. »Hebt um Gottes willen das Kind in den Wagen und fahrt dem Schlosse zu!« schrie sie, »damit ihr Hilfe werde!« denn der Kutscher und die Kammerfrau hatten versucht, die Blutende aufzuheben; sie stöhnte schwer. »Ihr bringt sie um!« rief die Gräfin wieder, »laßt das Kind ruhig, ganz ruhig!«

»Und kein Arzt in diesem verfluchten Lande!« schrie sie auf französisch, als zu unendlicher Erleichterung der rathlosen Dienerschaft Georg angesprengt kam und rasch abstieg.

Die Noth des Augenblicks hatte alle nie geweckte Energie in seiner Seele wachgerufen. »Sie eilen zum Schloß,« befahl er der Kammerfrau, »richten ein Bett ein und senden mehr Leute, die Kranke muß getragen werden! Sie, Frau Gräfin setzen sich hier an den Rain, ganz ruhig, daß ich den Kopf der Kranken an Sie anlehnen kann.« Eine entschiedene Stimme im Augenblick schwerer Noth ist immer ein Segen. Willenlos folgte die Gräfin, sachte, sorgfältig wurde das blutende Haupt an die Brust der Mutter gelehnt, die auf den ernsten Wink des jungen Arztes unbeweglich stille hielt.

Ein Glück, daß Georg mit der Sorgfalt junger Doktoren vollständiges Verbandzeug bei sich trug, und daß er es nicht vorhin in seinem Unmuth in den Bach geschleudert hatte. Die Gräfin zuckte nur, als er mit scharfer Scheere die prächtigen langen Haare abschnitt, um die Wunde bloß zu legen; sie schien ruhiger zu werden, als sie sah, wie er mit geschickter Hand mit der Leinwand und Charpie in seinem Verbandzeug, mit seinem Tuch und dem Battisttuch der Kranken für den Augenblick das Blut stillte und die Wunde verband. Mit eben der Sicherheit, die so plötzlich über ihn gekommen, kommandirte er die Leute, die die Kammerfrau herbeigebracht; es lag noch Baumaterial nicht allzuweit entfernt, aus dem eine Tragbahre zusammengefügt werden konnte, aus Kissen vom Wagen und aus dem türkischen Shawl der Gräfin wurde ein möglichst bequemes Lager gebildet, die Bewußtlose darauf gelegt und vorsichtig unter der Leitung des Doktors dem Schlosse zugetragen. Zum erstenmal seit sie das neue Gut in Besitz genommen, war die junge Herrin heute ausgeritten, licht und leicht und lebensfroh, – und so still, nur von den Jammertönen der Mutter begleitet, hielt sie ihren Einzug.


Welch ein rascher Wechsel der Scene in Georgs Leben! Gestern war er verhöhnt, gedemüthigt, verschmäht aus einem Bauernwirthshaus abgezogen, um in seine nüchterne und nothdürftig eingerichtete Wohnung zurückzukehren und sehnsüchtig zu warten, ob nicht vielleicht ein erkälteter Marktbauer seine Dienste in Anspruch nehme. Heute wandelte er auf prächtigen Teppichen, wurde bedient wie ein Prinz, saß auf einem weichen Fauteuil zu Seiten des Lagers, wo auf feinen schneeweißen Kissen unter purpurrothseidner Decke die schönste Mädchengestalt lag, bei der selbst Krankheit und Wunde in anmuthiger Form erschienen.

Wenn er eine Demüthigung seines Beleidigers noch bedurft hätte, um sich über jene Niederlage zu trösten, so hatte er dies befriedigte Rachegefühl genießen können. Kaum eine halbe Stunde, nachdem sie die verunglückte junge Gräfin ins Schloß gebracht, war der vornehme Oberamtsarzt vorgefahren, der auf seinem Heimwege schon von dem Unfall gehört, und hatte keuchend und schnaubend sich bei der Gräfin melden lassen, um das Empfehlungsschreiben des Medicinalraths aus der Residenz zu präsentiren.

Der furchtbar aufgeregten Dame, die mit der ganzen Leidenschaftlichkeit ihres Wesens in dem jungen Arzt bereits einen hilfreichen Gott erblickt, war nun der dicke, schnaubende Doktor, so vornehm er auch aussah, so hell die goldne Uhrkette auf seinem Bauch blinkte, keineswegs eine erwünschte Erscheinung. In ihrem gebrochnen Deutsch, in ihrer fieberhaften Ungeduld konnte sie gar nicht nach höflichen Formen suchen und kaum hervorbringen: »Sie nicht brauchen, schon sehr gute Doktor, – nur fort, meine Tochter nicht stören! Jean, zeigen Sie dem Herrn den Weg!« und höchst dienstbeflissen nahm der Diener den dicken Herrn beim Arm und führte ihn buchstäblich zum Hause hinaus, also, daß sein Schnauben nachher furchtbar anzuhören gewesen sein soll.

Georg war zu tief und gewaltig von seiner jetzigen Aufgabe hingenommen, als daß er lange in dem heimlichen Triumphgefühl hätte schwelgen können, das der Bericht des Dieners über diese Scene einen Augenblick in ihm erregt hatte.

Nachhängen wollte und konnte er diesem Gefühle nicht. Das Interesse des Arztes und des Menschen, alles Denken und Wollen seiner Seele concentrirte sich jetzt in dem Einen Wunsch und Streben, seine Kranke zu retten. Da saß er, lange, lange Stunden, Tag und Nacht, den Blick auf das schöne bleiche Angesicht geheftet und forschte und dachte und suchte, ängstlich tief, wie er nie in seinen Studienzeiten gesucht, nach allem, was Hoffnung zur Rettung geben konnte.

Wie war er nun froh, daß er als Student im Austausch mit seinem Zimmernachbar, einem lustigen Franzosen, sich die französische Sprache, diesen Hauptschlüssel für den Verkehr, zu eigen gemacht hatte; so war ihm nun doch möglich, sich mit der Gräfin zu verständigen, die mangelhaft deutsch sprach.

Freilich mußte er auch die wilden Ausbrüche ihrer Verzweiflung anhören. Alle seine vorgefaßten Begriffe, schon vom Geographieunterricht im Gymnasium her, wurden hier umgeworfen. Immer hatte er doch gehört und gelesen: »der Spanier ist in seinem äußerlichen Gebahren feierlich, stolz und kalt, er wird nie den Anstand verletzen, auch nicht bei heftiger Erregung seiner innern Gefühle.« Das paßte nun nicht auf diese Dame, die oft maßlos heftig, alles in den Aeußerungen ihrer Mutterangst, ihrer Zärtlichkeit gegen das todtkranke Kind vergaß. All ihre leidenschaftlichen Klagen, all ihren Jammer, mit dem sie, das Kind schon zum voraus betrauerte, hörte er, aber er hatte auch die Worte gehört, die sie ihm schon am ersten Abend zugerufen, als man die Bewußtlose ins Haus getragen, und die sie seither oft wiederholt hatte: »retten Sie mein Kind, und sie ist die Ihre!« und sie hatten ihn wunderbar durchschauert. Wie oft er sich auch sagte: »Unsinn, das sagt sie in ihrer Aufregung und weiß es nachher nicht mehr, und wenn's ihr Ernst wäre, so hat es für mich keinen Sinn!« die Worte hörte er doch wieder und wieder in den stillen Stunden, wenn er den Blick in diese traumartigen, wunderbaren Augen senkte, die bewußtlos noch in süß verlockendem Glanze strahlten, und wenn er die feine, heiße Hand in der seinen hielt.

Die junge Gräfin lag in heftiger Fieberglut, auch als die Gefahr einer Verblutung vorüberschien. Sie war nie bei Bewußtsein, ihre Phantasien verstand er nicht, sie sprach spanisch, er suchte es auch nicht zu verstehen, aber mehr als für sein ärztliches Studium nöthig, versenkte er sich wieder und wieder in diese märchenhaften Augen. Da war die ganze Glut des Südens und doch wieder das tiefe Sehnen nach einer Welt, die nicht Süd und Nord kennt, – Augen, wie er sie nur an den wunderbaren Marienbildern Murillos gesehen, – Maria hieß ja auch dies zauberhaft schöne Wesen, das ihm die Mutter zu eigen gab, – wohl nur um sie ins Grab zu legen! Maria! wie matt klang das deutsche Marie, Mariechen dagegen! Er hatte jetzt nicht viel Zeit daran zu denken; er hatte noch nicht daran gedacht, Marien auch nur zu schreiben, bis ihm aus Pulverdingen Kunde zukam, daß man nach ihm gefragt. Man hatte dort natürlich bald die verwunderliche Geschichte erfahren, daß der junge Doktor Rau, der gar nichts zu schaffen gehabt, jetzt Leibarzt bei der spanischen Gräfin sei. Nun schrieb er Marien flüchtig die Geschichte der letzten Tage, – er sagte wahr, daß er nicht Muße und nicht innere Ruhe habe, ihr öfter zu schreiben, – er hatte sie wirklich nicht.

An Hilfsmitteln fehlte es ihm nicht; medizinische Bücher, Arzneien und Erquickungen für die Kranke, – alles wurde aufs schnellste herbeigeschafft – eine so gänzliche Nichtachtung der Geldmittel wie hier, war ihm bis jetzt als ein unmöglicher Zustand erschienen. Nur eines geschah nicht, – wie oft auch die Andeutungen und Fragen der Dienerschaft, wie oft vielleicht sein eigen Gewissen ihn mahnen mochte, es zu versuchen, – es wurde kein andrer Arzt berufen. Die Gräfin verlangte es nicht. Sei's, daß sie ein abergläubisches Vertrauen in den jungen Arzt setzte, der ihr zur rechten Stunde wie ein Engel erschienen war, sei's, daß sie glaubte, alle andern deutschen Aerzte glichen dem dicken Oberamtsarzt, vor dem sie nun einmal ein Grauen gefaßt hatte, – sie forderte es nicht, und Georg unterließ es auch. Es war wohl kaum der Ehrgeiz eines jungen Doktors, der sein erstes Meisterstück allein machen will, es war mehr ein verzweifeltes Spiel auf Leben und Tod, das er mit dem Schicksal einging und dessen Motive er sich wohl selbst nicht klar machte. Das ist gewiß, daß er sein eignes Leben, alle Kraft seiner Seele und seines Leibes daran setzte, das Mädchen zu retten, die mehr und mehr dem Tode zu verfallen schien, er gönnte sich keine Ruhe bei Tag, keinen Schlummer bei Nacht, keine Erholung, kaum die nöthigste Speise; er kannte kein Streben und Wünschen mehr, keine Hoffnung und keine Furcht, als um seine Kranke.


Wie lange Zeit er schon in seinem verzauberten Schlosse weilte, ob es draußen Regen war oder Sonnenschein, ob Frühling oder Winter, davon wußte Georg nichts. In der Welt draußen und in der Buschmühle war's aber Herbst, ein gesegneter Herbst, in dem sich fleißige Hände tüchtig regen mußten. Marie, die Marie in der Mühle, hatte von Herbstfreuden nicht viel genossen. Sie wurde zwar öfter von Honaratioren der Stadt zu kleinen Festlichkeiten geladen, – war sie ja doch mit einem Doktor versprochen, hübsch, wohlhabend und – »auf der Bildung« in der Residenz gewesen, und man kehrte auch gern wieder in der Mühle ein. Marie dankte für alles, sie kam sich vor wie eine Blume ohne Stengel, wenn sie ohne Georg, ohne Vater und Mutter sich in diesen Kreisen bewegen sollte. Sie war in der letzten Zeit überhaupt etwas still geworden, gar emsig in allen Hausarbeiten, – an der Aussteuer nähte sie nicht mehr oft.

Sie war heute fleißig und rührig gewesen allenthalben, im Garten, auf dem Flachsfeld, als sie müde, mit einem Körbchen getrocknetem Obst im Arm, Abends nach Haus kam. »Ist ein Brief für Dich da,« sagte ihr Bruder Christian, der nun schon in der Mühle tüchtig zu brauchen war.

»Herr, behüte meine Ohren vor trauriger Botschaft!« hatte die Müllerin heute früh in ihrem Morgengebet gelesen; warum fiel ihr gerade diese Stelle ein, als sie sah, wie Mariens Hand zitterte, als sie den Brief erbrach, wie sie sich den Andern abgewandt ans Fenster setzte, um ihn zu lesen.

Den Müller, der eben seinen Vespertrunk zu sich nahm, bewegte durchaus keine traurige Ahnung. »So, ist von dem Schlingel, dem Georg?« sagte er, nicht unzufrieden; »ist Zeit, daß er einmal wieder schreibt! will sehen, ob er seine Gräfin jetzt fertig kurirt und ihr begreiflich gemacht hat, daß ein Weibsbild nicht auf einen Gaul gehört. Ist ein kecker Bursch, daß er gar keinen andern Doktor hingelassen hat! Wundert mich nur, daß es die Alte gethan hat! Na, zahlen wird sie ihn nicht schlecht, und einen guten Namen macht ihm die Kur, Alte, wirst 'raus müssen mit Deinen Tuchballen.«

Während so der Müller behaglich plauderte, hatte Marie ihren Brief gelesen, wieder zusammengelegt und war hinaufgegangen in ihr Stübchen. Die Mutter hatte es wohl bemerkt, war ihr aber nicht gefolgt. Spät erst, als der Vater fragte: »wo ist die Marie? und was steht denn in dem Brief?« da stieg sie hinauf. Marie lag auf den Knieen vor dem Stuhl, das Gesicht tief in die Hände gedrückt, die Mutter kam sachte hinter sie: »Marie, weißt noch die Antwort der Maria? es kann auch ein Engel zu uns kommen, der keine Freudenbotschaft bringt.«

»Siehe ich bin des Herrn Magd,« sagte Marie ohne aufzusehen mit tonloser Stimme, »mir geschehe …« ihre Stimme brach im Weinen.

»Sag's noch nicht,« bat die Mutter, »sag's nicht, bis Du's von Herzen aussprechen kannst! es gibt noch ein ander Sprüchlein: »Vater, hilf mir aus dieser Stunde; doch darum bin ich in diese Stunde gekommen. Vater, verkläre Deinen Namen.« Und still ging sie zu ihrem Mann und Sohn hinunter und sagte: »laßt die Marie nur droben; sie ist gar müd, den Brief kannst ja morgen selbst lesen, Alter.«


In Georgs Brief stand zuerst die ganze Geschichte seiner Begegnung mit der Gräfin, ihrer Krankheit und der Verheißungen ihrer Mutter.

»So habe ich Dir nun alles erzählt, liebe Marie,« fuhr er fort, »und Du siehst, wie wenig ich selbst die Umstände herbeigeführt habe, die mich jetzt in eine so eigenthümliche Stellung bringen.

»Maria, die junge Gräfin, ist nun außer Gefahr über all mein Hoffen und Erwarten, und ich bin tausendfach dankbar dafür; es war ein gewagtes Spiel, daß ich, mit meiner jungen Erfahrung, die Kur allein unternommen habe. Noch ist Maria todtmüde, zeigt aber ein rührendes Vertrauen zu mir, von dem sie freilich in diesen letzten Wochen auch alle Hilfe fast allein empfangen hat.

»Ich habe Dir gesagt, Marie, welch seltsames Versprechen die Gräfin in der ersten Aufregung ihres mütterlichen Jammers gegen mich ausgesprochen. Ich schrieb es ihrer heftigen, leidenschaftlichen Natur zu, der Mutterangst, die mich durch eine ungeheure Verheißung zu ungeheurer Anstrengung treiben wollte. So habe ich ihr auch gesagt, nun die Comtesse der Genesung nahe ist, und habe ihr ihr Wort zurückgegeben. Die Mutter will in ihrer feurigen Dankbarkeit nichts davon hören, sie versichert mich: auch Maria sei schon eingelebt in den Gedanken, daß sie ihrem Lebensretter zu eigen gehöre und ich würde durch ein plötzliches Losreißen das zarte Kind tödten.

»Und nun, was soll ich thun? Soll ich Maria, die sich mir wirklich in kindlicher Hingebung zuzuneigen scheint, soll ich ihr jetzt, wo ein rauher Hauch, komme er von außen oder von innen, die zarte Blume knicken und tödten könnte, – soll ich ihr sagen: »Du bist getäuscht worden, ich habe Dich nie geliebt, ich gehöre einer Andern?« oder soll ich sie in der Täuschung lassen, gestatten, daß diese junge, unberührte Seele, – sie ist kaum siebzehn, – daß sie sich mir erschließt in Liebe und Hingebung; wann ist dann der rechte Zeitpunkt, mich gewaltsam loszureißen, wann weiß ich gewiß, daß diese zartbesaitete Natur nicht zerstört wird von solchem Riß? – Fliehen, sogleich und für immer fliehen, wäre vielleicht das einzige, aber ich kann, ich darf sie nicht verlassen, sie bedarf noch beständiger, schonender, sorgfältigster Aufsicht und Pflege; sie wird meiner Begleitung nicht entbehren können, wenn sie jetzt, sobald sie reisefähig ist, nach Italien soll, um unsre rauhe Herbstluft zu vermeiden.

»Marie, liebe Marie, Du mit Deinem klaren, sichern Gefühl, die Du mir immer mit schwesterlicher Liebe nahe warest, sage Du mir, was soll ich thun? Ich weiß, Du verstehst diese Verhältnisse, obgleich Du Dich ja fast immer nur in Deinem kleinen Kreis bewegt hast. Dein Vater kann mich nicht verstehen. Er würde glauben, ich suche nur nach Vorwänden, um wortbrüchig zu werden. Der Himmel weiß, wie schrecklich mir der Gedanke an Treubruch ist. Nur mit Deinem vollen, freien Willen soll ein Band gelöst werden, das Dir leider bis jetzt so gar kein Glück geben konnte, meine liebe, arme Marie.

»Also in Deine Hände sei die Zukunft von uns drei Menschen gelegt, ich will mich Deinem Spruche fügen und denken, daß es Gottes Wille ist, der aus Deiner kindlich einfachen Seele spricht. Ach, je nachdem Deine Entscheidung ausfällt, wirst Du nicht nur Schiedsrichterin, Du wirst auch meine Vertheidigerin sein müssen bei den Deinen, die diese ungewöhnliche Gestaltung der Verhältnisse nicht recht verstehen können.

»Mißverstehe Du mich nicht, liebe Marie. Ich werde mich Deinem Ausspruch fügen in jedem Fall; ich werde nach Umständen vielleicht Zeit brauchen, mich aus so ganz andern Verhältnissen wieder in all die Erbärmlichkeiten zu finden, durch die ich mich nach Deines Vaters Meinung durchschlagen soll, – es wird ja auch zum Ziele kommen und ich würde bei Dir ein schwesterlich treues Herz finden, wenn auch unser Bund beschlossen worden ist, ehe wir selbst Wissen und Willen dazu geben konnten.

»Also, liebe Marie, sprich ganz offen aus, was Du für recht und gut hältst, und so soll es geschehen. Glaube, daß ich in all und jedem Fall sein und bleiben werde

Dein
treuergebener Georg.

»Ich wollte, Du könntest Maria sehen in ihrer zarten, wunderbaren Schönheit, in all der Hilfsbedürftigkeit ihres Wesens, gewiß, Du hast nie etwas Aehnliches erblickt. Gott gebe, daß die zarte Blume nicht im Genesen noch welke! ich fürchte auch das aufgeregte Wesen ihrer Umgebung, vor allem der Mutter.«


Mariens Antwort.

»Es thut mir leid um Dich, mein lieber Georg, daß Du Dich so viel mit Fragen und mit Zweifeln geplagt hast in dieser letzten Zeit. Wenn Du Dein eigen Herz und wenn Du mich recht gekannt hättest, so hättest Du Dir viel Mühe ersparen können. Vielleicht hättest Du auch alle Noth erspart gleich zu Anfang mit einem einfachen Wort. So, wie alles gegangen, ist es jetzt natürlich, daß Du das schöne Fräulein lieb gewonnen hast, die der Herr durch Deine Hilfe so wunderbar gerettet hat. Und daß sie auch Dich lieb hat, das ist ja noch viel natürlicher, wo Du so viel an ihr gethan hast. Daß auch ihre Mutter so gern eingewilligt hat, das achte ich für wunderbar, sonst sollen solche Leute ja sehr stolz sein und auf den Stand sehen.

»Das weißt Du wohl, daß mich alles von Herzen freut, was Dich glücklich macht. Es ist mir immer leid gewesen, daß Du Dir's hast so sauer werden lassen müssen, und hat mich oft bekümmert, ob es nicht besser für Dich wäre, wenn Du ganz frei Deines Weges gingest. So geh denn nun in Gottes Namen, lieber Georg, und Gott segne und behüte Dich und Deine schöne Braut!

»Um mich darfst Du keine Sorge haben, und wegen der Eltern auch nicht. Du weißt ja, daß die Mutter nie dafür gewesen ist, etwas so weit voraus zu bestimmen, und der Vater meint's nicht so bös, wenn er auch jetzt zornig ist, er wird schon wieder zufrieden, wenn ich zufrieden bin.

»Noch einmal wünsche ich Dir recht von Herzen Gottes Segen und daß er Deine Braut wieder recht gesund und glücklich machen möge.

»Lebe wohl, lieber Georg, ich danke Dir für alles Liebe und Gute, und wenn wir uns in diesem Leben nicht mehr sehen sollten, so helfe Gott, daß wir uns im Himmel fröhlich wiedersehen. Dann wirst Du gewiß wissen, daß ich Dir gar nie etwas nachgetragen habe.

Deine
getreue Marie

Der Müller freilich hatte den Bruch nicht so sanftmüthig und ergeben hingenommen, wie Marie; er hatte geflucht wie in seinem ganzen Ehestand noch nie, über den wortbrüchigen Schuft, an dem man so viel gethan; Mariens Thränen, die Bitten seiner Frau und die einfache Erwägung, daß man im Grunde doch nichts machen könne, hatten ihn aber am Ende bewogen, still zu bleiben.

Während Stadt und Gegend widerhallte von der wunderbaren Mähr von dem armen Doktor, der eine Prinzessin, – eine Gräfin war der Fama noch zu gering, – vom Tode errettet habe, und sie sammt ihren sieben Millionen heirathen werde, während der dicke Doktor vor Aerger einen gelinden Schlaganfall bekam und die Hotelbesitzerin in H. sich besann, ob sie nicht außer dem wilden Schwein, das sie geschlachtet, auch noch illuminiren sollte an dem festlichen Abend, wo ihrer leiblichen Schwester ihr leiblicher Sohn mit einer leibhaftigen Gräfin durchreisen werde, während Herr Kolb, der glückliche Stiefpapa daran dachte, sein Weißwaarenlager noch durch ein Korsettgeschäft zu erweitern auf die gloriose Verwandtschaft hin, und Frau Kolb abwechselnd in Freudenthränen schwamm ob ihres Sohnes Glück, und in Thränen des Mitleids um die arme Marie, der man freilich nicht habe helfen können, – während all dieser Bewegung war es in der Mühle recht still hergegangen. Marie und ihre Mutter hatten so viel über den Müller vermocht, daß er nach außen schwieg über die ganze Sache, wie gewaltig er auch in den ersten Tagen daheim getobt hatte. Er hatte gar nicht Lust, viel unter die Leute zu gehen, nachdem er einmal ausgesprochen, sein Mädchen habe selbst nichts mehr von dem Burschen gewollt und ihm gesagt, er könne gehen wohin er wolle, – und seitdem er das höhnische Lächeln der Leute darauf gesehen. Es gab Solche, denen es schon wie eine Ehre für die Müllerstochter vorkam, daß sie nur mit einer so hohen Dame hatte in Vergleich kommen können, – der Müller selbst sah es freilich anders an.

Marie erhielt Erlaubniß, ihre alte Pathin in K. zu besuchen, die war schwach und hinfällig, fast ganz erblindet, und ein Besuch des stillen Mädchens war gar wohlthätig für sie.

Georg war so eilig als möglich mit seiner jungen Braut, die noch immer mit unendlicher Sorgfalt gehütet und gepflegt werden mußte, mit ihrer Mutter und all dem Gefolge nach Italien gezogen. Wunderbar leicht hatte er sich an all den fürstlichen Luxus seiner Umgebung, an die ehrfurchtsvolle Bedienung der Domestiken gewöhnt, – hie und da war ihm freilich noch, als sei er gleich der Aschenbrödel in diese glänzende Welt nur hineingezaubert und der prachtvolle Reisewagen werde sich unversehens in eine Nußschale mit Ameisen verwandeln, aber der Traum war äußerst behaglich und er hielt für das Beste, sich ihm ganz und gar hinzugeben.

Die Schwiegermama, die zu Zeiten noch immer Anfälle von leidenschaftlicher, fast wahnsinniger Angst um ihrer Tochter Leben hatte, und von Georg allein zu beschwichtigen war, hatte eine für seinen Maßstab ungeheure Summe in seine Hand gelegt, damit er sich rasch aller alten Verbindlichkeiten entledigen könne. »Auf der Reise wird der Kourier die Hauptausgaben bestreiten,« sagte sie zu ihm, »versteht sich von selbst, daß Sie unbeschränkt über meine Kasse verfügen; wenn der Zeitpunkt kommt, wo mit meiner Tochter alles Ihnen eigen wird, das wissen wir ja noch nicht, vielleicht werden Sie mir auch dann die Verwaltung des Vermögens noch überlassen, da das meiste in Spanien steht, bis Sie unsre Sprache, unsre Papiere und das alles verstehen.« Er sagte natürlich alles zu, es war ihm peinlich, über diesen Punkt zu reden; war's auch nicht eben unangenehm, wie ein Märchenprinz eine seidene Börse, mit wirklichem, wahrhaftem Gold gefüllt, in der Tasche zu tragen.

Der kostbarste Besitz, den er mit seiner Kur gewonnen, Maria selbst, war ihm noch am wenigsten eigen. Auch fürchtete er sich sehr vor allem, was das zarte Leben, das kaum dem Tode abgerungen war, hätte aufregen und dadurch gefährden können. Maria übte, wie von Anfang, einen tiefen Zauber auf ihn, und doch scheute er sich, ein Wort der Liebe auszusprechen, sie erschien mehr wie ein wundervolles Kunstgebilde, an dem er die Augen weiden mochte, denn wie ein lebendes, liebendes Wesen, das ihm als Weib und Hausfrau zu eigen werden sollte; er begnügte sich, sie mit immer innigerer, zarterer Sorgfalt zu umgeben und sie nahm es dankbar hin mit der weichen, rührenden Sanftmuth Genesender. Sie fing an deutsch bei ihm zu lernen, gar zu lieblich klangen die heimischen Laute mit dem fremden Accent von diesen weichen Lippen, immer tiefer und klarer wurde das Licht dieser wunderbaren Augen, – immer ferner, immer blasser erschien die schmucklose Gestalt des Mädchens aus der Mühle.


Sie hatten ein reizendes Landhaus am Comersee gemiethet. Maria ruhte auf weichen Polstern auf dem Balkon und Georg saß neben ihr; in all dem Zauberglanze des durchsichtig klaren italischen Himmels lag die Landschaft vor ihnen, ein leichtes Lüftchen vom See her kühlte die Glut des sonnigen Tages, – schön wie nie erschien Maria, wie sie so dalag, das Haupt zurückgelehnt; die glänzend schwarzen Haare, die der grausamen Scheere hatten fallen müssen, umgaben in kurzen Locken das schöne Angesicht und hoben wunderbar die südliche Blässe der Züge. Mit der glückseligen Müdigkeit einer Genesenden sog sie die köstliche Luft ein, die vom See herüber wehte, lächelnd, dankvoll blickte sie auf zu Georg, der neben ihr stand, und verzückt in ihre leuchtenden Augen schaute. »Hast Du mich lieb, Maria?« fragte er zum erstenmal. Eine leichte Wolke zog über das schöne Gesicht, sie legte die Hand über die Augen. Dann aber blickte sie auf noch matt, und sah ihn mit lieblichem Lächeln an. »Das Leben ist so schön,« sagte sie leise, »Du hast mir's wieder gegeben; ja, ich will Dein sein.« Und zum erstenmal schlang er den Arm um sie und ließ das schöne Haupt an seinem Herzen ruhen; das volle, fast berauschende Gefühl seines traumhaften Glückes kam über ihn, – und doch, warum kam ihm im Augenblick des höchsten Jubels die oft gehörte, langvergeßne Weise eines deutschen Liedes in den Sinn:

Sie hat die Treu gebrochen,
Das Ringlein sprang entzwei.

Er hatte ja nie förmlich Treue gelobt, so hatte er auch keine brechen können, beredete er sich, und inniger und wärmer umschlang er sein wunderbares Lieb; – aber es war doch wie Traum, nicht wie Leben.


An diesem selben Abend trugen sie in der stillen Gemeinde zu K. eine müde Pilgerin zu Grabe. Es war Mariens alte Pathe, der nun wohl das Licht wieder aufgegangen war, das ihren Augen lange schon erloschen gewesen. Es ist in der stillen Gemeinde zu K. nicht Sitte, Trauerkleider an Begräbnissen zu tragen und lauten Jammer hat man dort nie gehört. Sie hatten dort lange schon gelernt, den Tod als einen Heimgang anzusehen und sangen ruhig und gemüthlich:

Eins geht hier, das Andre dort
In die ew'ge Heimath fort …

Um so auffallender war es, daß die junge Verwandte, die ja nicht einmal lang um die Verstorbene gewesen, in so gar schmerzlichen Thränen an dem Grabe stand. Ach, die gute alte Pathe hatte nicht zuviel Theil an Mariens Thränen! Es war all ihr lang zurückgehaltnes Herzeleid, ihr Scheiden von Jugend und Liebe und Hoffnung, von Freude und Lebensglück, das aufwachte neben der Entschlafnen, die sie so treu gepflegt, es war der tiefe, sehnsüchtige Wunsch: »o, dürft' ich neben sie mein Haupt niederlegen und einschlafen und nimmer, gar, gar nicht mehr aufwachen!« Versunken in diese Gedanken, in all dies zum erstenmal freigegebne Leid, vernahm sie kaum die erbaulichen Worte der Leichenrede, die sich über Leben, Leiden und Hoffen der Heimgegangenen aussprach. Ein einziger Spruch von allem was sie hörte fiel in ihr Herz und in ihr Ohr: »Unsre Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schaffet eine ewige und über alle Maße wichtige Herrlichkeit, uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, das ist ewig.« Ach, ihre Trübsal erschien ihr augenblicklich nicht zeitlich und nicht leicht, und doch mußte sie an den Spruch denken und ihre Thränen flossen nicht mehr so heftig und gaben der frommen Gemeinde keinen Anstoß mehr.

Kaum vom Sarge zurückgekehrt, erwartete sie die traurige Botschaft: »Jungfrau Marie, es ist ein Knecht aus Ihrer Heimath da, mit einem Wägelein, Ihr Vater hat Unglück gehabt und ist von einem wilden Farren gestoßen worden; er liegt auf den Tod.« »Ein Unglück kommt nie allein,« dachte Marie in trüber Resignation als sie heimwärts fuhr in die dunkle sternlose Nacht hinein, keine Leuchte als den Spruch in ihrem Herzen, den sie gar nicht vergessen konnte.


Wenn man die schöne Erde ansieht in all ihrer Herrlichkeit, wenn man hört und liest von all dem Prächtigen, Großartigen und Anmuthigen, das sie in den verschiedensten Gauen bietet, von Italiens lachenden Fluren, von den Schneebergen und smaragdgrünen Thälern der Schweiz, von Schottlands tiefblauen Seen und den wechselnden Ufern des Rheins, von dem Glanz, dem Leben, dem mannigfaltigen Verkehr unsrer Städte, und wenn man vielleicht daneben in irgend einen bescheidnen Erdwinkel, in eine Mansarde oder eine sonnenlose Stadtwohnung gebannt ist, – dann dünkt es uns wohl ein herrliches Loos, wenn uns nun auf einmal die Wahl gegeben wäre, unsern Wohnsitz zu wählen da, wo es uns eben am allerbesten gefiele, mit vollster, unbeschränkter Macht über den Dämon der Erde, das Geld, der ein so bequemer Diener und ein so tyrannischer Herrscher sein kann. Und doch kann diese unbedingte Freiheit auch recht peinlich werden, denn »leider oder zum Glück,« es ist in der That oft recht schwer zu bestimmen, wo es am allerschönsten und am allerbesten zu leben ist.

Davon wußte auch Georg und die Frau Gräfin von Rovera zu sagen, die vor der Vermählung doch einen festen Wohnsitz wählen wollten. Maria selbst gab keine Stimme dabei. Obgleich sie täglich mehr erstarkte, obgleich ein zartes Roth unter den bleichen Wangen durchschimmerte und ihre Augen tiefer leuchteten, so schien sie doch noch gar matt und lächelte beistimmend zu allem, was die beiden beschlossen.

Nach Spanien wollte die Gräfin entschieden nicht; auf das ererbte Schloß bei Pulverdingen zu ziehen, das mit so großen Kosten hergestellt worden war, dazu hatte Georg nicht Lust, er stimmte für dessen Verkauf; auch die Gräfin scheute den Ort, wo sie so schwere Angst erlebt. Italien bot zu wenig Comfort für den Winter, nach einer größern Stadt hatte Maria kein Verlangen, – es wurde endlich ein reizendes Landhaus am Genfer See gewählt, und während die Gräfin und Maria in einem Hotel der Stadt verweilten, besorgte Georg die Vollendung der innern Einrichtung.

Er freute sich ungemein seines praktischen Talents zum vornehmen Herrn; er, der in der etwas geschmacklosen und sehr lückenhaften Eleganz des Tannenhofs aufgewachsen war, dem der rothe Teppich und der ovale Spiegel bei Müllers lange Zeit als der schönste Zimmerputz erschienen war, der als Student daheim und auf Reisen sich mit dem Bescheidensten hatte begnügen müssen, – er besorgte und arrangirte jetzt Teppiche, Fauteuils, Divane und alle Erfordernisse des raffinirten und bequemen Luxus, als ob er sein Lebtage unter diesen Dingen gelebt. Selbst der gewiegte Kammerdiener der Gräfin, der ihm freilich bei den Anschaffungen unentbehrlich war, bewunderte den Geschmack und die Sicherheit seines neuen Herrn. Jetzt erst schien ihm sein Glück, das seither in den Lüften geschwebt, Fundament und Boden zu gewinnen, jetzt erst, auf diesem blauseidnen Divan, in dieser heimlichen Rosenlaube, in diesem lauschigen Kabinet, konnte er sich Maria recht als Frau an seiner Seite denken; der prachtvollste Flügel, die kostbarste Laute wurden angeschafft, damit wollte er Maria überraschen und hoffte dann wieder die wunderbaren Töne ihres Gesangs zu hören, den er nur ein einziges Mal belauscht. Nie seitdem hatte er sie bewegen können, wieder zu singen; sie war noch zu müde.

Es war ihm wohl bei dem geschäftigen Leben, das er führte in der Stadt und außerhalb der Stadt, bis die Einrichtung vollendet war, bei den kleinen Ueberraschungen, die er für Maria bereiten konnte, wenn auch von ihren eignen Mitteln. Ihr gegenüber war es ihm nicht drückend, daß er nur der Nehmende sein sollte; für niemand war das Geld so gänzlich werthlos als für Maria. Entbehrt freilich hatte sie es nie.

Was er beginnen wollte, wenn diese Geschäfte vollendet waren, wenn er die schöne Blume aus der Fremde ganz sein eigen nennen durfte, – das wußte er noch nicht. Als Arzt prakticiren, das ging nun einmal nicht für den Gemahl der Gräfin von Rovera. Ein Landgut bewirthschaften, dazu hatte er in seinem Leben nie Lust und Talent gehabt, es fehlten ihm auch alle Kenntnisse dazu. Nun er wollte ja sehen: zunächst richtete er sich das prächtigste Bibliothekzimmer mit dem schönsten und bequemsten Schreibtisch ein, wo die Büsten berühmter Dichter und Schriftsteller in Nischen zwischen den schönen Bücherschränken standen, wo dunkelseidne Vorhänge das Licht dämpften und eine prachtvolle Hänglampe das ganze Gemach angenehm erhellte, eh noch die kunstvolle Lampe auf dem Schreibtisch angezündet wurde. Da wollte er alte Lieblingsstudien wieder aufnehmen, zu denen ihm das Brodstudium und seine beschränkte Lage nicht Zeit gelassen, – es mußte sich alles finden. Wie oft hatte er sich gesehnt nach Freiheit in all der drückenden Beschränkung seiner letzten Jahre, nun hatte er goldne, unbeschränkte Freiheit mit seiner Zeit, mit seinen Mitteln zu schalten, und darüber noch das süße Feenkind, das alle Wundergaben in seinen Schooß schüttete und sein eigen war in demüthiger Liebe. Die Schwiegermama erschien ihm zu Zeiten in minder idealem Lichte, – ihr Wesen kam ihm oft nicht ganz lauter vor, ihre maßlose Heftigkeit konnte Grauen einflößen, – aber er hoffte, es würde wenig Veranlassung mehr kommen, sie hervorzurufen, und dann – sie, die stolze, reiche Gräfin gönnte ihm mit Freuden ihr Kind und allen Glanz und alles Glück, das sich daran knüpfte, während der Müller mit ihm gerechtet hatte um einen zuviel ausgegebenen Groschen!

Sie hatten ihre neue Villa bezogen und die Schwiegermama hatte Georg reiches Lob gespendet über den Geschmack und Comfort der Einrichtung. Georgs Papiere waren von Haus gekommen, und der Hochzeitstag war festgesetzt, die Gräfin und der Kammerdiener hatten alles Geschäftliche besorgt. Er saß in seiner reichen, schön eingerichteten Bibliothek, er wußte noch nicht, wo er mit seinen Privatstudien beginnen sollte, und ruhte indeß in behaglichem Nichtsthun, selbst seine Gedanken ließ er lieber in unbestimmten reizenden Zukunftsplanen schweifen, als daß er sie sich sammeln ließ in ruhigem Ueberblick, da meldete ihm der Kammerdiener den hochwürdigen Herrn Brion, den katholischen Vikar aus Genf. Der Geistliche, ein feiner Mann von ruhigem, angenehmem Benehmen, stellte sich ihm als den Vikar vor, bei dem die Frau Gräfin die Trauung bestellt habe. »Es sind bereits alle Förmlichkeiten besorgt,« sagte er, »Sie haben bloß noch als letztes Erforderniß diesen Revers zu unterzeichnen, in dem Sie sich verpflichten, die Kinder aus Ihrer Ehe katholisch erziehen zu lassen.«

Daran hatte Georg bis jetzt nie gedacht, und unwillkürlich fuhr er von seinem Stuhle auf und zurück. »Ich glaubte hier von solchem Zwange frei zu sein …,« sagte er betroffen.

»Von Zwang ist keine Rede,« sagte der Geistliche mit seinem ruhigen, höflichen Lächeln. »Sollte diese Erklärung ein kleines Opfer für Sie sein, so war es vielleicht nicht vermessen von der Frau Gräfin, anzunehmen, daß Sie auch ein Opfer nicht zu theuer finden würden, um den Preis, den sie Ihnen unbedingt zu eigen gegeben.«

»Es handelt sich hier nicht um ein persönliches Opfer,« begann Georg.

»Gewissermaßen nicht,« fiel der Geistliche ein; »es ist die Rede von Ihren künftigen Kindern; sollte es aber für diese ein Opfer sein, in dem Glauben ihrer Mutter erzogen zu werden, in der sie frühe schon werden das Urbild aller Lieblichkeit und Vortrefflichkeit verehren lernen?« Georg fand nicht gleich eine Antwort. »Ich konnte mir kaum denken,« fuhr sehr ruhig der Vikar wieder fort, »daß Sie, verehrter Herr, es überhaupt für ein Opfer oder Unrecht ansehen können. Sind Sie, wie ich glaubte annehmen zu dürfen, ein Mann von philosophischer Bildung, dem die Confession überhaupt als die temporäre Form gilt, in die gewisse unvergängliche Wahrheiten sich gekleidet haben, – nun dann kann die Form, in der diese Ihren dereinstigen Kindern gegeben werden, von wenig Bedeutung für Sie sein. Sollten Sie aber,« hier schwebte ein feines Lächeln um die Lippen des Priesters, »sollten Sie sein, was man einen gläubigen Protestanten nennt, nun, so ist für Sie die Seligkeit nicht durch die Confession bedingt, sondern durch den Glauben, dessen Grundzüge Sie auch in unsrem Bekenntniß finden. Wenn unsre Kirche gewiß zu sein glaubt, daß nur in ihr das Heil gefunden werden kann, so kann das für Sie, dessen Confession toleranter ist, doch kein Grund sein, Ihre möglichen Kinder von dieser Kirche auszuschließen und deshalb eine ganze schöne, reiche Zukunft hinzuwerfen. Uebrigens bin ich sehr gern bereit, mit Ihnen in jede Erörterung über die Confession, – denn um den Glauben handelt sich's hier nicht, das sehen Sie als Mann von Geist selbst ein, – in jede Besprechung einzugehen; es ist gar keine Rede von Zwang oder Ueberlistung.«

Mit wahrer Beschämung fühlte Georg, daß er seit dem, was er im Confirmationsunterricht gehört und ohne tiefes Nachdenken angenommen, gar nichts gethan hatte, um für sich selbst festen Grund des Glaubens zu suchen, in dem er erzogen war. Die Bibel studieren, – nun, das hatte er für eine Sache der Theologen gehalten! Es war etwas in seiner Seele, das entschieden der durchaus materialistischen Richtung widerstrebte, die gerade damals in der Medicin anfing Platz zu greifen, es war ihm lieb gewesen, daß Marie frommen Herzens und von einer frommen Mutter erzogen war; er hatte auch im Sinn gehabt, als Hausvater einmal ordentlich mit seiner Familie zum Abendmahl und zu Zeiten zur Kirche zu gehen, aber zu ernstem Nachdenken über seinen Glauben war er nie gekommen.

Das einzige was ihn noch zurückhielt, dem Priester zu willfahren, war der Gedanke: was Deine Väter erkämpft mit Gut und Blut, an was sie ihr Leben gesetzt, das verschleuderst Du Deinen Kindern mit Einem Federzug? Und als er nun doch die Feder nahm, um den Revers zu unterschreiben, da mußte er, er wußte nicht wie, an die Worte denken, die er als Knabe schon in einem Drama gelesen:

»Mit diesem Zug verpfänd' ich meine Ehre,
Mit diesem Zug verkauf' ich mein Gewissen.«

Das war aber Unsinn, von unten hörte er zum erstenmal wieder seit lange die Zaubertöne von Maria's Gesang. – Sollte er zögern bei dem ersten Opfer, das er zu bringen hatte, um dieses herrlichen Wesens willen? – das erste Opfer? fragte sein Gewissen – er hatte unterschrieben.

Während sich so alle Wege für Georg ebneten zum freudigen Ja, hatte Marie, nicht Maria, nur Marie, das schlichte Müllerkind, in der Heimat draußen ein Nein gesprochen, das ihrem weichen Herzen wohl mehr gekostet, als Georg seine Unterschrift. Ihr Vater war todt, sie wohnte mit der Mutter noch in der Mühle bei Christian, ein junger Pfarrer, der Neffe ihres lieben alten Schulmeisters, der frühe zum Wittwer geworden, hatte um sie geworben, – ein redliches Herz, das ihr und der Mutter eine freundliche Heimat bot. Marie hatte ihm gedankt, so herzlich und demüthig, daß er sie im Versagen erst recht lieb gewann, »nimm mir's nicht übel, Mutter,« hatte sie diese gebeten, die in der Werbung des Pfarrers ein ungeahntes Glück sah, »siehst Du, es wäre eine Sünde, Ja zu sagen mit einem andern Andenken im Herzen.«

»Und solltest Du das Andenken, das Dir nur zu Leid und Aergerniß geworden, nicht ausreißen und von Dir werfen?« fragte die Mutter.

»Liebe Mutter, Gott weiß, an den Gatten einer Andern denke ich nicht mit einem Gefühl, das Sünde wäre, aber es ist mir immer, als komme eine Zeit, vielleicht nach langen, langen Jahren, wo ich Georg wiedersehen werde und wo er meiner bedürftig ist, wie, kann ich nicht sagen, krank und elend vielleicht, Du weißt ja, ich habe schon mehr solch eine Ahnung gehabt, die mich nicht getäuscht hat: damals, als ich mich mit Georg verlobt habe, hab' ich's im innersten Herzen schon gespürt, daß er mir nicht eigen bleibe. Siehst Du, Mutter, dann möchte ich freie Hand haben, daß ich ihn pflegen dürfte und ihm Gutes thun, und einstweilen wird mir ja der liebe Gott auch ein Tagewerk geben, daß ich nicht unnütz bin.«

Die Mutter ließ sie gewähren, obgleich sie wohl fühlte, daß sie selbst nicht lange mehr bei dem Kinde sein werde.


Die Villa am Genfersee war festlich geschmückt und nahm sich aus wie ein Feenpalast; morgen sollte die Trauung des jungen Paares sein. Alle Schwierigkeiten waren weggeräumt; was Georg in Geld- und Geschäftsangelegenheiten noch zu unterzeichnen hatte, das hatte er leichter und lieber gethan, als jenen Revers, den er sich aus dem Sinn zu schlagen suchte. Seiner Mutter hatte die Gräfin einen prächtigen Schmuck zum Gruße gesandt und sie zu einem spätern Besuch eingeladen, da jetzt, im Spätherbst, die Reise nach der Schweiz doch nicht angenehm sein würde.

Auch das junge Paar wollte keine Reise machen, – Maria war noch immer müde, obgleich nun mehr als ein Jahr vergangen war seit ihrem Unfall. Die Mama wollte gleich nach der Hochzeit für längere Zeit nach Spanien reisen, um ihre Angelegenheiten dort zu ordnen und darüber war Georg nicht eben bekümmert.

»Wirst Du kein Heimweh haben nach Deinem sonnigen Vaterlande, wenn die Mutter dorthin geht?« fragte er zärtlich Maria.

»O nein, es ist hier auch schön,« sagte sie mit sanftem Lächeln.

Und es sollte recht schön werden, hoffte er, wenn er erst seine schöne Blume allein, ganz allein hegen und pflegen durfte! Die Mutter mit ihrem leidenschaftlichen Wesen, vor dem das zarte Kind selbst Furcht zu haben schien, die war gewiß allein das Hinderniß, daß sie noch nicht so recht frisch und freudig wieder aufgeblüht war.

Es war der Vorabend der Hochzeit. Die Gräfin war in die Stadt gefahren, um noch manches für ihre Abreise zu besorgen. Georg hatte heimlich einen Pavillon an einer entlegenen Stelle des Gartens zu einem reizenden Blumentempel umgeschaffen, das obere Zimmerchen darin aber mit den schönsten Ansichten aus Spanien geschmückt; damit wollte er nach der Mutter Abreise Maria überraschen.

Nun ging er nach ihrem Zimmer, um sie zu einer kleinen Fahrt auf dem See abzuholen, – da lagen in fürstlichem Glanz die Brautgewänder für morgen ausgebreitet, die schwere, schimmernd weiße Atlasrobe, der duftige Schleier mit der Krone von Myrthen- und Orangenblüthen, der Schmuck von Perlen und Brillanten, alles wie von Feen und Elfen zusammen getragen.

»Die gnädige Comtesse sagten, daß sie eine Strecke weit mit der gnädigen Frau Gräfin fahren wollten,« sagte ihm die neuangenommene Kammerfrau, »sie wollen nachher zu Fuß nach Hause gehen.« Das war ein seltener Entschluß von Maria, die seit jenem Sturz all ihre jugendliche Keckheit verlassen zu haben schien. Er beschloß, sie aufzusuchen; sie konnte von der Landstraße aus nur Einen Weg gegangen sein, einen reizenden Fußpfad durch Gebüsch, den er sie früher schon geführt. Rasch ging er hinaus, um ihr dort zu begegnen.

Und er verfehlte sie nicht. Auf einer Bank unter Bäumen, auf einer leichten Anhöhe, die, lieblich abgegrenzt, einen Blick auf den blauen See und den Montblanc gewährte, wo er in den letzten Wochen einmal mit ihr gesessen, da ruhte sie wieder, innig angeschmiegt an einen fremden Mann, einen schönen jungen Mann mit schwarzem Bart und dunklem Angesicht, und sie blickte zu dem Fremden auf mit so strahlenden Blicken, wie Georg sie nie von ihr gesehen; ihr Auge hatte seinen Glanz, ihre Wange ihre Blüthe wieder, ihre Stimme so süßen, innigen Klang, – der dort war ein besserer Arzt, als der deutsche Mediciner.

Dunkelglühend vor Wuth und doch sprachlos, wie an allen Gliedern gelähmt, stand Georg hinter dem Gebüsch, durch das er heraufgekommen, und starrte auf das schöne Paar, das seine Nähe nicht ahnte. Sollte er hervorstürzen und den fremden Schuft zur Rechenschaft ziehen? – er war freilich nur mit seinem Spazierstöckchen bewaffnet; neben dem Spanier dort, – denn dafür hielt er ihn, lag, wenn ihn nicht alles täuschte, eine Pistole, eine seltsame Waffe zum Rendezvous mit einer Dame. Nun, die fürchtete er nicht; er fühlte in diesem Augenblick der Wuth Kraft genug in sich, den Burschen sammt seiner Pistole zu packen, zu erwürgen, in den See zu schleudern, – aber es war doch etwas in ihm, das ihn zurückhielt. Es war nicht Feigheit; es war der Blick auf Marias strahlendes Angesicht, der ihn mit Wuth und mit unsäglicher Trauer erfüllte und doch seinen Arm zurückhielt. Hatte er ihr Leben gerettet, um sie elend zu machen?

Er wandte sich und ging zurück mit Gefühlen unsäglicher Bitterkeit. So war sie, die er geliebt, verehrt wie ein höheres Wesen, so war sie eine Spanierin, wie man sie sonst geschildert, die den Geliebten einläßt, wenn der Ehemann den Rücken wendet, und die Madonna verhüllt, damit sie nicht zusieht? ein Weib aus dem Lande, wo die vermählte Frau noch eine Schutzwache braucht für ihre Tugend! Aber warum hatte sie ihn betrogen, ihn, den armen deutschen Doktor, der ihr ja nichts bieten konnte, als sein dummes, redliches Herz? – sein redliches Herz? Es war nur eine leise Stimme in seinem Innern, die so fragte, die ihn mahnte an eine Liebe, die auch er von sich geworfen, – die er betrogen, wollte er sich nicht gern sagen; der bittre, heiße Groll über die, die ihn so schmählich getäuscht, ließ keine andere Stimme laut werden. Fort wollte er, fort, diese Nacht noch, hinaus in die weite Welt, in den Tod vielleicht! Was kümmerte ihn das Leben? Oder wollte er den Morgen kommen lassen und die Stunde der Trauung und sie dann erst niederschmettern mit der Anklage ihres Verraths? Schonung war er ihr nicht schuldig, sie hatte ihn auch nicht geschont.

Er war zu müde an Seele und Leib, um überhaupt etwas bedenken oder unternehmen zu können; er warf sich angekleidet aufs Bett und lag schlummerlos oder in schweren, unheimlichen Halbträumen, die schlimmer sind als Schlaflosigkeit.

Der Morgen dämmerte; matt und schwer erhob er sich aus seiner dumpfen, unerquicklichen Ruhe, immer noch zu müde, zu betäubt, um einen Entschluß zu fassen. Die Trauung sollte früh stattfinden, auf acht Uhr war der Wagen bestellt, der sie nach Genf in die katholische Kapelle führen sollte. Georg hatte den Kammerdiener fortgeschickt und saß, zerbrochen an Seele und Leib, in seinem Fauteuil, das prachtvolle Dejeuner in Silber unberührt vor sich. O, daß alles ein Traum gewesen wäre! Daß er auf seinem Rohrstuhl säße in seinem bescheidenen Doktorlogis zu Pulverdingen, und Frau Hartung träte ein mit der eingeschenkten Kaffeetasse und dem Brödchen! Er hätte freilich nicht mehr hinausziehen mögen, um Praxis zu werben, aber er war ja so jung gewesen, – jetzt freilich kam er sich alt vor, – gealtert in einer Nacht! – Das Warten wäre am Ende nicht so schwer gewesen im Gedanken an das sanfte Angesicht, dem ein helles Freudenlicht aufging, so oft er kam … Das war nun alles vorüber.

Es klopfte leise an seiner Thür, – Maria trat ein im weißen Atlasgewand, noch ohne Schmuck und Schleier, etwas bleich, aber unaussprechlich lieblich; nie war ihm ihre Schönheit wunderbarer, zauberhafter erschienen. Sie setzte sich auf einen Stuhl ihm gegenüber und sagte mit der leisen und doch klaren Stimme, in den deutschen Lauten, die sie von ihm erlernt, die ihn so entzückt hatten, als sie sie zum ersten Male versucht: »Willst Du mich ganz ruhig anhören, Georg? Ich muß Dir viel sagen, aber ich will nicht lange Worte machen.« Er nickte nur mit finsterem Blick, froh, daß er nicht reden durfte. »Es sind drei Jahre, daß mein Vater todt ist,« hub sie wieder an. »Er hat mich sehr lieb gehabt; warum er aber mit meiner Mutter nicht in Liebe leben konnte, weiß ich nicht; ich dachte oft, sein Freund, der Graf Fuentos, auf den er alles hielt, sei schuldig, daß er die Mutter nicht mehr liebte, und ich weiß nicht, ob der Graf ein guter Mann ist. Felix aber, sein Sohn, ist gut und edel und wir haben uns immer lieb gehabt,« – eine helle Röthe flog über das schöne blasse Gesicht; Georg sah nicht auf. »Als mein Vater starb, hat er der Mutter einen Jahrgehalt bestimmt, der nicht groß ist. Unser ganzes Vermögen aber, und das ist sehr viel, sollte vom Grafen Fuentos verwaltet und meinem Gatten übergeben werden, wenn ich heirathe. Ich habe das früher nicht gewußt, den Felix aber habe ich lieb gehabt, schon als Kind, und wir haben uns verlobt im Hause seines Vaters. Meine Mutter war darüber sehr unglücklich und weinte, und sagte, sie werde arm und elend; Graf Fuentos sei ein böser Mann, ihr Feind, seine Güter seien alle verschuldet; wenn ich Felix' Frau werde, so werde er das Meine nehmen und sie werde verlassen von ihrem einzigen Kinde. Ich wußte wohl, daß Felix gut war und sie nichts entbehren lassen würde, aber er war sehr jung und sein Vater heftig und gewaltthätig. So reiste die Mutter mit mir durch allerlei Länder, um mich von Felix zu entfernen, zuletzt nach Deutschland, wo uns das Gut zugefallen war, und sagte mir immer, Felix habe mich nie lieb gehabt, er habe nur meine Hand begehrt, weil sein Vater all mein vieles Geld brauche. Ich habe es nicht geglaubt, aber ich hörte gar nichts von Felix mehr und die Mutter that mir alles, alles zu lieb, was nur mein Herz begehrte.

»Da bin ich vom Pferd gestürzt, das weißt Du ja, und war so sehr krank, und habe lange nichts von mir gewußt; so oft ich aber aufblickte, habe ich Dich gesehen und Du hast mir jeden frischen Trank gegeben und die kühlen Tücher alle, die mir so wohl gethan haben an meiner heißen Stirn, und ich habe Dich sehr lieb gewonnen, aber nicht so wie Felix.

»Da sagte mir die Mutter, wie ich wieder etwas verstehen konnte, Du habest mich über alles lieb, und habest mich in dem schlimmen Fieber gepflegt mit Gefahr Deines eigenen Lebens; sie habe Dir versprochen, daß ich Dein werde, wenn Du mein Leben rettest; Felix wisse und wolle nichts mehr von mir; wenn ich wolle die Seine werden, so sei sie auf immer von ihrem Kinde getrennt und in Armuth verbannt.

»Da habe ich denn nachgegeben; ich war auch so müde und wußte kaum, was ich that; ich war nicht glücklich, aber ich wollte Dein treues Weib werden, weil Dir's die Mutter versprochen.

»Nun aber kam Felix, der mich schon lange durch alle Länder gesucht; gestern Abend, als ich spazieren ging, sah ich ihn zum erstenmal wieder. Er hat in Liebe an mich gedacht all diese Zeit, sein Vater ist indeß gestorben, und er will all unser Gut theilen mit der Mutter und sie in Liebe und Ehren halten ihr Lebenlang. Da habe ich vergessen in meines Herzens Freude, daß ich noch Deine Braut bin. Aber nicht wahr,« – nie hatte sie in so innigen Tönen zu ihm gesprochen – »nicht wahr, Du gibst mich dem Felix? So lieb, wie er, kannst Du mich doch nicht haben; Du kennst mich nicht so lang und sprichst nicht unsre Sprache und bist nicht unsers Glaubens! – Nicht wahr, Georg? Felix sagt, wenn Du nicht anders wollest, so werde er kämpfen mit Dir um meinen Besitz, aber lieber Georg, das Herzeleid thust Du mir gewiß nicht an?«

Groll und Bitterkeit waren aus seinem Herzen gewichen, wie sie so einfach und offen ihr Herz und Leben dargelegt in dem mangelhaften Deutsch, das ihr so lieblich stand, – ein tiefes, unsäglich schmerzliches Herzweh war ihm geblieben.

»Thu wie Du willst, Maria, ich habe kein Recht an Dich,« sagte er mit trauriger Stimme; sie segnen, wie ihn einst Marie, das konnte er nicht.

»Aber Du grollst mir nicht, und hast keinen Haß auf Felix?«

»Er hätte zu mir kommen und als Mann mit dem Manne reden können, eh er mir hinter dem Rücken die Braut gestohlen,« entgegnete Georg finster, »aber ich will nicht mehr rechten, ich gehe noch heute.«

»Aber er wollte offen zu uns kommen, es war Zufall, daß er mir begegnete,« versicherte angstvoll Maria. »O, versprich mir, daß Du nicht im Groll von uns gehst! nicht jetzt gleich in alle Weite, daß wir uns gar nicht mehr sehen können; bitte, versprich mir's!«

»Ich gehe zunächst nach Genf und bedenke dort meine nächste Zukunft; sehen wollen wir uns nicht mehr. Behüt' Dich Gott, Maria!« Er gab ihr die Hand. Einmal noch sah er tief in das wunderbare Antlitz, einmal noch berührte er ihre Lippen, dann verließ er das Zimmer und das Schloß.

Der Zauber war vergangen, – der Feenwagen Aschenbrödels war zur Nußschaale geworden; ein einsamer Wanderer, ging er die Straße, die nach Genf führt; wohin weiter? Das wußte er noch nicht; er fühlte sich gänzlich rathlos, Muth und Thatkraft waren erschlafft und gebrochen.

Der Gräfin Kammerdiener hatte seine Wohnung in Genf erkundet; alle seine Effekten wurden ihm nachgesandt nebst einem französischen Brief der Gräfin, den er ungelesen zerriß. Was von Geld und Pretiosen dabei war, das sandte er zurück. Seine Kleider und die nöthige Summe für den nächsten Unterhalt behielt er; er fühlte, daß es kindischer Trotz gewesen wäre, als Bettler fortzuziehen. Soviel durfte er schon von der Gräfin annehmen für die Rettung ihres Kindes.

Er hatte noch Gelegenheit den Großmüthigen zu spielen, denn so leicht und einfach, wie sich wohl Maria gedacht, ging der Tausch des Bräutigams nicht vor sich. Georgs williges Verzichten, die reichen Spenden der Mutter, der jetzt natürlich ein ebenbürtiger katholischer Schwiegersohn lieber war, als der deutsche Doktor, und die emsigen Bemühungen des katholischen Vikars ebneten endlich die Wege.

Der Geistliche hatte eine gewisse Zuneigung zu dem Deutschen gefaßt und ihn achten gelernt, als er ihm im Auftrag der Gräfin eine glänzende Summe in zartester Form hatte übergeben sollen, nur als Entschädigung für die Praxis, die er um ihretwillen aufgegeben.

»Ich danke,« hatte Georg kurz und entschieden gesagt, »meine Dienste sind belohnt, die Praxis, die ich verloren, ist nicht der Rede werth.«

»Könnte ich nicht irgend welchen Planen für Ihre Zukunft förderlich sein?«

»Ich habe keine Plane.«

»Aber Sie sind jung, kenntnißreich, begabt, Sie können nicht in diesem Hinbrüten verharren, zumal wenn Sie alle Hilfe zurückweisen. Eine große, wissenschaftliche, nicht ganz gefahrlose Expedition geht demnächst von Frankreich in den Orient ab, und erstreckt sich vielleicht noch weiter, es wird ein junger, gesunder Arzt zur Begleitung gesucht. Wie, wenn meine Verbindungen dazu dienen könnten, Ihnen diese Stelle zu verschaffen?«

Das war es. Fort, weit übers Meer, fort von allem, was ihn an die Vergangenheit mahnte, an seine verlorne Heimath, an sein verschleudertes Leben – fort in die weite, weite Welt! Mit fast leidenschaftlicher Wärme bat er den vielvermögenden Priester, sich für ihn zu verwenden und wollte geduldig noch in Genf warten, bis es zur Entscheidung gekommen.

Er wandelte eines Tags in gedankenlosem Brüten im Freien, all die Herrlichkeit der umgebenden Natur hatte noch keine Sprache für sein Herz, aber andre, ernste Stimmen waren in diesen stillen Tagen laut geworden in seiner Seele. Hätte er diese herbe Täuschung erlebt, wenn er einfach Treue gehalten hätte wie ein Mann? – Daß schlaue Berechnung gewesen, was er bei der Gräfin für die glühende Hingabe eines dankbaren Mutterherzens gehalten, das hatte er wohl erkannt, aber Marias Bild stand wieder, wenn nicht ohne Irrthum, so doch rein und ohne Flecken vor seiner Seele.

» Prenez garde!« rief's, und, nicht eine schöne Reiterin, wohl aber ein prächtiger Wagen, der anfuhr, zwang ihn, rasch auf die Seite zu springen. Eine leichte weiße Gestalt in Kranz und Schleier saß darin, er sah sie einen Augenblick, – dann war die Erscheinung vorüber.

»Das war der letzte Akt des Drama's,« sagte er mit tiefem Weh.

Wenige Wochen nach dieser letzten Begegnung stand Georg auf dem Verdeck des Schiffes, auf dem die Expedition von Malta abfuhr. Er hatte niemand in der Heimath Lebewohl gesagt, er konnte scheiden wie Childe Harold:

Nun bin ich in der Welt allein,
Auf weiter, weiter See;
Was sollt' ich andern Seufzer weihn,
Wenn keinen rührt mein Weh?

Willkommen Wind und Wogen ihr,
Und, – wenn die Fahrt vollbracht,
Willkommen Wüst und Höhle mir!
Mein Heimathland, gut Nacht!


Man hält den Frühling so recht für eine wanderlustige Zeit, die liebliche Zeit, wo die Blumen ihre Aeuglein wieder aufschlagen und das bedächtigere Laubwerk sich leise entwickelt in frischem Hoffnungsgrün, die fröhliche Zeit, wo die Bächlein wieder rinnen und die Kindlein sich sonnen, die gefährliche Zeit, wo nach dem alten Volkswitz, der Salat schießt und die Bäume ausschlagen.

Mich dünkt aber, im Frühling ist gut daheim bleiben, wenn einem irgend eine freundliche Heimath beschieden ist, eine Heimath mit einem Blick ins Grüne, mit einem Pfad hinaus ins Freie. Auch die einfachste Gegend ist lieblich zu beobachten, wenn sie so allmählig ihr Festgewand anlegt, es thut so wohl, die langverschlossnen Fenster zu öffnen für die laue Frühlingsluft und behagliche philisterhafte Spaziergänge zu machen mit den Seinen an den grünenden Hecken vorüber, über den neubeblümten Rasen; Schneeglöckchen und die ersten Veilchen sucht man daheim, nicht auf Reisen.

Aber der Herbst ist eine wanderlustige Zeit! Die ersten goldnen Herbsttage, wo die Erde noch ihre schönsten Gewänder anlegt wie eine Nonne vor der Einkleidung, ehe ihre goldnen Locken unter der Scheere fallen und sie die glänzenden bunten Gewänder vertauschen muß mit dem farblosen Nonnenkleid. Im Herbst ist's lustig hinauszuziehen, so recht die letzte Schönheit des scheidenden Jahrs zu genießen in vollen Zügen und dann heimzukehren in eine trauliche, friedliche Heimath, wo ein gemächliches Stübchen, wo warme Herzen und freundliche Augen unser warten.

Am Abend eines schönen Herbsttags schritt auch unter den reichgesegneten Fruchtbäumen, zwischen den vielgeschäftigen Menschen ein Wandersmann, der keine freundliche Heimath wußte, die sich ihm aufthun würde für die Winterszeit. Sein Angesicht war gebräunt von der Sonne ferner Länder und älter als seine Jahre; er trug selbst sein leichtes Reisegepäck und schien ziemlich planlos zu wandern, nicht mit dem geraden bestimmten Schritt dessen, dem ein gewisses Ziel im Sinne liegt, das er heute noch erreichen will. Die Gegend, durch die er ging, war eben nicht eine, wie sie Touristen aufzusuchen pflegen, es war ein Stückchen Schwabenland, wie man es an manchem Punkt dieser schönen Gaue viel reizender und malerischer finden kann.

Zur Rechten lagen weitgedehnte Kornfelder, längst abgemäht, nur blaßrothe Winden und verspätete Kornblumen blühten noch zwischen den Stoppeln, der Blick war begrenzt durch einen sanften Hügelzug. Zur Linken zog sich leise abwärts Wiesenland, nicht mehr bunt durchwoben mit Blumen wie das erste lustige Gras, aber in weichem stillem Grün, das dem Auge wohl thut, wie friedliche Entsagung dem Herzen. Reiche Obstbäume faßten die Straße ein zu beiden Seiten, gebrochen und geschüttelt ward ihnen der reiche Segen abgenommen, lustige Kinder trieben sich unter den Bäumen umher, um aufzulesen, zu schmausen, und wieder schreiend davon zu springen, wenn der neckische Bursch, der oben zwischen den Aesten saß, ihnen ein paar Aepfel auf den Rücken warf.

Der Wandrer war Georg Rau und die Gegend war nicht all zu fern vom Hofe seines Vaters, aber er war nicht eingekehrt in seiner alten Heimath.

Er kehrte von langen und mannigfaltigen Wanderzügen zurück, er hatte sich nach Beendigung seiner Reise noch in Frankreich aufgehalten, um ein Werk über die Expedition vollenden zu helfen. Nun hatte er sein kleines Vaterland wieder aufgesucht, obwohl er jetzt auch in der Fremde vielleicht eine sichere Existenz gefunden hätte, – warum? das wußte er selbst kaum, hatte er doch nichts mehr dort, das er sein eigen nennen konnte!

Bei seiner Abreise vor drei Jahren hatte er niemand Kunde von sich gegeben und spät erst, von der Reise aus, seiner Mutter geschrieben. Ihre Briefe hatten ihn nicht getroffen und erst bei seiner Rückkehr hatte er erfahren, daß sie mit ihrem zweiten Gatten nach Amerika ausgewandert sei.

Nach langem Bedenken hatte er sich entschlossen, bei einem alten Universitätsfreund, der Arzt in der kleinen Stadt unweit der Mühle war, nach der Familie des Müllers zu fragen. Er hörte, der dicke Christian habe, noch sehr jung, eine rüstige Wittwe geheirathet und hause mit ihr auf der väterlichen Mühle, die Wittwe des alten Müllers sei mit der Tochter in die Brüdergemeinde zu K. gezogen und dort vor einem Jahr gestorben, die Tochter lebe nicht mehr in K., so viel er gehört; man sage, sie habe einen Pfarrer geheirathet, bei dem Pfarramt zu K. werde er dies gewiß leicht ermitteln können.

Georg hatte nicht weiter nachgefragt. Er war nun auf dem Weg nach einer kleinen Stadt, wo man einen Arzt suchte, er wollte, wenn es ihm gefiel, sich dort niederlassen; so viel er für sich allein nöthig hatte, dachte er wohl leicht dort zu erwerben, und es verlangte ihn nach Arbeit, nach einem Beruf.

Da er nicht zu eilen brauchte, hatte er sich Zeit zur Wanderung genommen, jetzt war er müde, die Sonne neigte sich und er sah noch keinen Ort in der Nähe. »Wie weit ist's bis zum nächsten Dorf, wo man gut übernachten kann?« fragte er einen Mann, der seine Aepfel auf einem Handkarren vor sich schob.

»Nach A.? da ist's noch gute dreiviertel Stunden.«

»Das ist weit,« sagte der müde Reisende, »geht Ihr denn auch noch bis dahin mit Euren Aepfeln?«

»Ich? nein, ich geh da 'nunter auf den Hof, aber da ist kein Wirthshaus.« Und er schob seinen Karren seitwärts ab, einen lockenden grünen Pfad zwischen Hecken, der hinunter auf den Hof führte, dessen weiße Häuser hinter grünen Bäumen vorschimmerten.

»Arabische Gastfreundschaft, wo man jeden Fremden in sein Zelt lädt, herrscht nicht in meiner lieben Heimath!« dachte Georg, – er erwog nicht, daß der Bauer wohl gar nicht so keck gewesen wäre, den feinen Herrn zu sich einzuladen, an einem schönen Abend, wo er noch eine Stunde guten Wegs hatte in ein Wirthshaus, daß bei uns die Bauern keineswegs auf unvorhergesehene Gäste eingerichtet sind, und die Fremden in der Regel nicht damit zufrieden wären, Kameelsmilch zu trinken und sich auf einer Matte auszustrecken, wie im Zelt eines Arabers.

Georg aber hatte gelernt, sich auf Reisen zu behelfen, die Landstraße lag mit einemmale so langweilig und staubig vor ihm, seine Müdigkeit nahm zu, der Hof schien so einladend herauf zu winken, daß er beschloß, es doch zu versuchen, dort ein Nachtquartier zu finden. »Mag sein, ich finde dort ein Glas Milch und einen Altvaterstuhl zum Ausruhen,« dachte er, »im schlimmsten Fall lasse ich mich auf irgend einem Ochsenwagen zum nächsten Wirthshaus führen.« So ging er den Weg hinunter, auf dem der Bauer schon verschwunden war.

Die wenigen, stattlichen Häuser des Hofs lagen einzeln in Gärten oder Gehöften, reichlich umgeben mit den Spuren landwirthschaftlichen Betriebs. Ein viel kleineres Häuschen stand seitab von den andern in einem Obstgarten, der mit einer niedrigen, sauber gepflegten Hecke eingefaßt war. Gerade dies kleine niedrige Häuschen war das einladendste, es war schneeweiß getüncht, mit spiegelhellen Fenstern und grünen Fensterladen, rings um das Haus das lieblichste Blumengärtchen, dessen blühende Levkojen und Reseden herrlichen Duft ausströmten. Unter der Linde vor der Pforte, die das Häuschen überragte, stand eine Bank und ein Tischchen. Auch vor den Fenstern waren Blumenbrettchen, und ein Kanarienvögelchen, schon ein seltener Gast auf dem Dorfe, hüpfte in seinem Käfig dazwischen.

Von allen Hütten und Palästen, die er je gesehen, war keine Behausung auf der Welt Georg noch so freundlich erschienen, wie dies Häuschen; wenn auf der weiten Erde noch der Friede wohnte, so mußte es hier sein. Kecklich öffnete er das Pförtchen in der Hecke und schritt auf die Hausthür zu, die sich leicht öffnete.

Die Hausthür war aber zugleich die Zimmerthür, unmittelbar aus dem grünen Gärtchen, aus Gras und Blumen trat man in die helle Stube, durch deren Fenster der letzte Sonnenstrahl hereinfiel, und die den halben Raum des Häuschens einnahm. Ein Altvatersessel stand am Fenster, in dem saß ein alter Mann, dessen schneeweiße Haare unter einem schwarzen Sammtkäppchen vorsahen, ein schlankes Mädchen in grauem Kleid mit gescheitelten blonden Haaren saß auf einem niedrigen Stuhl ihm gegenüber und las ihm vor; auf dem Tischchen zwischen beiden lag eine Landkarte und ein dickes Buch. Das Mädchen blickte verwundert auf, als die Thür aufging, ein Paar klare braune Augen schauten den Eintretenden an, fest und tief, nicht wie man einen Fremden, nein, wie man einen Langerwarteten ansieht. Leisen Schrittes kam sie ihm entgegen, bot ihm die Hand und sagte mit dem herzinnigen Ton, den er nie ganz vergessen: »Grüß Dich Gott Georg, bist Du einmal gekommen?«

»Marie, Du bist's, Marie?« rief er wie im Traum, »wie kommst Du hieher, und wie konntest Du wissen, daß ich komme?«

»Es ist mir immer so vor gewesen,« sagte sie mit ihrem alten traulichen Lächeln, »Du werdest noch einmal da zur Thür hereinkommen, und werdest froh sein, daß Du mich findest. Ich bin hier schon lang bei meinem alten, lieben Lehrer.« »Der Herr Doktor Rau,« stellte sie ihn jetzt dem alten Schulmeister vor, der nicht recht wußte, was vorging, und sich etwas mühsam von seinem Sitz erhob. »Du wirst Dir ihn wohl noch denken, den Georg vom Tannenhof, weißt Du?«

»Ach ja wohl,« sagte der alte Mann, »kann mir ja Ihre Eltern selig noch wohl denken, aber wie kommen Sie denn da her, auf unser Höflein? Das hat ja der Franzos in den Kriegszeiten nicht einmal gefunden!«

»Das erzählt Ihnen der Herr Doktor, so lang er sich ein bischen erfrischt.« Marie eilte hinaus und kam bald zurück mit einem steinernen Krüglein, dazu brachte sie ein kristallhelles Glas und schön weißes Brod auf einem grünen Porzellanteller. »Wir haben einen guten,« rühmte sie lächelnd, als sie ihm den goldklaren perlenden Wein einschenkte, »der Großpapa, – ich heiße ihn jetzt so, weil ich meinen eignen nie gekannt habe, – der Großpapa trinkt wenig, da muß er guten und reinen Wein haben.«

Da saß Georg auf Mariens Stuhl dem alten Mann gegenüber, behaglich, als ob er jeden Abend da sitze und erquickte sich und ließ sich von dem Schulmeister erzählen, wie er zum Dienst zu alt geworden sei und von seinem ledigen Bruder das Häuschen hier ererbt habe. »Da hab' ich mich zuerst plagen müssen mit einer bösen, alten Haushälterin,« klagte er ihm, »und es sah bei uns aus, daß es eine Schande war, da mein braves Weib gestorben war. Nun starb aber auch die Müllerin in K. und wie ich bei ihrer Leiche war, hab' ich dem lieben Kind der Marie geklagt, wie ich so allein sei auf der Welt, und sie ist zu mir gekommen und bei mir geblieben. Herr Doktor, was das für ein gesegnetes Kind ist, das weiß der liebe Herrgott allein.«

Während der Alte kein Ende finden konnte im Lobe seines Lieblings, waltete Marie draußen in der kleinen Küche, zu der eine Thür und ein Schiebfensterchen von der Stube führte; ihr kleines Dienstmädchen war vom Brunnen heimgekommen und hocherstaunt, einen fremden Gast vorzufinden. Draußen kochte und prasselte das Festmahl, Suppe und Pfannkuchen, und dazwischen wandelte Marie geräuschlos aus und ein, deckte den eichenen Tisch in der Mitte des Zimmers, sagte den Beiden mitunter ein freundliches Wort und bat sich aus, daß der Herr Doktor erst von seinen Reisen erzähle, wenn sie auch da sei.

Wie war es dem Georg doch auf einmal so ganz unbeschreiblich wohl geworden! So daheim hatte er sich ja in seinem ganzen Leben noch nicht gefühlt.

Das war keine künstlich gemachte Rücksicht und Freundlichkeit Mariens, unter der sich die verhaltene Bitterkeit eines gekränkten Stolzes birgt; es war die lautere Güte treuen Herzens, das nie eine Bitterkeit genährt, oder das sich jeden Stachel ausgezogen in der Kraft frommer Hingebung.

Wie gemüthlich saßen sie zu Drei um den Tisch mit der ringsum laufenden Fußbank, die ihn an die Tafel in der Mühle erinnerte, wie fand er Marien so blühend in unverwelkter Lieblichkeit, wie zerrannen jetzt erst wie Nebel alle die Bilder, die ihn berückt und beglückt und so unaussprechlich elend gemacht hatten!

»Aber wo finde ich ein Unterkommen für die Nacht?« fragte Georg, als er der Mahlzeit mit bestem Appetit alle Ehre angethan, »darf ich hier in Großpapas Armsessel bleiben? Ich kann überall schlafen.«

»Ei nein, wir haben ein Gaststübchen«, rühmte Marie mit Stolz, »oben neben Großvaters Schlafstube und meinem Alkoven. Der Herr Pfarrer, Großvaters Neffe, kommt manchmal hieher, auch die Frau und die Kinderlein haben uns schon besucht.«

Und es war ein ganz komfortables Gaststübchen; das Mühlenmariele hatte immer gewußt, was sich schickt. Georg schlief darin herrlich bis an den lichten Morgen, wo er in die sonnige, grünumrankte Stube trat, in der Marie bereits auf dem Tischchen am Fenster auf schneeweißer Serviette ein lockendes Frühstück bereit hielt.

»Haben Sie gut geschlafen?« fragte der heitere alte Mann, ganz stolz und vergnügt, einen Gast zu haben. Ja, das hatte er! so süß war sein Schlummer gewesen, seine Träume so friedlich und sein Erwachen so frisch, – seit seinen Knabenjahren hatte er so herrlich nicht geruht.

Drei Tage süßer Rast gönnte er sich auf dem Hof, und Marie führte ihn all die stillen, friedlichen Wege, die sie sonst allein oder mit dem alten Schulmeister wandelte, zwischen den grünen Wiesen und hohen Kornfeldern hin, an dem klaren Bach und in dem kleinen Buchenwäldchen.

Da legte er seine ganze Vergangenheit, jede Verirrung und jede Täuschung seines Lebens vor ihrer klaren Seele nieder, und es that ihm wohl, es zu thun. Marie hatte keine Beichte und keine Abbitte verlangt. »Ich habe Dir längst vergeben,« sagte sie mit schwesterlicher Innigkeit. »Ich weiß, daß Du mir nicht hast weh thun wollen und daß Du damals geglaubt hast, Du könnest nicht anders. Wenn Du im Irrthum gewesen bist, so hast Du Dir selbst am wehesten damit gethan.«

»Aber ich habe Dir doch weh gethan, Marie, Du hast doch gelitten?« fragte er; – er wollte nicht, daß sie ihn zu leicht verschmerzt.

»Ich bin sehr traurig gewesen, lieber Georg, und recht unglücklich, bis ich gelernt mit demüthigem Herzen sprechen: »Siehe ich bin des Herrn Magd; die Magd hat Kindesrecht erlangt,« fügte sie leise hinzu, und das Licht des süßen, tiefen Gottesfriedens, der all ihr Wesen umfloß, brach klar und voll aus ihren freudigen Blicken.

»Ich habe es immer gewußt,« hub sie wieder an, »daß Du einmal wieder kommen werdest. Freilich bildete ich mir immer ein, Du kommest krank und müde und hilfsbedürftig, und ich habe nur deshalb eine Freude gehabt, mein Elterngut zu sparen. – Aber das brauchst Du nun nicht.«

» Das brauch ich nicht!« rief Georg. »Wohl habe ich keine Schätze gesammelt auf meinen Reisen und kehre nicht viel reicher zurück, als ich gegangen bin, doch fühle ich Kraft in mir und Muth, meine Zukunft auszubauen. Aber arm bin ich doch, arm an Frieden und Herzensfreude, und ein Herz brauch' ich, das mir mein Haus zur Heimath macht. Nicht wahr, Marie, Du hast verziehen? und wenn ich mein Haus gegründet habe, so darf ich Dich einführen als mein bestes Gut?«

Da schüttelte Marie leise den Kopf. »Du weißt ja,« wiederholte sie, daß ich Dir nie etwas nachgetragen habe. Sieh, ich will für Dich sorgen wie eine Schwester; es freut mich von ganzer Seele, wenn Du all das Meine mit mir theilst wie ein Bruder, denn der meine braucht es nicht; wenn Du nicht eine andere Frau wählst, so will ich einmal zu Dir kommen und Dich pflegen, wenn wir alt genug geworden sind, und will bei Dir bleiben bis zum Tod, aber …«

»Mein Weib willst Du nicht werden, das habe ich verscherzt,« sagte Georg mit bittrer Traurigkeit.

»Sieh,« fuhr Marie leiser fort, und ein tiefes Erröthen zog über ihr Angesicht, »zur Frau sollst Du mich nicht wählen, weil Du es für Pflicht hältst gegen die Marie, der Du einmal verlobt gewesen und die Du verlassen hast, auch nicht, weil Du nun müde bist von der Welt und ausruhen möchtest bei einem eigenen Weibe. Deine treue Schwester will ich sein, für Dich sorgen und für Dich leben so viel ich kann, aber Deine Frau kann ich nur werden, wenn Du gewiß weißt, wenn Du mir vor Gott bekennen kannst, daß Du mich über alles lieb hast, nächst dem lieben Gott, daß Du Dir keine Freude auf Erden denken kannst ohne mich, und kein Leid, das Du nicht tragen könntest mit mir, und bis Du das weißt, mußt Du zuvor wieder in der Welt leben und mußt Dein eigen Herz prüfen.«

So stolz war die demüthige Müllermarie und sie blieb bei ihrem Worte, auch beim Abschied, wo Georg so gern eine Gewißheit mitgenommen hätte.

Als er aber wiederkehrte nach Monden und ihr sagte, daß er einen nützlichen, lohnenden Berufskreis gefunden, das eigne Brod, auf das der Müller selig so großen Werth gelegt, als er sie vor Gott versichern konnte, daß er kein Gut auf Erden so innig begehre als ihre Liebe, als ihr frommes, treues Herz, das ihm helfen möge, seinen Weg zum Himmel zu suchen, da konnte sie in seliger Demuth sagen: »Ich bin des Herrn Magd, mir geschehe wie Du gesagt hast.«

Marie wollte den alten Lehrer so bald nicht verlassen. »Hast lange genug gewartet,« sagte sie scherzend zu Georg, »nun warte noch ein Weilchen länger, der Großvater kann nicht sein ohne mich.« Warten wollte aber der Georg nicht mehr, der Alte sollte die neue Heimath seiner Marie theilen, und er willigte ein, um kein Hinderniß zu sein für ihr Glück. Dazu kam es aber nicht. Wenige Tage nachdem er sie in seinem schönsten Staat zum Altare geleitet, fand ihn das Enkeltöchterlein, das bis zu seiner Uebersiedlung bei ihm bleiben sollte, entschlummert in seinem Lehnstuhl. In seiner Bibel, die vor ihm lag, war das Kapitel aufgeschlagen von Moses, der vor seinem Tode noch hinübersieht in das Land der Verheißung.

Von Gräfin Maria hat Georg nichts mehr gehört; nur wie im Traum schweben manchmal jene Tage voll Glanz und Glück und Herzeleid an ihm vorüber. An Mariens Seite aber hat er das Beste und Schönste gefunden, was ein Mann auf Erden begehren kann: einen Beruf, in dem er oft im Schweiß seines Angesichts, aber im Segen arbeitet mit seiner gottgeschenkten Kraft, eine Heimath, auf die er sich freut, so oft es himmelwärts geht, die ihm die Erde lieb macht und die ihn doch lehrt in fröhlicher Hoffnung aufsehen zum Himmel.



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