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Wie ob eines Unglücks, das sie ihr Lebtag nicht mehr würde verwinden können, war Tymen's Mutter bestürzt über seine Liebschaft mit Marretje, als sie bemerkte, daß es ihm ernst sei und daß er schon ans Heiraten denke.
Es hatte sie schwere Mühe gekostet, ihn groß zu ziehen.
Als sie heirateten, waren ihr Mann und sie besser gestellt als die meisten; sie hatten ein eigenes Häuschen und ein Stückchen Ackerland. Aber Vos, ein Teppichweber, der von Kindheit an mitgearbeitet hatte bei dem damals noch üblichen Hecheln, dem Spinnen, dem Aufspulen und dem Weben von Kuhhaaren und Werg, hatte eine schwache Brust. Er begann zu husten, dann Blut zu speien; und starb, als er kaum dreißig Jahr alt war. Die Kinder waren noch klein, Tymen erst vier, der andere, der »Stille« noch nicht zwei Jahre alt. Aus der Zeit von Vossens Krankheit waren Schulden zurückgeblieben. Die Witwe mußte den Acker verkaufen und die Kuh, und dann allmählich das eine nach dem andern, zuerst, was sie entbehren konnte, dann, was sie nicht entbehren konnte, und endlich auch das Häuschen. Sie spann, nähte Kuhdecken, jätete auf den Äckern, ging tagelang zum Arbeiten in die Häuser wohlhabender Bauern, nähte Jacken für die Frauen, richtete ihre fein gefältelten Sonntagshauben her, bis spät in die Nacht hinein, und verdiente doch niemals so viel, daß sie, trotzdem sie sich selber das Brot vom Munde absparte, ihren beiden Kindern hätte genug zu essen und anständige Kleider geben können.
Der »Stille« litt an Zufällen.
Lange Zeit war er ruhig, saß zufrieden in einem Winkel mit des Vaters glänzender Tabaksdose, die er mit seinen blassen, feuchtkalten Fingern streichelte und die die geduldige Mutter für ihn aufhob, so oft er sie sich entgleiten ließ. Dann aber bekam er plötzlich einen Zufall. Schreiend wälzte er sich auf der Erde herum, Schaum vor den blauen Lippen. Einmal war er so nahe ans Feuer gekommen, daß seine Kleider in Brand gerieten. Die Mutter wagte kaum noch aus dem Hause zu gehen.
Und doch mußte sie es ihrer Arbeit wegen, hielt es dann eine Weile aus, trotz ihres angsterfüllten Herzens, bis sie eines Tages wieder nach Hause geholt wurde von dem erschreckt weinenden Kinde der Nachbarin, zu der sie den »Stillen« in Pflege gegeben. Dann blieb sie wieder einige Zeit daheim, litt etwas mehr Hunger, und wenn der Winter kam, etwas mehr Kälte als sonst, borgte sich von diesem und von jenem, arbeitete, während andere schliefen und quälte sich so durch die bösen Tage hindurch, bis das unglückliche Kind wieder ruhiger ward.
Tymen ging zur Schule; der Lehrer war zufrieden mit ihm. Aber was er verdiente mit dem Aufspulen des Garnes in der Fabrik, für drei Cents pro Stunde, das machte nicht viel aus. Und während dessen aß er je länger desto mehr und nutzte seine Holzschuhe und seine Kleider je länger desto rascher ab. Die Mutter, die nicht um Armenunterstützung einkommen wollte, – vielleicht wußte sie auch wohl, daß man ihr nichts bewilligen würde, da es ja doch immerhin welche gab, die es noch nötiger hatten,– dachte bisweilen wohl, sie könne es nun nicht länger mehr ertragen und sie wolle nur lieber betteln gehen, mochte es anständig sein oder nicht. Daß sie es dennoch nicht tat und sich sogar schuldenfrei erhielt, das geschah auf Kosten von Überanstrengungen und Entbehrungen, die sie, als sie kaum über vierzig Jahre alt war, bereits zu einer alten Frau ausgemergelt hatten.
Endlich kam Tymen zu van der Scheer in die Fabrik, und fing an, als Teppichweber zu verdienen.
Jetzt konnte sie sich, wenn sie müde wurde, mal ausruhen, jeden Tag sich satt essen und den »Stillen« pflegen.
Sie atmete auf.
Van der Scheer war zufrieden mit Tymen, der sich viel Mühe gab und seinen Kameraden, einen langsamen Arbeiter, zur Arbeit antrieb. Seine Tochter Zwaantje nickte ihm freundlich zu, wenn sie am Sonntag in ihren schönen Kleidern, mit der Haube aus echten Spitzen über dem goldenen »Ohreisen« Eine goldene, den ganzen Kopf umschließende Haube. und einer zweimal um den Hals geschlungenen massiv goldenen Kette zum Gottesdienst ging, an der Gruppe von Burschen vorüber, die wartend vor der Kirchentür standen.
Die Mutter sah ihn und sie schon verheiratet und Tymen als Inhaber der Fabrik.
Jetzt hatte er mit einem Schlage nicht nur all dies Glück von sich geworfen, sondern statt dessen auch noch Sorgen, Mühen und Unfrieden ins Haus gebracht. Wenn sie sich dagegen nicht auflehnte, würde es in Zukunft noch schlimmer werden, als es je zuvor gewesen; denn wie würden eine Frau, und späterhin auch Kinder, von dem mitessen können, was für sie selber nur knapp ausreichte?
Sie, die noch niemals geklagt hatte, fuhr so heftig auf, daß die Nachbarn ihr Weinen und ihre bitteren Worte hörten.
Tymen antwortete zornig, rief aus, daß er doch auch ein Mensch sei und leben wolle und endete damit, daß er fluchend hinausging und die Tür heftig hinter sich zuwarf. So hatte sie ihn noch nie gesehen. Sie wagte kein Wort zu sagen, als er spät abends heimkam.
Am nächsten Morgen aber ging sie zu Marretje, die sie allein antraf.
Sie hatte sich vorgenommen, ruhig und vernünftig zu sprechen; aber beim Anblick dieses Lächelns und dieser leuchtenden Augen packte sie plötzlich der Zorn, und sie wußte selber nicht einmal mehr, ob es Marretje sei oder Tymen, den sie in maßloser Heftigkeit mit Vorwürfen und Beschuldigungen überschüttete. Sie hörte nicht auf das, was das Mädchen, durch ihr Schluchzen hindurch, zu sagen versuchte, um sich und ihn zu entschuldigen. Mit der drohenden Warnung, daß sie Tymen schon daran hindern werde, in sein Unglück zu rennen, ging sie fort.
Als Kettingmakers von den Nachbarn – denn Marretje schwieg – hörte, was geschehen war, wurde er so zornig, als er es seiner Natur nach nur werden konnte, fühlte sich aber dennoch im Geheimen erleichtert, weil jetzt ein Anderer das getan hatte, was er selber wohl hätte tun wollen, ohne es so recht zu können.
Ebensowenig wie Tymens Mutter wollte er von der Sache etwas wissen; denn, wenn sie Tymens Verdienst nicht entbehren wollte, so konnte er Marretjes Sorge und Arbeit im Hause ebensowenig entraten.
Und daß er, wenn Tymen des Abends eintrat und sich neben Marretje setzte, wie einer, der in seinem Recht ist, bisher nur gemurrt und gebrummt und Marretje nicht mit der absoluten Machtbefugnis, die unter seinesgleichen ein Vater über sein Kind zu besitzen pflegt, den Umgang verboten hatte, das kam nur daher, weil er sich gar so sehr vor »Unfrieden« fürchtete. Allzeit unter der Ermüdung und dem Schmerz des schlecht geheilten Beinbruches leidend, kroch er, gleich einem halb zertretenen Insekt zwischen staubigen Blättern im Sande, von einem Arbeitstage zum andern, jedesmal zufrieden, wenn er einen zu Ende gelebt und der Sonnabend wieder vorüber war, ohne daß der Patron ihm den Abschied erteilt hatte; er hatte keinerlei Gedanken oder Kraft übrig für etwas, das außerhalb des Allernächsten und durchaus Notwendigen lag, und ließ das, woran er doch nichts ändern zu können glaubte, geduldig über sich ergehen. Wohl hatte er versucht, Marretje durch Warnungen, »daß er es doch nicht ehrlich meine« und »daß mit ihm nichts los sei« von Tymen zu entfremden, aber, als das nichts half, hatte er nur noch geseufzt und in seiner klagenden schleppenden Art prophezeit, daß sie es noch bereuen werde, auf ihren Vater, der es so gut mit ihr meine, nicht gehört zu haben.
Als er nun an diesem Abend Tymen wieder daherkommen sah, stieß er die Tür zu und schob den Riegel vor.
Tymen aber wußte es doch so einzurichten, daß er Marretje traf. Er wollte das gut machen, was seine Mutter ihr angetan: sie meine es nicht gar so schlimm.
Marretje sagte, vor sich hin blickend: »Sie hat für dich gesorgt, jetzt mußt du für sie sorgen.«
Er antwortete, daß er Manns genug sei, um eine Frau zu ernähren und zugleich seiner Mutter das zu geben, was ihr zukomme. Der »Stille« brauche nicht viel, nun, da sie wüßten, wie sie ohne Arzt mit ihm fertig werden konnten. Und Marretje selbst verdiene ja auch.
»Vierzig Stuiver jede Woche, und manchmal sind es schon fünfundvierzig gewesen,« sagte Marretje.
Sie verabredeten, wie sie sich im Geheimen treffen könnten.
Das war schwer; denn ein jeder von ihnen hatte den ganzen Tag über zu tun, – und am Abend war der Vater daheim.
Allein jeden Sonnabend ging er nach dem Abendessen zum Dorfscher. Marretje stand unruhig da während er sich erst umständlich unter der Pumpe wusch mit Seufzen und Stöhnen über das kalte Wasser, das ihm in den Nacken floß und die gebückte Haltung, die ihm schwer fiel. Draußen hatte sie schon Tymens Pfiff gehört, der den Schlag des Buchfinken nachahmte. Der Vater trocknete sich langsam ab, trat stolpernd an die kleine Lade, um die Kupfermünzen für den Barbier herauszuholen, zählte sie nochmals nach, nahm noch ein paar heraus, zögerte, bevor er sie wieder hineinlegte, stopfte sich seine Pfeife, zündete sie an und blieb noch eine Weile vor der Tür stehen. Endlich ging er dann. Sie eilte davon, ohne auch nur einen Blick in den kleinen Spiegel zu werfen, um zu sehen, ob ihr Haar ordentlich sitze und ob auch keine Fasern vom Spinnen darin seien.
Tymen wartete hinter dem Heuschober eines nahe gelegenen Bauerngehöftes; sie sah seine Gestalt sich scharf vom roten Himmel abheben. Sobald sie seinen Arm um ihre Schultern fühlte, war der ganze Kummer der Woche vergessen.
Allein Tymens Mutter kam dahinter; aus seinen Worten erriet Marretje, wie böse sie sei und was er zu Hause zu erdulden habe. Da begann auch ihr Vater mit Vorwürfen und Klagen: er merke es am Spinnlohn, daß Marretje nicht so viel an ihrem Rade sitze wie sie müsse. Zu guter Letzt sah sie ein, daß es so nicht länger ginge.
Sie sagte es Tymen.
»Es wird doch nichts anderes daraus als Kummer.«
Mit einem bösen Wort zwischen den Zähnen wandte er sich ab, gleich als wolle er gehen und sie dort allein stehen lassen.
»Tymen, ach Tymen!«
Sie richtete ihr verweintes Gesicht zu ihm auf mit einem Blick, vor dem sein Zorn verging.
Er sagte weicher:
»Wir dürfen doch auch wohl an uns selber denken.«
Marretje hielt einen Seufzer zurück, bevor sie antwortete:
»Der Vater kann mich nicht entbehren, und du kannst ja auch nicht von deiner Mutter fort und von deinem Bruder, dem armen Stümper.«
Er wußte wohl, daß das wahr sei, wenngleich er Marretje und sich selber so gern hätte anders bereden wollen. Dennoch versuchte er es noch einmal.
»Im nächsten Jahr noch nicht, das versteht sich, und das Jahr darauf auch noch nicht, aber einmal werde ich doch wohl Lohnerhöhung bekommen, und vielleicht setzt mich der Patron auch mal mit einem Kameraden zusammen, der 'n bißchen rascher arbeitet ...«
Marretje sagte leise:
»Wir müssen es eben abwarten.«
Das alte Dasein begann von neuem, gleich als habe es keinen Augenblick geschienen, daß es anders werden wolle.
Sie hatte im Hause ihre Arbeit von früh fünf Uhr an, wenn Gyvertje ihr Brot und ihren Kaffee haben mußte, ehe sie in die Chokoladenfabrik ging, bis des Abends um elf, wenn sie noch am Spinnrad stand.
Sie sah Tymen, wenn sie ihr Garn in die Weberei brachte, und von weitem in der Kirche. Am Sonntag Nachmittag kam er wohl hin und wieder mit seinen Kameraden vorüber; dann nickten sie einander zu; und sie schaute ihm nach, ihre Wange gegen die kleinen Scheiben gepreßt.
Allein in dem totenstillen Hause saß sie da und dachte, dachte immer die gleichen Gedanken. Oftmals saß sie noch unbeweglich im Halbdunkel, wenn die Schwestern mit ihren Bräutigams heimkamen.
Gyvertje wollte heiraten.
Das gab viel Not und Kummer wegen des Geldes.
Seit einigen Monaten schon wollte sie ihren Lohn für sich behalten, und an jedem Sonnabend begann von neuem das Keifen und Zanken über das Kostgeld, das sie dem Vater zu geben hatte. Jetzt verweigerte sie auch das aufs Bestimmteste, holte beim Kaufmann auf des Vaters Namen ein und nahm jedesmal noch so viel aus der kleinen Lade, daß Marretje nicht mehr wußte, wie sie von einer Woche zur andern auskommen sollte. Es war eine Erleichterung, als sie endlich zum Hause hinaus war.
Der Mann, der als Transportarbeiter bei der Chokoladenfabrik angestellt war, erlitt einen Unfall beim Aufladen von Kisten und blieb länger als einen Monat arbeitsunfähig. Die Auszahlung war knapp. Gyvertje kam, um vom Vater zu borgen. Er wollte nicht; die Schuld von ihrem Hausrat war noch nicht einmal getilgt. Marretje brachte ihn endlich dazu, mit vielen beschwichtigenden Reden und dem Versprechen es selber zurückverdienen zu wollen.
Das war gesund und gedieh gut.
Aber bald schon mußte die Mutter es entwöhnen; sie konnte den Fabriklohn nicht länger entbehren.
Marretje sagte, daß sie tagsüber das Kleine warten wolle.
Die Mutter brachte es morgens früh, wenn sie in die Fabrik ging.
Es war dann noch dunkel. Marretje hörte ihren Schritt auf dem hart gefrorenen Weg, und bevor noch die andere angepocht, hatte sie das Licht bereits angezündet und die obere Halbtür geöffnet.
»Es schläft so fest,« sagte die Mutter, selber mit einer schläfrigen Stimme, und über die untere Halbtür hinweg reichte sie das braune Bündelchen hinein, worin das Kind saß wie eine überwinternde Raupenpuppe in einem aufgerollten Buchenblatt.
Marretje trug es auf ihr Bett.
Die Flasche Milch war schon lauwarm, wenn es erwachte; sie nahm es auf ihren Schoß, um ihm zu trinken zu geben und mußte lachen, wenn sie sah, wie es nach dem Saugpfropfen griff und mit seinen beiden kleinen rotfingrigen Fäustchen die Flasche umklammerte. Sie hätte am liebsten den ganzen Tag mit ihm gespielt.
Immer wieder ging sie während ihrer Arbeit zu ihm, um zu sehen, wie es dort, so winzig, in dem breiten dunklen Bette lag.
Wenn sie sich über den Kleinen neigte, streckte er seine Ärmchen nach ihr aus.
Am Abend kam Gyvertje und holte ihn wieder; dann schlief er schon in seinem braunen Tuch.
Marretje lehrte ihn gehen.
Er hielt sich fest an ihrem Zeigefinger, während er mit wackelnden Schrittchen vom Stuhl nach dem Tisch lief. Dann machte sie aus ihrem Arbeitssack ein Nestchen für ihn zurecht, in dem er zufrieden spielte, indes sie spann.
Als er kaum ein Jahr alt war, bekam Gyvertje ein zweites Kind. Jetzt konnte sie doch nicht mehr in die Fabrik gehen. Sie behielt auch das erste daheim. Anfangs ging Marretje wie verloren umher; ihr war zumute, als sei alle Arbeit bereits getan.
Seit Gyvertjes Heirat gab es mit Alie immerfort Verdruß und Sorge.
Nach einem heftigen Zwist war sie mit ihrem Bräutigam auseinandergekommen. Der neue, ein Maurergeselle aus Enkum, war fast immer außer Arbeit. Dennoch wollten sie heiraten. Es ging nicht. Aber schließlich mußte es sein.
Der Bursche, der zum Militär einberufen war, zog am nämlichen Tage in die Kaserne. Bis er zurückkehren würde, wollte Alie daheim bleiben beim Vater und bei Marretje.
Sie konnte sich im Haushalt nicht zurechtfinden; mit ihren langsam und schwerfällig gewordenen Bewegungen schlich sie matt umher. Nach ein paar Tagen gab sie es auf. Zusammengekauert saß sie auf einem Stuhl am Herd und schaute auf die zuckenden Flämmchen in den Tannenreisern und auf den Topf, in dem Reis und Buttermilch brodelten, während die Näharbeit auf ihrem Schoß ihren Händen entglitt. Der Anblick ihres blassen, schmalen Gesichtes schnitt Marretje ins Herz. Heimlich kaufte sie Fleisch und Milch für sie.
Das Kind wurde geboren, ein armes, kümmerliches Wurm, das kaum des Lebens fähig schien. Fast vom ersten Tage an hustete es; es war, als könne es nicht recht atmen. Die Mutter lag krank danieder. Matten Auges schaute sie zu, wie Marretje sich mit ihrem Kinde abquälte. Es starb. Ihr schien das kaum zum Bewußtsein zu kommen. Sie lag, mit dem Gesicht gegen die Wand gekehrt, indes Marretje das arme tote Geschöpfchen, das jetzt nicht anders aussah, als da es noch lebte – so blaß war es immer gewesen und so tief eingesunken die Augen – behutsam in den Sarg bettete und ihm einen blühenden Zweig von der Rotdornhecke vor dem Hause in die gefalteten Händchen legte.
Der Vater gab auf den Todesbericht keine Antwort. Seine Dienstzeit ging zu Ende. Er kam zurück. Und nachdem er drei Wochen lang die ganze Gegend abgesucht hatte, fand er endlich in Kloosterhuizen eine Arbeit, die wohl bis zum Herbst dauern würde, und holte seine Frau heim.
Marretje blieb mit dem Vater allein.
Wenn er des abends aus der Fabrik nach Hause kam, war er meistens so müde, daß er kein Wort sprach. Er wollte sogleich seinen Brei haben. Dann ging er zu Bett.
Die Hausarbeit war beendet, der Sommerabend noch hell.
Marretje schaute nach ob er schlief; dann schlich sie sich heimlich zur Tür hinaus, zu Gyvertje.
Es war immer etwas mit den drei Kindern. Sogar das älteste, das doch zuvor so fröhlich und frisch gewesen, begann zu kränkeln.
Der Vater wollte nicht, daß sie mit dem Kinde zu dem neuen Arzt ginge, zu dem die Holthumer kein Zutrauen hatten, weil er keine Medizin verordnete und überall die Fenster öffnete. Und er meinte:
»Da würde ein guter Arzt auch nichts machen können. Es kommt eben nicht genug hinein!«
Marretje kam, so oft sie nur irgend konnte, mit einem Restchen Essen und ein paar Eiern von den soeben erst angeschafften Hühnern.
Aber eines abends traf sie die drei Kinder, ein jedes mit einer Schale Milch, die wie lauter Sahne aussah, während ihre Schwester mit frohem Gesicht dabei saß.
Der Arzt, zu dem sie, dem Rat einer Nachbarin folgend, dennoch gegangen, hatte ihr einen Brief an Frau van Walsum auf Hartestein mitgegeben; jetzt bekamen die Kinder die köstliche Milch aus der Musterwirtschaft.
Marretje entsann sich wohl, wie Tymen darüber gesprochen hatte an jenem Nachmittag im Heulande; viele Jahre war es schon her.
An diesem Sonntag in der Kirche wollte es ihr scheinen, als schaue Tymen sie immerfort an. Sie meinte, daß sie sich das sicherlich nur einbilde. Und dennoch fühlte sie, wie ihre Wangen warm wurden.
Draußen kam er geradeswegs auf sie zu.
In einem Ton, als hätten sie einander erst vor einer Stunde zum letztenmal gesprochen, erzählte er ihr, daß sein stiller Bruder in eine Anstalt käme.
Es sei in der letzten Zeit mit seinen Zufällen so viel schlimmer geworden, sie hätten den Arzt dazu geholt, der habe gemeint, daß sich vielleicht wohl noch etwas machen ließe, und Frau van Walsum habe mit Geld geholfen. Nun sei es daheim ganz anders geworden, in jeder Beziehung.
Marretjes Herz klopfte so sehr, daß sie nicht sprechen konnte; sie begriff wohl, warum er ihr das erzählte und warum er, gleich als sei das etwas ganz Natürliches, neben ihr her ging und ihr bis vor ihre Tür das Geleite gab.
Seine Mutter wurde krank.
Es schien fast, als ob ihr mit der Sorge um den unglücklichen Sohn nicht eine Last, sondern eine Stütze genommen sei.
Immer wieder mußte der Arzt zu ihr kommen und ihr versichern, daß »man« in der Anstalt gut zu ihm sei und daß es ihm an nichts fehle. Endlich wollte sie durchaus dorthin und ihn heimholen. Sie war bereits sterbend.
Marretje hörte es von einer Nachbarin, die mit vielen anderen seit Stunden schon, Gebete murmelnd und die Ende erwartend, bei ihr gesessen hatte, und die jetzt gerade im Begriff war, wieder hinzugehen.
Sie wußte wohl, daß man es ihr verübeln würde, wenn sie nicht auch käme. Aber sie konnte nicht. Von den vielen widerstreitenden Empfindungen, die sie schmerzlich verwirrten, war am allerstärksten eine schamhafte Scheu die Frau anzusehen, die Tymens gute Mutter gewesen, und auf deren Tod Tymen und sie doch warten mußten, um selbst Eltern werden zu können.
Am Abend nach der Beerdigung kam Tymen, so wie er zum Friedhof gegangen war, in seinen schwarzen Sonntagskleidern.