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Lazarettschatten

Lazarettschatten *

Die Gassen kannte ich wieder. Freudebellend lief ein langhaariger Pudel auf mich zu. Die verwitterten Torbogen bemühten sich, mir freundliche Gesichter zu machen, und lachenden Herzens wußte ich: Ich bin jetzt daheim!

Als ich in der Stube stand, war sie leer. Der Kanarienvogel an der Wand lag verhungert im Käfig; in der Küche tropfte der Hahn der Wasserleitung; im hinteren Zimmer lag in billigen, schreiend bunten Papierrosen die Leiche meiner Mutter aufgebahrt, eine dicke Kreuzspinne zur Gesellschaft.

Ich war bei dem Bild, das sich mir bot, gänzlich ungerührt. Der Schreck hatte meine Gefühle durch den Mörserschuß des Tatsächlichen in die innersten Winkel des Herzens getrieben, und da saßen sie nun, Gefangene in einer Festung, auf der eine übermächtige Hand lastet, und rührten sich nicht. Es war nur eine große Verwunderung in mir, meine Mutter, diese fröhliche, immer geschäftige Frau nun auf einmal ohne einen Funken Leben zu sehen. Und damit trat mir deutlich ins Bewußtsein, daß der Tod doch etwas schrecklich Widersinniges sein müsse, und ich schloß die Tür hinter mir zu, nahm einen Apfel aus der Rocktasche, sagte: tot! tot! tot! und biß herzhaft hinein in das Baumfleisch, daß der Saft mir in den Hals lief, damit ich wenigstens wußte: ich lebe! ich lebe!

º

Als ich hinauswollte, traf ich den Vater. Er war merklich grau geworden in der Zwischenzeit. Die Falten im Gesicht, diese Annäherungsgräben des Todes, hatten sich kräftig vermehrt und waren tief in die Haut gestiegen. Die Haare im Bart trugen Wintersfarbe. Ich faßte ihn und fragte: »Kennt Ihr mich nicht, Vater? Ich bin Euer Sohn Oskar!«

Der Alte schaute mich an, mit einem halben Lächeln, trübselig wie Novembersonnenschein auf Stoppelfeldern und sagte: »Ich habe keine Söhne mehr. Meine Kinder sind tot. Sie sind zum Fett geworden, das die Radachsen schmiert, auf denen Deutschlands Sieg in die Welt fährt!«

Ich sagte: »Ihr irrt Euch, Vater! Ich bin Euer Sohn Oskar. Ich bin nicht tot. Ich bin wie Ihr aus Fleisch und Bein und lebe!«

Er sagte, und seine Lippen schürzten sich unwillig: »Du bist ein großer Tor! Hier habe ich ein Schriftstück erhalten, daß du gestern gefallen bist. Wem soll ich nun glauben, dem Staat oder dir? Schere dich weg, alter Betrüger!«

Und unwillig brummend, schlug er die Tür hinter sich zu.

Ich war erlöst, als ich die unverfälschte Luft der Straße atmete. Sonne schien vor mir auf den Weg. Sonne schien mir auf Wange und Genick und lockte leichte Schweißtropfen auf meine Stirn. Vorposten der Müdigkeit. Wie glücklich war ich! Herrgott, ich lebte doch! Herrgott, ich war doch nicht tot!

Über die Plätze schritt ich, wo meine Jugend verflossen war. Am alten Schulhof ging ich vorbei. Ausgebrannt, ausgestorben lag er da, der Mund eines vieltausendjährigen Kraters. Auf den roten Backsteinblöcken wehte die Fahne des Roten Kreuzes. An den Fenstern standen Frauenzimmer in Schwesterntracht.

Als ich endlich nach Stunden auf der Straße einen Menschen traf, fragte ich: »Warum ist diese Ortschaft schattenwesig, menschenleer?« Da wischte sich der Angeredete die entzündeten Augen, hüstelte mehrmals und sagte mit schmalhafter Stimme: »Wo sollen denn noch Männer herkommen? Sie wissen doch, daß wir einen Krieg um unsere Wurzeln führen. Oder sind Sie etwa ein Fremder und wissen das nicht? Da müßte ich Sie schon bitten, mit mir auf die Wache zu kommen, damit Ihr Drum und Dran einwandfrei festgestellt werden kann!« Nein, sagte ich und trat fürsorglich einen Schritt zurück, ich sei beileibe kein Fremder, sondern ein genugsam Bekannter, an dem jeder Staatsanwalt, der nach hochwärts strebe, seine helle Freude haben könne.

Trotz dieser unbekümmert klingenden Rede hielt ich es doch für geratener, mich auf die Socken zu machen und mir den Staub meiner Heimat endgültig von den Füßen zu schütteln.

Der Blick des hüstelnden Mannes pfiff wie eine Flintenkugel hinter mir her.

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Eine fettgemästete Frau saß am Fenster. Der ging das Wort nicht aus. Ihr Mann sei Feldwebel bei einer Landsturmkompagnie im Osten, seit zehn Monaten schon liege er draußen, hätte das Eka, den Buckel voll Läusen und so weiter, aber das mache nichts, sie habe ihn auch in Dreck und Speck gern, dabei nahm sie ein Medaillon aus ihres Busens wildschlotternder Menge, zeigte das Bildnis ihres Mannes, von dessen deutschnationaler Physiognomie mir nur der englisch gestutzte Schnauz im Gedächtnis blieb, rundherum, und sie sei stolz auf ihren Helden, denn der Kaiser habe gesagt, jeder Mann im Osten sei ein Held, und ihr Mann, ihr süßer Fritz, sei ein ganz besonderer, und wenn's der gütige deutsche Gott wollte, daß er für Deutschlands Größe in Schönheit dahinginge, so ließe sie ihm einen Grabstein setzen, mit Goldbuchstaben, hübsch geschliffen, und eine Todesanzeige ließe sie ins Samstagblatt einrücken mit doppeltdickem Rand, sie könnt's ja bezahlen, lateinische Schrift, damit sich diese Müllern, die neben ihr wohnt, und auch einen Mann hat, der's Eka schwingt und Feldwebel ist, und die sich einbildet, so einen Mann gäb's keinen mehr, aus tiefstem Herzen heraus giften könne.

Als dieser Redestrom ziemlich verrauscht war, machte ein junger Handlungsreisender schüchterne Versuche, über die derzeitige schwindelnde Höhe der Butter und anderer landwirtschaftlicher Erzeugnisse die Scheinwerfer seines Geistes leuchten zu lassen, aber der Blick auf einen dicken Spazierstock, der in den Händen eines ihm gegenübersitzenden Krautjunkers zitterte, ließ ihn alsbald verstummen.

Ein Predigtknecht räusperte sich einige Male sehr vernehmlich und betonte mit breiten Armbewegungen, der derzeit sich so herrlich zeigende Geist der Uneigennützigkeit, der alle Klassen und Stände durchströme, solle auch der Nachkommenschaft in vollstem Maße erhalten bleiben, worauf ein dürrer ausgemergelter Mensch in Arbeiterkleidung, den der Scharfblick der besagten feisten Dame sofort als einen roten Umstürzler erkannte, den Vorschlag machte, man möchte doch diesen Geist auf Flaschen ziehen wie etwa den Rheinwein oder den Mosel und ihn, damit bei den kommenden Geschlechtern an der Echtheit ja keine Zweifel entständen, sofort an etliche historische Museen zu Aufbewahrungszwecken überschicken.

Auf diese Rede hin fand es der Predigtknecht geraten, einen Ort aufzusuchen, für den die deutsche Sprache nur zarte Umschreibungen hat, sofern sie nicht geradewegs Scheißhaus sagen will.

Ein junges Fräulein schenkte all dem gar nicht seine Aufmerksamkeit, sondern hielt ein weißes Nastüchlein vor den Augen, aus denen ein Tränlein nach dem andern schoß, deren jedes für einen Augenblick an einem schmalen Goldring hängen blieb und diamantig aufleuchtete, eh's auf den Boden fiel.

Der Krautjunker sah die Tränen, diese Zeichen einer sich auflösenden Seele nicht, sein Blick blieb an den schöngeformten Waden hängen. Die fette Dame sammelte neuen Atem zu einer neuen Rede, der Predigtknecht trat ein und ertappte den Blick des Bauernschinders, sofort einen stillen Pakt mit ihm schließend, und innerlich mußte ich sagen: »Was für eine gottverrottete Schweinewelt ist doch das!«

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»Aussteigen! Alles aussteigen! Endstelle Pudelsburg!« schrie der Schaffner und streckte seinen roten Kopf, einen gestohlenen Vollmond, durch das Wagenfenster. Es ging eine nette Weile, bis sich die dicke Dame durchgezwängt hatte; wir anderen standen indessen so dicht gedrängt, wie Fische im Faß. Mein Glück führte mich dicht hinter das junge Mädchen, und ich sah, daß sie einen wundervollen Nacken hatte, der aus dem schwarzen Kleid aufstieg so rein, wie ein Eisberg aus dem Meerwasser. Und es war mir ein unbeschreiblicher Genuß, den süßen Atem ihres Körpers einzuschnaufen.

Derweilen ich zum Ausgang schritt, kam mir noch einmal der Gedanke, Pudelsburg liege am Ende der Welt, gleich dahinter finge das dicke, das nichtswürdige, das nichtsige Nichts an. In diesem Glauben wurde ich bestärkt, als ich den Fahrscheinknipser sah; das schien so ein besserer Vetter des Todes. In Lappen war ihm das Fleisch vom Schädel gerissen; bleiches Bein gespenstisch glänzte. Seine Augenwimpern waren Natterzungen, und seine Finger sahen grün aus wie Eiterbeulen und hatten die Gestalt flüssiger Würmer. Er grinste höhnisch, als er die dicke Dame, den edlen Pastor und den Krautstaudenjunker sah, und als sie vorbei waren, nahm er sich ein Buch aus der Bauchfalte und trug ihre Namen ein. Indessen er so beschäftigt war, hatten das Mädchen und ich Gelegenheit, vorbeizukommen, und das muß man Glück nennen, denn es war ein ekelhafter Geselle.

Das Mädchen ging in leichten Schritten dahin. Ich folgte wie gebannt, und mein Herz machte mutwillige Sprünge. Jede Bewegung dieses Körpers war ein Fingerzeig für mich, wie viel Schönheit es in der Welt gebe; jeder Schritt war eine Offenbarung der Köstlichkeit des Lebens. Endlich faßte ich ein Herz und redete das Mädchen an. Nur schüchtern, wie die ersten Primeln aus der Walderde stoßen, kamen die Worte aus meinem Munde, und es dauerte eine Weile, bis sie sich zu ihrem vollen Glanze aufgeschlossen hatten. Das Mädchen war gar nicht verwirrt, über das, was ich ihr sagte; sie bat mich, am Abend zu ihr zu kommen. Sie wohne in einem Landhause fernab der Stadt, in einem Akazienwäldchen, das ewiglich blühe.

Ich zog den Hut, als sie leichtfüßig weiter schritt, und meine Augen saugten sich an ihr fest und wanderten ihr wie der Lichtkegel eines Scheinwerfers nach. Und mir war zu Mute, als sei mit ihr der beste Teil meines Lebens von mir gegangen.

º

Da sah ich den Schutzmann. Seine blaue Gestalt wuchs hoch in den Himmel, und wenn er die Hand hob, so stand die lange Reihe der Wagen, und wenn er sie senkte, fuhren sie wieder. Und der Wind kam und spielte um seinen Schnurrbart, und die Sonne beschien seine Stirn, daß er blinzelnd das Auge schloß, und dann floß der Regen, und die Tropfen fielen vom Helmrand hinunter und netzten die Scheide des Säbels. Er fühlte den Wind nicht, und die Stimme des Regens war wie die Stimme seiner Frau, die still auf ihn einsprach. Und die Sonne war tot.

Da ging ihm das Herz auf. Was Straße, was Platz? Was Wagen, was Menschen? Wie Zunder fiel seine Uniform, und der Säbel rannte weit von ihm weg.

Als nackter Mensch stand er da, zum Kinde geworden, sehnsüchtigen Auges zum Himmel starrend, von dem Glanz über Glanz ging. Seinem Leben dachte er nach, wie es wohl kommen müßte. Vögel, die rauschend aufflogen, nahmen seinen Sinn in die Welt mit nach dem Eiland der Seele.

Aber da bohrte der Sturm. Ein schwarzes Schiff kam gefahren und zerschlug ihn, den Schwimmer. Blutenden Mundes rettete er sich. Steilstarre Küste, scharfes Gewächs, boshafter Wind. Sohle und Knie wurden wund; die feine Haut seines Leibes zerriß. Ein Ungeheuer kam und führte ihn mit sich über Klipp und Gestein, und er wurde menschlich klein und schrumpfte zusammen.

Donnerschlag!

Ein ungeduldiger Kutscher hatte mit seiner Peitsche geknallt. Der Säbel kehrte zurück. Die verschwitzte Uniform klebte am Leibe. Straßen und Platz waren da, Wagen und Menschen. Die Welle der Stadt. Und mitten drin dieser Schutzmann. Frierend die Schultern hochgezogen. Und derweil er die Hand hob, mit Schrecken daran denkend, heute noch kein Protokoll gemacht zu haben.

º

Eine fremde Hand tippte mir auf die Schulter. Ich schaute mich um, da stand der Bahnhofmensch da. Feingeputzt, das faulige Fleisch kunstgerecht wieder an den Schädel geleimt und die schwappligen, quappligen Eiterwürmer hübsch in die ledrigen Finger des Handschuhs versteckt. »Kommen Sie mit?« fragte er. »Ich will meine Kundschaft besuchen!«

Zum Junker kam er zuerst.

Der hatte sich eben frische Butter auf den Tisch stellen lassen und Spargel dazu. Das nahm er und aß.

Wir schauten durchs Fenster, und der Mensch neben mir lüftete, dem Dicken zu Ehren, grüßend den Hut. Da wurde der Spargel, den der eben zum Munde führte, urplötzlich zur Lanze des Todes, die sich tief in den rotwarmen Schlund des schluckenden Lebens senkte.

Sterbend sank der Junker dahin, und die schöne, gelbe Butter stand glitzerig neben ihm.

Kühl.

Stoffhaft.

Jungfräulich.

Unberührt.

º

Zur dicken Dame kamen wir. Sie war langsam gegangen, ihres fetten Gehäuses wegen, und die dreißig Stufen, die sie hatte steigen müssen bis zum zweiten Stock, hatten ihr stark zugesetzt. Nun saß sie in ihrem Polsterstuhl, breit aufgeplustert wie ein August-Huhn im Hofsand in der Sonne, und zu ihren Füßen lag, sie schweifwedelnd betrachtend, ein rundlicher Mops. Ein spitzenbesetztes, starkduftendes Taschentuch hielt sie in ihrer Hand, an der das Fleisch wie eine Päonie blühte, und versuchte, sich fächelnd Kühlung zu schaffen. Sie sah gar nicht, daß wir eintraten und uns ungeheißen in ihre Stühle setzten. Nur der Hund hob die Nase nach uns hin und knurrte.

»Anna, Anna!« rief sie, und ein junges Mädchen mit roten, abgearbeiteten Händen kam unter die Tür. »Warum kommen Sie nicht? Seit einer halben Stunde ruf' ich, merken Sie sich das! und Sie faules Ding schauen zum Fenster raus, karessieren und spazieren!« Und vor Eifer und Geifer flossen ihr Schaumperlen aus den Mundwinkeln.

Das Mädchen achtete ihres Geschreies nicht, kehrte sich um und warf die Tür ins Schloß.

Da wurde die dicke Dame blaurot im Gesicht; die eine feiste Hand mit dem Taschentuch stieß sie zuckend in die Luft, mit der anderen hielt sie sich fest. Ihr Atem ging Kolbenstoß, pfeifend, nicht mehr zum Anhören.

»Ich stell ihr den Dampf ab!« sagte der Bahnmensch, und trat auf sie zu. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, als sie ihn sah und erkannte. Aber bevor sie zum Schreien kam, hatten sich des Todes Finger grausam wie Klammern um ihre zitternde Kehle gelegt und ihre Seele vom Leben abgeschlossen. Hin und her sprang ihre Seele, keifend einen Ausweg suchend. Das Taschentuch entfiel der Hand, deren Finger sich kraftlos spreizten, und da lag nun das Tuch wie das Ausgespuck eines Riesen. Die Todesangst gab sich einen letzten Ruck, suchte einen Ausgang und preßte der Frau die beiden Augen zum Kopfe hinaus. Da hingen sie nun herab wie zwei lange, naßkalte, baumelnde Schläuche, und das Hündlein sprang ihr, hopp, auf den Schoß und leckte daran.

º

Wieder auf der Straße, ging ich auf der Schattenseite, wo das Dunkel aufgestapelt lag; denn der Mut war mir entfallen, der lebenden Kreatur in die Augen zu schauen. Aber der Tod, der neben mir hinkte, rief: »So wetteten wir nicht!« und ließ einen gräulichen Schrei aus, dessen Gewalt mich mitten auf die Straße trieb, wo Sonne war.

Hier in diesem unbarmherzigen Licht wurde mir auf einmal alles klar. Ich begriff, daß das, was man Leben nennt, eine unbarmherzige Schlächterei war.

Da kamen in rasendem Lauf die Sonnenstrahlen angeschossen, Wärmekeulen mit sich führend, erbarmungslosen Herzens auf Milliarden und Abermilliarden lustig tanzender Bazillenseelen einhauend, die durch die Luft tanzten. Einen Augenblick wohl setzten sich die Dinger zur Wehr. Aber schon hatte ihnen die Macht der Sonne den Leib gesprengt, so daß das bißchen armselige Gedärm herausfiel und sich davon machte.

Ameisen liefen über die Straßen, diese deutschesten aller Tiere. Mein Fuß trat sie tot.

Bunte Käfer krochen im Sandweg, ihre bunten Flügeldecken zur Schau stellend. Mein Tritt vernichtete sie.

Mücken, die so frühlingsfröhlich summsten, gingen durch den Mund der Schwalben in ihr Nichts ein.

Spinnen, luftige Luftschiffer, schwebten an dünnen Seilen dahin, den besten Ort aussuchend, ihre Netze des Todes zu spannen.

Ein kleiner dicker Sperling fliegt mit einer Raupe im Schnabel davon.

Ein Katzentier, schon des Nachbars Schrot im Wanste, tatzt ihn.

Die Luft schallt vom Geschrei der Häher.

Die Geier rüsten sich, nach Aas zu fliegen.

Selbst die stillen Pflanzen sind unter die Mörder gegangen, umklammern die Erde, rauben sie aus. In dunklem Grund, dem Blick entrückt, spielt sich zwischen Wurzel und Wurzel tückischer, raubvoller Kampf ab.

Ein Baum stiehlt dem andern das Licht. Kraft seiner Gewalt.

Krachend fallen die verdorrten Äste nieder; aber das Hirschpaar, das in den Waldrändern kämpft, läßt sich nicht stören.

Schon in der Schnauze des Fuchses, sieht eine Häsin das blutlüsterne Wiesel, das sich auf ihre Jüngsten stürzt. Doch ihren Angstschrei ermordet die Luft.

Mord und Sterben überall.

Der Tod übt Betrug; er hat sich die Maske des Lebens angezogen.

Weltbetrug.

Mord, Mord, Mord, Sterben, Lebensausfluß, Untergehn, Mord, Mord, Mord!

Nur der Mensch, dieser Feldwebel alles Geschaffenen, hat die Frechheit, von Leben zu sprechen.

º

Als der Bahnmensch, so der Tod war, am Hause des Pfarrers die Klingel zog, daß ihre bronzene Seele zerschellend durch die Stille spritzte, kam ein junges Fräulein gegangen. Sie machte die Türe auf, die sich ihres Alters beklagend, ächzend, widerwillig in den Angeln drehte. Da das Fräulein niemanden sah, trat es auf die Vortreppe hinaus, zu schauen, wer da wäre. Diesen Augenblick benutzten wir zum Einschlupf.

Ein kühler Gang führte an einem Zimmer vorbei, drin lärmend Kinder spielten. Ein Flachskopf tat die Tür auf und prallte aufschreiend zurück. Wir stiegen die Treppe empor und suchten das Zimmer, wo der Pfarrer, mit seinem Gott ringend, auf den Knien lag. Es war ein harter Boden. Aber der Predigtknecht hatte sich einen Teppich unter die Knie gelegt, damit er die Härte des Bodens nicht spüre.

»Ich bin der Abgesandte Gottes, zu dem du betest!« sagte der Tod.

Der Pfarrherr hörte ihn nicht. Seine Lippen drehten sich treibend. Das Gebet war das Wasser, das aus dem Mühlenwehr seiner Seele darüberfloß.

»Ich bin der, den du suchst!« sprach der Tod zum andernmal, und seine Hand, die er dräuend gegen den Beter hinstreckte, wuchs zu einer unheimlichen Fläche, die einen kältenden Schatten ins Zimmer warf. Der Geistliche aber, in Andacht versunken, spürte das nicht.

»Ich bin's!« schrie nun, zornig gemacht, der Knöchelschwinger, und seine Gestalt reckte und streckte sich, krach, seine breiten Schultern drückten die Türfüllung aus, die brechend zerbarst.

Der Pfarrer, das Auge auf die Leidensgestalt des Gekreuzigten gerichtet, redete weiter. Da packte ihn der Tod beim Haar, und wollte ihn vom Boden aufziehen. Aber, o weh, nur der schwarzbehaarte Skalp blieb ihm in der Faust. Da griff er nach des Pfarrers Rock. Aber dessen Kleider fielen wie Löschpapier von den Rippen, und ein Leib kam zum Vorschein, der einem Kadaver glich. Neben Stellen blühendsten Fleisches hatte der Aussatz seinen Kramladen aufgetan und widerliche Farben zur Schau gestellt.

»In Ewigkeit! Amen!« sprach der Geistliche inbrünstig das Schlußwort, und, aus seiner Verzückung erwachend, sah er seinen seltsamen Zustand und dessen Verursacher.

»Tod, nimm mich noch nicht!« bat er, »ich habe noch vieles zu wirken.«

»Deine Zeit ist lange genug gewesen!« sagte der Eiterschleimige. »Ich habe dir vierzig Jahre Leben gelassen, und jetzt geht's schabab!«

»Denke an meine Frau und an meine Kinder!« sagte der Schwarzkittlige.

»Eben an diese denke ich!« sagte der Tod, »ich will dich hinwegnehmen, eh' dein Bild trüb wird!«

»Ich gehe nicht! Nein, ich bleibe. Knecht Gottes, der ich bin, nehme den Kampf mit dir auf!« Und der Kadaver bekam Leben, stand auf und lehnte sich sprungbereit und augenglitzrig in die Ecke.

»Du: der Knecht Gottes. Ich: der Freund Gottes! Ergib dich!«

»Ich ergebe mich nicht!«

»Kampf!«

»Kampf!« und dieses sagend, nahm der Pfarrherr eine dicke Bibel vom Tisch und schlug damit klatschend mit Wucht auf den Tod ein.

Der war einen Augenblick schier außer Art, aber, sich mit einem Rucke sein Gedärm aus dem Leib reißend, und es wie einen Lasso drohend über seinem Haupte schwingend, drang er auf den Pfarrherren ein, der heulend entlief.

Zur Stube hinaus, die Treppe hinunter, am Zimmer vorbei, drin ängstlich verhaltenen Atems die Kinderlein standen, in Hetzsprüngen durch den Flur, die Haustür dem erschrocknen Fräulein aus den Händen gerissen, in Verzweiflungsgümpen zur Kirche hinein.

Der Tod, lassoschwingend, zähnebleckend, hinterher.

Am Chorgestühl vorbei den Glockenturm hinauf bis aufs oberste Dach! Da stand der Predigtknecht nun, jappenden Atems, trostlosen Blicks. Die Bibel hatte er längst fallen gelassen, und dem anstürmenden Wüterich konnte er nichts entgegenhalten, als die dünnen, armseligen zehn Finger, die ihm die Mutter Natur gegeben. Aber als ihn der Tod so vor sich hatte, niedergeduckt wie ein Knitschigin Drecks, stellte er das Lassoschwingen ein, riß das Kreuz von Eisen aus der Turmspitze heraus und ließ es in unbarmherzigen Schlägen auf den Schächer niedersausen.

Zerbrachen die Schiefer.

Ein Grall, ein Geschrei. Der Pfarrer, er sprang in die Tiefe.

º

Mein Herz war nicht stille gewesen bei all dem. Zu Mausgröße ins Zwerchfell verkrochen, hatte es diesem vesuvtollen Ausbruch zugesehen. Jetzt, als das Auge keine Beschäftigung mehr hatte, denn auch der Tod war verschwunden und hatte an Stelle des Kreuzes nur seine Bahnmütze zurückgelassen, kroch es heraus aus seinem Versteck und fand sich zurecht in der Welt. Mühsam tastete es sich die winkligen Treppen hinunter, die es zuvor im Sturme genommen. Aufgescheuchte Fledermäuse folgten ihm, und es ging umwittert wie in einem Mantel der Hölle.

Der Kirchplatz war schwarz voller Menschen, und die Blütenkerzen der hohen Kastanien, von dunklen Blatthänden getragen, spendeten Totenlicht. Die Menge stand schweigend bei dem formlosen Klumpen, der ehemals ihr Pfarrer gewesen, und Gestank von Blut kroch durch die Luft. Heiß ging der Atem der Masse. Es hörte sich an wie das Gebläse eines Hochofens.

Da trat der Tod, inzwischen in des Pfarrherrn Gestalt verwandelt, in die Mitte des Rings und machte eine Schweigensgeberde.

Predigtworte fing er zu sprechen an.

Aber während die durch die Luft gingen, feierlich, wie Kinder bei unseren Prozessionen, wurde es den Seelen der Versammelten ängstlich zu Mute. Sie flohen hinweg, und bald stand nur noch der Weltschatten Tod allein auf dem Platz, händeschwingend, predigend.

º

Hunger hatte ich, mein Leib wurde ein eifriger Mahner. Die Buchstaben auf dem breiten Schild eines Speisehauses brauchten nicht lange zu rufen, gleich ging ich hinein. Da standen rundum glänzige Spiegel, in denen jeder sein hungriges Gesicht besehen konnte. Unter gläsernen Kasten prangten die Speisen. Wer Geld hineinwarf, dem drehte sich das Rad.

Ein schwarzer Menschenknäuel stand vor einem der Kasten. Sardinen gab's da, hübsch lecker auf butterbestrichenes Brot gelegt. Stulle neben Stulle, jedes lockend zum Anbeißen, und auf der hintersten Klappe des Rades lag das fetteste Meertier. Alle Augen aller Leute schauten auf diese fette Sardine, und ein jeder zählte, wie viele noch vor ihm hineinwerfen müßten, ehe er zu der ersehnten Labung käme.

Noch acht! Noch sieben! Noch sechs! Noch fünf!

Da warf ich drei Geldstücke auf einmal hinein, und dreimal klappte das Rad.

Nun war die fette Sardine an der Reihe. Hundert Hände drängten sich nickelschwingend hinzu. Jeder wollte der erste sein. Ein kleines untersetztes Weibsbild schien Meister zu werden. Aber da tauchte hinter dem Spiegel das höhnischlachende Gesicht des Wirtes auf, der ihr die Sardine vor der Nase wegnahm, das Rad knarrend zurückdrehte und neue Brötchen auflegte.

Beschämt verschwanden die Nickel. Wiederum glänzte die Fette. Das Spiel, der Kampf, begannen von neuem.

º

An der Ecke der Straße, mitten im Dreck, saß der große Kopfschüttler. Das war ein merkwürdiges Geschöpf. Bis an den Nabel in die Erde gewachsen. Seine Züge trieften vor Tiefsinn. Ohren hatte er keine, aber ein großes Horn wuchs aus seiner Stirn heraus, und im Horn war eine Stimme, die immer und also sprach: »Ich bin die Gewalt! Ich bin die furchtbare, furchtbare Gewalt!« Und diese Stimme war unermüdlich wie eine gut aufgezogene Sprechmaschine, und tausendmal in der Stunde floß dieser einfältige Satz heraus, und tausendmal in der Stunde kam dieses einfältige Nicken des Kopfes.

Viele Gelehrte standen um die Erscheinung herum, selbst der Kaiser des Nachbarreiches hatte Gesandte geschickt, die hatten große Kisten gebracht und ausgepackt. Mit scharfen Augengläsern und Fernrohren, mit allen Waffen dieses gesegneten Jahrhunderts, betrachteten sie das kopfwackelnde Ungetüm und wurden doch nicht klug daraus; denn auf alles, was man hineinfragte, kam immer die gleiche Antwort: »Ich bin die Gewalt, ich bin die furchtbare, furchtbare Gewalt!« Und das war so eintönig und so nervenzerreißend, wie die nicht endenwollenden Unkenrufe in einer Sommernacht.

Und immer neue Gelehrte kamen. Und die Sonne brannte dem Dings auf den wackelnden Schädel.

Und die Turmuhr schlug. Und ein Rabenschwarm kam und ließ sein schlechteres Selbst dem Denker kräftiglich auf die Nase spritzen.

Aber der wischte sich nicht einmal ab. Das Wackeln des Kopfes ging weiter: »Ich bin die Gewalt! Ich bin die furchtbare, furchtbare Gewalt!«

Da schrie ich vor Lust. Mitten aus dem Asphalt war eine Blume erblüht, lieblich Gelöck dieses Frühlings. Wie hast du nur widerstehen können, zierliches Ding? Wie schütztest du dich vor Till und vor Tapp und vor Menschenfuß?

Die dünnen Würzelein in ein schmales Spältlein gezwängt, saugst du dir Kraft aus dem Unrat und henkst dein Herz in die Sonne. Gelärme der Stadt braust über dich hin, du Kleine, Unscheinbare. Jeder plumpe Fuß, der sich dir naht, läßt dich erzittern. Wie winzig du bist! Wenn du nicht gelb blühtest, wer könnte dich sehen? Und doch bist du ein ausgedehntes Königreich. Frag nur den kleinen Käfer, der auf dir lebt. Deine feinen Blätterhaare, dein Stengelflaum sind für ihn mächtige Baumriesen, die er sorglich umgeht. Die Poren, aus denen du atmest, scheinen ihm Kratermündungen zu sein. Der warme Dampf, den du ausstößest, macht ihn gänzlich betrunken. Er schwankt zwischen Furcht und Hoffnung. So führt er beinahe menschliches Leben bei dir.

Wie lang noch?

Wann haut das Beil der Zeit?

Blumenleben, Fingernagel Gottes, auch dir ist das Ende beschlossen.

º

Ein Bettler riß mich hinweg, trug mich aus dem Blumenleben. Sein zerfallenes Gesicht wandte er mir zu, drin jede Falte, jeder Sorgengraben eine Anklage gegen die Menschheit war.

Seine Arme, die wie dürre, abgemagerte Hölzer aus dem Buckel herauswuchsen, hielt er bittend gestreckt. In seinen Augen glommen die giftigen Feuer des Hungers, und seine dünnen Zitterlippen sagten: »Menschenbruder, teile mit mir!«

Ich suchte in meinem Gewande. Die Taschen waren leer. Ich suchte von neuem. Sie wurden nicht voller. Da, in der höchsten Not kam mir ein Einfall, ich zerschlitzte mein Fleisch, griff tief in die Brust, riß mein zuckendes Herz heraus und gab es dahin.

Er nahm's in seine Hand, beschaute das blutige, lebenspritzende Ding und warf's mit einer Gebärde des Abscheus zu Boden in den Schmutz.

Und das niederstürzende Herz rauschte dahin wie ein Adler.

º

Jetzt pocht es wiederum zwischen meinen Rippen; aber ich fühle, es liegt Unrat darauf. Fern geht der Bettler, zu einem verschwimmenden Pünktlein geworden; aber sein Gesicht steht wie ein Gespensterlicht vor mir und läßt sich nicht bannen. Und meine Arme, die sich eben strecken wollten, alles Leben herzlich zu empfangen, verlieren die Kraft.

Mein armes Herz. Jetzt sind meine guten, klaren Augen zu Tieren geworden. Unerschrocken gehen sie los und ziehen auf Raub aus. Mit unbestechlichem Tatzenschlag reißen sie die Schleier auseinander, die auf den Dingen liegen. Geheimnisse springen auf mit Geknall. Entgöttert liegt die Welt, kein Tummelplatz der Lust, nein, ein Labsal der Würmer. Und tiefes Staunen quillt in mir, nun ich alles so nackt sehe, so photographiegrau. Und ich denke, mein Ich sei gestorben und in meinen Augenhöhlen sitze ein anderer, höhnisch die Lippen verzogen, sich über Gott lustig machend, auf die Scherben der zersplitterten Erde zeigend, sagend: »Das also, Bester, war dein Meisterstück?«

º

Brausend kämpft gegen mich an der Vielklang des Lebens. Gott selber schwingt den Taktstock, und in seinem gewaltigen Bann erklingt myriadenfältig der Daseinsschrei alles Geschaffenen.

Die Häuser der Stadt legen sich auf Befehlsruf nieder. Ebene wird, Berge erstehen, Meergesang fügt sich hinein. Wie der Erdsaft in den Adern der Pflanzen singt! Wie die Winde ihnen um die biegsamen Glieder spielen! Wie die Heuschrecke geigt, wie die Grille zirpt, wie der Siebentöter jubelt! Loblieder, dem Leben zum Preise. Zur Orgel wird der Spatzenhals. Das Krah der Raben hört sich feierlich wie Priesterstimmen an. Tiere schreien in Zeugungslust. Wogen peitschen einander die glatten Glieder, der Wogenbläser spitzt den breitlippigen Mund, übt sich im Sturmton, Gottes liebste Freunde, die ätherischen Wolken, haben Stimme bekommen und senden ihr drängendes Leben im Blitz hin. Der Bauch der Erde rollt sich in Grollen, feuerflüssig spritzt sich sein Herz aus.

So klingt Ton neben Ton, gewaltig und hart, weich und schmiegsam, aber als Ganzes zart durchsichtig, wie Sommermorgens die Tropfen im Gras hängen, daß sich brechend das Taglicht drin spiegelt.

Und diesem Lebenschor geben die Sterne den Grundton. Daseinswuchtig brausen sie hin, göttlich getrieben. Selbst die Engel lauschen ergriffen dem mächt'gen Gesang.

Und Gott steht im Wohlgefallen davor und behorcht das Getön seines Atems.

Und Gott staunt, daß plötzlich ein Ton auftaucht, der den Wohlklang des Ganzen wie mit Messern zerreißt, ein falscher Ton:

Die Stimme der Menschheit.

º

Der Ernüchterungswind wehte mich auf den Platz zurück, wo der große Wackelkopf stand. Er wackelte noch immer, trotzdem es bereits Abend zu werden begann und sanfter Blutschein den Himmelsbauch rötete. Seine Hornstimme war noch bestimmter und markvoller geworden. Jetzt klang sie beinahe wie Heroldsruf: »Ich bin die Gewalt. Ich bin die furchtbare, furchtbare Gewalt!«

Die harrende Menge erstarb schier in Ehrfurcht und Staunen, und die Gesandten der Nachbarreiche standen da, gesenkten Gesichts, als wäre ein Kaiser im nahen Bereiche. Tätig waren nur die Gelehrten. Seufzend gingen sie daran, ihre Fernrohre, Tastzangen und Erkenntnisdrüsen einzupacken; denn diesem seltsamen Ding, dachten sie sich, könnten sie doch niemals beikommen. Auch mit den schärfsten Instrumenten nicht.

Zu groß sei's, zu gewaltig. Unerforschlich. Jenseits allen Erkennens.

Und der Wackelkopf wackelte weiter. Blechern Geräusch: »Ich bin die Gewalt!« Steinerne Gebärde: »Ich bin die furchtbare, furchtbare Gewalt!«

Da kam eine Schar mutwilliger Knaben die Straße gelaufen. Draußen im Walde waren sie gewesen. Behälter des Übermuts, Waldleben, blühende Zweige schwangen sie jubelnd in Händen. Dieser wacklige Steingreis kam ihnen gerade recht. Sie kletterten, allen Zurufen zum Trotz, an ihm hinauf, unbekümmert, als ob er ein kleiner Berg sei, nicht die ehrfurchtgebietende, ehrwürdige, furchtbare Gewalt. Und der Keckste der Schar trat ihm sogar ins Genick, und siehe da, Krawall, ein Prall, ein Schall, ein Knall, ein Fall, das kleine Scharnier, in dem sich das mächtige Denkerhaupt gedreht hatte, brach ab. Der Wackelkopf stürzte zu Boden mit Donnergetos.

Schreiend zerstob die schauende Schar. Nur die Gelehrten waren wie Soldaten auf ihren Posten geblieben, mutig, forschungseifrig, wie's ihre Pflicht ist.

Der Schädel wackelte selbst am Boden noch weiter, und seine Stimme dröhnte. Aber die Gelehrten brauchten jetzt nicht einmal mehr ihre Fernrohre und Mikroskope auspacken, sie sahen auch so, daß das ganze Ding nur aufgeblasen und hohl war.

º

Dem Trubel entkam ich. Die Schildkröte, der ich mich auf den Rücken gesetzt hatte, trug mich weiter, in einen riesigen Saal hinein. Nur Köpfe saßen da, in langen Reihen, keine Menschen, und ein dicker, schwarzbehoster Bauch, dem sich behäbig eine schwere, goldene Uhrkette um die Wampe spannte, stand vor ihnen und hielt eine Rede.

Von der Not der Zeit sprach er, vom Gespenste des Hungers, das zähnefletschend durch die Gassen gehe. Von den Kanonen der Unzucht, die in allen Stadtvierteln ständen und reihenweise Salvenfeuer abgäben. Von den Fingern des Geizes, die allmählich zu vergifteten Klaukrallen geworden seien. Von der allgemeinen Teilnahmslosigkeit, die wie faule Tomaten hinter den Fenstern sitze. Von Mangel an gutem Willen, der gallertartig wuchere und alle Adern verstopfe. Von diesem und anderem. Von allem, was es jemals gab und jemals geben wird. Auch von diesem, was es niemals gab und niemals geben wird.

Und der Bauch wurde fetter und fetter. Jedes neue Wort legte ihm einen neuen Fettring um den Bauch, der allmählich zu einem solchen Klumpen auswuchs, daß er bis zur Saaltüre reichte, sodaß niemand herauskonnte.

Und der Bauch redete weiter. Und alle die abgeschnittenen Eselsköpfe zu seinen Füßen nickten demütig ergeben.

Und des Bauches goldene Wampenkette glitzerte. Und nur ein kleiner Bubenkopf hatte den Mut, ihm, hähähähä! eine lange Zunge zu machen.

º

Die Schildkröte trug mich abermals weiter, in einen anderen Saal. Dort war das verkehrte Bild. Die Bäuche hörten zu und der abgeschnittene Menschenkopf säete Worte. Vielerlei Bäuche lagen da auf den Bänken und hielten den Schlaf der Verdauung und ließen sich nicht stören, durch das, was der einsame, aus dem Teller aufglänzende Kopf predigte.

War es nicht Christi Kopf, der da in der porzellanenen Schüssel stand? Waren es nicht des Erlösers Lippen, die am Heile des Lebens formten? Waren es nicht seine lieben, dreimal guten Worte, die wie kühle Luft in den Saal flossen?

Gewiß, es war so. Es war Christi Kopf, es waren Christi schmerzumzuckte Erlöserlippen, es waren seine Heilandsworte. Aber sie quollen in einem Raum ohne Luft. Nichts war da, was den Schall seiner Worte aufnahm und forttrug. Leer erklang sein Gebot der Liebe in dieser luftleeren Ödwelt.

Und die Bäuche lagen und schliefen. Und die Bäuche lagen und hielten prächtige Verdauung. Wälzten sich, pelzten sich, schlidderten hin, schlidderten her, knitschten, knatschten, ritschten, ratschten, knurrten, prurrten und stießen gräulichen Windstinkstank aus.

Und es war gut, daß sie so taten. Sonst wären sie alle zerplatzt.

º

Die Schildkröte tat ihren letzten Gang, schleppte mich in das Zimmer, wo die Menschen saßen. Da hörte ich liebe und gute Worte, und Luft zum Atmen war genug da. Aber die Leute sagten: »Was brauchen wir Luft? Wir bedürfen des Brots.« Und der Hunger stieß ihnen mit seinen spitzen Fingern die Backen ein, so daß sie erbärmlich aussahen. Und das zubodengefallene Wort »Brot« rollte behende fort und fand auch die Tür.

»Brot, Brot!« schrie's durch die Gassen, und die Menschen verließen alle den Saal und zogen hinterher. Und es war ein großes Geschrei in der Stadt. »Brot, Brot!« Und der Aufruhr zersprengte den Pflasterstein. Es blühten die Barrikaden.

Der König hinter dem Thron, hörte, daß der Sturm kam, setzte sich mit zittrigen Fingern die Krone aufs gelichtete Haupt. Aber das Volk sagte, es hätte gegoldetes Elend genug gesehen. Prunk habe ausgespielt. Brot wolle es.

Das dumme Volk. Was will es vom Kieselstein? Der stiebt doch nur Funken.

Und Reihen von Gensdarmen, herspritzenden!

Säbel durchschnitten die Luft, Wehschreie schnellten.

Plumps, Körper zu Boden!

Mütter, rettet die Kinder!

Häuser, saugt Menschen ein! Meuchelmord; Meuchelmord!

Der verrücktgewordene Säbel tanzte blutspuckend durch Gassen und Straßen, schnitt dem Wort Brot vieltausendmal die Kehle durch.

Die Menschen verschwanden. Der Säbel stand allein auf dem Platz. Meine Schildkröte blinzelte.

Gassenkehrer kamen und fegten hastig das Blut weg.

º

Schreiend, mit hochgezogenen Schultern, den Kopf weit vorgestreckt, als ob er um sein Leben renne, säckelte ein Mensch an mir vorbei. Ich verstand die Worte nicht, die er rief; ich sah nur seine seltsame Gestalt, der die Angst die Glieder hin- und herriß. Da sprengte schon die Feuerwehr.

Die Glocke tönte, kurz, befehlend: Platz! Platz! Platz! Die Pferde schnaubten vor Lust, dem Stall entronnen zu sein, freiaus dahinzujagen. Jedes war verkörperte Schnelligkeit; keines fühlte die Zügel, in deren Gewalt es lag.

Die Menschen, das Begebnis sehend, sammelten sich summend wie Bienentrauben. Und aus dem allgemeinen Mumms und Gesumms riß sich unversehens ein Schrei hoch und steilte gen Himmel, eine rotlächte Bahn hinter sich lassend: »Firio!«

Wirklich, im Herzen der Stadt wuchs ein Brand hoch. Menschen in Todesnot schrien. Aus den Fenstern schwangen sie sich hinaus, von der Hitze getrieben, und zerschellten dumpf aufschlagend am Boden, der hart wie Gebirgsstein war; denn es war der Boden der Stadt.

Alle Welt stand davor, und genoß das schreckliche Schauspiel. Jetzt schafften endlich die Maschinen. Die Leitungen geben das letzte Wasser her. Ziiisch sprang's hinein in die Glut und nahm den Kampf mit dem Schwesterelement auf. Ziiisch, und der Dampf stieg.

Wackre Maschine, wackere, todverachtende Feuerleute, wackeres Wasser, seht ihr nicht, wie die Flamme lacht? Seht ihr nicht, wie sie eilig von Planke zu Planke, von Balken zu Balken, von Latte zu Latte springt, immer neue Nahrung im Maul? Hört ihr, wie höhnisch der Feuerwind lacht, der Flammen Zuhälter und Mitbuhler!

Wäre der Himmel Wasser und stürzte er ein, wer löschte das Feuer aus? Das Feuer, das Feuer?

º

An tausend Tote lagen am Straßenbord. Von der Hitze überfallen, von ihren feurigen Zähnen schlimm zugerichtet, zu Kohlstrunken verdorrt, zu Mumien eingetrocknet, zu Fabelwesen erstarrt. Die Finger zu scharfen Zähnen geworden, die Knie krumm wie Schürhaken, die Schädel von der Wärme zersprengt und aufgequollen, die Glieder gewunden, gebogen wie Zierat aus Schmiedeeisen, der ausgebrannte Bauch wie ein Sautrog.

Die Leichenwagen fuhren heran; dicke Männer begannen ihr traurig Geschäft. Zu zweit, an den Kopfeten und Fußeten, packten sie an: Lupf, Schwung, Knaratsch, lag die Elendsfracht auf dem Wagen. Alle schwarz und unschön gemacht durch den Tod. Alle geschlechtslos geworden durch den Tod wie Steinbilder. Alle ohne Empfindung geworden durch den Tod. Alle zu Gegenständen des Abscheus und Ekels geworden durch den Tod.

Eng ging es zu, denn viele mußten hinauf aufs Gefährt. Leib preßte sich an Leib; Arme umfaßten sich jetzt im Tod, die sich im Leben feindlich befehdet. Stirn lag an Stirn, die einst eine der andern Untergang gesonnen.

Die Wagen fuhren weg. Die dürren Gebeine klapperten. Gliedmaßen baumelten manchmal herunter, seltsame Uhrzeiger der Zeit.

Todeskarawane, wer weiß, daß das, was du führst, einmal blühende Menschen gewesen?

º

In der Nacht, die mich umfing, hörte ich die Stimme eines Hundes reden. Aus der Gosse, in der er lag, hatte er sein gequältes Antlitz gen Himmel gehoben, gen Himmel, wo die Millionen von Sternen hingen. Und er redete in seiner Sprache mit seinem Gott und schüttete sein Hundeherz aus: »Lieber,« sprach er, »Schöpfer und Verwalter alles Geschaffenen und Seienden, tu deinen Rachen auf und zermalme mit Kraftbiß diese zweifüßigen Tiere, die sich Menschen nennen. Oder knurre wenigstens, damit sie erschrecken; denn siehe, sie quälen uns sehr. Ich habe ihnen gedient zeit meines Hundelebens. Nachts ihre Häuser bewacht, tags ihre Karren gezogen. Jetzt bin ich alt und halb blind. Zum Bellen zu schwach, zum Beißen unfähig. Ausgestoßen ward ich. Wo sie mich sehen, bücken sie sich nach Steinen, mich zu bewerfen. Siehe doch, wieviel Wunden und Schwären mein Leib trägt! Mein Bauch ist Gefährte des Hungers geworden. In den Gossen wühlt meine Schnauze. Es ist eine Ewigkeit her, seit ich den letzten Knochen beroch. Hilf mir, du Oberhund, teil mir aus von deinen Gaben! Schneid mir ab von der Wurst deiner Gnade! Oder nimm meinen räudigen Leib weg aus diesem Dasein! Aber zuvor räch mich an diesem Pack da!«

So sprach und betete der Hund, die halbblinden Lichter zum Himmel, zu Gottes Tanzboden gewendet. Aber der Pudel der Pudel, zu dem er in seiner Einfalt rief, rührte sich nicht.

Zufrieden glänzten die Sterne, fettbäuchige Wölklein schwebten im Äther; der Mond kam und steckte sich sein Sonntagsgesicht an, und des Hundes Klage erschallte ungehört.

Da raffte er sich mit dem letzten Rest Kraft, der ihm verblieben, auf, wurde toll, rannte gesenkten Kopfes los und biß den ersten, besten Nachtwächter, der ihm ins Gai lief.

º

Hundert bewaffnete Menschen wurden ausgeschickt, das Tier zu erspüren. Es hatte die Verfolger kommen hören und sich in eine dunkle Ecke verkrochen, zu warten, bis ihm sein Ende gemacht würde.

Aber die Menschen sahen das Schattenloch nicht, drin der Hund gekauert saß, sondern gingen schwatzend, spähend, das Aug in die Berge der Ferne geheftet, daran vorüber. Fern erklang der Schall ihrer Schritte. Und der Hund legte sich breit auf die Straße hin, um zu sterben. Und während schon Todesnähe seine Sinne verwirrte, ging ein lieblich Geträum durch sein Hirn. Wo sonst der beheulenswürdige Mond am Himmel stand, hing ein blutsaftiges Stück Fleisch, das immer näher und näher kam und ihm schließlich zur Schnauze hineinwuchs.

So starb in der Nacht ein Hund, der ehrlich und treu gelebt hatte. Und die vielen Frauen und die vielen Kinder, die er gehabt, wußten nichts von ihm. Und die Herrschaft, der er gedient, wußte auch nichts von ihm, und so war es ihm besser, daß er hinüber.

(Das Los aller Einsamen, der Tod als Freund.)

º

Ich bin das Glas Wein, das einer in seiner Sterbestunde trinkt. Ich bin die kühle Hand, die ihm die heiße Stirne streichelt. Ich bin das Weinen der Schwestern, die um ihren Bruder klagen. Ich bin das unterdrückte Schluchzen im Brustkorb der Brüder, der Jünglinge. Ich bin das Aug des Vaters, das sorgenvoll auf seines Sohnes Todkampf ruht. Ich bin der Mund der Mutter, die wortlos ihrem Leib und Gott, dem Schaffer, flucht.

Ich bin die Blume, die sonnendurstig am Fenster steht. Ich bin der Wind, der zagen Hinstrichs eintritt. Ich bin das Stück Sonne, das auf dem weißen Bettuch liegt. Ich bin der Klang der Glocke, die fern läutet. Ich bin der Spender der Erinnerung. Ich bin der schöne Sommertag, die Himmelswolke, die ihn krönt.

Ich bin das Ticken dieser Zimmeruhr. Ich bin die Würde in den Amtshandlungen des Geistlichen. Ich bin der Weihrauch, der blau auf den Kohlen brennt. Ich bin die letzte Hingabe an das Sein.

Ich bin der Vogel freier Luft. Ich bin der Seele Flügelschlag. Kettensprenger bin ich; der getreue Diener, der das Tor nach dem Jenseits öffnet.

Ich bin die stille Wasserfläche des Vergessens. Ich bin der dunkle Kahn der Überfahrt. Ich bin Gottes Schatten, in sich selbst verkrochen.

Ich bin das Maß des Lebens, der Übergreifer aller Dinge. Ich bin der Schritt des Tods, des Welteroberers, der, Hand und Aug verhüllt, eine neue Provinz mit Beschlag belegt.

Ich bin der Brandschatzer.

º

Weil ich durch die Nacht weiterschritt, brannte mein Gehirn auf einmal hell auf. Wie ein Blinkfeuer saß es da in seiner beinernen Höhle, wie Hochofenglut gab es einen bläulichen Schein, zu einem riesenhaften Diamanten geworden, der die Decke des Dunkels vom Weg und vom Steg nahm. Alles gewann Hexengestalt. Die Schatten, die in Türen und Fensternischen saßen, wurden tief, weibsam und eindringlich; die Rippen der Häuser stellten sich nackt ins kalte Licht.

Der Weg bog zum Fluß ab. Der lag da, Sinnbild des Stumpfsinns, gefrorene Tinte. Schwarz, kein Schatten war sichtbar.

Nur ein brennender Kopf zog mit Widerschein dahin, ein schwebender Lampion. Der Weg ward unversehens steiniger, und schon fiel ich hin und schlug mir die Stirn blutig. Auftastend, fühlte ich, daß ich neben einem nackten Weibe lag. Wie tot lag sie da; aber ihr Herz war Empörer geworden, schwenkte rot die Fahne des Aufruhrs und wollte nichts an den Tod ablassen.

Ich strahlte das Weib mit meinem leuchtenden Hirn an, strich ihr die Haare aus der Schläfe zurück und küßte ihren Mund. Da wachte sie auf.

»Spät bist du gekommen,« sagte sie, »ich wartete deiner so lang.«

»Du wartest meiner?« war meine Frage. »Sage, Liebe, wie mag das nur sein? Du kennst mich doch nicht?«

»O, ich kenne dich wohl, du warst meiner Diener der getreuesten einer.« Und sie wies ihren Ring. Und am Stein, der da glänzte, sah ich, daß es die Wahrheit war, die da nackt lag und ausgestoßen, die Königin Wahre Wahrheit.

Und dieses prägte sich mir ein; die Menschen haben die Wahre Wahrheit aus ihrem Königreich vertrieben. Sie konnten das Licht ihrer Augen nicht leiden, denn der Wahrheit Licht brachte alles an den Tag. Sie konnten den Atem der Wahrheit nicht leiden, denn der brauste in ihren armseligen Moder hinein wie Frühlingssturm. Sie konnten die Stimme der Wahrheit nicht leiden, denn die klang wie die Posaune des Gewissens. Der Wahrheit Hand konnten sie nicht leiden, denn die griff mitleidlos zu. Der Wahrheit Füße mochten sie nicht leiden, denn die traten alles Niedrige tot.

Darum mußte die Wahre Wahrheit vertrieben werden. Das Krötenheer der Lüge wurde gegen sie losgelassen, die widerliche Geierschar des bösen Willens. Man riß ihr die Kleider vom königlichen Leibe, zündete ihren Palast an, und trieb sie mit Steinen hinaus an des Reiches Grenze. Da blieb sie für tot liegen, bis ich sie traf.

º

»O Wahre Wahrheit,« sprach ich, »wie jämmerlich siehst du aus! Wie ist deine zarte Haut zerrissen, dein edles Antlitz geschändet! Wie eingefallen sind deine Brüste und so ganz ohne Glanz deine Augen. Komm mit mir, ich will dich heilen und pflegen! Komm mit mir, ich will für dich sorgen, dich nähren und kleiden.«

»Besinn dich deiner Wohltaten zweimal,« sagte leise die Wahre Wahrheit. »Wisse, wer's mit mir hält, macht sich die gesamte Welt zum Feinde. Der hat keine Ruhe bei Tage, keine Ruhe zur Nacht. Ewig ist die Meute auf seiner Ferse. Ewig ist das Feuer in seine Seele gegossen. Und kein Herz wird er finden, das ihn aufnimmt, Kreise des Schweigens zieht er rund um sich her, Entsetzen läuft seinem Wege voraus, aus seinen Wörtern steigt Nordpoltemperatur. Keines Menschen Freund kann er sein. Denn siehe, die Menschen hassen die Wahre Wahrheit, weil sie so wahr, so nackt, so unerbittlich, so furchtlos, so angreiferisch gesinnt, so offenstirnig, so atemraubend, so unbequem, so unerhört gesund ist. Die Menschenherzen, diese Wohnstätten der Feigheit, haben sich die Lüge zur Königin erwählt, meine Todfeindin. Ein schwindsüchtiges Geschöpf mit grünen Backen und zittrigen Händen. Aber siehe, sie hat seidnes Gewand an und goldnen Flitterstaat. Sie hat sich mit klingenden Schellen behängt. Sie hat sich die Wangen gefärbt und die Brüste geschnürt und verkündet Freiheiten ohne Ziel, ohne Maß. Sie ist nicht wahr, sondern lügenhaft, sie ist nicht echt, sondern unecht, sie ist nicht nackt, sondern wohlbekleidet; sie ist nicht unerbittlich, sondern sehr duldsam; sie ist nicht furchtlos, sondern feigisch versteckt; sie ist nicht angreiferisch gesinnt, sondern ewig schwankend und auf Rückzug bedacht, sie ist nicht offenstirnig, sondern hinterhältig; sie ist nicht atemraubend, sondern ein Bringer von vielem Geschnauf; sie ist nicht unbequem, sondern leicht, biegsam, handlich; sie ist nicht gesund, sondern hübsch angefressen und angefault wie eine teige Birne. Mit einem Wort, sie ist nicht die Wahre Wahrheit, die Tyrannin, sondern die lügnerische Lüge, die Volksbeglückerin. Wer sie zum Geleite wählt, der fährt gut. Der Erde Köstlichkeiten sind ihm ganz sicher. Mich aber meide!«

Ich aber sagte: »Königin Wahre Wahrheit, ich habe noch immer die Pfade der Einsamkeit gesucht, nicht die Straßen des Heerwurms. Ich habe noch immer das Rechte geliebt und das Unrecht gehaßt. Ich habe noch immer zur Minderheit gehört, deren Dasein voll Kampf ist. Laß uns zusammengehn! Weib, nackt, wie du vor mir stehst, bebenden zitternden Körpers, du gefällst mir so wohl, so wohl! Horch, wie mein Blut singt! Mein Herz glüht so weiß und so rot wie sprühendes Eisen. Mein Herz klopft so ungestüm gegen die Brustwand wie Hammer gegen klingenden Amboß. Ich lieb dich so sehr! Laß mich dein Mann sein!«

Die Wahre Wahrheit sagte kein Wort. Aber die Hände fielen ihr von der sanften Brust herab, ihr edles Haupt neigte sich erdwärts hernieder, sie sank dahin in mein Gearm.

In bräutlichen Nebel gehüllt, schwommen wir weg.

º

Als ich erwachte, stand ich mitten drin im Jahrmarkt des Lebens. Ein Getreib und Getu sondergleichen! Bunte Fahnen knatterten knallend im Winde, und Gottes Sonne lachte aus blauem Himmel heraus auf eine Stadt aus weißen Zelten. Die fünftausend Tollheiten des Lebens waren hier auf diesem Platze versammelt, und der Menschen, die aus der Stadt herausgekommen waren, die Seltsamkeiten zu bestaunen, waren genug da. Schwarz schien der Anger von fröhlichem Volk, und die Wahrheit, meine süße Freundin, die sich die Tarnkappe über die blonden Zöpfe gesteckt hatte und unsichtbar neben mir ging, hatte Mühe, mir ungefährdeten Weg zu weisen.

»Nimm dich in acht vor dem Volk!« sagte sie. »Es hat in seiner Gesamtheit die Krätze.« Es war in der Tat so, wie sie sagte. Kein Mensch atmete da, dem sich nicht die ekelhaften Milben unter die glatte Haut gebohrt gehabt hätten. Des Kratzens und Scheuerns war nirgends ein Ende. In Gruppen standen Bekannte und Freunde zusammen, Buckel an Buckel, und rieben sich heimlich verstohlen. Andere aber scheuten sich nicht, die Fingernägel zur Hilfe zu nehmen.

In der Mitte des Platzes stand ein großer Scheuerpfahl, mit scharfen, knorrigen Ecken und Kanten. O, wie die verfluchten Milben juckten! Wie sie an den Nervenspitzen knabberten und das innere Selbst aufwühlten! Und dort stand der schöne, scharfkantige Pfahl, an dem man sich so hübsch, so gründlich, so nachhaltig, so unvergleichlich eingehend scheuern konnte! Tausende von Augen schauten nach dem Pfahl hin. Tausende geplagter Rücken sehnten sich hin, um sich an seinen Ecken zu scheuern. Jeder schämte sich vor dem andern, seine Milben einzugestehen. Schämte sich, obwohl ein jeder die gleiche Krankheit hatte. Schämte sich, obwohl der Scheuerpfahl Linderung gebracht hätte, wenn auch nur für Minuten.

Schämte sich und entblödete sich nicht, diesen unehrlichen Krüppel wirklicher Scham Anstand und gute Sitte zu nennen ...

º

Eine dickbäuchige, wohlgenährte, ausgerechnet einfältigdumme Kuh glotzte mich treuherzig bieder aus himmelblauen, unschuldkräftigen Kuhaugen an. Sie hatte eine große Kuhglocke um den Hals gebunden. Aber in dieser Glocke fehlte der Glöckel, so daß kein Ton herauskam.

So ergeben, so unterwürfig stand die dumme, bunte Kuh da. Riß blasend das bißchen Gras mit der Zunge aus der Erde, stieß ihren Atem wie Dampf aus und wedelte herausfordernd mit ihrem dreckigen Kuhschwanz. Sie schien aus keinem guten Stall zu stammen, denn ihre beiden Seiten waren des eigenen, festgeklebten, eingetrockneten Unrats voll. Aber trotz diesem Schmutz schien die Kuh recht viele Freunde zu haben. Denn mancherlei Leute kamen und brachten dem Tier Futter mit. An dem Gras, das ihr die Erde gäbe, könne sie doch nicht satt werden, zischelten ihr diese Zuträger ins Ohr. Sie müsse drum auch von der Kunst leben. Diese Worte setzten sich schleunigst in Taten um, und so baute sich vor der Kuh, die von Minute zu Minute dümmer und einfältiger in den Luftraum des Universums hinaussah, bald ein kleiner Berg sogenannter Kunst auf. Hinter ihr, rasch verdaut, auch.

Unschlittkerzen, Patentschlittschuhe, Nachttopfwärmer, wollene Bauchbinden, Gipsfiguren, Gliederpuppen, die Mama sagten und die Augen verdrehten, wenn man sie auf den verehrten Nabel quetschte. Räucheraal und Spickhering, holländischer Fettkäse, sibirische Eierschalen, Mandeln aus Afrika, futuristische Farben, Kleider von Nackttänzern, ein neues Müllersystem, eine überzwerche Gedächtnislehre und zum Schluß eine schier unübersehbare Reihe von Schmökern, die Säulen, die das neueste Abtrittdach deutscher Literatur stützen, von Hans Heinz Ewers' Tomatensauce und mistgabeldurchstochenen Schwangerbäuchen hinunter noch viel weiter hinunter bis zu Meyrinks Quellwasserköpfen, die das Gras wachsen hören und so schlau sind, dem lieben Herrgott den Dreck unterm Fingernagel wegzuschaben, ohne daß der Alte was merkt, und bis hinunter zu seiner blondgescheitelten sächsischen Stallhäsin ... all das türmte sich in einem beängstigend großen, umfangreichen Berg vor dem mahlenden Maul der bunten, braven, heldischen Kuh auf. Aber sie ließ sich's nicht verdrießen, die Kuh. Mit demselben Eifer, mit dem sie vorher das Gras gerupft hatte, ließ sie jetzt die Unschlittkerzen, den Nachttopfwärmer und die Patentschlittschuhe in ihre rote Rachenhöhle verschwinden, und Ewers und Meyrink gar, fraß sie, wie eidlich bezeugt sei, mit besonderer Gier.

Und daran erkannte ich sie, die bunte, die dumme, die einfältige Kuh, die mit ihrer Kuhischkeit jeden Ochsen beschämte. Und die Wahrheit, der ich leis meinen Verdacht ins Ohr sagte, gab mir recht.

Liebe, alte Bekannte! Kuh der Kühe! Fleischgewordener Stumpfsinn! Gehörnter Magen! Gier, die alles frißt! Mit einem Wort: Publikum!

º

Tschum! Tschum! Tschum! Tschum! Tschum! Tschum! Tschumdada! Tschumdada! Tschumda! Tschumda! Tschumdada!

Klump, fiel der letzte runde Schlag auf die prallgespannte Trommelhaut, und der Hanswurst des Lebens zog mich lachend an seinen Stand hin.

Ausrufer hatten sich in breiter Reihe aufgestellt, die roten Hände, die fast im Fett ersoffen, in die feisten Hüften gestemmt, und blähten sich die Speckhälse breit. Widerlich dünngliedrig, wie ein Bandwurm, kroch dieser Satz in die Festluft hinaus: »Lionel, der Löwenmensch, Liebling der Frauen, halb Mensch, halb Löwe, kommt alle her, dieses Wunder zu schauen!« Aber diese Stimme wurde übertrumpft: »Hier ist zu sehen Elena, die größte Seeschlange dieses Jahrhunderts. Sie mißt vom Kopf bis zum Schwanz achtzig Meter, vom Schwanz bis zum Kopf neunzig Meter, zusammen zweihundert Meter. Laß sich keiner dies Ungetüm entgehen!« Und wie Hunde, die bellend die Hasen vors todbringende Rohr treiben, sprangen einen die Worte an: »Immer rinspaziert, immer rinspaziert, meine Herrschaften! Immer rinspaziert.« Ich ließ mich durch die Ausrufer ängstigen und stieg in eine dichtverhangene Zeltbude hinein, die die Aufschrift trug: Krieg.

Zwei dicke Athleten standen da im Sägmehl der Arena. Der Kopf tief in die speckigen Schultern gewachsen, schier ohne Hals. An Armen, Beinen und Brüsten Muskelsack an Muskelsack, Kraftquelle an Kraftquelle. Der kartoffelgeschwellte Bauch gedunsen gebläht, ein zweites Kap der guten Hoffnung.

Jetzt scholl der Pfiff. Es kam Leben in die Gesellen. Die Muskeln strafften sich. Klatsch, saß der erste Hieb! Bald hatten sie sich wie zwei Hunde ineinander verbissen. Die Gelenke knackten, der Erdboden zitterte, das Sägemehl flog wie Vulkanstaub, und der Kampfschweiß der beiden Ringer stank bis oben in den Olymp hinauf.

Aber sie ließen nicht locker. Für Minuten freigeworden, wie Betrunkene torkelnd, gingen sie sich von neuem an. Schon waren die Regeln vergessen. Sie hieben, stießen, rissen, kratzten, spuckten, schlüppten, massierten sich die Haut weg, daß schließlich dampfend das Blut floß.

Einer hatte das Nasenbein gebrochen, dem andern quoll an einem schwarzen, fürchterlichen Strang das Aug aus der Höhle. Und von neuem: klatsch! klatsch! klatsch! Das saß! Der Schiedsrichter pfiff ab. Aber die beiden Fleischklumpen, vollständig zu Wut und Glut, schier Tier geworden, hörten nichts mehr. Wie der Hustenwurf des Teufels brummten ihre Faustschläge.

Ich konnte das wahnwitzige Tun nicht länger mitansehn und lief hinaus. Und hinter mir hallte die Zirkusmusik:

»So leben wir, so leben wir,
so leben wir alle Tage
bei der allerschönsten Saufkompagnie,
des Morgens bei dem Branntewein,
des Mittags bei dem Bier,
des Abends bei den Mädchen
im Nachtquartier!«

º

Epilog:

Die Schwester, die neugierig war wie eine Atzel, lauste, als ich einmal draußen war, meine Schublade aus und erwischte das Manuskript. Schleunigst ritt sie zum Chefarzt. Der tat seine Hornbrille auf und schaute hinein. Dann brachte er mir den Pack zurück, sagend: »Kunststück das, bei 41 Grad Fieber!«

Kamerad Pollatschek * *

Wenn du so allein verwundet im Lazarett liegst, hast du viel Zeit. Und wenn dir der Zufall eine Verlustliste in die Hand spielt, kann's sein, daß du die ganze Reihe der Toten, Vermißten und Verwundeten durchliesest und abermals geduldig durchliesest und dir Beziehungen schaffst zu diesen Namen, die da so trocken auf dem Holzpapier stehen, und die doch mehr sind oder einst mehr waren als nur blasse, undeutlich gedruckte Namen: Menschen in Jugendkraft, Männer in Fülle, lebensfrohe Leute ...

Manchmal bleibt dein Auge auf einer Stelle länger haften. Die Buchstaben und die Silben kommen dir so merkwürdig bekannt vor, und wenn du sie endlich zu einem Sinn zusammengereiht hast, siehst du plötzlich einen Menschen vor dir, den du einstmals kanntest, einen Schulkameraden vielleicht, einen Arbeitskameraden aus irgendeiner Fabrik, eine Bekanntschaft vom Militär her oder schließlich auch nur einen kleinen behäbigen Philister aus der Vorstadt, der dich bei jeder Begegnung angrinste mit seinem ewig blöden: »Wie geht's, wie steht's, Herr Nachbar?«

So erschrak ich tief, als ich in der Zeitung, die mir der Wärter brachte, hinten in der verschämten Ecke den Namen Pollatschek fand. Da stand in kalten, schwarzgrauen Buchstaben: Reservist Thomas Pollatschek aus Cruszewnia, gefallen, Kopfschuß.

Kein Zweifel, es war mein Pollatschek!

Ach Gott, da lag wieder Straßburg, die wunderschöne Stadt, vor mir. Straßburg mit seinen hübschen, beweglichen Mädchen. Straßburg mit seinen vielen Kasernen und mit seiner großen, sandigen Esplanade, auf der Thomas Pollatschek, Theodor Roßwag und ich vor soundso vielen Jahren unter dem Gefluche zweier Sergeanten in die ersten Schönheiten des preußischen langsamen Schrittes eingeweiht wurden.

Pollatschek war damals mein Stubengenosse und gehörte zur selben Korporalschaft wie ich, zur dritten. Er war Pole. Deutsch sprechen konnte er nur wenig. Über »Landsmann meiniges« kam er in den ersten fünf, sechs Wochen überhaupt nicht hinaus. Das war sein Verhängnis. Er wurde bei der Ausbildung mehr als üblich gestrietzt. Wir, seine Korporalschaft, natürlich mit.

Gottlob, auch beim Kommiß geht die Zeit herum, wenn auch gemächlicher als sonstwo. Wir Rekruten, denen in der letzten Zeit die Beine ordentlich langgezogen worden waren, fuhren freudestrahlend in Urlaub. Nur Pollatschek blieb mit einigen Alten zurück, gewissermaßen als Bestand. »Kann sich armes Luder nicht fahren nach heim, hat sich kein Geld nicht,« sagte er mit wehmütigem Augenzwinkern. Dann stellte er sich ins Fenster und winkte uns mit seinem rotgesprenkelten Taschentuch nach, bis wir in der Gasse nicht mehr zu sehen waren.

Als wir uns nach Neujahr alle wieder glücklich zusammengefunden hatten, gebärdete sich der Pole wie ein Kind, wahrlich, die hellen Tränen liefen ihm über die Backen. Wie's geht, mit den Alten hatte er keinen Frieden halten können, und so war's bald zu tüchtigen Schlägereien gekommen. Aber dank seiner Bauernkraft war Pollatschek jedesmal Sieger geblieben.

Ich fragte, ob es ihm denn hier beim Kommiß nicht verleidet sei. »O nein,« sagte er, »ist sich hier doch viel schöner als zu Hause bei mich. Hier viel zum Essen, hier viel zum Schlafen. Aber daheim nur viel Arbeit, keine saubere Kleid nicht. Was macht, wenn hier brüllt Herr Unteroffizier? Macht sich gar nichts! Pan daheim brüllt noch viel mehr! O hier ist's gut. Pollatschek möchte sich immer Soldat sein!« –

Mit der Zeit hatte sich zwischen dem Polen und uns ein ganz verträgliches Verhältnis herausgebildet. Wir lachten nicht mehr über seine komisch wirkenden Sprachschnitzer und sangen auch nicht mehr das Lied:

Der Katze hat vier Beinen,
an jeder Ecke einen,
und hat sich Katz nicht Schwanz,
ist sich der Katz nicht ganz!

das ihn so mordsmäßig ärgern konnte. Selbst wenn er was verbockt hatte und wir seinetwegen beim Exerzieren besonders hochgenommen wurden, trugen wir's ihm nicht nach. Vor allem litten wir nicht, daß jemand mit Prügeln an ihn herankam.

Dafür hing Pollatschek mit einer Anhänglichkeit an uns, die keine Grenzen kannte. Er hatte ein starkes Gefühl dafür, wer's gut mit ihm meinte. Wenn wir an freien Sonntagnachmittagen zum Vergnügen in die Stadt gingen, saß er in der Regel daheim und »wienerte« unsere Brocken, so daß wir uns am Montag morgen nur hineinzuwerfen brauchten. Das tat er unverdrossen, wochaus, wochein, für elf Mann!

Pollatschek war ein armer Teufel, der keinen blutten Pfennig sein eigen nannte. Die ganze Löhnung, volle zwei Mark und zwanzig pro Dekade, schickte er heim an seine Leute. Für sich selber brauchte er nichts. Irgendwelche Bedürfnisse schien er nicht zu kennen. Trotzdem er die zweiten Schlüssel zu unseren Spinden in der Tasche hatte, und zwar beständig, nicht nur an den Sonntagnachmittagen, fehlte uns nie auch nur eine Nagelbreite.

Selbstverständlich waren wir alle nach Möglichkeit erkenntlich für Pollatscheks Freundlichkeit und Dienstbereitschaft. Da er einen unheimlichen Appetit hatte, kam er mit der Kommißkost allein nicht aus. Doch wir stopften ihm soviel Fressalien zu, daß sein Futteral nie Not litt und nie über Hunger zu klagen brauchte.

So flossen Pollatscheks Tage unbeschwert dahin, und nichts würde seine Zufriedenheit gestört haben, wenn nicht einige der Vorgesetzten sich andauernd mit ihm »beschäftigt« hätten. Schließlich gelang es ihm doch, sich bei den Herren dauernd in Respekt zu setzen. Das kam so:

Wir hatten Turnstunde, Hochsprung über den Kasten. Die Aufsicht führte der jüngste Leutnant. Der war dafür bekannt, daß er gerne »einen Spaß mache«. Der Vize, der das Ganze in Schwung und Atem hielt, gehörte ebenfalls zur Sorte der Spaßmacher.

Er drückte dem Polen ein Fechtgewehr in die Hand, führte ihn zu dem kleinen Wassergraben vor der Turnhalle und sagte: »Paß auf, mein brauner Sohn aus Polenland! Dieser Graben hier ist die Grenze von Frankreich und von unserem Deutschen Reiche. Denk dir nun, es sei Krieg! Du bist hier Wachtposten. Keine Seele darf die Grenze passieren, verstanden?«

»Zu Befehl, Herr Feldwebel!« sagte Pollatschek ernsthaft.

Nun bekam der dicke Sergeant Müllner, ein vorzüglicher Bajonettierer, ebenfalls ein Fechtgewehr in die Hand gedrückt und den Auftrag, den Wassergraben unter allen Umständen zu überschreiten. Dieser Befehl konnte nicht mißverstanden werden.

Der »Hauptspaß« bei der Geschichte sollte nun sein, daß der Sergeant dem Polen tüchtig zusetzte. Denn der konnte alles andere, nur nicht bajonettieren, dazu war er nicht flink genug.

Die Sache verlief aber anders, als sich die Veranstalter wohl gedacht hatten. Der Sergeant kam zwar glücklich über den Graben hinüber und kitzelte Pollatschek auf kunstgerechte Art gehörig in die Rippen. Doch auf einmal wurde dem der Spaß zu dünne, er kehrte das schwere Fechtgewehr um, packte es beim verkehrten Ende und schlug seinem Peiniger mit dem Kolben eine übern Schädel rüber. Der Sergeant fiel in den Graben, daß das Wasser aufspritzte. Dort blieb er liegen, steif und starr wie'n Klotz.

Wir alle konnten uns vor Überraschung und Schrecken nicht mehr rühren. Der Leutnant war bleich wie frischangebrochene Faßseife. Am ersten raffte sich der Feldwebel auf, er ließ eiligst den Sergeanten rausfischen.

Pollatschek wurde unter starker Bedeckung nach dem Wachtlokal gebracht und am folgenden Tage einem eingehenden Verhör unterworfen. Der die Untersuchung leitende Protokollführer wollte ihm mit aller Gewalt ein Gerichtsverfahren an den Hals hängen und ihn ins Loch bringen. Aber auch da erwies sich der Pole, auf den wir allmählich stolz zu werden anfingen, als genügend schlagfertig.

»Ist sich alles eins,« sagte er, »hab ich mich nichts andres getan, als das, was ist befohlen. Psia crew! Hier Grenze, hier Krieg, hier niemand durch, kommt sich Franzos, schlag ich's tot!«

Mehr war aus ihm nicht herauszubringen. Von da ab hatte er seine Ruhe. Sergeant Müllner aber lag acht Wochen im Lazarett und rührte nachher kein Fechtgewehr mehr an. –

Pollatschek fuhr auch auf Urlaub. Bei dieser Gelegenheit rasselte er auf merkwürdige Weise drei Tage in den Kahn. Bei ihm zu Hause stand's traurig. Seine Leute hatten nichts zu kratzen und nichts zu beißen. Nicht einmal das Geld zu seiner Rückfahrt konnten sie aufbringen. Was tut da mein guter, getreuer Pollatschek? Er hängt einfach sein kleines Bündel mit dem Drillichzeug an einen Knotenstock und macht sich daran, den unendlich langen Weg von Cruszewnia in Polen nach Straßburg im Elsaß unter die Füße zu nehmen. Drei Tage ist er unterwegs, da schnappen ihn die Gensdarmen.

Natürlich brach bei uns ein großes Hallo aus, als Pollatschek vierundzwanzig Stunden nach Ablauf seines Urlaubs nicht zurück war. Des Langen und des Breiten wurde hin und her gedrahtet, bis sich schließlich der Sachverhalt herausschälte.

Ein sächsischer Gensdarm brachte den unfreiwilligen Sünder angeschleppt. Doch der schien wenig zerknirscht, sondern lachte übers ganze Gesicht, als er wieder unserer Eßnäpfe ansichtig wurde: »Hier ist sich doch viel schöner als daheim!« –

Thomas fuhr noch ein zweites Mal auf Urlaub. Das war, als seine Mutter starb. Vorsorglicherweise gaben wir ihm dieses Mal das Geld für die Hin- und Herreise mit. Pollatschek brachte den gepumpten Mammon getreulich wieder. Eine Schwester von ihm, die in Berlin diente, und die mit bei dem Begräbnis gewesen war, hatte ihm alle Auslagen ersetzt.

Wie er mir später eines Sonntags, als ich in der Kaserne blieb, im Geheimen erzählte, war es eine traurige Leiche gewesen. Das Haus, vielmehr die Hütte, darin die Mutter gestorben, hatte nur eine Wohnkammer. Darin lag die Alte im offenen Sarge zum Beschau für die Nachbarn. Die Angehörigen schliefen über Nacht auswärts. Als sie des Morgens wiederkamen, war die Leiche im Gesicht und an den Händen angefressen. Ob von Katzen oder von Ratten, konnte nicht mit Sicherheit festgestellt werden. Die ganze Nase fehlte. Der Sarg wurde sofort zugenagelt. So kam es, daß Thomas Pollatschek nicht einmal mehr seine tote Mutter zu sehen bekam.

»Die beiden Katzen im Hause hab ich sofort totgeschlagen,« sagte er, »weißt du, besser ist besser! Aber wenn ich mich sollt totschlagen alle die Rattmaus bei mich daheim im Kammer, müßt ich haben Urlaub für fünf Wochen, nicht nur für fünf Tage.« –

Das zweite Soldatenjahr neigte zu Ende. Öfters als je saßen wir in der Kantine und sangen das Lied, das wohl allen alten Knochen am lieblichsten klingt:

Bald scheiden wir aus diesem Kreise
und legen ab den Waffenrock,
und treten an die Heimatreise
mit einem Reservistenstock.

Pollatschek saß wohl auch mit dabei und trank sein Seidel Bier. Aber er sang nicht. Wenn wir lustig und ausgelassen wurden, machte er sich nach Möglichkeit unsichtbar. Einmal fand ich ihn in der Flurecke am Fenster stehen. Er hatte den Kopf in die Hände gestützt und weinte fest.

Ich fragte ihn nicht, weshalb er weine. Das war leicht zu erraten. Hier beim Kommiß war es ihm nach seinen Begriffen bisher sehr gut ergangen. Er hatte Freunde gehabt, Kameraden, die in allen Lagen treu zu ihm hielten, und Essen und Trinken, soviel er wollte.

Das hörte nun auf. Bald kam die Zeit, wo er aufs neu des Lebens Notdurft ausgesetzt war, wo er sich aufs neu als Taglöhner bei irgendeinem Großgrundbesitzer seiner Heimat verdingen mußte, wo es nach seinen eigenen Worten nichts gab als »viel Schaff, viel wenig Freß und viel wenig Bezahl.«

Ich redete ihm zu, mit mir in die Großstadt zu kommen, mit mir in irgendeiner Fabrik anzufangen. Er schüttelte nur traurig den breiten Kopf mit der merkwürdigen slawischen Nase und sagte: »Ist nichts für Pollatschek. Pollatschek muß heim.«

Mag sein, daß ihn auch ein Pärlein Augen heim nach der freudlosen Heimat zog. Doch das sind nur Vermutungen meinerseits. Ausgesprochen hat er sich darüber nie.

So kamen wir auseinander, Thomas Pollatschek und ich. Jetzt hat uns dieses Zeitungsblatt, das mir in der Hand zittert, wieder zusammengeführt. Ein seltenes Zusammentreffen fürwahr! Ich ein halber Krüppel im Spitalbett. Und du mein guter, getreuer Pollatschek, irgendwo verscharrt in Belgien oder Frankreich. Am Militär, das du so sehr liebtest, bist du zugrunde gegangen.

Draußen auf der Straße ziehen Soldaten vorbei. Infanteristen. Sie singen mit jungen, lustigen Stimmen: »Und manche Kugel geht manchem vorbei!«

Mein armer Pollatschek, dir ist sie nicht vorbeigegangen.

Leben *

Lazarettzeit lehrt nachdenken. Die weißgekalkten Wände nageln der Kranken Gedanken alle auf einen einzigen Punkt fest. Da kleben sie nun wie Fliegen am tückischen Leimstreifen und mühen sich und können doch nicht loskommen von der Schmerzhaftigkeit alles Erlebens. Und die Stimmen des Blutes senden Frage auf Frage: wozu? wozu?

Gut, daß wenigstens die kleine Schwester für ein paar Augenschläge Freude bringt. Morgen, sagt sie, dürfte ich aufstehen ...

Sei gepriesen, Fenster, daß du mir wieder einen Ausschnitt der Welt gibst! Sommerhimmel, Berg und Tal, prunkhaften Flußglanz! Doch das Aufatmen dauert nicht lange. Der Blick, der Ferne müde, bleibt schließlich auf den Elendshütten der Nähe haften, verwahrlosten Häusern, diesen Erinnerungszeichen blutsaufenden Kriegs.

Hat in diesen Kammern jemals Lachen gehallt? Sind auf dieser Straße jemals Menschen gegangen? Als hätte eben eine Granate eingeschlagen und alles vertrieben, so verlassen liegt der Gehweg da. Nur ein grauer Hund sitzt in der Sonne und blinzelt das Lazarett an. Worauf er nur warten mag? – –

Jeden Tag sitzt der Hund da, jeden Tag kaum einen Schritt von der Stelle weichend. Die Erhaltung seines armseligen Hundelebens hält ihn an diesen Ort gebannt. Denn mancher der Kranken wirft ihm, wenn's die Schwester nicht sieht, Überbleibsel seines Essens hin ...

Weiß Gott, gestern, als das Hungerheulen des Tieres zu arg wurde, hat einer in einem Anfall von Großmut einen Viertellaib Brot hinuntergeworfen. Es war zwar alt, hart, krustig, zum Überfluß auch noch verschimmelt. Aber was tut's? Es war doch Brot. Brot, Brot! Mensch, Brot!

Der Hund, der dem Wurf mit heißen Augen gefolgt war, schnellte auf und schnappte danach. Trug's in die Ecke, setzte sich hin, nahm's zwischen die Vorderpfoten und fraß daran, daß wir das Krachen des Ranftes bis zu uns hinauf hören konnten.

Da kam eine zerlumpte polnische Bettlerin die Straße heraufgehunken. Die Krücken, die ihre Gestalt in die Höhe hoben, klapperten boshaft. Die Augen hatte sie in den Weg vor sich gebohrt, als könne sie da irgend etwas heraufholen.

Da sah sie den fressenden Hund. Den bereits hochgehobenen Fuß setzte sie zurück und blieb stehen, war das nicht ein Stück Brot, woran der Hund fraß, ein großes Stück Brot? Unversehens mußte sie Speichel schlucken. Pfeifend, vor verhaltener Gier, trieb sie den Atem zum Nasenloch aus.

Mißtrauisch blickte der Hund auf, legte die Pfoten fester ums Brot, knurrte.

Aber da hatte sich die Bettlerin auch schon auf ihn gestürmt, aus den Krücken heraus, die langhin in die Gosse schlugen. Grauenvoller Kampf begann. Lautlos, unheimlich zum Ansehen. Jetzt hat das Weib das Brot, hält's hoch in den Händen. Wütend hat sich der Hund in den mageren Arm verbissen.

Minutenlang dieser wüste Knäuel. Tier an Tier. Da stößt das Weib, zu neuen Kräften gekommen, des Hundes Kopf an die steinerne Hauswand, daß das Blut spritzt. Ein tierischer Schmerzschrei. Der Hund läßt los und entläuft. Die Bettlerin wirft ihm wütende Worte nach. Aber mitten im Zornschwall hört sie auf. Vom Hunger neu angefallen, gräbt sie ihre gelben Zähne in die dem Hunde geraubte Kruste. Und ißt und ißt, derweil vom zerbissenen Arm heftig das Blut pflasterwärts tropft.

Wo früher der Hund saß und das Lazarett anstierte, sitzt jetzt die Bettlerin. Stunde um Stunde. Die Zeit fließt wesenlos an ihr vorüber. Aber ihre hungrigen Augen sind Messer geworden, dringen durch unsere steinerne Mauer hindurch.

Nachts, wenn ich im Bett liege, höre ich Bellen und Schreien. Bruder Mensch! Bruder Mensch! Und ich starre die Wand an, ein Würgen im Halse.

Die Frau des Toten * *

Die Schwester kam ins Zimmer herein und sagte unterm Aufräumen: »Im Saale 14 ist wieder einer gestorben.«

Wir hörten gleich mit unserem Dominospiel auf, das gerade anfing, interessant zu werden, und fragten: »Wer?«

»Ein Landwehrmann aus Köln, von Beruf Schlosser, der magere Schwarze, der noch vorige Woche so anhaltend den Korridor hinauf und hinunter spazierte.«

»Was? Der? Der war doch wohlauf und munter. Vor drei Tagen sagte er noch, er käme bald heim.«

»Ja, er war auch wohlauf. Aber da bekam er einen Rückfall in seine Lungenentzündung, und der Rückfall ist meist gefährlicher als die ursprüngliche Pneumonie. Zwei Tage lang hielt sich das Fieber über vierzig. Gestern schon sagte der Assistenzarzt: »Der Kranke wird die Nacht nicht überleben.« Doch erst heute morgen ist er von seinen Schmerzen erlöst worden.«

»Hat er Familie?«

»Ja, eine Frau und vier Kinder.«

»Um Himmelswillen, wer wird für die armen Würmer aufkommen?«

In diesem Augenblick schlug die Standuhr halb zwölf. Ich musste zum Badewärter vor, um mein Wäschebündel zu holen. Außerdem hatte ich auf der Schreibstube meine Löhnung und meinen Lazarettschein in Empfang zu nehmen, denn heute war Entlassungstag. So hörte ich nicht mehr, was die Schwester antwortete.

Draußen auf'm Gange standen die Leichtkranken in Gruppen beisammen und besprachen den neuen Todesfall nach Soldatenart: Heute dir, morgen mir, 's geht mal jedem an sein schönes Leben.

Eine dunkelgekleidete Frau kam die Portaltreppe hinauf und sah sich suchend um. Da ich ihr in den Weg lief, fragte sie mich nach der Schreibstube.

Ich sagte: »Ich bin grad auf dem Wege dorthin. Bitte, kommen Sie mit!«

Dann ging ich die zwei Stiegen in den ersten Stock voraus und klopfte. Der Schreiber rief: »Herein!« Ich meldete: »'s ist eine Frau hier, die den Herrn Lazarettinspektor sprechen will.«

Der saß breit und behäbig hinterm Tisch und biß bei meinem Bericht eben in ein knuspriges Brötchen. Vor ihm lag auf schneeweißem Teller ein saftiges, braungebratenes Gansviertel, und dichte daneben stand ein Glas Wein.

Er schluckte schnell den angefangenen Bissen hinunter und winkte mit einer breiten Geste: »Lassen Sie die Frau hereinkommen.«

Ich tat's und blieb an der Türe stehen, denn ich wollte bei dieser Gelegenheit meine Löhnung und den Entlassungsschein gleich mitnehmen, um nicht zweimal danach laufen zu müssen. So wurde ich Zeuge:

»Guten Tag.«

»Guten Tag. Sie wünschen?«

»Ich möchte den Herrn Lazarettinspektor sprechen?«

»Der bin ich, bitte. In welcher Angelegenheit kann ich Ihnen dienen?«

Die Frau nestelte an ihrem vertragenen, schwarzen Handtäschchen und zog mit zittrigen Fingern ein mehrfach zusammengefaltetes Blatt Papier heraus:

»Ich habe ein Telegramm bekommen, daß mein Mann hier im Festungslazarett 10 liege und mich sehen wolle. Ich solle gleich hierher fahren. Ich hab mir gesagt, wenn die Leute telegraphieren, so muß es schlimm um ihn stehn, denn wegen nichts und wieder nichts, gibt niemand sein Geld aus für'n Telegramm.«

Der Inspektor, dem's sichtlich in die gute Laune geschneit hatte, hörte einen Augenblick mit Kauen auf:

»Ah, Sie sind die Frau Rohner?«

»Ja, die bin ich. wie geht's meinem Mann? Ist's schon besser mittem? Kann ich gleich zu ihm?«

Der Herr Inspektor des Lazaretts sah angelegentlich auf das appetitliche Gansviertel in seinem schneeweißen Teller nieder, spielte verlegen und nervös eine Weile mit Messer und Gabel und sagte, nachdem er sich erst mit einem Schluck Wein Mut gemacht hatte:

»Ja, wissen Sie, liebe Frau Rohner, die Sache ist schlimmer ausgegangen, als wir anfänglich dachten.«

Die Frau erschrak. Sie schien die vage Rede des Inspektors zu begreifen. Ich schob ihr schnell einen Stuhl hin, denn ich meinte, jeden Augenblick würde sie umfallen, so bleich war sie. Sie setzte sich, strich langsam die Rockfalten über ihren Knien zurecht und fragte mit halbem Atem, als ob sie am Ertrinken sei:

»Ist er tot?«

Der Inspektor nickte.

Es gab eine lange Stille. Der Beamte hatte das Herz nicht, weiter zu essen. Der magere Schreiber hörte mitten im Wort auf, weil die Feder auf dem trockenen Papier zuviel Geräusch machte. Mich faßte ein Unbekanntes mit kalten Fingern an, die wunderlich weh taten. Ich spürte: hier steht leibhaftig das Schicksal im Zimmer!

Die kleine Frau aber saß so schön und so tot wie ein Bildnis im Museum; es fehlte nur der goldgeschnitzelte Rahmen darum. Mit Augen, die so mit Leid gefüllt waren, daß sie nichts Lebendiges mehr hatten, sah sie durch die Fensterscheiben in die Landschaft hinaus. Dort fuhr ein Zug nach dem andern dem gefräßigen Ungeheuer Rußland zu. Lachende junge Soldaten saßen in den Wagen. Ihre frohen Gesichter hatten so warme Töne wie die aufgehenden ersten Frühlingsblumen, und ihre Lieder klangen so froh, als gäb's keinen Tod in der Welt und keinerlei Ungemach.

Ich betrachtete die Frau des Toten, die in ihren dunklen Kleidern selber wie tot aussah, genauer. Und da sah ich, daß nichts Totes, nichts Starres, nichts Schweigendes an ihr war, sondern daß alles, jeder Teil ihres Körpers, jedes Hautfältchen Stimme hatte und redete.

Die Augen sagten: Wir haben schon zuviel geweint, darum sind wir trocken und schweigsam.

Die Stirne sagte: Ich habe von Kleinauf viel sorgen müssen, darum bin ich so faltig und zerfallen.

Die Haare sagten: Wir haben nie viel Zeit gehabt uns zu pflegen, zu locken, zu kräuseln. Die Not war unser Strähl, des Lebens Widrigkeit unser Kopfwasser, darum sind wir vor der Zeit reizlos und grau geworden.

Die Wangen sagten: Wir haben nie viel zu essen gehabt, darum sind wir so schmal.

Der Mund sagte: Der Schmerz hat mich stumm gemacht.

Die Hände sagten: wir sind rauh und rissig. Eine häßliche Röte sitzt in unseren Poren. Schwarze Schrunden verunstalten uns. Wir haben uns nie schöntun können. Wir haben uns nie schonen können. Wir mußten unser Lebenlang arbeiten.

Der Rücken sagte: Das Unglück sitzt auf mir und drückt mich nieder.

Der Leib und die Brüste sagten: Wir haben vier Kinder genährt und gezogen, darum verwelkte unsere Schönheit.

So beredt war die Stummheit dieser Leidensgestalt. Und die Stimmen aller vereinigten sich zu einer lauteren Stimme, die eindringlich sprach: Ist das Leben gerecht? Ist Gott gerecht oder das leidige Schicksal? Warum geht mein Fuß von Anfang an auf der Schattenseite, ferne dem goldenen Licht? Warum? Warum?

Wir drei Männer im Saale waren still, und ich, der ich sonst so schnell mit dem Wort war, wußte auf diese ungefragten Fragen, die so laut in meinen Ohren brausten, nicht zu antworten. Da kam die Oberschwester herein. Die brauchte kein langes Hin und Her, um zu wissen, wer da so trostverlassen saß. Die faßte die fremde Frau bei der Hand, als wäre sie ihre leibliche Schwester, und die beiden Frauen sanken einander an die Brust, und der wortlose Jammer der einen löste sich in den heiligen Tränen der beiden zur leis überschattenden Schwermut.

Ich ging hinaus. Der Inspektor und sein Schreiber kamen mit. –

Am Spätnachmittag, als ich wartend am Treppengeländer stand und auf den Unteroffizier vom Dienst paßte, der mich abholen und wieder in die Batterie bringen sollte, sah ich die Frau des Toten noch einmal. Sie erkannte mich gleich, trat hastig auf mich zu, als ob sie mich lange gesucht hätte und sagte: »Ich hatte meinem Mann etwas zum Rauchen mitgebracht. Aber der ist ja tot. Wenn Sie vielleicht die Zigarren wollen?«

Um die Frau nicht zu kränken, nahm ich das Päckchen an und bedankte mich. Erst nachher erfuhr ich von der Saalschwester, die Frau sei so arm, daß sie das Reisegeld hierher habe leihen müssen. Sie habe auch ihren goldenen Trauring zur Pfandleih getragen und das Geld daran gewandt, ihrem Mann beim Wiedersehen eine Freude zu machen: sie kaufte ihm eine Sorte Zigarren, von der sie wußte, daß er sie gerne rauchte ...

Auf dem Heimweg kamen der Unteroffizier und ich an ein tiefes Wasser. Ich blieb stehen und besann mich, ob ich die geschenkten Zigarren doch nicht lieber ins Wasser werfen sollte. Von Rechts wegen gehörten sie nicht mir, sondern dem Toten, und Toten soll man nichts nehmen.

Aber der Unteroffizier sagte: »Mach keine Faxen!«

Ich hab dann die Gabe an meine Stubenkameraden ausgeteilt. Abends nach dem Dienst saßen die lustigen Burschen um den Ofen herum und rauchten das edle Kraut. Der bläuliche Rauch stieg zur Decke. Und auf einmal sah ich aus dem Rauch die Frau des Toten hervorkommen, wie sie mir gütig zulächelte und in den Wirbeln wieder verschwand.


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