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Mit der niederländischen Reise beginnt die letzte und in gewissem Sinne die größte Periode Dürers. Als Fünfziger erlebte er damals eine Erfrischung des Auges, wie man sie eigentlich nur noch einmal so in einem Malerleben kennt, bei Rubens nämlich. Was für den alternden Rubens die Verbindung mit einer zweiten jungen geliebten Frau bedeutete, daß ihm mit einem Male neue Quellen sprangen und tiefere als vordem, das wurde für Dürer diese Reise.
Er reist als der Mann, der bereits über einen Weltruhm verfügt. Nicht mehr wie seinerzeit in Italien ringt er mit einer fremden Kunst. Was er sah, war stammverwandte Kultur und auch in den romanistischen Tendenzen der damaligen »Modernen« in Belgien erkannte er nur die eigene Vergangenheit. Und so verschieden auch das Gebaren dieser Leute war, er läßt sich nicht mehr aus dem Kurs bringen. Aber als ob ein Tauwind über den winterharten Boden gegangen wäre, regt sich es plötzlich bei ihm von vielerlei Keimen; alte Eindrücke werden lebendig; was erwächst, braucht gar keinen unmittelbaren Zusammenhang zu haben mit niederländischer Art, aber trotzdem hat es für Dürer des fremden Landes bedurft, um die Kraft zu gewinnen, wieder Großes zu wollen. Daß es nur die Augen gewesen sind, die ihn zum neuen Menschen machten, sage ich nicht. In der einleitend vorausgeschickten Lebensskizze ist angedeutet worden, was für Erfahrungen innerlichster Art in den reformatorischen Kreisen Antwerpens Dürer damals machen durfte.
Immerhin, er war Maler und darum auf die sinnliche Erscheinung der Welt zuerst hingewiesen. Die Niederlande konnten noch immer den Vorrang verfeinerter Sinnenkultur im Abendland beanspruchen. Seit den Van Eycks war die intensive künstlerische Produktion nicht unterbrochen worden. Es fehlten weder die großen Talente noch die großen Aufgaben. In der Pracht niederländischen Städtelebens mochte selbst ein Nürnberger Bürger sich leicht etwas provinzlerisch vorkommen. Was Dürer mitbrachte, war eine ungeheure Sehlust. Alles sieht er sich ganz genau an, Kunst und Leben, Bilder und Festzüge, er porträtiert hoch und niedrig, auch ohne Bestellung, nur für sich, er kauft schöne Geweihe und Kuriositäten, interessiert sich für einen Walfisch, den die Flut ans Land geschwemmt, so stark, daß er mitten im Winter einen Ausflug von einigen Tagen unternimmt, und 245 ist überglücklich, die ersten wunderbaren Dinge zu Gesicht zu bekommen, die der neuentdeckte Kontinent herübersandte. Er ist gesprächig in seinem Tagebuch. In allem spürt man das Wohlbefinden eines Mannes, den jeder Tag etwas Neues lehrt.
Künstlerisch war Massys durchaus noch der erste Name. Er war älter als Dürer und seine Hauptwerke, den Marienaltar (in Brüssel) und den Johannesaltar mit der Beweinung (in Antwerpen), hatte er vor zehn Jahren gemacht. Es sind Bilder von großer feierlicher Stimmung, wunderbar reich und zart in Farbe und Ton, und die Köpfe von ergreifender Wahrheit und geistiger Durchleuchtung. Was die Durchbildung des plastischen Motivs betrifft, so machte Dürer größere Ansprüche und die Konfiguration der »Beweinung« mag ihm geradezu langweilig vorgekommen sein – in den Niederlanden selbst fing man an, so zu urteilen –, allein es war ein Erlebnis für ihn, wieder einmal wirkliche Malerei zu sehen, koloristische Feinfühligkeit und eine Modellierung, die noch für einen bloßen Hauch von Schatten empfindlich ist. Er mußte sich sagen, daß seine Lucretia (von 1518) in ihrer Härte und farbigen Kälte ganz unerträglich wirken würde neben solchen Bildern, und wirklich, sein Farbgefühl erholte sich noch einmal auf eine Weile zu größerer Wärme und Feinheit und jedes Porträt, jede Porträtzeichnung nach 1520 spricht von einer neuen Subtilität der Tonbehandlung. Ja, ob nicht die ganze Präzision der Anschauung, wie sie gleichfalls im Bildnis am überraschendsten zutage tritt, durch den Eindruck der Menschenzeichnung des Massys mitbedingt ist?
Massys ist von italienischer Kunst nicht unberührt geblieben, es ruht ein Abglanz ihrer Größe auf seinen Bildern, aber ein italienisch-geschulter Künstler im damaligen Sinn, d. h. ein Darsteller des Nackten, der Bewegung und der Verkürzung ist er nicht gewesen. Hier konnte sich eher Mabuse mit Dürer vergleichen. Er war sein Altersgenosse, war fast gleichzeitig (1508) in Italien gewesen und als entschlossener Romanist zurückgekommen. Ein Bild im Berliner Museum, Neptun und Amphitrite, kennzeichnet am besten sein künstlerisches Verhältnis zu Dürer. Es ist ein nackter Mann und eine nackte Frau, aufgebaut auf der Basis des Adam- und Evastichs, nicht ungefällig im Zusammengehen der Linien, aber ohne den Ernst des Dürerschen Formgefühls. In dem »Sündenfall« derselben Galerie zeigt der Manierismus dann schon unverhüllt sein Gesicht. Dürer hat im Tagebuch eine Notiz über Mabuse, gelegentlich seiner Kreuzabnahme in Middelburg: er sei nicht so gut »im Hauptstreichen, als im Gemäl«, was wohl sagen will, die Behandlung der Malerei sei besser als die Zeichnung.
Der andere Romanist war Barend van Orley. Dieser, ein junger Mann noch – wir kennen seine Züge aus Dürers Bildnis von 1521 (in Dresden) –, der früh sein Glück gemacht. Seit 1518 Hofmaler der Statthalterin: der 246 Italianismus war jetzt die Mode der guten Gesellschaft. Ein Hauptbild gerade aus der Zeit von Dürers Reise sind seine Prüfungen Hiobs (im Brüsseler Museum), die mit aller wünschbaren Deutlichkeit zeigen, was Trumpf war. Viel Verkürzung, viel neue Bewegung, überraschende Führung des Lichtes, komplizierte Verschlingungen – ein Bild für Kenner, vor dem man lange stehen und fachmännisch gelehrt reden kann. Es ist auch noch gut gemalt, aber es fehlt das innere Leben, die Kunst ist auf dem Wege zum Virtuosentum. Dürer mochte, wie gesagt, ein Stück seiner eigenen Vergangenheit in solchen Werken erkennen, sie ließen ihn Gefahren sehen, an denen er selbst einmal beinahe gescheitert wäre.
Auch von den alten Meistern erscheint im Tagebuch hie und da eine flüchtige Spur. Hugo van der Goes, Memling, Roger van der Weyden, Jan van Eyck werden genannt und der Name etwa mit einem Beiwort der Bewunderung begleitet. Es ist wenig und das gespannteste Aufhorchen macht den Klang dieser knappen ästhetischen Interjektionen nicht inhaltreicher. Gleichwohl muß man glauben, daß Dürer ein gewissenhafter Betrachter gewesen ist. Viel mehr als seinerzeit in Italien will er alles gesehen haben. Antwerpen blieb Hauptquartier, aber von da aus kam er weit im Land herum, abgesehen davon, daß schon das Interesse seiner Pensionsangelegenheit ihn mitten drin einmal bis nach Aachen und Köln zurückführte. Sein Skizzenbuch (»das Büchlein«, das in den Tagebuchnotizen erwähnt wird) ist voll von niederländischen Typen, Trachten und Architekturbildern. Was wir kennen, ist jedenfalls nur ein Bruchteil, aber aus den einzelnen Blättern spricht doch deutlich genug die Stimmung des gleichmäßig interessierten Beobachters von Land und Leuten. In Italien hat er nur einzelne Eindrücke aufgenommen und groß werden lassen – wie wenig spiegeln sich in den Zeichnungen die Dinge seiner damaligen Umgebung! Jetzt ist er der objektive Reisende, der für alles ein Auge hat. Der Mensch bleibt freilich die Hauptsache. Er saugt sich an das Individuelle mit frisch belebtem Interesse an, offenbar hat der Einzelfall prinzipiell einen neuen Wert für ihn gewonnen. Ob es nur Zufall ist, daß aus dem Querformat des Skizzenbuches so oft zwei Köpfe nebeneinander erscheinen? Oder ist es nicht viel mehr jetzt überall auf physiognomische Parallelen abgesehen? Zu anderen Malen ist das Format der Anlaß zu sehr originellen Raumkombinationen geworden, wovon die beigedruckte Abbildung eine Probe gibt (L. 338). Was würde man sagen, wenn Dürer so etwas gemalt hätte? Ein Kopf in Querformat, seitlich verschoben und gegen einen tiefer liegenden Architekturgrund gesehen!Datiert 1520. Die beigesetzte Zahl XXIIII gibt wohl das Alter der Dargestellten an. Eine weitere Notiz bezeichnet die Kirche als Sankt Michael in Antwerpen..
Dürer war nicht nach den Niederlanden gekommen, um als Maler Geld zu 247 verdienen, er nahm an Arbeit, was ihm die Gelegenheit des Tages brachte, in der Hauptmasse sind es Porträtzeichnungen in Kohle oder Kreide auf großen Bogen; gemalte Bildnisse sind schon selten und ganz vereinzelt nur hört man von anderen Malereien. Jedenfalls war er gar nicht für größere Arbeiten eingerichtet, das Tagebuch spricht von »Veronica-Angesichten«, die er gemalt habe (d. h. Christus als Schmerzenskopf) und einmal auch von einem Hieronymus, auf den er viel Fleiß verwendet haben will und den er einem Portugiesen geschenkt hat. Vor einigen Jahren ist das Bild in Lissabon wieder aufgefunden worden.Nachdem Karl Justi zuerst die Aufmerksamkeit auf das Bild gelenkt hat (Jahrb. der preuß. Kunstsammlgn. 1888, S. 149), ist die Entdeckung durch Anton Weber popularisiert worden. Vergl. Weber und Zimmermann in der Zeitschrift für bildende Kunst 1901, S. 18 ff. Es ist eine lebensgroße Halbfigur, der alte heilige Mann mit aufgestütztem Kopf am Studiertisch sitzend, den Finger auf einem Totenschädel. Die Zeichnungen zu dem Bilde sind in merkwürdiger Vollständigkeit erhalten.Der Kopf in Berlin, L. 161, die Studien zu Hand, Buch und Totenkopf in der Albertina, L. 659-571. Der Totenkopf hat noch seinen Kiefer, was ihn besonders ausdrucksvoll macht. Ganz überwältigend wirkt die große Pinselzeichnung der Albertina (L. 568), die den gleichen Kopf in einer etwas abweichenden Stellung gibt. In diesem 248 Blatt liegt so viel Größe und so viel Schlichtheit, so viel Hingabe an das Kleinwerk der bildenden Natur und so viel Kraft des zusammenfassenden Sehens, daß man wohl von dem Beginn eines neuen Stiles bei Dürer sprechen darf.Am obern Rand die Beischrift: Der Man was alt 93 Jor und noch gesunt und sermuglich zu antorff.
Man meint, mit fünfzig Jahren müßte er notwendig seine Formeln sich ausgebildet haben, die Abkürzungen, die das enthielten, was ihm in der Natur interessant war; andere haben es so gemacht, allein für Dürers Auge wurde die Erscheinung immer reicher und er mußte immer mehr in die Zeichnung aufnehmen, wenn er ehrlich bleiben wollte. Mit völlig ungeschwächten Sinnen, als ob er frisch anfinge, macht er seine neuen Entdeckungen im Reiche der Form. Die Linie der Mundspalte, die Fältelungen der Lippe – nie ist er diesen Dingen mit ähnlicher Sorgfalt nachgegangen wie jetzt.
Das lineare Sehen erweicht sich wieder zu einem mehr malerischen, tonigen Sehen. Die Hand des Hieronymus ist wesentlich anders gezeichnet als die Apostelhände vom Heller-Altar, mehr in hellen und dunklen Flächen gesehen. Und gleichzeitig erwacht eine neue Empfindlichkeit für die Tonwerte in der Zeichnung. Die Schatten, deren Dunkelmaß der Kohle- oder Kreidestift bisher ziemlich willkürlich bestimmt hatte, werden auf einer feineren Wage abgewogen und es ist unverkennbar, daß die Tendenz im allgemeinen auf eine hellere Haltung hingeht. Das Auslichten der Schatten hat auch in der Malerei der Zeit seine Parallele und nicht nur bei Dürer.Auf Farbcharakteristik läßt sich die Zeichnung auch jetzt nicht ein, eher könnte man sagen, daß die Farbillusionen, die sich so leicht einstellen, mit einer strengeren Konsequenz vermieden sind. Die Haare z. B. bleiben durchweg weiß.
Neben solcher Verfeinerung des Stils im naturalistischen Sinne wirkt es um so auffälliger, Dürer stellenweise wieder auf rein dekorativem Linienausdruck zu betreffen. Es macht ihm nichts, bei einem Kopf das Gesicht naturalistisch durchzubilden und das Haar in ganz stilisierten Locken dazuzugeben. Das Verfahren ist kein neues und es hätte schon früher davon gesprochen werden können, aber hier im Zusammenhang der ganz vollendeten Zeichnung tritt das Prinzip am klarsten zutage. In der Tat, es war ein Prinzip, für Dinge zweiten Wertes wie Haare, Kopfbedeckung, Gewand eine bloß dekorative Behandlung eintreten zu lassen, und wenn es auch vielleicht nicht die feinsten Zeichnungen sind, wo er es so hielt, so läßt sich doch nicht leugnen, daß er gerade durch solche Gegensätze der Faktur eine sehr bedeutende Wirkung erreicht.Ein Beispiel: L. 53 (1520, Berlin) oder L. 287 (1521. London).
Zu alledem kommt nun die entschiedene Richtung aufs Große. Sie drückt sich aus in den Formaten, deutlicher noch in dem großen Stile der Zeichnung. Wir 251 haben das Wort schon früher gebraucht, selbstverständlich handelt es sich immer nur um relative Bestimmungen. Man kann nicht sagen: jetzt ist er groß, sondern nur: er ist größer im Vergleich zu ehedem. Das Wesen der Größe ist aber auf allen Stufen dasselbe: daß man aus dem Vielfältigen der Sichtbarkeit das Eine heraussieht, in dem die entscheidende Bedeutung steckt. Das andere braucht man nicht fallen zu lassen, aber es soll sich soweit unterordnen, daß die führende Stimme klar heraustönt. Es ist gleichgiltig, was es sei, ein bloßer Kopf oder eine Historie: immer müssen diese Verhältnisse der Über- und Unterordnung gewahrt bleiben und das Auge fähig gemacht sein, unmittelbar und leicht das Wesentliche zu fassen. Ich habe schon gesagt, Dürers Köpfe sind jetzt reicher an Einzelform als je, trotzdem wirken sie ruhig und einfach. Aus dem Jahre 1526 gibt es ein paar Pflanzenstudien in der Albertina, derselben Sammlung, die das Rasenstück von 1503 besitzt: da kann man die ganze Entwicklung ermessen, die Dürers Anschauung durchgemacht hat. Beidemal ist er ganz erfüllt von der Sache und beidemal auch mit ganzer Freudigkeit bei der Arbeit gewesen; vielleicht wirkt das Jugendwerk wärmer, aber die befreiende Kraft, die Klarheit, die belebend wie frischer Anhauch des Windes empfunden wird, ist doch nur dem großen Stil der letzten Jahre eigen (L. 586 ff.).
Und nun ist das nicht nur eine artistische Entwicklung gewesen: mit der größeren Anschauung ist auch die Empfindung größer geworden. Dürer fing jetzt an, das Große im ganz Einfachen zu fühlen.
Man weiß, daß schon vor der niederländischen Reise Dürers Stil eine Wendung zum Einfachen genommen hat und daß das Marienbild der Kupferstiche von 1518 und 1520 durchaus im Sinne des Großartigen umgebildet worden ist, aber die Produktion jener Periode hat doch etwas Unreines. Die monumentale Absicht versteckt sich in kleinen Formaten und der große Zug der Darstellung erlahmt leicht an archaistischen Gelüsten, die nach umständlichem Detail verlangten. Aus der Empfindung, die dem Antonius mit der Stadtansicht zu Grunde liegt, konnte die neue Monumentalität nicht hervorgehen, da ist noch zu viel Stubenluft drin. Es bedurfte der weiten Horizonte fremder Länder, durchgreifender Erlebnisse, um das glimmende Feuer zur Flamme zu entfachen, in der dann alle Halbheit verbrannte.
Die Niederlande haben Dürer wieder die Lust zu großen Gemälden geweckt. Wir wissen nicht, wie er zu dem Stoffe kam: genug, in den Jahren 1521/22 formt er an einem vielfigurigen Heiligenbild mit Maria in der Mitte, das sein bedeutendstes malerisches Werk geworden wäre, wenn er nicht – wieder 252 wissen wir nicht warum –, als die Komposition schon fertig dastand und die Einzelstudien alle gemacht waren, die Arbeit liegen gelassen hätte.
Die bildende Kunst hat keine Aufgabe, bei der sie ihre eigentümlichen Wirkungen vollkommener und sachgemäßer entfalten kann, als solch feierlich schweigendes Zusammensein bedeutsamer Gestalten, wo die Würde jeder Einzelfigur von der nächsten ausgenommen und fortgeleitet wird und die Harmonie des Ganzen verklärend auf alle Teile zurückwirkt. In Italien hatte Dürer Kunstwerke höchsten Ranges mit solchem Inhalt gesehen, allein er war damals noch nicht reif, ihre Schönheit zu fassen. Jetzt erst nach so vielen Jahren kommt es über ihn – der berauschende Wohllaut der Kunst der Lagunen; als ob er jetzt tanzen gelernt hätte, wird er geschmeidig in der Bewegung und auch für leise Rhythmen empfindlich. Die niederländischen Maler haben es ihn nicht gelehrt, aber vielleicht sind es doch die Eindrücke von Antwerpen gewesen mit seiner Vornehmheit und großen Lebensführung, die die venezianischen Erinnerungen ganz frei gemacht haben.Der Zug zum Italienisch-Prächtigen ist auch schon vorher da, schon 1519 hat die Stimmung des Triumphzuges in die Mariendarstellung übergegriffen, wofür die Zeichnung einer thronenden Maria in Windsor (L. 391) mit schwungvollem Musikengel Beweis und Beispiel ist.
Es braucht Augen, die schon etwas gebildet sind, um in der hier mitgeteilten Zeichnung (L. 364) das Kunstwerk der Form zu sehen, das es ist. In bequemem Nebeneinander zwölf große Figuren, so verteilt, daß die Welle lebendig sich hebt und wieder senkt und Maria als erhöhte Zentralfigur, tragend und getragen, das Ganze beherrscht. Keine geometrische Symmetrie, nur ein Gleichgewicht der Massen: die Figurenzahl und die Linie der Bewegung ist eine andere auf beiden Seiten. Links eine Kniefigur, weit gegen die Mitte vorgezogen, und hinter ihr die Reihe der Stehenden, mit zunehmender Verdichtung zur Mitte emporsteigend; rechts ein gleichmäßig ruhiges Abwärtsgleiten, mit einem Einschnitt auf halben Wege, da wo eine der Figuren an den Stufen des Thrones niedergesunken ist. Zur Ausgleichung der Asymmetrie dienen die Musikantengrüppchen in den vorderen Ecken: wo die große Kniefigur die Schale der Waage belastet, sind es zwei Kinder knapp am Rande, drüben dagegen drei größere Engel, die sich recht breit machen sollen im Raum.
Man kann die Figuren der Mehrzahl nach benennen. Die Knieende ist mit Schwert und Rad als Katharina gekennzeichnet; die hinter ihr stehen mit holdseligem Neigen des Kopfes, wie zwei Blumen auf schwankem Stiel, sind Dorothea und Barbara; drüben die ernsten Typen der Agnes mit dem Schäfchen (in Profilstellung) und der Apollonia, die einen der Zähne in der Zange hält, 255 die ihr ausgerissen worden sind. Die Beterin daneben als Stifterin zu deuten, liegt kaum ein genügender Grund vor. Sie trägt allerdings kein Attribut, aber ihre Nachbarin auch nicht, und das Herabsehen der letzteren ist schon formal legitimiert. Der mit der Harfe ist König David, die andern Männer – wie wir aus einer vorausgehenden Zeichnung entnehmen können – Joachim, Josef und der Pilgerapostel Jakobus, mit dem Hut im Nacken.
Was man früher entbehrt, ist jetzt vorhanden: Zeichnungen, die sich auf das Ganze beziehen und wo man sieht, daß das Gruppieren und das rhythmische Gliedern der Figuren im Zentrum des künstlerischen Interesses stand. Die Zeichnung im Louvre (L. 324) gibt einen früheren Zustand der Komposition. In der Absicht, pompös zu wirken, arbeitet Dürer noch mit viel zahlreicherem Personal: es sind hier sechszehn Heilige neben der Maria, die er zu Vierergruppen zusammennimmt und in strenger Symmetrie staffelförmig in die Höhe führt. Der Thron kommt mit großen Stufen gegen den Rand vor. In der Mitte sitzt ein Lautenengel daran.
Die Hauptfiguren sind die gleichen hier und dort. Es ist Dürer aber klar geworden, daß weniger mehr sei, und daß er bei einer Reduktion der Figurenzahl sprechendere Kontraste gewinne. Von sechszehn Heiligen blieben nur elf, diese elf aber sind – ohne daß die Hauptmotive sich änderten – in eine neue und bedeutendere Verbindung getreten. Statt der doppelten Staffel gibt er einen einheitlichen Bewegungszug und statt der Gleichheit der Seiten eine Asymmetrie, die in viel stärkerem Maß das Ganze als etwas einheitlich Belebtes erscheinen läßt. Der Engel zu Füßen der Maria ist auch verschwunden mit dem ganzen etwas aufdringlichen Stufenwerk: es wirkt langweilig, wenn die Mittelachse, die durch Maria repräsentiert wird, unten noch einmal mit einer Figur bezeichnet ist, und die Horizontale, die im Zusammenhang von so vielen wesentlich vertikalen Figuren erwünscht sein muß, wird ganz gut durch den schleichenden Fuchs vertreten (man kennt ihn von der Maria mit den vielen Tieren her), auch die Engelgruppen in den Ecken begegnen sehr wirksam der Linieneinförmigkeit. Eine natürliche Konsequenz war die Differenzierung des begleitenden Landschaftsgrundes.Ich verstehe nicht, wie man das Verhältnis der zwei Blätter hat umkehren wollen. Wem das Fortschreiten zu reicheren Kontrasten und die Entwicklung vom Strengern zum Freiern im ganzen nichts für die Zeitfolge Beweisendes hat, der müßte sich doch durch die Behandlung im einzelnen überzeugen lassen: wie die Motive drängender werden in der Bewegung (das Beten der sog. Stifterin, die Kopfneigung des Jakobus) und aus ihrer Isolierung herauskommen (der König David), wie die Zeichnung der Draperie an Größe gewinnt (der Rock der Maria) und überall die Überschneidungen der Silhouette kommen (das Lämmchen der Agnes).
256 Auch unsere Zeichnung gibt aber noch nicht das letzte. Es findet eine nochmalige Reduktion der Figurenzahl statt und an Stelle des Breitformats tritt das Hochformat. Mit vier Männern und vier Frauen baut Dürer ein Bild, wo Maria mit hoher Thronlehne, flankiert von zwei Paladinen und gestützt durch ein musizierendes Engelpaar am Boden so sehr zum Hauptthema wird, daß die übrigen Figuren nur noch als eine Ausstrahlung von ihr erscheinen. Ich spreche von dem kapitalen Blatt der Sammlung Bonnat (L. 363), das wie zum Zeichen des Abschlusses die Jahresbezeichnung (1522) enthält.Neben dieser Zeichnung kann L. 362 nur als eine verfehlte Variante gelten, die rasch aufgegeben wurde.
Die Entwicklung ist eine ganz folgerichtige: es sollen immer größere Massen einheitlich zusammengenommen und immer höhere Grade von Bindung gegensätzlicher Elemente geschaffen werden. Zugleich wird die Komposition aus der Fläche ins Räumlich-Tiefe umgedeutet. Es müßte einen prachtvollen Anblick gewährt haben: der umschließende Chor von Heiligen, eingeleitet durch Frauen, die am Boden sitzenDie linke Figur ist eine Margarethe mit dem Drachen. Sollte ein Eindruck von jenem Himmelfahrtsumzug in Antwerpen darin weiterklingen, wo ihm eine solche Heilige, die das Tier am Gürtel führte, so besonders gut gefiel? Vergl. LF.., S. 119. und in der Mitte die Mariengruppe, wo zunächst mit breitem Gefält und weit ausbuchtenden Armlehnen die Horizontale zur Geltung gebracht ist und dann durch den Schemel der zwei Engel und die ragenden Gestalten von Joseph und Johannes dem Täufer die Throngruppe eine nie erlebte Fülle erhält. Sie sind ganz losgelöst aus dem Zusammenhang der andern diese zwei Männer, beide sollten laut Beischrift »rot« werden, d. h. als symmetrische Accente die Maria begleiten.Als ein älterer Entwurf mit ganz wenigen Figuren mag hier noch die Zeichnung von 1521 in Chantilly genannt werden, L. 343, verblüffend in ihrer kecken Asymmetrie.
Eine Anzahl großer Naturzeichnungen von Köpfen, wie sie zu dem Heiligenbild in Breitformat dienen sollten, sind noch erhalten. Die uns bekannten Bildskizzen nehmen deutlich Bezug darauf, doch wird man nicht glauben, die Komposition sei einem zufälligen Material von guten Modellstudien gemäß redigiert worden. Eine mehr oder weniger klare Bildidee ist natürlich schon vorhanden gewesen. Der ersten Fixierung des Ganzen, die wir kennen, mögen so und so viele andere vorausgegangen sein und die Haltungen der Köpfe weisen ja auch unverkennbar auf einen Zusammenhang, der noch kommen soll. Offenbar aber war es auf ein Herübernehmen der Physiognomien in ungebrochener Individualität abgesehen. Dürer fürchtete sich nicht vor der erdigen Wirkung dieser Köpfe. Das Dumpfe und Gebundene sollte untergehen in der zu feierlichem Geläute zusammenklingenden Harmonie der Bewegungen. Die 257 deutsche Kunst ist hier so weit, daß man wie bei Raffaels Disputa oder der Schule von Athen Gestalt um Gestalt auf ihre Neigungs- und Wendungsverhältnisse hin betrachten muß und auf die Art der Begegnung mit den Nachbarn, wenn man dem eigentlichen Bildinhalt beikommen will. Es ist eine neue, leise und schlichte Schönheit, die Dürer in der Haltung und Kleidung seiner Figuren vorträgt, keine fertig übernommene Schablone, wie ehemals, keine Schönheit für sich, sondern lauter Ausdrucksschönheit.
258 Der Kopf zur Barbara, den wir als Probe der Modellzeichnungen hier abbilden (L. 326), hat sein besonderes Interesse, weil er sehr nah an den Idealtypus Dürers heranreicht.Die andern Köpfe sind L. 65 (Apollonia), L. 289 (Joseph). L. 237 (weibliches Profil und Hände) wird vielleicht mit Recht auf die Katharina des Hochbildes bezogen. Neuerdings ist auch nachgewiesen worden, daß Dürer für die Engelgrüppchen Motive aus dem Engelkonzert L. 170 benützt hat. Die wie zum Kuß zusammengeschobenen runden Lippen sind ein Motiv, das auch der allerreinsten Jungfrau Maria für nicht unwürdig erachtet worden ist.Vgl. das kleine Bild der Maria von 1526 in den Uffizien, wo Dürer auf eine fast Schongauerische Zierlichkeit zurückkommt.
Neben den Köpfen sind es Draperiestudien, die in dieser Zeit in größter Fülle vorkommen, lauter höchst sorgfältige Naturzeichnungen. Je älter Dürer wird, desto mehr sucht er mit der Wirklichkeit Fühlung zu nehmen.
Am Anfang da zeichnet er seine Faltenkatarakte aus dem Kopf. Man sieht es an dem Präludieren in einzelnen Bildentwürfen, wie es ihm in den Fingern prickelt und wie ers kaum erwarten kann, bis er loslegen darf. Dann kommt mehr und mehr das modellmäßige Zeichnen, in den Gewändern des Helleraltars schlägt das Wirkliche schon durch – den Eindruck der vollkommen reinen Naturzeichnung aber hat man erst zuletzt. Die Stimmung der Formen dabei ist von gehaltenem Ernst. Das lustige Kräuselwerk der Jugend ist verbannt ebenso wie die etwas gewaltsamen Motive der Hellerdraperien. Einfache Umrisse, große Flächen, schlichte langzügige Faltenthemen, womöglich ins Geradlinige ausgerichtet, und das Kleinwerk an die toten Punkte geschoben, wo es der Hauptbewegung nicht hinderlich ist. In 259 Ermanglung einer Zeichnung, die direkt das Prachtgefält der thronenden Maria unsres Heiligenbildes vergegenwärtigen könnte, möge man mit dem Entwurf zu einer lesenden Maria oder Anna von 1521 (L. 575) vorlieb nehmen, aus der der große Stil dieser Zeit immerhin vernehmlich genug spricht: es ist sehr groß gedacht, wie die Frau im Schatten des über den Kopf genommenen 260 Manteltuches erscheint, wie in einer Nische, und die Formen des Ganzen ordnen sich zu einer fast architektonisch einfachen Wirkung zusammen. Die Geste der rechten Hand ist der der thronenden Maria nicht unähnlich: beidemal ist es das unauffällige Aufsetzen der Finger auf die Fläche des offenen Buches.Vorbereitet ist dies Marienmotiv schon in der Skizze von Budapest (L. 285), die mit großem Unrecht früher in die venezianische Zeit gesetzt wurde, während sie gegen 1520 entstanden sein muß. Wie grob war Dürers Empfindung noch, als er in Venedig der Maria mit dem Zeisig (Berlin) das Buch in die Hand gab und wie unbegreiflich klingt es, daß er damals der Nachbar Giorgiones gewesen sei.
Eine zweite Gruppe von Zeichnungen weist auf ein Kreuzigungsbild, das ebensowenig seine malerische Durchführung erlebt hat und in seiner Gesamtgestalt uns nur durch einen Kupferstich von fremder Hand bekannt ist. Es ist ein bloßer Umrißstich (P. 109), über dessen Unzugehörigkeit zum Werke Dürers jetzt kein Zweifel mehr besteht,Jaro Springer hat den Beweis geführt im Jahrbuch der preußischen Kunstsammlungen 1881, S. 56 ff. der aber doch wohl eine originale Skizze zur Grundlage hat. Viel Spielraum ist der rekonstruierenden Phantasie so wie so nicht gelassen: der Gekreuzigte ist aus der Zeichnung bekannt, Johannes und die Gruppe der Frauen. Für Magdalena am Fuß des Kreuzes und für weinende Cherubs sind ebenfalls Naturstudien da.L. 383 (Magdalena), L. 153, 282, 325, 446 (Cherub). Die umständliche Sorgfalt dieser Vorbereitungen wie die Art der Zeichnungen lassen vermuten, daß Dürer nicht einen bloßen Stich, sondern ein Bild im Sinne hatte. Ungewöhnlich ist nur, daß Johannes dann links stehen bleibt und die Frauen von rechts kommen. Daß dagegen die Hauptfiguren mit reichlichem Begleitpersonal sich trafen, wie es der Stich will, ist wohl möglich, wenn auch seine Darstellung im einzelnen nicht zuverlässig sein kann.
Der älteste Bestandteil ist die Frauengruppe mit der Jahrzahl 1521 (L. 381). Sie hat schon ganz das große gehaltene Pathos, wie es diesem Kreuzigungsbild eben seinen unterscheidenden Charakter gibt. Man muß die ähnlich bewegte Maria der Kupferstichpassion vergleichen, um die grandiose Einfalt zu spüren, mit der hier die Linie des Mantels lang und schlicht von den Schultern der nonnenhaft eingehüllten Frau herabfällt. Auf gotischen Grabplatten kommt dergleichen vor. Die Begleitfiguren wiederholen das Thema gerade so weit, um es mit einer Sphäre des Erhabenen zu umgeben, ohne seiner Einzigkeit Abbruch zu tun.Die gleichzeitige Zeichnung einer Kreuzigung in Holzschnittmanier (Albertina, L. 574) zeigt recht anschaulich, wie der hohe Stil für solche Anlässe nicht mehr verbindlich ist. Aus einer verwandten Gesinnung ist das berühmteste Stück 261 zeitgenössischer Plastik, die sogenannte Nürnberger Madonna im Germanischen Museum, hervorgegangen.
Johannes (L. 582) ist 1523 datiertSiehe unten in diesem Kapitel.. Die Gebärde still, aber voll Nachdruck, weil in der Figur alles, Gewand und Bewegung, wie aus einem Gusse ist. Das Spielbein schleppend nachgezogen. Es ist, als höre man ein klagendes Andante. Hier kommt niemand mehr, wie beim Helleraltar, auf den Gedanken, daß die Köpfe von der Figur sich abschrauben ließen, und die Bewegung nach ihrem formalen Gehalt nimmt nicht mehr ein vom Ausdruck unabhängiges Interesse in Anspruch. Das Zurücklehnen des Kopfes ist durchaus im Zusammenhang der Gesamtbewegung empfunden, und ohne das Gesicht zu sehen, wüßte man, daß diese hängenden Falten zu einer Klagefigur gehören.
Und nun ist das merkwürdige dies, daß die große Anschauung sich mit einer Intimität der Zeichnung vertragen hat, die in ihrer Art ebensosehr als etwas Neues berührt. Der Christus (Louvre, L. 382; 1523) ist eine Aktzeichnung, die man mit dem »großen Glück« auf eine Linie stellen könnte, wenn sie nicht den größeren Stil vor diesem voraus hätte.Verwandt der Halbakt eines Schmerzensmannes von 1522 in Bremen (L. 131), der ebenfalls die Vorzeichnung für ein Gemälde gewesen zu sein scheint. Das Einfache der Ansicht liegt hier nicht nur in der vollkommenen Frontalität, sondern auch in einer 262 schlichteren Anordnung der Füße, bei denen auf den uralten Typus der zwei Nägel zurückgegriffen ist. Ich glaube nicht, daß kirchlich-altertümelnde Überlegungen dazu geführt haben, man kann es als eine Konsequenz des neuen Geschmacks für das Einfache und Gerade begreifen, aber es bleibt wunderbar, daß die Neuerung, wie auf gegebene Parole, dann so rasch um sich greift. Das Lendentuch nun auch nicht mehr flatternd, sondern schlicht fallend.So auch in der Wiener Zeichnung von 1521 (L. 574). Die zwei Nägel schon bei der einen Schächerfigur von 1517 (L. 80). Die Fußplatte mußte natürlich dem Modellzeichner willkommen sein, sie ist aber ganz unabhängig von solchen Wünschbarkeiten schon bei dem leeren Kreuz einer Beweinung aus dem Jahr 1519 (L. 559) zu sehen. Analoge Beispiele bei Schäuffelin, Burgkmair, dem jungen Holbein.
An die Kreuzigung möchte ich noch eine Beweinung anschließen, die Bremer Zeichnung von 1522 (L. 129), die man zwar nicht so bestimmt als Bildentwurf in Anspruch nehmen kann, die aber ihrer monumentalen Anlage nach doch der großen Kunst angehört. Es ist ein Breitbild: der liegende Leichnam gibt das Maß für das Format. Die Zeit lag weit zurück, wo Dürer seine Beweinungspyramiden baute. Was sollten diese Formen für eine Totenklage? Hier muß die Horizontale herrschen, das Niedrige und Gedämpfte. Aber es ist schwer, mit dem Breitformat auszukommen, weil doch nicht alle Figuren am Boden hocken können. Die Frauen – meinetwegen, aber die Männer müssen doch stehen. Fra Bartolommeo hat in seiner klassischen Pietà, die fast zur selben Zeit entstand, die Schwierigkeit durch gebückte Figuren überwunden, Dürer durchschneidet den Knoten, indem er die männlichen Begleiter einfach als Halbfiguren ins Bild nahm: sie stehen auf einem tieferen Niveau. Das Bildmotiv im großen ging ihm über alle Bedenklichkeiten derer, die nur das Wahrscheinliche gelten lassen wollen.
Christus lehnt gegen die knieende Magdalena, die Mutter hockt seitlich ihm zu Häupten, sein einer Arm liegt schon auf ihrem Schoß: sie hält ihn auf der flachen Hand. Und nun beugt sie sich tiefer und drückt das Leidensangesicht zum Kusse sich entgegen, dem es schmerzverzerrt und sinnlos fallend mit einer furchtbaren Gleichgültigkeit begegnet. An dem toten Körper ist nur ein Ausdruck: Schmerz. Durchweg und wie selbstverständlich sind alle Linien zu Ausdrucksorganen geworden. Der plastische Erscheinungsreichtum ist sehr groß, aber nirgends ein Formmotiv um seiner selbst willen. Die Biegung des einen Beines wirkt mit derselben Unmittelbarkeit wie die bildnerisch sehr überraschenden Schiebungen von Haupt und Schultern. Die Hand liegt flach am Boden, mit der Innenseite nach unten, was sonst nicht der Fall ist, ganz still; aber wie zuckend scheinen die Finger die Erde zu betasten.
Bei der ungleichartigen Raumfüllung, wo der ganze Accent auf eine Seite 265 fällt, mag es verwunderlich sein, daß das notwendige Gleichgewicht doch noch zustande gekommen ist. Die zwei Männer an sich tun es nicht. Dadurch aber, daß Johannes vom Hauptvorgang sich abwendet und einen Spiegel des Mitleidens in seinem Nachbarn, Joseph von Arimathia, sucht, entsteht ein zweites Interessenzentrum im Bilde, mit dem sich der Betrachter sehr rasch identifizieren wird, und so ist die Balance gewonnen.
Es will mir scheinen, als ob die Gedanken, die Dürer in dieser Zeichnung niedergelegt hat, für die große Kunst doch nicht ganz verloren gegangen seien, auch wenn er selbst als Maler nicht darauf zurückgekommen ist. Die schöne stille Holzgruppe einer Pietà in der Jakobskirche zu Nürnberg hat so viel Verwandtes, daß man sie jedenfalls in dieselbe Zeit und vielleicht in eine direkte Beziehung zu Dürer setzen muß. Es sind ganz dieselben Mittel, mit denen Christus bedeutend gemacht ist. Auch das seltene Motiv der mit der Innenfläche am Boden liegenden Hand wiederholt sich. Nur die Stimmung der Maria ist anders, sie betet ohne Gemütserregung und mit der Kühle eines abgeleiteten Klassizismus.
Im Vorbeigehen ist früher schon einmal eine Verkündigung von 1526 (Chantilly, L. 344) erwähnt worden, wo Dürer im Sinne seines letzten Stils die große Gebärde für den Vorgang suchte: der Engel kommt hochaufgerichtet mit emporgestrecktem Arm auf Maria zu; das Wesentliche der neuen Erzählung ist aber mit diesem Zug noch nicht bezeichnet, es liegt in dem Ernst, mit dem die Geschichten auf ihren sachlichen Inhalt hin durchempfunden und frei von allen formalistischen Effekten zur Darstellung gebracht sind. Eine ganz bestimmte Berechnung der Formwerte hat natürlich stattgefunden, aber die Konstruktion ist aufgegangen in den Forderungen des unmittelbaren Ausdrucks. Man sieht sie nicht, wenn man sie nicht sucht. Noch in den schlichten Kompositionen der kleinen Holzschnittpassion – wie viel Schablone steckt doch darin! Im Zeitalter der »Melancholie« ändert sich das, aber aus jenen Jahren ist sehr wenig Erzählendes vorhanden. Jetzt erst, in einer Folge großer Zeichnungen in Querformat, die für einen dritten Holzschnittzyklus der Passion bestimmt waren, kann man den neuen Geist der Historie kennen lernen. Es hängt mit der Stimmung der letzten Lebensjahre Dürers zusammen, daß es »ernste Gesänge« sind.
Wahrscheinlich war die Anbetung der Könige von 1524 (Albertina, L. 584) für dieselbe Folge gedacht, als ein einleitender starker Stimmungskontrast, und jedenfalls ist sie am geeignetsten, das Charakteristische dieser letzten Periode deutlich zu machen, weil wir in dem Holzschnitt von 1511 und dem 266 Holzschnitt des Marienlebens das vollkommenste Vergleichsmaterial aus der zurückliegenden Zeit besitzen.Ein anderer instruktiver Fall ist die Zeichnung der Messe (Berlin, L. 447) in ihrem Verhältnis zu dem Holzschnitt des zelebrierenden Gregorius von 1511 (B. 123).
Nicht mehr in mütterlicher Sättigung wiegt sich Maria und nicht mehr greift der Knabe mit spielenden Händen in den Goldkasten: gemessen und feierlich sitzt sie da, das wunderbare Kind vor sich hinhaltend, das ganz eingehüllt mit großen Augen den knieenden König ansieht. Dieser alte König, der zuerst das Knie beugt, ist immer würdig empfunden worden, man wird aber finden, daß die ferne Anbetung hier einen besondern Grad von Ehrfurcht und Dringlichkeit erhalten hat, und ganz deutlich kommt die vertiefte Auffassung in dem Verhältnis des zweiten Königs zum Mohren zum Vorschein, wo die Kunst sich sonst so gern einen Scherz erlaubte: es liegt wirkliche Güte in der Art, wie der vornehme Mann den Schwarzen heranführt, dem man die Befangenheit in allen Gliedern anmerkt. Und was für eine grandiose Strömung entwickelt sich durch das Ausholen dieser königlichen Gebärde! Als breite Welle 267 kommt die Bewegung an die Mariengruppe heran und findet dort dann ihren Gegensatz der vollkommnen Ruhe. Joseph, fest eingebunden in die Gruppe, gibt ihr Bedeutung und Kraft, und der Architekturgrund hilft mit durch Unterschneidungen und enge Rahmung. Die vertikalen Linien sind für diesen Anlaß reserviert worden. Alles ist jetzt einfach, Gebärden und Lokalität, und höchst überzeugend. Nicht zu übersehen der Realismus des großen Giebelhauses im Mittelgrund.
Von den eigentlichen Passionsszenen kennen wir vier und davon ist nur die erste, das Abendmahl, wirklich geschnitten worden.
Auch beim AbendmahlAbweichende Vorzeichnung in der Albertina, L. 579. haben wir den Vergleich mit der Komposition von 1510 (s. Abb. im Kapitel »Neuer graphischer Stil – Die kleinern Passionen«). Der tektonische Aufbau ist jetzt weggelassen. Es wirkt zu äußerlich, zu formalistisch bei einer Geschichte, mit einer Zentralfigur und symmetrischen Seiten zu komponieren. In frei rhythmischer Folge gruppieren sich die Figuren, wobei Christus durch einen starken Einschnitt einerseits und durch zwei vorgelagerte, den Blick ihm zuleitende Gestalten andrerseits zu gebührender Geltung gebracht ist. Bewegung und Gebärde durchweg 268 vereinfacht. Was ist es doch für ein komplizierter Komplex der Christus von 1510 mit hochgenommenem Knie und vorgeschobenem Arm, in dessen Buchtung Johannes sich birgt, ohne daß auch bei ihm das Motiv naiv wirkt oder auch nur vollkommen deutlich geworden wäre: es dauert eine Weile, bis man die Hände gefunden hat. Die spätere Redaktion mag nach Seite des Edlen ein italienisch kultiviertes Gefühl vielleicht unbefriedigt lassen, jedenfalls spricht sich die Situation sehr schlicht und eindrücklich aus. Und dann im Fortgang der Apostelköpfe – welche Summe von neuem und unmittelbar wirksamem Ausdruck! Petrus neben dem Herrn – wie er starr dasitzt, mit zusammengepreßten Händen und jener Wendung des Kopfes, als ob es ihn mit einem Ruck herumgerissen hätte! Der Nachbar, der ihm die Hand auf die Schulter gelegt hat und ganz versunken dem Verlauf der Rede lauscht, ohne das Auge zu erheben, und dann an der Ecke des Tisches der Alte, aufrecht wie ein Baum, mit der flachen Hand auf der Tischplatte, und am andern Ende jener Jünger, der, den Kopf aufgestützt, mit dem Messer in das Tuch sticht, bei völlig abwesenden Gedanken. Der Tisch ist nicht gedeckt, um die Stille der Linie nicht zu stören. Nur der Kelch steht darauf, Schüssel, Kanne und Brot am Boden. Die einzige dekorative Form ist ein großes rundes Loch in der Wand, ganz weiß. Dürer hatte das Bedürfnis, 269 die Rückwand zu verkleinern, etwas Bedeutendes, Zusammenfassendes hineinzusetzen: es brauchte seine Überzeugung und seinen Mut dazu, diesen kolossalen Accent asymmetrisch in die Szene zu werfen.
Das Gebet am Ölberg (Zeichnung in Frankfurt, 1521; L. 198)Ebendort eine zweite Zeichnung von 1524 (L. 199), wo Christus mit emporgeworfenen Armen vor dem Engel kniet. Großer leerer Wegvordergrund. Die Jünger, hintereinander geschichtet, säumen den Wegrand und führen als geschlossene Kurve zur Hauptfigur hin. gibt diese letzte Passion in der herbsten Form, wo Christus sich platt auf die Erde wirft. Man weiß, daß das gleiche Motiv im Format der kleinen Holzschnittpassion auch vorkommt, ich bin geneigt, zu glauben, daß diese Variante erst jetzt entstanden sei. Gesehen hat Dürer die Situation aber zuerst bei Mantegna, auf der Predella des Triptychons von St. Zeno in Verona. Sie enthielt neben anderen Geschichten die Szene von Gethsemane (jetzt im Museum von Tours), und dort ist es – nicht Christus – wohl aber einer der Jünger, der so am Boden liegt. Das Schönlinige bleibt bei dieser Fassung des Themas von selber aus dem Spiel. Es zeigt aber die reife Kunst Dürers, wie er die Ungunst der Motivs 270 überwindet und der Erscheinung dadurch etwas Notwendiges verleiht, daß er das flache Liegen durch abgestufte flache Erdschichten vorbereitet. Im gleichen Sinne sind die Wolken als lange Nebelstreifen entwickelt, die tief über die Figur hinziehen. Die Jünger sind nichts als ein kleines Grüppchen, ganz abseits.
Die Kreuztragung (1520; Florenz, Uffizien) ist dann ein Beispiel für die Art, wie Dürer die Erzählung mit vielen Figuren behandelt, wie er das »Komponierte« überwindet und trotz der Menge für das Hauptmotiv die klare Anschaulichkeit rettet. Das Querformat war der Entwicklung eines Zuges besonders günstig, umsomehr aber lag die Gefahr nahe, daß Christus in der reichen Begleitung unterging. Er ist nicht an den Boden gefallen, sondern bleibt als stehende, schreitende Figur im allgemeinen Zusammenhang und es bedeutet nur einen augenblicklichen Aufenthalt, wenn Veronika ihm ihr Tuch hinstreckt. Darin liegt nun eben die Meisterschaft dieses Blattes, wie die hemmenden Motive in das große Geschiebe der Masse, deren Bewegung weitergeht, eingeflochten sind, sofort bemerkbar, vollkommen faßlich, geistig den Hauptaccent tragend, ohne daß doch in der Gesamtfiguration eine besondere Rücksicht auf sie genommen schiene. Die Kunst bleibt ganz versteckt. Natürlich würde die Wendung Christi gegen Veronika unbemerkt verhallen, wenn nicht der Hintermann (mit hohem Hut) den Beschauer gleichfalls auf die Knieende führte; vorwärts schiebend sorgt er andrerseits dafür, daß die Stockung gleich wieder ausgeglichen wird und die vorangehende, vom Rücken gesehene Mantelfigur, die sich flüchtig umblickt, bewerkstelligt die Verbindung nach vorn, ohne selbst das Interesse auf sich zu ziehen. Das Kreuz kommt nur in diskreter Verkürzung zur Ansicht, dafür sind Leiter und Lanze als Helfer benutzt, das Auge auf die Zentralfigur zu leiten und der Umgebung das Zerstreuende zu nehmen. An solchen Bildern erfuhr der Norden zum erstenmal, was es heiße: gut erzählen. Die Fabel in vollkommener Klarheit entwickelt und doch reich wie die Wirklichkeit und umsponnen von dem Zauber des scheinbar Zufälligen. Eine künstlerische Stilistik könnte hier die ganze Theorie der Erzählung finden. Im Sinne des reichen Eindrucks ist die Hauptrichtung des Bildes von einer gegensätzlichen Richtung begleitet: der Zug macht eine Wendung; allein erst durch die Enge der Gasse und den Blick durchs Tor wird diese Tiefenerstreckung zu einem wirklichen Wert im Bilde neben der Breitenerstreckung.
Eine zweite Zeichnung der Kreuztragung (ebenfalls in Florenz), mit dem gestürzten Christus als Hauptmotiv, besitzt nicht die gleichen Vorzüge.Diese zweite Zeichnung, vermehrt um eine Frauengruppe, zu der der Entwurf in Berlin liegt (L. 444), kommt mehrfach in Grisailleausführung vor (Dresden, Bergamo und im Doughty House zu Richmond.). Vgl. Dürer society vol. VII, 1904.
271 Bei der Grablegung (1521; Berlin, L. 86)Die Zeichnung in Frankfurt, ebenfalls 1521 datiert (L. 198), erweist sich durch die lockere Fügung und die noch weniger ausgebildeten Kontraste als die ältere Komposition. greift Dürer wieder auf das Motiv des Leichenzuges zurück, wie er es ganz früh für die große Holzschnittpassion einmal aufgenommen hatte. Das Querformat mußte ihn förmlich dazu drängen. Wenn man damals nur von einer stofflichen Beziehung zu Mantegnas berühmtem Kupferstich sprechen konnte, so ist jetzt die Anlehnung offenbar. Christus als geschlossene Masse in einem Tuch liegend, das oben und unten von einem vorwärts- und einem rückwärtsschreitenden Mann gehalten wird, während ein dritter in der Mitte anfaßt und (entsprechend der Magdalena bei Mantegna) mit einem Arm übergreift. Als Raffael seine Grablegung komponierte, hatte er das Bedürfnis, die Bewegung der Träger stärker zu differenzieren und dem Rückwärtsschreitenden die Grabstufen hinter die Füße zu setzen, die er mit den Fersen ertasten muß: Dürer kam auf dieselbe Idee, nur daß die Stufen bei ihm abwärts führen.
Ob die Grablegung in dieser letzten Passionsfolge die Szene der Beweinung ersetzen sollte, kann man nicht wissen. In der Albertina liegt eine Komposition von 1519 in Hochformat (L. 559), die also jedenfalls nicht in den Zusammenhang gehört, die uns aber doch wertvoll sein kann als Beweis, daß der neue Stil schon vor der niederländischen Reise da ist. Was ich neu nenne, ist die Behandlung des Publikums als Masse, wo keine Figur für sich den Blick anzieht und nur da und dort die Linie einer ausfahrenden Geste die Stimmung angibt. Ein Ausdruck der neuen Ökonomie liegt darin, daß die verkürzte Ansicht des Kopfes für die zwei Hauptfiguren reserviert ist. Nur so ist es möglich gewesen, ihrer Erscheinung den nötigen Wert zu geben.
Eine zweite, spätere Beweinung in Hochformat (1521, L. 379) ist ebenfalls als Massenszene behandelt. Maria sitzt neben Christus, dessen Kopf so geschoben ist, als ob er die Mutter ansehen wollte.
Was von jedem Bilde gilt, daß es um so besser ist, je klarer der Künstler die Sache in seiner Vorstellung besessen hat, je weiter er es nach den Forderungen der inneren Anschauung zur Deutlichkeit hat gedeihen lassen, weil eben darin die Garantie liegt, daß es nun auch vom Betrachter mühelos und vollständig begriffen werden kann, das gilt vom Porträt im besonderen, trotzdem das Modell hier ja alles zu sein scheint und der Laie nicht begreift, was die eigene bildende Vorstellung des Malers dabei zu tun haben solle. Ein gutes Porträt 272 muß den, der es sieht, sofort in die Atmosphäre einer bestimmten Gestalt und Persönlichkeit hineinziehen, daß er mit einem Mal weiß, und ganz genau weiß, wen er vor sich hat; diese Klarheit und Bestimmtheit der Wirkung wird aber nur dann sich einstellen, wenn beim Maler eine ebenso klare und bestimmte Vorstellung vorangegangen ist. Dürers Bildnisse haben alle mehr oder weniger diese Eigenschaft, nie aber ist die Anschauung eine so vollständige gewesen wie in dieser Spätzeit. Ich meine: der starke Eindruck der individuellen Natur ist immer da, aber die erschöpfende Aufklärung, daß jede Form sich offenbart, enthalten doch erst die letzten Bilder.
Dürer verzichtet jetzt auf alle äußeren Mittel der Verlebendigung und läßt nur die ruhige Gestalt sprechen. Nichts Momentanes, kein ungleiches Blicken, keine Öffnung des Mundes. Es ist eine Ausnahme, wenn er die Hände dazu nimmt, und wo er es tut, da geht er kaum über eine konventionelle Gebärde hinaus.So in der Zeichnung einer jungen Frau mit Schoßhündchen, L. 172. Gewöhnlich gibt er nur den Kopf in enganschließendem Rahmen. Wenn diese Bildnisse dennoch so stark sprechen, so liegt das daran, daß die Form gründlich auf ihren wesentlichen Inhalt hin durchgesiebt ist. Es ist nichts ausgelassen, aber die bestimmenden Formen sind den gleichgültigeren gegenüber in ein entschiedenes Verhältnis der Überordnung gebracht, und der Beschauer genießt das eigentümliche Glück, als ob er plötzlich hellsichtig geworden wäre.
Das Bildnis eines energischen und geistvollen Mannes in Madrid aus dem Jahre 1521 gilt mit Recht als das malerisch vollkommenste Beispiel der späteren Porträts. Thausing vermutete darin den Bankier Imhof. Man spürt noch den unmittelbaren Eindruck niederländischer Malerei. Durch fremde Muster mußte Dürer immer von Zeit zu Zeit daran erinnert werden, was eigentlich ein malerisch durchgeführtes Bild sei; aber der Eindruck hält nie lange vor. Den Köpfen, die er in Venedig malte, entfremdet er sich in Nürnberg sehr schnell wieder, und so hat auch dieses Madrider Bild keine Folge gefunden. Die Bildnisse von 1526 in Berlin, der Holzschuher und der Muffel, sind schon wieder viel linearer behandelt.
Beides sind vornehme Nürnberger, sehr respektable Vertreter der Gesellschaft, in die Dürer aufgenommen war. Man kann sich die deutsche Stadt im Zeitalter der Reformation kaum denken, ohne daß die Erinnerung an diese Köpfe aufstiege, voran in blühender Gesundheit der weißbärtige Ratsherr Hieronymus Holzschuher. Vollblütig, leidenschaftlich, ein hitziger Sanguiniker, muß er ein Mann gewesen sein, der Dürer im Temperament fern stand. Um ihn zu charakterisieren, hat er zu ungewöhnlichen Mitteln gegriffen. Es ist ganz untypisch, wie er ihn die Augen rollen läßt und wie die weißen Locken mit 275 blitzartigem Geschlängel über die Stirne fahren. Ich brauche nicht ausdrücklich zu sagen, daß in Wirklichkeit die Haare diese Rolle natürlich nicht gespielt haben. Dürer arbeitet mit Mitteln des apokalyptischen Linienstils. Es soll über die Qualität des Bildes damit nichts ausgesagt sein, aber um die besondere Art des Spätstils zu veranschaulichen, scheint es mir weniger dienlich als das andere Ratsherrnbild, Jakob Muffel.
Ein merkwürdiger Gegensatz der Naturen. Neben dem Mann des Temperaments, wo die Wallung des Blutes das rasche Wort bestimmt, der Mann des Verstandes und der hinhaltenden Überlegung, mit knappem Fleisch, engen Lippen und punktartig spitzen Lichtern im Auge. Die kleinliche Bildung der Nase könnte den Eindruck leicht ins Unangenehme hinüberdrängen, wenn nicht die große Wölbung der beigelegten Stirn dieser Wirkung begegnete. Und für ein gebildetes Auge ist es nun ein Genuß ohnegleichen, der modellierten Form zu folgen, so klar und vollständig, wie sie zur Erscheinung gebracht ist, daß man das Ganze und die Teile sofort zu fassen bekommt. Der Augensinn wird gleich lebendig und munter. Wie viel gibt schon die Silhouette von Stirn und Augenhöhle, wie ist das Feste des Knochenbaues herausgeholt und wie ist die Form geschichtet: man glaubt einen ganz einfachen Kopf vor sich zu haben und doch kann jede Vergleichung zeigen, daß das Einzelwerk genauer durchgearbeitet ist als je vorher!Da der Dargestellte im gleichen Jahre 1526 starb, ist der Verdacht geäußert worden, das Bild sei erst nachträglich gemalt. Dagegen spricht aber schon die Inschrift: aetatis suae anno 54.
Man kann sich darüber wundern, daß die völlige Frontansicht gerade jetzt bei Dürer fehlt. Schon in den Bildnissen von 1503/5, wo er noch viel mehr auf momentanen Ausdruck losgeht, kommt sie vor und das Münchener Selbstporträt kombiniert gar die reine Vertikale als Hauptachse damit, allein dieses feierliche Schema hat er nicht wiederholen wollen und im allgemeinen scheint er eine Wendung zwischen Face und Profil für die inhaltreichste Ansicht gehalten zu haben. Die reine Profilfigur ist wie bei allen Porträtisten auch bei ihm nur Ausnahme, obwohl er recht wohl wußte, daß ihr eine Art von Monumentalität eigen sein kann.
Die interessanteste Verwendung des Profils enthält der Kupferstich des Kardinals Albrecht von Brandenburg (1524; B. 103) den man den »großen Kardinal« nennt im Gegensatz zu dem fünf Jahre früher entstandenen Porträtstich derselben Persönlichkeit (B. 102; 1519). Diese ältere AufnahmenDie große Naturzeichnung in Kreide in der Albertina, L. 547. gibt die Dreiviertelansicht, der Kopf sitzt etwas klein im Raum, Wappen und 276 Inschrift bedrücken ihn mehr als daß sie ihn schmückten, und die in halber Kopfhöhe schneidende Horizontale eines dunklen Teppichhintergrundes wirkt fast gewalttätig. Offenbar wollte der hohe Herr etwas Machtvolleres haben, als er zum zweiten Mal kam, und aus einer ganz kleinen Modellzeichnung in Silberstift (Louvre, L. 329) ist dann der große und wirksame Profilstich auf einheitlich dunklem Grunde hervorgegangen. Deutlicher als im ersten Fall erfährt man hier, wie Dürer ein Bildnis über die Natur hinaushob. Der Kardinal hatte wüste, vorquellende Augen, einen gemein-sinnlichen, schwulstigen Mund und wuchernde Fettmassen um Kiefern und Kinn. Es war Dürer zunächst darum zu tun, das fatale Dominieren des Untergesichts zu beseitigen, darum stülpte er die Mütze über den Kopf, hinter der man unwillkürlich einen bedeutenderen Schädel ergänzt als er in Wirklichkeit vorhanden war. Die monströsen Formen sind, ohne ihren eigentlichen Charakter zu verleugnen, mit Diskretion behandelt. Die Hauptrechnung aber war, daß in der Profilansicht das am wirksamsten sich behaupten würde, was in dem Kopf wirklich groß war. Die Kraft der Formbildung, die freilich etwas brutaler Art ist, kommt in dieser Ansicht so energisch heraus, daß man die bloße Anschwemmungsmasse darüber vergessen kann. Das kleinformige Wappen ist ein vorteilhafter Kontrast dazu.
Ein zweites Porträt aus dem Jahre 1524 ist mit mehr innerem Anteil gemacht, der Kurfürst Friedrich von Sachsen, Dürers alter Gönner. In ein fast quadrates Feld eng eingepackt gibt er uns den Kopf des (offenbar sitzenden) Modells, schwer und unbehilflich, aber doch ausgestattet mit der ganzen Kraft des Wollens und Beharrens. Die Vorzeichnung bestand in einer Silberstiftstudie nach der Natur (L. 387), nicht größer als der Stich. Dürer muß über ein eminentes Gedächtnis verfügt haben, denn der Stich, zu dem der hohe Herr gewiß nicht noch einmal tagelang gesessen ist, gibt überall, wo man nachprüft, viel mehr Form als die Zeichnung. Neben der Präzision der Modellierung von Augenfältchen, Lippen u. s. w. auf der Kupferplatte wirken die Angaben des Silberstiftes nur als skizzenhaft ungefährer Ausdruck. Erst im Stich sind dann aber auch die Details alle in die großen Einheiten zusammengenommen, die die Erscheinung ruhig gestalten: man vergleiche die Behandlung der zugewendeten Wange. Und dann steigert Dürer prinzipiell die Linienbewegung, um den Eindruck lebendiger zu machen; nicht gleichmäßig, nicht überall, aber hier z. B. sehr deutlich in den Brauen und den Rändern der Lidspalte. Die Vorzeichnung legitimiert nicht den großen Schwung, mit der die Braue über dem rechten Auge (des Stiches) in die Höhe geht und der Verlauf der Linie ebendort vom Tränenwinkel aufwärts ist ein ganz anderer. Endlich wird man den Anlaß gern benutzen, um einmal in concreto zu kontrollieren, welche 279 Anordnung der freien Formen die künstlerische Regie über die Modellzeichnung hinaus vorzunehmen für gut fand: wie die Linie der aufgeknöpften Mützenklappe in die Stirn herunterdrückt, wie die Mütze am Gesichtsrande tiefer herabkommt (bis in Augenhöhe), wie der Bart breiter an die Locken sich anschließt, der Pelzrock höher hinaufgenommen ist u. s. f. Das köstliche Rauchwerk findet in dem starr und spröd behandelten Inschriftfeld einen wirksamen Gegensatz.
Als Probe des Porträtstichs erster Qualität könnte dieser Kurfürst genügen und eine weitere Abbildung wäre entbehrlich, allein der Freund Pirkheimer soll doch nicht fehlen und nicht nur, weil er Dürers bester Freund war: hier ist das Lehrreiche der Vergleich mit der Zeichnung von 1503 (siehe oben im Kapitel »Die frühen Bilder«). Wie gewaltig die Summe an Ausdruck in die Höhe gegangen ist! Selbstverständlich, das eine ist eine rasche Zeichnung und der Stich eine ganz durchgeführte Arbeit und der Kopf selbst ist in den zwanzig Jahren besser geworden – davon spreche ich nicht; aber es gibt Unterschiede, die aus der vollkommneren Art von Dürers Kunst sich herleiten. Die eingeschlagene Nase, die das Frühporträt so recht deutlich heraushebt, dient dem trivialen Begriff von Kenntlichkeit, im Stich tritt sie hinter den höheren Ausdrucksfaktoren ganz zurück. Dafür spricht der Mund mit den Lippen der reifsten Dürerschen Zeichnung, in denen alle Geister lebendig geworden sind, und die bedeutungsvollen Augen spielen eine so große Rolle im Gesicht, daß man annehmen muß, auch hier habe Dürer eine ideale Rechnung walten lassen und sie mehr nach Maßgabe ihres Wertes als ihrer wirklichen Größe charakterisiert.
Es sind lauter gute persönliche Bekannte, denen Dürer seine Stechkunst zur Verfügung gestellt hat. Auch Melanchthon (1526, B. 105) gehörte zu seinem engeren Kreis. Er war eine Zeitlang Rektor des Gymnasiums in Nürnberg und Dürer hat den etwas ungepflegten Philologen mit der schönen Stirn und dem seelenguten, leuchtenden Auge gewiß mit herzlicher Sympathie gezeichnet. Immerhin ist es eine flüchtigere Arbeit und der merkwürdige Hintergrund mit unruhig-ungleichen Horizontallinien ist vielleicht eben deswegen beliebt worden, um gewisse Unebenheiten zu übertönen.
Der einzige Mensch, bei dem Dürer notorisch als Porträtist Schiffbruch litt, war Erasmus. Er hat ihn in Antwerpen zweimal zu zeichnen versucht und es ging nicht,Wir kennen nur die eine Zeichnung en face mit lächelndem Gesicht (L. 361). und nun hatte er die unglückliche Schwäche, der Eitelkeit des Modells nachzugeben und nach so und soviel Jahren den Mann noch in Kupfer stechen zu wollen. Es ist der größte Porträtstich Dürers (1526, B. 107). Er gibt den berühmten Gelehrten in halber Figur, stehend und schreibend. 280 Wahrscheinlich bediente er sich eines Schemas von Quinten Massys.Vgl. Haarhaus, die Bildnisse des Erasmus von Rotterdam (Zeitschrift für bildende Kunst 1899, S. 44 ff.) Auf das Accessorische ist viel Kunst verwendet und die Schwarz-Weißverteilung von einer frappanten Originalität, aber die Darstellung behält etwas Unlebendiges, selbst wenn sie nicht durch die Erinnerung an Hans Holbeins Meisterwerk verdunkelt würde. Es bedurfte der kühlern Menschenbeobachtung Holbeins, um die wahre Natur dieses stillen Gesichtes zu verstehen.
281 Neben dem Stich ist auch der Holzschnitt zur Porträtausgabe herangezogen worden. Als eine nur mittelbare Wiedergabe der originalen Zeichnung wird er nie so rein wirken wie jener, aber er hat den Vorzug, die größeren Dimensionen zu gestatten, und dieser Vorzug ist denn auch in dem lebensgroßen Bildnis des Ulrich Varnbühler ausgenützt worden (1522; B. 155).Die Tondrucke dieses Schnittes gehören erst einer späteren Zeit an. Die Vorlage liegt in Wien (Albertina, L. 578) und ist in den Gesichtsteilen mit harter brauner, im Kostümlichen mit weicher schwarzer Kohle gezeichnet. Man sieht den angelegentlichen Willen, den Originalstrich im Schnitt zu bewahren, der Holzstock hält sich im engsten Kontakt mit der Zeichnung. Und wenn es auch ohne beträchtliche Vergröberungen nicht abgegangen ist, so bleibt es doch ein prachtvolles Schauspiel, wie sich die Technik des Holzschnitts in der Atmosphäre der Handzeichnung, als ihrem natürlichen Lebenselement, noch einmal zu dieser neuen Wirkung erfrischt hat.
Wer die Kunst den Künstlern vorbehalten will, könnte eine Reihe von Äußerungen Dürers anführen, die wenigstens so viel bezeugen, daß er ein Urteil in Sachen der Kunst nur denen zugestehen wollte, die selbst das Handwerk betreiben – den andern bleibe sie eine fremde Sprache –, und in seinem frühern Kupferstichwerk wird man auch manche Dinge finden, die nur aus dem Grundsatz l'art pour l'art zu verstehen sind, allein je älter er wurde, desto häufiger stellte er seine Kunst in den Dienst einer bestimmten Mission und sein größtes Alterswerk, die vier Apostel, sollte wirken wie eine Predigt.
Die männlichen Idealfiguren bilden eine besondere Gruppe in dieser späten Zeit. Es wäre undenkbar, daß Dürer noch einmal auf die Heiligen seiner Jugend zurückgekommen wäre; ein Sebastian, ein junger Georg – sie erschienen ihm jetzt viel zu ausdruckslos; es mußten Männer sein von einer großen ethischen Bedeutung. Höchstens der heilige Christoph, der 1521 zweimal als Kupferstich vorkommt, mag als Ausnahme wirken, und doch liegt in dem Verhältnis des riesenmäßig starken Mannes zu dem Kinde, das er über den Fluß trägt und das ihm so unerklärlich schwer vorkommt, weil er nicht weiß, daß er das Christuskind und mit ihm die Welt trägt, auch ein sittlicher Gedanke, und auch Luther hatte die Geschichte gern, wie man aus seinen Tischreden erfährt. Dürer hat den Christoph ungefähr alle zehn Jahr einmal gezeichnet, früher zweimal als Holzschnitt, jetzt wie gesagt als Kupferstich (B. 51, 52). Die größerfigurige Zeichnung ist dabei zweifellos die zweite Redaktion. Sie 282 enthält auch erst die Motive der Situation völlig ausgeprägt. Es muß ein schwer und mühsam schreitender Mann sein, nicht ein hastiger Springinsfeld wie auf dem jugendlichen Holzschnitt (B. 104), er muß mit beiden Händen sich fest am Stocke halten und offenbar wird der Inhalt bedeutender, wenn er, statt vor sich hinzublicken, den Kopf nach dem Kinde zurückwendet. Man erstaunt immer wieder, wie gedankenlos das Zeitalter Schongauers solche Typen behandelt hat. Indem Dürer aber der Gestalt ihre wahre Bedeutung zurückgibt, kommt er nur auf diejenige Bildung zurück, die schon das Mittelalter gekannt hatten
Bei den Aposteln, die als Fortsetzung der zwei Stiche von 1514 gedacht waren, kommt man zu ähnlichen Beobachtungen. Sie sind nun ganz ruhig gehalten, ohne leidenschaftlichen Ausdruck, selbst auf das Feuerwerk der Glorien ist verzichtet, aber sie haben etwas von der Größe alter repräsentativer Kunst. Bartholomäus (B. 47, 1523) hat als Attribut ein Messer, weil er mit einem Messer geschunden worden ist; als unmittelbares Ausdrucksmotiv kann man es nicht verwenden, denn es dient ihm selbst zu keinerlei Hantierung, es wird aber trotzdem nicht versteckt, er hält es aufrecht, festgefaßt, mit vorgestrecktem Arm, und diese Gebärde hat soviel Kraft, daß man durch sie allein schon aufgefordert ist, im Kopf den Charakter des Großen zu suchen.Zeichnung in der Albertina (L. 581), wo das Modell einen Stab hält, was nicht heißt, daß ursprünglich ein Philipp beabsichtigt war. Das weichmütige, spielerisch-zierliche Halten der Attribute, wie es die 283 volkstümliche Andachtskunst gab, hat hier einer ganz andern Stimmung weichen müssen. Simon mit der Säge, gleichfalls aus dem Jahre 1523 (B. 49), geht äußerlich mehr mit populären Typen zusammen, aber die Ähnlichkeit ist nur eine scheinbareZeichnung in der Albertina (L. 583): die Hände sind fest zusammengedrückt und der Blick emporgehoben, was eher auf einen Johannes am Kreuze weist. Die Behandlung hat auch nicht das Geometrisch-Stilisierende der Faltenbrechungen wie in den erwiesenen Kupferstichvorlagen (L. 580, 581), so daß ich glaube, es sei das ursprünglich eine Studie zum großen Kreuzigungsbild gewesen wie L. 582, die erst, als sie dort überflüssig wurde, in die Apostelfolge einrückte. und der großartig stille Philippus (B. 46; 1526, korrigiert aus 1523) läßt vollends keinen Zweifel über den Geist der letzten Kunst Dürers. Die Gewänder sind alle von der gleichen feierlich vereinfachten, etwas kalten, geradzügigen Art. Dasjenige des Philippus schien ihm bedeutend genug, um, ins Kolossale übertragen, den Paulus im Vierapostelbild zu bekleiden.Zeichnung in der Albertina, L. 580. Dazu kommen noch L. 382, L. 386, L. 68.
Die graphische Technik bei diesen Kupferstichen ist stark und einfach. Die Tonintervalle sehr klar. Während früher der Hintergrund mit Vorliebe den tiefsten Ton angibt, ist jetzt die größte Dunkelheit (und damit auch der Eindruck des höchsten Lichtes) der Figur vorbehalten und der Grund, wo er ausgebildet ist, steht in einem Mittelton.
Das Thema der Apostel war Dürer zu bedeutsam, als daß er sich bei kleinen Kupferstichen hätte beruhigen können. Nachdem alle anderen großen 284 Bildunternehmungen ins Stocken geraten waren, wollte er wenigstens hier einmal in monumentaler Form sich aussprechen. Er sammelte sich zu den überlebensgroßen Figuren der vier Apostel (1526). Niemand hat die Bilder bestellt, niemand hat sie gekauft, sie sollten auch nicht in eine Kirche kommen: Dürer schenkte sie dem Rat seiner Vaterstadt mit jenen bedeutungsvollen Unterschriften versehen, die das Werk nicht nur zu einem künstlerischen, sondern zu einem religiösen Vermächtnis stempeln. In Zeiten, wo alles wankt, will er die Bilder der Lehrer ausstellen, die der Menschheit als einzige Weiser zum Rechten dienen können. Mit merkwürdiger Auswahl sind es nicht die Apostelfürsten Petrus und Paulus, denen das erste Wort gegeben ist, sondern Johannes und Paulus, und dann erst folgen, ihnen bei- und untergeordnet, Petrus und Markus. Man kennt von italienischen Bildern her dieses Gruppieren mit perspektivischer Senkung des Rückwärtsstehenden, die Unterordnung hier aber ist derart, daß schon die Vermutung laut geworden ist, das zweite Paar sei überhaupt erst nachträglich ins Bild aufgenommen worden.Bekanntlich ist der übliche Name »vier Apostel« falsch, da Markus nicht zu den zwölf Aposteln zählt. Ob jemals eine Mitteltafel im Plan lag, wissen wir nicht, doch ist die Anordnung der Figuren durchaus flügelmäßig.
Es sind hohe schmale Tafeln mit dunklem Grund, gerade ausreichend, einen Mann zu fassen. Jede Raumschönheit im italienischen Sinne bleibt ausgeschlossen. Die Pose, die einen selbständigen Wert beansprucht, spielt hier gar keine Rolle mehr. Alles ist Ausdruck. Das breite Stehen auf beiden Sohlen bei Paulus und ein gelenkigerer Tritt mit etwas entlastetem Spielbein bei Johannes. Die Bewegung wird aber mehr gefühlt als gesehen, denn die Figuren sind in große Mäntel gehüllt. Hier setzt die Charakteristik eigentlich erst ein. Mit der ganzen ungeheuren Energie plastischer Empfindung, die Dürer in sich trug, sind die wuchtigen Massen der weißen, langen, starrfaltenden Hülle bei Paulus modelliert, noch mehr ins Geradlinige ausgerichtet als im Kupferstich des Philippus und von noch größerer Schlichtheit im Umriß, und dann im ausgesprochenen Gegensatz dazu der weichere Stoff bei Johannes. Seine Farbe ist ein ziemlich warmes Rot, das Weiß des Paulus, kühl an sich, ist mit grüngrauen Schatten noch mehr abgekühlt. Dürer wußte, wie viel Ausdruck in der Farbe liegt. Man findet in seinen Schriften ein gelegentliches Wort darüber.LF. 247.
Das Motiv bei Johannes ist eine lässige Neigung des Kopfes mit dem Blick in ein offenes Buch, bei Paulus nichts als das gerüstete Dastehen mit angesetztem Schwert und einer gewaltigen Bibel, das Auge nach außen. Er 287 trägt den Band auf dem vorgestreckten Unterarm, weil das Hochformat des Bildes dringend nach einer horizontalen Gegenrichtung verlangt. Im gleichen Sinn ist der Mantel des Johannes unter dem Ellenbogen eingeklemmt und da die Horizontalen beiderseits in gleicher Höhe liegen, verstärken sie sich gegenseitig.
Im Blick liegt ein Kontrast, der selbst für die Nebenfiguren festgehalten ist. Es scheint, daß alle Kraft der Wirkung dem Auge des Paulus vorbehalten bleiben und Johannes, der mit gesenkten Lidern niedersieht, ihm keine Konkurrenz machen sollte. Und als das zweite Paar dazukam, ist die naheliegende Ausgleichung vermieden worden: auch Petrus zeigt das Auge nicht, während Markus mit aufgerissener Lidspalte fast furchtbar blickt.
Eine alte Tradition will in den vier Figuren die vier Temperamente dargestellt sehen und da es sich wirklich um stark differenzierte Menschentypen handelt, ist es begreiflich, daß eine solche Meinung entstehen konnte. Allein ich kann sie nicht für berechtigt halten. Schon die Rollenverteilung hat ihre Schwierigkeiten – Petrus müßte der Phlegmatiker sein –, vor allem aber verträgt sich die Vermischung von Theorie und Geschichte nicht mit dem Geist, der in Dürers Alterswerk wirksam ist. Er nahm die Apostel viel zu ernst, als daß er sie als bloßen Anlaß zur Darstellung der Temperamente hätte benützen können. Sie waren ihm die historischen Personen, welche die Worte gesprochen haben, die die Unterschrift meldet. Johannes ist ein Jünglingskopf, vielleicht ohne das Saturierte der jetzigen Erscheinung,Schon Thausing bemerkte die Veränderung der Silhouette. aber mit blühenden Lippen und einer unleugbaren Ähnlichkeit mit Melanchthon in der offenen Stirn.Zeichnung zur ganzen Figur in der Sammlung Bonnat, L. 368, mit Jahrzahl 1525. Petrus ist der gute alte Mann, wirkt aber fast gleichgültig neben dem vulkanischen Markus, in dessen gelbem, von schwarzem Kraushaar umstandenem Kopf die dunklen Augen rollen wie ein Gewitter, während zwischen den Lippen die Zähne sichtbar werden. Er ist die Folie und der psychologische Kontrast zu der ruhigen Gewalt des Paulus. Dieser Hauptkopf unter den Vieren hat Dürer wohl zwanzig Jahre lang im Sinne gelegen. Der mächtige Schädel, das tiefgebettete Auge, die weithinabgreifende Nase und dann der lange Bart, der die Bewegung weiterführt – es ist eine Vorstellung, die schon in Venedig auftaucht; dann erscheint sie wieder beim Helleraltar; jetzt aber erreicht sie erst ihre Ausbildung ins Großartige.Das pentimento der Vergrößerung des Schädels ist schon längst beobachtet worden. Der Konservator der Pinakothek, Dr. Voll, hat nun aber weiteres entdeckt: daß die alte Silhouette in der Mitte der jetzigen Stirn lief und die Nase erst nachträglich lang gemacht worden sei. Er beseitigt damit die Berliner Zeichnung des Paulus (L. 89) und man wird ohne großes Bedauern die zugehörigen, ebenso qualitätslosen Köpfe des Markus (L. 72) und Petrus (L. 369) mitziehen lassen. Damals bei den Aposteln am Grab der Maria suchte er noch seine Idealität in der Übertreibung des 288 Individuell-Besondern, jetzt faßt er das Große im Einfachen. Angesichts dieses Apostels wird es verständlich, was Dürer mit seiner Klage an Melanchthon meinte, daß er nun erst die Natur in ihrer schlichten Größe begreife.Brief Melanchthons an Georg von Anhalt, 17. Dez. 1547: Dürers Geständnis, früher habe er die bunten und vielgestaltigen Bilder am liebsten gehabt, und erst im Alter angefangen, die Natur zu betrachten und sie in ihrer eigentlichen Gestalt nachzubilden, und jetzt erst habe er erkannt, daß diese Einfachheit der höchste Ruhm der Kunst sei (postea se senem coepisse intueri naturam et illius nativam faciem imitari conatum esse eamque simplicitatem tunc intellexisse summum artis decus esse), und ähnlich in einem Briefe an Hardenberg: daß Dürer bedauert habe, in seiner Jugend so großes Gefallen an der Darstellung ungeheuerlicher und ungewohnter Gestalten gefunden zu haben (monstrosae et inusitatae figurae). Beide Stellen bei Thausing II, 284 f.
Wer aber einmal unter der Macht dieses Apostelauges gestanden hat, der weiß, daß hier nicht nur ein neuer Begriff von heiligen Männern in die Erscheinung getreten ist, sondern ein neuer Begriff von menschlicher Größe überhaupt. Von solchen Männern ist das Werk der Reformation getan worden. Das Zeitalter ist ein männisches Zeitalter gewesen und nur in männlichen Typen hat Dürer sein Höchstes geben können.
Goethe fand im Gegenteil, die Frauen seien das einzige Gefäß, in das wir unsere Idealität ausgießen könnten. 289