Sophie Wörishöffer
Gerettet aus Sibirien
Sophie Wörishöffer

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Fünfzehntes Kapitel.

Otto.

Am folgenden Morgen war der Findling – Otto, wie meine Leser längst erkannt haben – wohl genug, um seine Erlebnisse berichten zu können.

»Ich wurde von einem Windstoß aus dem Schlitten gerissen«, sagte er, »und unter ein Gebüsch geschleudert, wo ich mich während der Nacht in den Schnee eingrub und am anderen Morgen ganz zerkratzt und zerschlagen erwachte. Dann ging ich gegen Norden so schnell, als es mir möglich war, weiter, den Schlitten mit meinen Angehörigen nach.

In der Tasche hatte ich ein Brot und eine kleine Flasche Wein, damit stillte ich den ärgsten Hunger. Gegen Mittag bemerkte ich, daß im Sonnenschein auf dem Schnee ein Schatten sich hin und her bewegte; ich blieb also stehen und beobachtete, um zunächst zu erfahren, was da vor mir herumsprang. Es konnten ja auch Feinde sein!«

Der Wor lachte. »Feinde?« wiederholte er. »Was meinst Du damit, mein tapferer kleiner Bursche?«

Otto errötete sehr. »Ich weiß nicht«, stammelte er, »ich –«

»Ach!« rief Dimitri, »jetzt wird mir alles klar! Wo hatten wir 152 denn unsere Augen? – Dieser Knabe gehört mit zu den entflohenen Warnaks!«

Und als Otto verlegen den Kopf senkte, klopfte er ihm gutmütig auf die Achsel. »Du brauchst nicht zu antworten, Kleiner – wahrhaftig, von uns haben die Deinigen nichts zu befürchten; erzähle nur weiter.«

»Ich sah das unbekannte Wesen aus dem Gebüsch hervorkommen«, fuhr Otto fort, »und erkannte ein Renntier, das unter dem Schnee die letzten grünen Grashalme aufsuchte. Es trug ein breites, ledernes, mit vielem Schmuck versehenes Halsband; daraus schloß ich, daß es zahm sei, und ich ging ihm langsam näher.

Das Renntier ließ mich ruhig herankommen; selbst als ich ihm die Hand auf den Rücken legte, fraß es unbekümmert weiter.

Und dann faßte ich einen Entschluß; ich nahm ein großes Tuch vom Halse, knüpfte es als Zügel um den Nacken des Tieres und schwang mich hinauf. An der Haut hatte ich erkannt, daß es gewöhnt sei, einen Reitsattel zu tragen.

Mein Renntier nahm den Versuch sehr gut auf, es ging noch ein wenig spazieren, scharrte hier und da Futter aus dem Schnee oder lief zum Vergnügen mit mir über die Ebene dahin, aber es kam doch endlich nach Hause, in ein jakutisches Dorf, das von der Purga halb verweht war. Die Leute schaufelten und fegten mit aller Macht, sie empfingen mich sehr freundlich und bereiteten mir sogleich im wärmsten Winkel ein Lager, wo ich wenigstens zwölf Stunden lang schlief; darauf bekam ich eine herrliche Fleischsuppe, und man gab mir den kleinen hölzernen Schlitten und die beiden Zugtiere, wofür ich den guten Leuten meine Uhr als Belohnung zurückließ; dann fuhr ich ab, um nach der Gegend von Nischney-Kolymsk zu kommen – das übrige wissen Sie.«

Dimitri nickte. »Und die Wölfe?« fragte er; »die Wölfe, welche hinter Dir heulten und Dich zerreißen wollten? Hattest Du keine Furcht vor ihnen?«

»Die Wölfe?« wiederholte das Kind. »Sie waren schon seit vielen Stunden hinter mir.«

»Wenigstens zweihundert Bestien!« bemerkte Iwan.

»Zuerst sah ich nur einen«, rief Otto. »Er lief immer hinterher, blieb aber beharrlich in der gleichen Entfernung, so daß ich mich seinetwegen nicht besonders ängstigte, dann aber kam der zweite hinzu, der dritte, vierte – so oft ich den Kopf wandte, hatte sich die Zahl der Räuber vergrößert. Zuletzt sah ich gar nicht mehr hin, sondern trieb nur das Gespann zu möglichster Eile, namentlich da mir von fern Euer 153 Lagerfeuer entgegen schimmerte – ach, ich hoffte, daß es das meines Bruders sei!«

Und Otto zerdrückte mutig die Thränen in seinen Augen. »Einerlei!« rief er, »einerlei! Ihr habt mich gerettet, meine Freunde, und ich danke Euch!«

Der Knabe sprach mit einer Zuversicht, welche diese wilden Menschen, die aller Familienfreuden entbehrten, vollkommen entzückte. Sie brachten ihm von ihren Vorräten das Beste, sie bemühten sich wetteifernd, ihm zu dienen und gefällig zu sein.

Nachdem Otto vollständig gesättigt war, nahm ihn Dimitri anscheinend zufällig beiseite und legte ihm freundlich die Hand auf den Kopf. »Wohin geht Deine Fahrt, mein Kleiner?« fragte er den Knaben.

Sein feines Wesen, seine traurigen, sanften Augen gewannen das Vertrauen des Kindes, dennoch aber gebot ihm die Klugheit, so zurückhaltend als nur möglich zu bleiben. »Bitte«, sagte Otto, »fragen Sie mich nicht, lieber Herr, ich kann darauf keine Antwort geben.«

Dimitri schüttelte den Kopf. »Im Gegenteil, Kind, ich kann für Deine und Deiner Geschwister Sicherheit nur dann sorgen, wenn ich alle Verhältnisse genau kenne. Sage mir, wohin Du Dich begeben willst, mein Kleiner, Dein Vertrauen soll nicht getäuscht werden! Du bist jedenfalls aus guter Familie, ich aber auch – mein Name ist Dimitri Jermak, ich bin der Sohn des Polizeimeisters Jermak.«

Der Knabe sah auf. »Aus Jakutsk?« rief er.

»Mein verstorbener Vater stand dort zuletzt im Amte, ja.«

»Ich kenne ihn!« rief Otto.

»Nun, mein kleiner Freund«, sagte mit unsicherer Stimme der Räuber, »dann kanntest Du einen Ehrenmann.«

»Mein Gott, Herr Jermak kann doch nicht gestorben sein? Er war ganz gesund, ein kräftiger Mann, als er sich vor drei Tagen bei uns befand.«

»Wie? Bei Euch? – Bei wem denn?«

»Bei meinem Bruder, meiner Schwester und Herrn Bochner! – Kennen Sie diesen Herrn nicht von Jakutsk her?«

»Nein, leider nicht. Aber mein alter Vater sollte leben? Ich ließ ihn weit von hier, im Burukanwalde, am Fuße der Werchojanskischen Berge für tot liegen, weil es mir unmöglich war, den Körper zu beerdigen.«

»Aber wir fanden ihn doch gerade an jener Stelle, und er war vollständig begraben.«

»Was sagst Du, Kind – begraben?«

154 »Ja, das ist eine merkwürdige Geschichte. Aber sehen Sie nur, Herr Jermak, diese Pistolen gehörten Ihrem Vater, er selbst hat sie mir geschenkt!«

Der junge Mann ergriff hastig die Waffe. Es war ihm, als werde ihm das Herz in der Brust zerrissen. Wie oft hatte er als schuldloses Kind auf den Knieen des Vaters mit diesen Pistolen gespielt! – Ja, er erkannte sie, er wußte jetzt, daß der Knabe die Wahrheit sprach – sein alter Vater lebte, er sollte ihn vielleicht sogar wiedersehen!

»Kind«, sagte er, blaß und bebend vor Aufregung, »Kind, Du weißt, wo wir ihn – ich meine, wo wir die Deinigen finden können?«

»Ja! – In der Umgebung von Nischney-Kolymsk, an der Grenze des Tschuktschenlandes müssen sie sein.«

»Gut. Nun kein Wort mehr, mein Junge! Wenn alle übrigen schlafen, werde ich Dir meinen Plan auseinandersetzen.«

Er drückte ihm die Hand und gesellte sich wieder zu den anderen, wo indessen Koschewin von seinem Platze aus so ziemlich die ganze Unterhaltung mit angehört hatte. Der Name des Herrn Bochner machte ihn aufmerksam; das war der Mann, welcher ihm damals auf dem Wege nach der Festung Akutia, als er fast verschmachtete, so barmherzig ein Glas Wasser in den zersetzten Munde geträufelt hatte.

»Dimitri«, sagte der Wor, »auf ein Wort!«

»Nun – und?«

»Erzähle mir das, was Du da eben mit dem kleinen Burschen verhandeltest. Ich bin ganz vernarrt in den Jungen, ich wollte, er wäre mein Sohn – – aber nein, nein, doch nicht. Alle Teufel, er würde seinen Vater verachten, glaube ich.«

Dimitri seufzte. »Laß das, Koschewin«, versetzte er. »Komm, ich will Dir etwas mitteilen, was ich beabsichtige – vielleicht werden wir bei dieser Gelegenheit wieder ehrliche Leute, Du und ich, Männer, deren Söhne sich dereinst ihrer Väter nicht zu schämen brauchen. Komm, ich will Dir die Geschichte erzählen.«

Er nahm ihn beiseite, wir aber folgen den beiden nicht, sondern kehren zurück zu den Flüchtigen, welche wir in der Eishöhle, verzweifelt und trostlos, verließen.

Noch einen ganzen Tag und eine Nacht blieben sie an derselben Stelle, um womöglich den verlorenen Knaben wieder aufzufinden, dann erst, nachdem alle angewandten Mittel fehlschlugen, entschlossen sie sich schweren Herzens zur Weiterreise.

Der Weg führte an der Kolyma dahin und durch Thäler, welche, von hohen Bergen eingeschlossen, weit leichter zu passieren waren als die nackten, vom Sturm durchtobten Tundren. Hier weideten zahlreiche 155 Renntiere und Elenhirsche, außerdem fanden sich auch einige genießbare Wurzeln, die den leergewordenen Schlittenkästen neue Vorräte zuführten. Auch ein großer schwarzer Bär wurde erschossen und lieferte Fleisch auf länger als eine Woche hinaus.

Im schnellen Fluge glitten die beiden Schlitten über den gefrorenen Boden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Emmas Augen waren vom Weinen gerötet, sie dachte immer nur an den verlorenen Knaben und wollte sich auf keine Weise trösten lassen, auch Hermann war stumm, und sogar der sonst so redselige Herr Bochner hatte jetzt keinen Scherz mehr auf den Lippen.

Der neben ihm sitzende, tief in seine Pelze gehüllte Jermak hielt die Augen fast durchweg geschlossen. Er hoffte und fürchtete nichts in der Welt, er hatte alles aufgegeben, eins wie das andere.

Währenddessen fuhr der schlaue Tekel auf dem kürzesten Wege vorwärts, wobei sich die Hundegespanne des Esa-ul von Sredne-Kolymsk als wahre Wunder der Schnellläuferkunst erwiesen. Die eingeborenen Hunde des nördlichen Sibiriens haben äußerlich große Ähnlichkeit mit Wölfen, besonders was die spitze Schnauze anbetrifft, die immer aufrecht stehenden Ohren und den dicken Schwanz; sie heulen auch wie Wölfe und haben ein ganz gleiches Fell, sind aber sehr anhänglich und leicht abzurichten.

Tekel und Khort hatten sich mit den Gespannen schnell vertraut zu machen gewußt, ein Wort oder ein Pfeifen wurde sogleich verstanden, eine leise Berührung mit dem langen, statt der Peitsche in ganz Sibirien gebräuchlichen Stocke ließ sie von ihren zuweilen auftauchenden Jagdgelüsten sogleich abstehen und gehorsam weiter traben, selbst wenn ein Bär oder ein Fuchs ganz in der Nähe vorbeistrich.

Als Speise erhielten die Tiere nur gekochte Fische, also genau dasselbe, was auch Menschen aßen, um nicht in der Wüste zu verhungern.

Gegen Abend wurde wieder eine Schneehütte gebaut und durch die beiden Lampen einigermaßen erwärmt, dann fielen unter den Axthieben der Männer mehrere Bäume, ein loderndes Feuer stieg gen Himmel empor, und nun meinte Tekel, daß es wohl an der Zeit sei, irgend ein Haar- oder Federwild für das Abendessen zu erlegen. Während der Polizeimeister und Herr Bochner zum Schutze des jungen Mädchens zurückblieben und während der zweite Jakute das Eis der Kolyma durchbrach, um Wasser zu erlangen, begaben sich Hermann und Tekel auf die Jagd.

Der Jakute schlich voraus, ihm folgte Hermann und den Beschluß machte Treu. Wie ein Indianer, der den Feind überrumpeln will, bewegte sich der Eingeborene langsam und spähend vorwärts, indem er jeden Busch, jede Schneewehe untersuchte, um daran die Fährte des 156 Wildes zu erkennen. Plötzlich gab er dem Deutschen ein Zeichen mit der Hand, bückte sich und blieb in dieser Stellung hinter einem Gebüsche völlig versteckt liegen.

Hermann stand mit dem Gewehr im Anschlag unbeweglich hinter ihm.

Nach kaum einer Minute erhob sich der Eingeborene, winkte seinem Genossen, ihm zu folgen, und nahm den Weg zum Flusse hinab.

Überall im Schnee befanden sich viele regelmäßige Fußspuren.

»Renntiere?« fragte mit leiser Stimme der Deutsche.

»Pst! – Ein Elen!«

»Nur eins? – Ich denke, diese Tiere leben in Rudeln?«

Tekel zuckte die Achseln. »Hier ging nur eins, Toyona!«

Sie schlichen weiter bis zu einer Stelle, wo die Böschung den Fluß senkrecht überragte. Hier wuchsen Weiden, Tannen und viele verschiedene Gesträuche, namentlich Zwiebelgewächse, die ihre Wurzeln nicht tief in den fast immer gefrorenen Boden zu versenken brauchten; man konnte sich bequem verstecken und wartete nun der Dinge, die da kommen würden.

Plötzlich hob Treu den Kopf und wollte mit langen Sätzen davonspringen, aber Hermann erwischte ihn noch gerade früh genug, um diesen Ausfall zu vereiteln; er hielt den Hund mit beiden Armen fest und winkte ihm, ruhig zu bleiben. Treu gehorchte auch sofort.

In den Weidengebüschen knisterte es, ein großes Elentier streckte den Kopf hervor und trat dann langsam auf die freie Fläche hinaus, gefolgt von seiner ganzen, sieben Köpfe zählenden Familie. Ein altes Weibchen ohne Geweih mochte die Mutter sein, hinter ihr erschienen zwei fast erwachsene Tiere, zwei jüngere und zwei Säuglinge.

Man hörte den Schnee unter ihren Füßen knistern; der Hirsch ging voran, bog mit seinem hohen Geweih eine Lärche zu sich herab und verzehrte die Krone derselben. Er sowohl als auch das Weibchen hatten die Größe von ausgewachsenen Kühen.

Hermann und der Jakute, die beide mit dem Gewehr im Anschlag unter dem Winde standen, benutzten den günstigen Augenblick, um Feuer zu geben. Zwei Schüsse widerhallten donnerähnlich von den nächsten Bergen.

Ein Blitz zerriß die Luft, das Weibchen fiel ins Herz getroffen auf den Schnee, und die jüngeren Tiere ergriffen, von dem bellenden Hunde verfolgt, schleunigst die Flucht, während der Hirsch, von Hermanns Kugel getroffen, sich offenbar anschickte, nun seinerseits die Jäger mit Krieg zu überziehen.

»Treu!« rief Hermann, »Treu – faß!«

Der Hund verstand augenblicklich den erhaltenen Befehl; in der nächsten Sekunde hing er an dem Halse des Tieres und hatte seine scharfen Zähne fest in das Fleisch desselben hineingeschlagen.

157 »Bravo!« rief Hermann. »Gut, mein Tier, halt ihn fest!«

Der Hirsch ging, trotzdem das Blut in Strömen an ihm herabfloß, wankenden Schrittes mit dem an seinem Halse hängenden Hunde zu einem der nächsten Bäume, in der offenbaren Absicht, den Feind zu ersticken oder seine Knochen unbarmherzig zu zermalmen, und nun wäre es um Hermanns Liebling geschehen gewesen, wenn nicht eine zweite von der unfehlbaren Hand des Jakuten entsendete Kugel dem Dasein des Elentieres ein jähes Ziel gesetzt hätte. Mit einem gurgelnden Schrei in den Schnee fallend, verendete es.

»Hurra!« rief Tekel; »den hätten wir!«

»Ein prächtiges, großes Tier!«

»Jetzt wollen wir die besten Stücke in Sicherheit bringen und das übrige, der Wölfe wegen, hier liegen lassen«, sagte der Jakute. »Hilf mir, Toyona!«

Beide Männer zogen die Jagdmesser hervor, und nun schnitt sich jeder heraus, was er für das Beste hielt, Hermann den Rücken und die Keulen, der Eingeborene die Ohren, Schnauze, Zunge und den knorpeligen Fortsatz des Geweihes. Treu erhielt gleich an Ort und Stelle so viel Fleisch, als er zu fressen vermochte.

Das Weibchen wurde ebenso behandelt wie der Hirsch, und dann kehrten die glücklichen Jäger in das Lager zurück, wo ihre Beute mit großer Freude begrüßt wurde. Emma briet sogleich eine Keule in dem eigenen Fett des Tieres, und Tekel und Khort rösteten in heißer Asche die Geweihe, zu welchem Schmause später Herr Bochner eingeladen wurde und an dem er, mit diesem Leckerbissen schon bekannt, voll Vergnügen teilnahm.

Von dem verschwundenen Knaben sprach an diesem Tage niemand, aber alle gedachten seiner mit der innigsten Wehmut. Armer Otto, gewiß hatten jetzt schon die Wölfe den erstarrten Körper in Stücke zerrissen! – –

Sie schwiegen davon wie auf Verabredung, aber dennoch trauerten alle, und als sie am folgenden Tage weiterfuhren, geschah es mit schwerem Herzen. Allein in der öden Tundra, ohne Lebensmittel, ohne Führer, konnte der Knabe den Unbilden des Wetters nicht widerstanden haben, und doch schien es grausam, sich immer weiter von ihm zu entfernen.

Zwei Nächte wurden noch an den Ufern der Kolyma verbracht, dann kamen die endlosen Ebenen, welche bis an das Eismeer führen und nichts als glatte schneebedeckte Flächen bilden, ohne eine menschliche Wohnung, ohne irgend einen Punkt, einen Baum, auf welchem das Auge ausruhen könnte vom ewigen Einerlei der Wüste.

Immer blieb die Kolyma, fest gefroren wie der Erdboden, zur Linken der kleinen Karawane, jetzt einer der größten, in der Breite einer Meile dahinfließenden und in das Eismeer mündenden asiatischen Ströme. Dieses 158 Gewässer hat unzählige Arme und daher auch viele verschiedene Namen; gegen das Ende der Fahrt hin heißt es z. B. Kammenaja; das alles wußte Hermann aus dem eifrigen Studium seiner im Burukanwalde verbrannten Karten, deren Bilder er so sicher im Gedächtnis trug, als ständen sie noch auf dem Papier vor ihm.

Weiter, immer weiter – das Ziel rückte jetzt doch mit schnellen Schritten näher. Noch ein junger Spießer wurde seines Fleisches wegen getötet, noch zwei Tage lang glitten die Narten über den gefrorenen Boden, dann kam bei einundzwanzig Grad Kälte das Meer endlich in Sicht.

Die Jakuten jubelten laut, als sie es sahen.

»Das Polarmeer!« sagte unwillkürlich schaudernd der Tanzlehrer.

Eine öde arktische Landschaft lag vor den Blicken der Reisenden. Hier in der Nähe des Pols gab es keine Höhe oder Tiefe, ja selbst keine Schatten mehr, kaum ließen sich von ganz geübten Blicken die Erde, das Meer und der Himmel deutlich unterscheiden – es war alles bleigrau, fahl und unbeweglich, es ließ in seiner Regungslosigkeit das Herz erstarren und den Mut vergehen wie das Antlitz der versteinernden Medusa.

In dieser leblosen Einöde erinnerten die vielen Krümmungen und Buchten der Küste an eine im Entstehen begriffene Welt; das Stillschweigen und die Ruhe rings umher hatten etwas Verwirrendes, Unheimliches – die Glieder der kleinen Gesellschaft fühlten sich sämtlich vom Schrecken gepackt. Emma zitterte am ganzen Körper.

Das Polarmeer! – Man liest davon am warmen Ofen oder wenn spielende Sonnenstrahlen über das Buch gleiten, aber man schaudert, wenn es sich grau und farblos in unermeßlicher Öde vor den Blicken ausdehnt.

Nur Jermak blieb unbewegt, er saß auch hier wie im Traume.

Heimlich grübelte er. Zwischen der Stunde, in welcher die Flüchtigen hoffen durften, einen Walfischfänger auf dem Meere erscheinen zu sehen, zwischen der Stunde der Befreiung und dem gegenwärtigen Tage lag noch die lange Polarnacht, während welcher ihn Hermann und Herr Bochner nicht so genau überwachen konnten – dann ließ sich doch vielleicht die Flucht ermöglichen.

Ja, die Flucht. Der unbeugsame Mann dachte immer noch daran, die Sträflinge nach Jakutsk zurückzuführen, er hoffte auf irgend einen besonderen Umstand oder Zufall, welcher ihm hierbei behilflich sein sollte.

Um die Schlitten herum lagerte der dichte, undurchdringliche Polarnebel. Das Meer war hier an der Küste fest gefroren, hart wie Stein. Kein Geräusch ringsumher, keine Bewegung, kein Schrei – nicht einmal ein Hauch. So mag ein ausgestorbener Planet beschaffen sein, eine Welt, die durch ein furchtbares Ereignis entvölkert wurde.

159 Nur zuweilen schwebten lautlosen Fluges über das weiße Eis große, weiße Vögel dahin, beinahe wesenlosen Schatten gleich.

Und dieser trostlose Ort war derjenige, an dem sich die Flüchtlinge während des ganzen Winters verborgen halten mußten. Hermann ermannte sich zuerst, er trocknete den eisigen Schweiß von der Stirn.

»Mutig, meine Freunde«, sagte er, »wir müssen hindurch und dürfen daher nicht in der zwölften Stunde noch verzagen. Hier ist vorläufig unsere Heimat, also laßt uns dieselbe nach Möglichkeit bequem und sicher herrichten.«

Er forderte die Jakuten auf, mit dem Bau einer Hütte aus Schnee zu beginnen, und nahm selbst die Schaufel zur Hand, ebenso Herr Bochner und der Polizeimeister. An Tauwetter war auf keinen Fall zu denken, die Wände und das Dach mußten feststehen wie aus Eisen.

Rüstig arbeiteten fünf entschlossene Männer, und schon nach wenigen Stunden konnte das neue Haus, dessen Fußboden vom Schnee gesäubert worden war, mit allem Eigentum der Flüchtlinge bezogen werden. Die Thür zu diesem Bau bestand nur aus Fellen und würde daher der Kälte den Zutritt nicht verwehrt haben, wenn nicht die Jakuten durch einen langen, schmalen und mehrfach gekrümmten Gang, gewissermaßen einen überwölbten Thorweg, aus Schnee die wärmere Luft innerhalb der Wände zurückgehalten hätten. So glich das Ganze den bekannten Eispalästen der grönländischen Eskimos.

Zwei Lampen, mit Bären- und Renntierfett gespeist, erhellten das Innere, ein Herd aus großen Steinen stand im Vorraum und hatte sogar einen aus alten Blechbüchsen sehr kunstvoll eingerichteten Schornstein erhalten, der den Rauch unmittelbar hinausführte ins Freie.

Nun galt es, Feuerholz zusammenzutragen. Am Ufer des Meeres lagen Hunderte von Stämmen, man brauchte sie nur aus dem Eis zu lösen und heimzuholen; einige davon gaben sogar, mit Fellen bedeckt, ganz prächtige Bänke, während die Narten, das Unterste zu oberst gekehrt, als Tische dienten.

Der Schnee, so sauber wie Krystall, lieferte ein gutes und reichliches Trinkwasser – für den Mundvorrat mußten die Büchsen sorgen.

Salz und Thee waren noch in bedeutender Menge vorhanden, ebenso getrocknete Fische, aber weiter auch nichts, die Jagd sollte daher unverzüglich beginnen und zwar meilenweit von der Hütte am Kap Baranoff, wo sich ungeheure Felsen bis zum Meer hinabziehen und die Tierwelt der arktischen Zone, von den flachen Tundren vertrieben, ihr Winterquartier aufschlägt.

»Jetzt beginnt die Polarnacht«, sagte mit heimlichem Grauen Herr Bochner, »volle achtunddreißig Tage hindurch.«

160 »Wann fängt sie an?« rief Hermann.

»Ja, mein Lieber, an welchem Tage des Jahres befinden wir uns? Ich habe keine Ahnung!«

»Heute ist der zwanzigste November«, antwortete Jermak.

»Wie wissen Sie das, mein werter Herr Polizeimeister?«

»Ich habe mir jeden verflossenen Tag gemerkt – das ist einfach genug.«

Herr Bochner lachte. »Also man schreibt in der gebildeten Welt heute den zwanzigsten November.«

»Ja.«

»Gut, dann beginnt übermorgen die Polarnacht.«

»Wird es vollständig dunkel sein?« fragte bebend vor Furcht das junge Mädchen.

»Wenigstens erscheint die Sonne erst nach achtunddreißig Tagen wieder am Himmel – genau den achtundzwanzigsten Dezember.«

»Aber wie wird es uns möglich sein, in dieser Finsternis zu leben? Ihr könnt kein Tier finden, um es zu erlegen!«

»Doch, doch«, tröstete der Tanzlehrer. »Vollständig finster wird auch die Nacht nicht sein, denn erstens gewöhnt sich das Auge sehr schnell an die uns umgebenden Beleuchtungsverhältnisse, dann aber besuchen uns Mond und Nordlicht, ferner glänzt der Schnee und die vorhandene Strahlenbrechung behält immer noch einige Kraft.«

»Was aber bedenklich werden kann«, setzte er hinzu, »das ist die außerordentliche Kälte und der etwa eintretende Mangel an Lebensmitteln. Wir sind, da der arme kleine Otto nicht mehr in unserer Mitte weilt, nur noch sechs Personen, aber dennoch –«

»Bitte«, unterbrach der Polizeimeister, »zählen Sie mich nicht mit, Herr Bochner!«

»Weshalb nicht? Werden Sie sich etwa in der Zukunft das Essen abgewöhnen?«

»Schwerlich. Aber überlassen Sie jetzt, wo mein Arm geheilt ist, gütigst mir selbst die Sorge, wie ich durch den Winter komme.«

»Nach Gefallen, Herr Jermak«, nickte Hermann. »Wir können Ihnen erst dann die Freiheit zurückgeben, wenn wir uns nicht mehr auf russischem Grund und Boden befinden, das sehen Sie ein. Viel lieber wäre es uns freilich, wenn Sie mitgingen nach Deutschland.«

Der Polizeimeister lächelte. »Ich will mir's überlegen«, sagte er spöttisch.

Man hatte dem alten Herrn ein eigenes Kabinett erbaut, ein Bett aus viereckigen Holzstücken und Pelzen hergerichtet und ihm Stuhl und Tisch besorgt; da saß er fast die ganzen Tage, ohne im Wohnzimmer zu 161 erscheinen, und nur abends ging er fort, um einige Vögel zu fangen, die ihm Emma kochte, auch trug er täglich Feuerholz herbei und füllte die vorhandenen Gefäße mit Schnee, um so seinen Teil an den Haushaltungsarbeiten redlich beizutragen, aber den geistigen Verkehr mit den Flüchtlingen wies er beharrlich zurück. Sie waren nicht seine Gefährten, das behielt er immer im Auge.

Fehlte einmal seine eigene Jagdbeute, so fastete er trotz aller Bitten des jungen Mädchens, ohne einen Bissen zu genießen.

Hermann war davon so unangenehm berührt, daß er einmal, als man eine Fleischsuppe aß, den Löffel hinlegte und, zu dem Polizeimeister gewandt, sagte: »Sie haben seit dem gestrigen Morgen nichts mehr genossen, Herr Jermak!«

»Ich weiß es. Bekümmern Sie sich, bitte, nicht um mich.«

»Aber wie lange soll das so fortgehen, Herr Jermak?«

»Nur bis morgen. Ich will eine Bärenfalle aufstellen.«

»Aber dazu gehört eine Waffe und –«

»Und Sie haben die meinige in Besitz genommen, ja. Aber vielleicht werden Sie mir eine Axt anvertrauen, Herr Brandt?«

»Natürlich. Wir wollen am liebsten für Sie jagen, Ihnen alle Mühe ersparen – Sie sollen am Feuer sitzen bleiben und uns allein hinausgehen lassen.«

Jermak schüttelte den Kopf. »Ich danke«, antwortete er gelassen. »Leihen Sie mir die Axt, das genügt vollständig.«

»Aber Sie müssen doch eine Lockspeise haben?«

»Die ist vorhanden. Ich besitze noch einige Haferkuchen aus dem Ostrog des Herrn Kantier, die will ich dafür verwenden.«

»Und trotzdem Sie Lebensmittel haben, essen Sie doch seit gestern morgen nicht mehr?«

»Natürlich nicht. Ich muß mich beizeiten einrichten.«

Die Deutschen schwiegen, von Bewunderung erfüllt. Hermann dachte, daß es ein Glück sein müsse, die Freundschaft dieses Mannes zu gewinnen, aber er gab trotzdem alle weiteren Versuche auf – Jermak war unzugänglich.

Ohne auch nur einen Tropfen Thee genossen zu haben, legte sich der alte Herr bei einer Kälte von siebenundzwanzig Graden auf das Feldbett und schlief ruhig.

Am anderen Tage stellte er die Falle auf, legte auch Schlingen für Vögel, aber es hatte sich nichts darin gefangen, und so besaß er nur einige Wurzeln, welche er in einem verlassenen Mäusenest vorfand; das war sein Frühstück, Mittags- und Abendessen.

162 Emma bat ihn mit Thränen in den Augen, doch von einem Damtier, das Hermann erlegt hatte, ein Stück anzunehmen, aber er war nicht zu erweichen, so daß Herr Bochner riet, ihn ganz in Frieden zu lassen, das werde vielleicht am ehesten eine Änderung bewirken.

»Aber er verhungert«, meinte das junge Mädchen.

»Vorher wird er ohnmächtig«, sagte achselzuckend der praktische Herr Bochner, »dann flößt man ihm Suppe ein – nota bene, wenn man welche besitzt.«

»Das walte Gott!« seufzte Hermann. 163

 


 


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