Theodor Wolff
Der Marsch durch zwei Jahrzehnte
Theodor Wolff

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Der Briefschreiber

Die Briefe, die in dem Frankreich des Ancien Regime von den Epikuräerinnen der oberen Stände geschrieben wurden, sind Erholungsbeichten in Tanzpausen und reizende Selbstdemaskierungen während eines Balles, mit dessen letztem Tanz nach Meinung mancher französischer Kulturschilderer die feinste Süßigkeit des Lebens starb. Natürlich hatte an dieser Süßigkeit nicht jene Menschenklasse einen Anteil, aus der die Steuerpächter den Wein herauspreßten, sondern nur die Gesellschaft, die ihn trank. Auch wenn die gepuderten Dilettanten sich wissensdurstig oder neugierig mit ernsten Problemen beschäftigten, mit der theologischen Diskussion und Port Royal, mit der europäischen Politik und den Verfassungsfragen, mit Amerika, Montesquieu und den Enzyklopädisten, waren diese Spiele des Intellekts zierlich wie die Reifenspiele auf den Rasenflächen von Trianon. Madame de Staël, die dürre du Deffant, Freundin der Philosophie, der Mathematik und Voltaires, und in ganz anderer Art die leidenschaftlich empfindsame Mademoiselle de Lespinasse sind doch nur als berühmte Ausnahmen anzusehen. Die Briefe der schönen Welt wurden in den Boudoirs geschrieben, auf den von den phantasievollen Möbelkünstlern des vierzehnten und des fünfzehnten Louis entworfenen Tischen oder auf denen des Rokoko, und an der Wand gegenüber dem Schreiber und der Briefschreiberin hingen die Bilder mit den heiteren Idyllen Bouchers, den zart in die Umarmung gleitenden Frauen Watteaus und den auf der Schaukel unvorsichtig hochfliegenden Fräuleins Fragonards. Als ein neues Jahrhundert begann, schrieb man auf den Tischen des Empire, des Directoire und des deutschen Biedermeier, und wenn 113 man aufschaute, traf der Blick nicht mehr frivolen Leichtsinn, sondern »heroische Landschaften«, gradlinig gerahmte, seriöse Gravuren und kühle weiße Nachbildungen von Statuen und Büsten aus römischen Museen.

Auch wenn die ungewöhnlichste Frau, die stürmische, exaltierte, unerschrockene, schwer zu ertragende und doch wundervolle Bettina schrieb – wie wenig glich sie den Marquisen von Versailles und den Freundinnen Voltaires! Ihre eigene Glut, eine geistige, nicht sinnliche, rötete ihr die weißen Statuen auf den Konsolen, und ihre Feuerseele glaubte, die kühle Büste ihres großen olympischen Gottes erwärmen zu können. Nur einer unter den deutschen Briefschreibern der Zeit, von denen wir wissen, setzte, mit etwas anderen Tönen und Farben und mit der Kenntnis des Neuen, das sich an das Alte angefügt hatte, die in Frankreich gepflegte Kunst fort, die nur dann eine ist, wenn sie es nicht sein und nicht scheinen soll. Der Fürst Pückler-Muskau hatte den Stil jener französischen Epoche, und trotz allem, was ihn mit dem Geist seiner eigenen Zeit verband, war er ja eine Figur aus der Portraitparade Saint-Simons, dieser längsten und großartigsten Galerie von Versailles.

Man muß sich nicht mit den Briefen des »Verstorbenen« begnügen, in denen er, wie Bettina in der Rolle des »Kindes«, Literatur geliefert hat. Man findet ihn ganz echt nur in der von Ludmilla von Assing, der Nichte Varnhagens van Ense, in vielen Bänden herausgegebenen Korrespondenz, und ganz besonders in seinen Briefen an die Frauen.

Wißbegierig, voll weltbürgerlicher Ungebundenheit und voll literarischer Geschmacksfeinheit, kollegialer Bewunderer und bewunderter Freund Heinrich Heines, vorurteilslos und freisinnig im Rahmen des Bestehenden, zitternd, wenn er meint, ein keckes Wort oder eine rücksichtslose Handlung der unabhängigen Ludmilla habe ihn bei Hofe kompromittiert. Großartig in seinen Herrenlaunen, seinem Prunkbedürfnis, seinen Parkschöpfungen, und ordinär, zynisch und brutal, wenn er die Mittel für diese verschwenderische Wirtschaft, für Muskau, für die schönsten Pferde, 114 den besten Koch, das reichste Tafelgeschirr, von einer verliebten, unterwürfigen Frau erpreßt und schließlich mit dem Geld der abgeschüttelten gutmütigen »Schnucke« wie ein Heiratsschwindler nach England auf den Brautfang geht. Verführerisch und mit prachtvoller Vitalität zwischen eingebildeten Krankheiten, Arzeneiflaschen und Kompressen – mit diesem Liebeshunger, der bis zur Stunde der Sättigung keine Prahlerei und Einbildung ist. Noch im einundachtzigsten Jahre notiert er in seinem hoffentlich gewissenhaft geführten Tagebuch ein letztes schlankes Liebesglück. Innerlich gefühlskalt und sich dessen bewußt, es sogar bedauernd, nach jedem Abenteuer schnell ernüchtert, wie Faust und vermutlich Don Juan. Auch die viel besungene kleine Macchuba, die »braune Maitresse«, war nur ein herumgeführtes Schaustück seiner Eitelkeit. Phantasievoll und geistreich in seinen Liebesbriefen, ohne wie ein von Cupidos Pfeilen getroffener Nachtwandler zu deklamieren und Leidenschaft zu lallen. Die moderne Auffassung, daß ein Liebesbrief so kahl und »sachlich« sein müsse, wie eine in Beton gegossene Hausfassade, war allerdings damals noch nicht durchgedrungen. Er hatte in seinen erotischen Wallungen die galanten und zärtlichen Formeln so leicht, so unwillkürlich und so massenhaft produziert, daß die Gewohnheit auch in kühlerer Temperatur fortdauerte und diese Sprachtechnik ihm jederzeit zur Verfügung stand. Als ihm der Tod bis zum fünfundachtzigsten Jahre nachsichtig noch einen Aufschub gewährt hat, küßt er, nun freilich nur noch in Gedankenekstase, immer wieder die »weißen Händchen« und die »hübschen Füßchen« der Freundin Ludmilla Assing, die in Florenz das alles sammelt und in ihrem Kasten aufbewahrt.

 

Es stört ein wenig den Genuß, wenn Fürst Pückler-Muskau an seinem vierundsiebzigsten Geburtstag in seinem Tagebuch bemerkt, die »lebhafte Korrespondenz mit Damen, jetzt meine einzige Schriftstellerei und nicht ohne einige Feile geschrieben«, sei eigentlich sein »wahres Element«. Und wenn er bedauert, daß er »erst seit einigen Jahren 115 mehrere Kopien« dieser Briefe zurückbehält. Der Reiz verfliegt, wenn man erfährt, daß der Verfasser von Liebesbriefen nicht nur an die Eine gedacht hat, sondern auch an ein größeres Publikum. Liebeslyrik ist eine Kunstgattung, die von jeher den Buchkäufern gestatten sollte, an den Freuden und Leiden des Dichterherzens teilzunehmen, aber ein liebender Briefschreiber sollte eigentlich nicht schon von der ersten Zeile ab beabsichtigen, seine intimen Geständnisse, seine auf dem Papier so leise flehenden Lieder auf den Markt zu bringen.

Fürst Bülow verfaßte die Briefe, die er schrieb, nicht für die Zwecke des literarischen Gewerbes und gewiß auch nicht immer – nur in Ausnahmefällen – in der Idee, sie könnten eines Tages an die Öffentlichkeit kommen. Aber er hatte, ganz abgesehen von dem Gefühl für die Schönheit des Ausdruckes, einen so starken Sinn für das, was er sich selbst schuldete, daß er keinen Satz formte, der nicht vor dem Urteil der strengsten Stilkritik hätte bestehen können. Fürst Pückler-Muskau war ein blendender Globetrotter, herumstreichend in vielen Ländern des Geistes und des schnell erreichbaren Abenteuers, und bei aller Unsauberkeit – und obgleich er ohne den aristokratischen Namen, die schönsten Pferde, Muskau und den fürstlichen Luxus nicht ganz so gefeiert worden wäre – ein mit glänzenden Gaben ausgestatteter Amateur der Schriftstellerei. Fürst Bülow war kein Theaterheld für romantische Seelen und kein unstäter Genüßling, er trug das Bewußtsein seines Staatsmannstums in sich und schrieb seine Briefe in diesem gefestigten Selbstgefühl, und das gab ihnen bei aller Grazie ein respektgebietendes Gewicht. Auf einem Gebiete der Korrespondenz, einem einzigen, ist er vermutlich schwächer als der Fürst Pückler-Muskau gewesen – in der Abfassung von Liebesbriefen stand er wohl hinter diesem Meister zurück. Wenn er im letzten Bande seiner Memoiren von seinen ehemaligen Liebeserlebnissen berichtet, eine Begegnung auf einem Rheindampfer und eine Liebesnacht mit dem Gesang der Vögel vor den Fenstern schildert, erreicht er ungewollt komische Wirkungen, und seine Sprache hat 116 dann die Fadheit der billigsten Romanbonbons. Es gibt einen Typ des schönen, stattlichen Mannes, den man sich am wenigstens wie Romeo auf der Strickleiter vorstellen kann. Fürst Bülow war ein fesselnder Plauderer, aber wenn man liest, wie er noch in höherem Alter so stolz, gründlich und poetisch zwei oder drei banale Rendezvous aus seinen Jugendjahren beschreibt, gewinnt man leider von der Art und der Zahl seiner Heldentaten keinen sehr hohen Begriff. Historiker versichern, der preußische König Friedrich I. habe nur deshalb, weil er durchaus die Herrlichkeit Ludwigs XIV. nachahmen wollte, die Witwe seines Kammerdieners zu seiner »Maitresse« und zur Gräfin von Wartenberg ernannt. Der in moralischer Beziehung untadelige König sei mit dieser Dame nur im Schloßgarten spazieren gegangen. Er hielt es für seinen Ruhm notwendig, eine Madame de Maintenon zu haben, wie der große Kollege in Paris. Wir wollen nicht annehmen, daß Fürst Bülow in seinem für die Weltgeschichte bestimmten Werk nur darum so ausführlich von ein paar längst entblätterten Rosen gesprochen hat, weil Talleyrand auch als Freund der Frauen berühmt gewesen ist.

Läßt man diesen geringfügigen Mangel in seiner Begabung beiseite, so muß man sagen, daß Fürst Bülow wie wohl kaum ein anderer in Deutschland, und jedenfalls wie kein anderer Minister oder Politiker, das Verständnis für die große Tradition des epistolaren Stils und die Fähigkeit, diese Tradition aufrecht zu erhalten, besaß. Auch unter denen, die aus der Pflege der Sprache ihren Beruf machten, hätten ihm in einem Wettbewerb nur sehr wenige den ersten Preis streitig machen können. Keiner schrieb so formvollendet, so zielsicher und scheinbar mühelos die Pointen anbringend, wie er, und keiner spielte so elegant, so über alle Töne verfügend und mit so überlegener Autorität auf diesem Klavier. Die klassische Linie des Gewandes, die von der staatsmännischen Bedeutung des Schreibers zeugte, war übersät mit den glitzernden Pailletten des Spottes, der Bosheit, der treffenden Zitate und der witzigen anekdotischen Einfälle, und aus dem harmonischen Gefüge einer Sprache, das zu 117 der Abgeklärtheit einer weltbedeutenden Persönlichkeit paßte, blitzten diese spielerischen Lichter hervor.

Der erste Brief, den ich von ihm erhielt, war eine Antwort und kam im Januar 1914 aus der Villa Malta in Rom. Damit wurden Beziehungen, die sich im Beisein des Fürsten Lichnowsky in Norderney zufällig angeknüpft hatten, gewissermassen regularisiert. »Wie Sie«, schrieb Bülow, »habe ich mich immer bestrebt, das Persönliche vom Politischen zu trennen. Politische Meinungsverschiedenheiten auf das persönliche Gebiet übertragen heißt die ersteren unnötig verschärfen und dabei die persönlichen und gesellschaftlichen Beziehungen erschweren und verunstalten. Ich gehe noch weiter und glaube, daß es kein besseres Mittel gibt, die eigenen Überzeugungen zu klären und, soweit sie richtig sind, zu befestigen, als sie mit Menschen zu diskutieren, die anderer Ansicht sind, sofern sie ihre Ansicht nur mit Geist zu vertreten wissen. Das nannte der große Frankfurter Philosoph, den ich in meiner Kindheit noch an der »Schönen Aussicht« längs des Main habe spazieren gehen sehen, seine Ideen ventilieren« . . . Am Schluß stand, wie in fast jedem späteren Briefe, die konventionelle Einladung, nach Rom – bisweilen war es auch Klein-Flottbeck oder Norderney – zu kommen. Dort könnten wir, »unter der Palme lustwandelnd, die Goethe vor 126 Jahren in unserem Garten gepflanzt hat«, uns über die Probleme der inneren und der auswärtigen Politik unterhalten, über die ich, wie er ja wisse, nicht immer mit ihm einverstanden gewesen sei. Zwar hatten diese Einladungsformeln, von denen er wohl nach verschiedenen Seiten hin Gebrauch machte, untereinander eine gewisse Ähnlichkeit. Aber sie waren doch beinahe so zahlreich wie die Liebkosungen, mit denen Fürst Pückler-Muskau sich seinen Freundinnen empfahl. Einmal, im Dezember 1923, als ich ihm mitgeteilt hatte, daß ich nach Turin fahren wollte, hieß es: »Von der Augusta Taurinorum ist nur ein Sprung bis zur ewigen Stadt. Es würde mir eine Freude sein, mit Ihnen in den Gefilden der Natur und Kunst, wie sich der kluge Kunstgreis von Weimar ausdrückte, umherzuwandeln. Wir leben 118 hier ruhig und friedlich, und nur abgetönt dringt das Echo der ewigen deutschen Krankheit, des deutschen Parteigezänks, zu uns. Aber die Leiden und Schmerzen und Nöte unseres Volkes erschüttern auch mein Herz, und mit Heine kann ich sagen: ›Denk ich an Deutschland in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht.‹«

Aber der heitere römische Formsinn und die Gebefreudigkeit eines kultivierten Geistes wurden, wie schon angedeutet, durch eine andere Eigenschaft wohltuend ergänzt. Wenn Fürst Bülow eine politische Situation darstellte oder seine Politik verteidigte, hatte sein Briefstil die schöne lateinische Klarheit und blieb vom allzu Zierlichen frei. Ohne dieses kräftigere Gegengewicht würde auch nach den graziösesten und geistreichsten Wendungen schließlich nur der Eindruck übrig bleiben, den ein aus Pastetchen, gebackenen Austern und ähnlichen Gourmetgenüssen zusammengesetztes Menu hinterläßt. Nach dem im Augenblick empfundenen Vergnügen bliebe der Eindruck der Leere, der Kleinlichkeit und daneben der Maniriertheit und Affektation. Wo die Bedeutung des Themas den Briefschreiber bewegte, wo er ein Kapitel der Zeitgeschichte erläutern, die Richtigkeit seiner Handlungen beweisen, den Empfänger des Briefes überzeugen wollte, hatten seine Sätze einen gradlinigen Schwung, eine noble Einfachheit, und waren so übersichtlich wie die Säulen eines antiken Tempels aneinandergereiht. Er konnte dann sogar auf die äußere Geschlossenheit verzichten und numerierte mit juristischer Nüchternheit seine Argumente mit eins, zwei und drei. So, mit Paragraphenzahlen, diesmal von eins bis sechs, stellte er beispielsweise in einem langen, mit eigener Hand geschriebenen Briefe mir noch einmal sein Verhalten in der Frage des englischen Bündnisangebotes dar. Ich erwähne diese Details, weil sie zeigen, daß er, wenn es ihm auf die Wirkung des Plaidoyers ankam, absichtlich auch trockene Töne suchte und fand. Am klarsten war sein Stil, wenn die Sache, die er erläutern und verteidigen wollte, besonders zweifelhaft erschien. Über trübe Untergründe floß seine Sprache in vollkommener Reinheit hinweg.

119 Als er in den ersten Monaten des Jahres 1915 in Rom versuchte, Italien von dem Eintritt in den Krieg zurückzuhalten, ließ er mir durch den Kurier der Botschaft vertrauliche Briefe zugehen, in denen er sehr ausführliche Informationen über die Lage der Dinge gab. Obgleich zu jenem Zeitpunkt der Gedanke an Vergnügungsreisen nicht nahe lag, unterließ er auch in diesen Kriegsbriefen aus der Villa Malta nicht die gastliche Einladung, und so schrieb er: »Wenn wir wieder Frieden haben – wann?? – lenken Sie Ihre Schritte hoffentlich einmal nach Rom, wo von Tasso bis zu Byron und Chateaubriand viele Menschen das Vanitas vanitatum vanitas empfunden haben.« Ich hatte schon oftmals in Rom die Vergänglichkeit aller irdischen Eitelkeiten empfinden können. Jetzt, während des Krieges, empfing man diese Lehre nicht nur in Rom. Wenn er mir in seinen Briefen seine freundliche Anerkennung aussprach, so betraf sein Lob besonders die »in Deutschland leider seltene Eigenschaft des Politikers und Publizisten, ohne irgendwelche Untreue gegen den eigenen Standpunkt doch den in manchen Fragen anders Denkenden gerecht zu beurteilen«, – wie es, seiner Meinung nach, die Engländer, die Italiener, die Franzosen tun. Es sollte leider ein Augenblick kommen, wo er mein Streben nach Gerechtigkeit weniger hoch schätzte und mir beinahe auch die mir im August 1916 zugestandene »aequa mens« wieder aberkannte, »die Horaz vor 1900 Jahren empfand«. Unsere schriftliche Unterhaltung drehte sich sehr oft, ebenso wie unsere Gespräche, um das, was er als Reichskanzler getan und unterlassen hatte, und er bewies in der Widerlegung meiner Auffassungen und in der Beantwortung lästiger Fragen eine große Geduld. Mehr als zehn Jahre lang wurde diese interessante Partie ohne irgend einen verstimmenden Zwischenfall gespielt. Auch die Verschiedenheit der Meinungen über die deutschen »Kriegsziele«, über die Annexionsforderungen, führte zu keinem sichtbaren Verdruß. Am 11. Juli 1916 hatte er mir in einem langen »ganz vertraulichen« Brief aus Klein-Flottbeck – nach Ausführungen über seine Politik in der bosnischen Sache und nach anderer 120 Abwehr – seinen mir bereits bekannten Standpunkt folgendermaßen auseinandergesetzt:

»Es handelt sich aber weniger um historische Untersuchungen und Spekulationen, als um die Frage, ob wir Aussicht haben, zu einem Frieden zu kommen, der den ungeheuren Anstrengungen und ungeheuren Opfern dieses Krieges entspricht, und, soweit historische Untersuchung Platz greifen soll, ob der Weltbrand zu vermeiden war. Selbst ein so scharfer Kritiker wie Sie deutet an, daß, wenn ich in den entscheidenden Wochen, wo die Lose über Krieg und Frieden geworfen wurden, konsultiert worden wäre, ich vielleicht diesen oder jenen nicht ganz unbrauchbaren Rat hätte geben können. Ja, lieber Herr Wolff, bei aller Bescheidenheit wage ich zu glauben, daß dazu Erfahrung und Verstand bei mir noch gereicht hätten.« –

»Gerade weil ich Frankreich von frühester Jugend an und genau kenne, habe ich nie daran gezweifelt, daß, wenn es zum Bruch zwischen Deutschland und Rußland käme, und namentlich zu einem schroffen Bruch, ganz Frankreich die Marseillaise anstimmen würde. Und wirklich begann mein alter, seitdem verstorbener Freund Francis Charmes seine Chronik in der »Revue des deux Mondes« vom ersten August 1914 mit den Worten: »Le jour de gloire est arrivé«. Mit England war bis zum Kriege und bis zum ersten Mal in der Geschichte zwischen beiden Völkern Blut geflossen war – Blut ist ein ganz besonderer Saft – manches möglich, mancherlei Kombination und allerlei Ausweg. Jetzt haben wir für absehbare Zeit mit einem England zu rechnen, das uns innerlich feindlich und mit entschlossener Feindschaft gegenüber steht. Darauf müssen wir uns einrichten und uns dagegen schützen, und zwar durch reale Sicherheiten. Nach diesem Kriege, seiner Entstehung und seinen Begleiterscheinungen werden Bürgschaften, die nicht handgreiflicher Natur sind, wirklich nur Chiffons de papier sein. Auch ich wünsche den Frieden, auch mir blutet das Herz, wenn ich an die Opfer denke, die unser Volk so heldenmütig bringt, wenn ich die wirtschaftlichen Konsequenzen dieses Krieges erwäge, der unsere glänzende 121 Entwickelung so jäh unterbrach. Haben wir schon Gelegenheiten vorübergehen lassen, wo die Möglichkeit vorlag, dem Frieden näher zu kommen? Ist in Reden und diplomatisch nicht manches geschehen, um die Friedenstaube zu verscheuchen, wenn sie sich schüchtern näherte? Ich möchte mich in dieser Beziehung jedes Urteils enthalten und nur der Überzeugung Ausdruck geben, daß, wenn etwas versäumt wurde, nicht böser Wille vorlag.«

Ich will hier einflechten, daß in der ersten Hälfte des Jahres 1915 Persönlichkeiten, die im öffentlichen Leben standen, die Notwendigkeit erkannt hatten, die von der Schwerindustrie, ihren parlamentarischen Stützen und zusammengeholten Universitätslehrern heftig betriebene Annexionskampagne durch eine Gegenbewegung zurückzudämmen. Nach mancherlei Verhandlungen in größerem Kreise hatte unter dem Vorsitz des Fürsten Hatzfeld ein Komitee, dem ich angehörte, eine von mir verfaßte Erklärung all denjenigen, auf die man rechnete und deren Namen man haben wollte, zur Unterzeichnung zugeschickt. Etwas später gab sich Fürst Bülow der Öffentlichkeit als Anhänger der Annexionspolitik zu erkennen. Es läßt sich nicht sagen, ob bei ihm der Wunsch mitwirkte, sich die nationalistischen Elemente, die er für die stärkeren halten konnte, zu verbinden und seinen schon als Schwächling verschrienen Nachfolger noch mehr in Mißkredit zu bringen. Als ich seinen Julibrief erhalten hatte, antwortete ich ihm, daß, wie er schon wisse, sein Standpunkt nicht der meinige sei. »Gewiß, der Haß gegen Deutschland ist ungeheuer groß, und es ist wahrscheinlich, daß er sich sobald nicht mindern wird. Aber das Bestreben muß doch dahin gehen, ihn zu mindern, ihn nicht noch zu verschärfen und zu verewigen. Wir müssen den Anschluß an Europa wiederfinden und nicht auch noch für die kommenden Generationen das Tischtuch zerschneiden. Das ist keine Sentimentalität, keine Gefühlspolitik, sondern eine Erwägung, die mir als nüchtern und praktisch erscheint.« Und ich sprach ihm mein Bedauern darüber aus, daß in den Blättern des 122 Annexionismus jetzt sein Name zum gern benutzten Deckschild geworden sei. Zu dieser Erwiderung äußerte er sich, wenige Tage darauf, in seinem nächsten Brief nur mit der Bemerkung: »Es kommt zur Zeit weniger darauf an, ob General Bernhardi sein Buch besser nicht geschrieben und General Keim diese oder jene Rede besser nicht gehalten hätte«, – ich hatte weder von Bernhardi noch von Keim gesprochen – »als darauf, ob und wie wir zu einem für das deutsche Volk annehmbaren und seinen heroischen Anstrengungen und heroischen Opfern einigermaßen entsprechenden Frieden kommen.« Im übrigen beschäftigte er sich in dem Briefe wieder mit Bosnien und Marokko, mit einem Artikel des Professors von Wiese, der seine Politik unfreundlich kritisiert hatte, und mit dem unglücklichen Bethmann, dem österreichischen Ultimatum und der Haltung der Österreicher, die jetzt besser getan hätten, einen entscheidenden Stoß gegen Kiew zu führen, statt den Italienern mit Pauken und Trompeten einen »Rachefeldzug« anzudrohen.

Über solche kleinen Zwischenfälle wurde hinübergesegelt, ohne daß bemerkbarer Schaden entstand, und erst im Jahre 1925 erfolgte der ernsthafte Zusammenstoß. Ich hatte gewußt, daß ich auf eine Klippe losführe, aber keine Möglichkeit zum Ausweichen gehabt. In diesem Jahre 1925 erschien mein Buch »Das Vorspiel«, in dem ich das Deutschland Wilhelms II. schilderte, oder, genauer gesagt, das Deutschland zwischen dem Jahrhundertanfang, dem Höhepunkt seines Glanzes, und 1910, einem Zeitpunkt, in dem die deutsche Sonne schon nicht mehr so strahlend schien. Es waren die zehn Jahre der Ära Bülow, teilweise auch des Herrn von Holstein, und in ihrem Verlauf hatte die Situation Deutschlands zwischen den anderen Staaten sich sehr gewandelt – es hatte sich aus einer triumphalen Machtstellung, aus der glücklichen Position des Umworbenen hinausdrängen lassen und war beinahe isoliert. Das ganze Jahrzehnt hindurch hatte ich so ziemlich alle Unternehmungen des Bülow'schen Regimes, seine Politik in all ihren Stadien sehr scharf bekämpft. Ich hatte seine 123 Marokkopolitik, oder wenigstens ihren zweiten Teil, nach dem Sturz Delcassés, für grundfalsch, und den Wunsch, zur Konferenz nach Algeciras zu gehen, für unsinnig gehalten, die theatralische Unterstützung Österreichs gegen Rußland in der bosnischen Affäre überaus schädlich und überflüssig gefunden, fortwährend die Gefährlichkeit und die Torheit der Flottenbauerei betont und in der Ablehnung oder Nichtbeachtung der britischen Bündnisanbandelungen, die England zu Frankreich hinüberdrängte, einen ungeheuren Fehler gesehen. Sollte ich nun, weil die Beziehungen zu dem Privatmann Fürst Bülow sehr angenehm geworden waren, meine Meinung ändern oder auch nur abschwächen und zart mit rosa Watte umhüllen? Es gab da nicht einmal einen Gewissenskonflikt. Seine Persönlichkeit malte ich mit all den reizvollen und blendenden Eigenschaften, die sie in Wirklichkeit ja besaß. Ich erzählte von dem künstlerischen Genuß, den ein Verkehr mit ihm bereite, und sagte, er werde »in der Feinheit und Unerschöpflichkeit der Unterhaltung von keinem anderen Deutschen seiner Zeit übertroffen oder erreicht«. Unbestreitbar sei er eine besondere Erscheinung unter den »Paladinen« Wilhelms II., und das müsse man »konstatieren, auch wenn man die Ereignisse und die Forderungen der Zeit anders als er gesehen hat und sieht« . . . »Mit der Neigung, auf den Höhen der Macht zu weilen, vereinigte sich in ihm jener weltmännische Skeptizismus, jene angenehme, ausgleichende epikuräische Philosophie, die das Leben nimmt, wie es ist, und das Beste herauszuziehen weiß« . . . Die Schwächen seiner Wesensart – die ihn in der inneren Politik zu unfruchtbarem Gehenlassen bewogen – konnte und wollte ich ebensowenig übertünchen wie die Irrtümer und Mißerfolge seiner auswärtigen Politik. Kein Kapitel des Buches konnte diplomatische Ruhmestaten preisen, die er selbst zwar in gewandter Rede feierte, die aber nicht vorhanden gewesen sind. Als das »Vorspiel« erschien, spendeten Hans Delbrück, Haller und andere Historiker dem Buche ein reiches Lob, das die Fachgelehrten im allgemeinen den unzünftigen Arbeitern nur ungern gönnen. Aber fast alle – 124 die einen, weil sie, wie Haller, Bülow haßten, und die anderen, weil sie, wie Delbrück, Herrn von Bethmann-Hollweg liebten – erklärten mit Bedauern, ich hätte den Fürsten Bülow zu gut behandelt und eine nicht genügend zurückgedrängte Sympathie habe die Charakterschilderung zu freundlich gefärbt. Fürst Bülow las anders, er täuschte sich nicht. Er war tief gekränkt, als nach so vielen Aufschlüssen, die er mir gegeben hatte, und nach all den Diskussionen, dem langen mündlichen und schriftlichen Gedankenaustausch, ein so unbefriedigendes Ergebnis vor ihm lag. Allerdings, er hatte immer wieder gesagt und geschrieben, daß politische Meinungsverschiedenheiten nicht die persönlichen Empfindungen berühren könnten, und sehr vorurteilsfrei seine Freude an solcher Austragung der Gegensätze beteuert, aber es war natürlich etwas ganz anderes, ob der Gesprächspartner seine alten Einwendungen »unter vier Augen« wiederholte, oder unbelehrbar jetzt auch noch auf Druckpapier. Habe ich Dich dazu auserwählt, Dir dazu meinen Segen verliehen?

Er schwieg ziemlich lange, und erst nach mehreren Wochen erhielt ich von ihm einen Brief aus Rom. Dreizehn wohlgefüllte Bogen von dem großen Format, das bei den mit der Schreibmaschine hergestellten Manuskripten das übliche ist. Dreizehn Seiten voll von einem manchmal überzuckerten und manchmal ganz bitteren Groll. Fast so lang und auch so fesselnd durch die fechterische Manier, wie eine Rede Ciceros. Diejenigen Sätze, in denen Fürst Bülow erklärte, was er im Juli 1914 zur Verhinderung des Krieges getan hätte, wenn er an der Macht gewesen wäre, habe ich nach seinem Tode schon veröffentlicht. Ich will hier den ganzen Brief mitteilen, und wenn ich aus einer ziemlich umfangreichen Korrespondenz gerade ihn herausnehme, so geschieht das, weil er mir, mit den Bissen und Stichen, die mir darin zugedacht sind, noch besser als die abgeklärten philosophischen Betrachtungen aus der Villa Malta gefällt. Das »Vanitas vanitatum«, das in Rom von Tasso bis zu Byron und Chateaubriand so viele Menschen empfunden haben, mag ein Spruch gewesen sein, den Fürst Bülow nicht 125 nur für mich über das Tor seines Hauses schrieb, und die von Goethe gepflanzte Palme wurde allen Besuchern gezeigt. Ein Brief, in dem einige auserlesene Rügen und Bosheiten mir allein galten, war eine intime Gabe, etwa ein nicht beim Gärtner gekaufter, sondern selbst gepflückter und gebundener Strauß. Wahrscheinlich hatte Fürst Bülow in der römischen Muße allmählich den Schlachtplan entworfen und die Pfeile gespitzt, aber in dem Augenblick des Diktates brachte dann sein Temperament in das alles erst die schnell fließende Bewegung und die schneidende Verve hinein. Mit dem Wechsel zwischen Defensive und Offensive, zwischen klarer Sachlichkeit und boshaftem Spott, und mit der zweifachen Kunst der Formbildung und der Dialektik zeigt der für den Empfänger wenig wohlwollende Brief seines Verfassers Meisterhand:

     Rom,
Villa Malta
Den 7. Februar 1925

Lieber Herr Wolff,

Der Mensch findet bekanntlich nie weniger Zeit, als wenn er nichts zu tun hat. So kam ich erst jetzt dazu, das Buch zu lesen, das Sie mir vor einiger Zeit zugehen ließen. Vor allem danke ich Ihnen nicht nur für die Übersendung des »Vorspiels«, sondern auch für die freundlichen Zeilen, die Sie gleichzeitig an mich richten. Mein erster Eindruck nach gründlicher Lektüre Ihres Essays ist Anerkennung Ihres Stils. Das erkenne ich um so freudiger an, als es zur Zeit kaum ein Land gibt, in dem so mäßig geschrieben wird wie bei uns. Die einen verwechseln Gründlichkeit mit Schwerfälligkeit und halten Pedanterie für Gewissenhaftigkeit. Andere schreiben so salopp, wie man kaum beim Dämmerschoppen kannegießern sollte. Noch andere sind so manieriert und affektiert, daß ihre Prosa schon in zwanzig Jahren so wenig lesbar erscheinen wird, wie wir heute die zweite schlesische Dichterschule genießbar finden. Also Ihr Stil entzückt mich! Buffon sagt: »Le style c'est l'homme.« 126 (Entschuldigen Sie dieses Zitat, das wenigstens nicht »preziös« ist.) Buffon sagt nicht, daß der glänzende Stil schon ein unanfechtbares Buch bedeute.

Sie machen es mir zum Vorwurf, daß ich während meiner Amtszeit nicht die Einführung der einzigen nach Ihrer Ansicht zweckmäßigen Regierungsform, der parlamentarischen, durchgesetzt hätte. Ein neckischer Zufall wollte, daß ich Ihre Ausführungen gerade in der Zeit las, wo bei uns eine mehrwöchentliche Krisis alles in der Schwebe hielt. Ich bin (leider) ein alter Mann, der schon vieles erlebt hat. Aber ich wage die Behauptung, daß eine so ungeschickte, plumpe, dumme, geradezu lächerliche Krisis noch nicht dagewesen ist. Zu einem alten amerikanischen Freund sagte ich vor einigen Tagen erläuternd: »Ich glaube, es gibt auch unter den gebildeten Deutschen wenige, die imstande wären, die Namen der Reichskanzler aufzuzählen, die seit der Novemberrevolution mein liebes Vaterland regiert haben.« Und nun gar die Minister, die während der letzten sechs Jahre ihre Namen in leuchtenden Lettern in die Annalen der Geschichte eintrugen, und die seitdem teils in Ihrem Blatt, teils in der »Vossischen Zeitung«, teils im »8-Uhr-Abendblatt« Kommentare zur Weltgeschichte schreiben, wobei sie nie ermangeln, ihrem werten Namen das »Reichsminister a.D.« oder »gewesener Reichsstaatssekretär« hinzuzufügen. »Ein Detail!« höre ich Sie sagen. Mit nichten. Solche Details sind die documents humains, die eine ganze Periode charakterisieren. Auch wer der Ansicht ist, daß die Einführung parlamentarischer Zustände in Deutschland wünschenswert war, wird mir darin beistimmen, daß eine solche Transformierung allmählich und vorsichtig erfolgen mußte. »En fait d'histoire il vaut mieux continuer que recommencer«, hat ein großer Denker gesagt. Grade, weil ich vieles bei uns reformbedürftig fand, u.a. das preußische Wahlrecht, habe ich während der Blockzeit gehofft, allmählich durch die Aufnahme von Parlamentariern in die Regierung und andere Maßnahmen reformatorisch zu wirken. Wo fand ich den heftigsten Widerstand? Bei Ihnen, lieber Herr Wolff! Noch sehr jung (welch 127 reizender Fehler), Idealist (beinahe noch reizender), von keiner Sorge noch gezügelt, traten Sie in des öffentlichen Lebens Bahn. Und nichts war so hoch, und nichts war so ferne, wohin Ihrer Entwürfe Flügel Sie nicht trug. Sie machten meiner damaligen Politik schärfste Opposition mit der echt deutschen Parole: Alles oder nichts! Bemerken Sie wohl, daß politisch reife Völker den Weg der Kompromisse und des allmählichen Fortschritts vorziehen. Jedenfalls warte ich nun schon seit mehr als sechs Jahren vergebens auf ein auch nur einigermaßen befriedigendes parlamentarisches Leben in unserer freiesten aller Republiken. Ich tränke gern, sehr gern, ein Glas, die Freiheit hoch zu ehren – wenn Ihre Weine nur ein bißchen besser wären! Die Kritik war immer die starke Seite des Deutschen. Als Bismarck nach längerem Aufenthalte im Auslande 1862 wieder nach Berlin zurückkehrte, schrieb er seiner Frau, er möchte wissen, wer die Legende von der deutschen Bescheidenheit in die Welt gesetzt hätte. Jeder Deutsche, und insbesondere jeder Berliner, sei überzeugt, daß er vom Flohfangen bis zur großen Politik alles auf das beste verstünde. Und, Hand auf's Herz, wenn Sie, ein so scharfer Kritiker und glänzender Schriftsteller, die (großen) Männer der Gegenwart, einen Fehrenbach oder Wirth, einen Bauer oder Müller und nun gar, so weit es der Respekt zuließe, Friedrich von Payer oder den Herrn Professor Dr. Hugo Preuss, liebevoll unter die Lupe nähmen, würde da nicht noch ein viel amüsanteres Buch erscheinen als das »Vorspiel«?

Wie viele Deutsche sind auch Sie kritischer für die eigenen Landsleute als für andere Völker. Der Franzose war und ist militaristischer und sehr viel chauvinistischer als der Deutsche. Der Engländer und der Amerikaner sind weit imperialistischer. Gambetta war für die Mehrzahl der Franzosen ein großer Mann, weil er envers et contre tout den Widerstand gegen den auswärtigen Feind fortgesetzt hatte, solange eine Hand ein Chassepot halten konnte, weil er der Kriegsverlängerer par excellence war. Darum nahmen Hunderttausende von Franzosen aus allen Parteien an 128 seinem Begräbnis teil, dem ich beigewohnt habe. Darum wurde jetzt sein Herz in das Pantheon überführt. Bei uns ist das Wort »Kriegsverlängerer« ein Schimpfwort. Gambetta, Clémenceau, alle leitenden und maßgebenden Franzosen haben von der Armee nie anders gesprochen, als mit dem Hut in der Hand, mit tiefer Verehrung und mit leidenschaftlichem Pathos. Und bei uns?

In aller Bescheidenheit möchte ich bei diesem Anlaß darauf aufmerksam machen, daß ich nicht »kurze Zeit« in Frankreich gelebt habe, sondern sechs Jahre dauernd als zweiter Sekretär, als erster Sekretär, als Botschaftsrat, oft und lange als Geschäftsträger. Schon vor meiner Versetzung nach Paris war ich wiederholt und Monate lang in Frankreich, in Biarritz und in Dieppe, in der Auvergne und in der Normandie, im Osten und an der Cote d'Azur. Ich glaube, es gibt kein französisches Departement, wo ich nicht geweilt habe. Seit meiner Kindheit spreche und schreibe ich das Französische ebenso geläufig wie meine Muttersprache. Ich hatte die Ehre, Jules Ferry und Freycinet, Barrère und beide Brüder Cambon, Gambetta, Galliffet, den Grafen Roger de Nord, den alten Hausfreund von Thiers, den langjährigen, vortrefflichen Direktor der Banque de France, Georges Pallain, den guten d'Estournelles, der mir noch kurz vor meinem Rücktritt 1909 in Berlin einen Besuch machte und zwei Abende bei uns verbrachte, sehr gut zu kennen. J'en passe et des meilleurs. Wenn es mir auch fern liegt, meine Vertrautheit mit französischen Verhältnissen der Ihrigen gleichzustellen, so möchte ich doch vor Ihren Augen nicht dastehen wie jener Engländer, der, als er in Boulogne ein von einem rothaarigen Kellner serviertes, schlechtes Hammelkotelett gegessen hatte, in sein Tagebuch schrieb: »Die Franzosen haben rote Haare und können keine Muttonchops braten.«

Sie heben mit Recht hervor, daß dem Kaiser von seiner militärischen Umgebung, überhaupt von Militairs gar nicht oder doch nur ausnahmsweise geschmeichelt worden ist. In der Armee herrschte ein männlicher und unabhängiger Geist. Am meisten schmeichelten dem Kaiser die 129 Intellektuellen, die Professoren, manche, nicht alle Künstler. Niemand hat Wilhelm II. mehr und feiner umschmeichelt als Professor Adolph Harnack. Wenn ich die raffinierten, mit attischem Salz zubereiteten Schmeicheleien hörte, die er Seiner Majestät vorsetzte, so dachte ich an die griechischen Sophisten, die das Entzücken der persischen Satrapen und später der römischen Prokonsuln durch ihre Kunst ausgesuchter »Blandita« erregten. Der baumlange Flügeladjutant Scholl, ein biederer Hessen-Darmstädter, sagte einmal zu mir, als Harnack während eines ganzen Abends Seine Majestät umschmeichelt hatte: »Heute abend treibt es der Hofpfaffe Seiner Majestät wirklich zu arg! Ich bitte um einen Schnaps. Mir wird übel.« Vielleicht ist es in Ihren Augen eine Entschuldigung, daß Harnack, wie ich mit Befriedigung sehe, jetzt den (von mir geschätzten und durchaus anerkannten) Reichspräsidenten ebenso eifrig umschmeichelt. »Non dimittit pellem suam aethiops senex nec pardus diversitatem«, zitiert Gregorovius gern in seiner herrlichen Geschichte von Rom. Im großen und ganzen kann man sagen, daß der Geist der Armee nicht nur ein vornehmer und männlicher war, sondern daß sich unsere Offiziere mit verschwindenden Ausnahmen durch gute Manieren und durch ungewöhnliche Bildung auszeichneten. Ich gehe nicht so weit wie Harnack, der vor mir einmal zum Kaiser sagte, daß ein preußischer Hauptmann mehr von der Welt und überhaupt von allen Dingen verstünde als alle deutschen Gelehrten und Intellektuellen zusammen. (Eine Bemerkung, die S.M. in hohem Grade amüsierte.) Aber die Armee war alles in allem das beste, was wir hatten, weitaus. Das Schimpfen unserer Feinde und Neider auf unseren »Militarismus« war natürlich eitel Heuchelei. Unsere militärische Stärke war den anderen nicht bequem. Dieselben Leute, die früher erklärten, der »Militarismus« und das »autokratische System« in Deutschland bildeten eine Barriere zwischen uns und anderen »vorgeschrittenen« Völkern, höre ich heute sagen, wir wären als »Marxisten« eine permanente Gefahr für Europa. »Le socialisme est un danger permanent pour la civilisation et le Marxisme est 130 une invention boche«, lautet jetzt der Refrain. Der Franzose hat ein gutes Sprichwort: »Quand on veut noyer son chien on dit qu'il est galeux.« Richtig ist, daß in Frankreich, in Italien, in Belgien, noch mehr in England, am stärksten vielleicht in Amerika eine ausgesprochene Furcht, verbunden mit einem gefühlsmäßigen Widerwillen gegenüber sozialdemokratischen Ideen und Experimenten besteht. Es wird darauf hingewiesen, daß der wirkliche Marxismus, die unverfälschte Lehre des alten Marx in Rußland zu völligem Ruin, zu den scheußlichsten Greueln der neueren Geschichte geführt, der verdünnte Marxismus in Deutschland ein völliges Fiasko gemacht hätte. Nach einer halb hundertjährigen wüsten, vieles erschütternden und zerstörenden Agitation wäre bei uns nichts sozialisiert worden, außer der Berliner Straßenbahn und das mit darauffolgendem Bankerott. »Un immense avortement.«

Im Einzelnen möchte ich noch nachtragen: In der Marokkokrisis kam es mir hauptsächlich auf die Beseitigung von Delcassé an. Wäre er nicht gestürzt worden, so würden wir den Krieg wahrscheinlich schon zwanzig Jahre früher gehabt haben. Ich wollte überhaupt keinen Krieg und hielt den Krieg für durchaus vermeidlich. Ich bestand auf der Konferenz, weil ich zeigen wollte, daß, wenn große Mächte dazu gebracht werden, sich zusammen um einen runden Tisch zu setzen, die akute Kriegsgefahr überwunden werden kann. Ich bin noch heute der Ansicht, daß, wenn wir Ende Juli 1914 auf eine Konferenz eingegangen wären, wenn wir auch nur im letzten Augenblick eine Zusammenkunft zwischen den großen Souveränen etwa in Kopenhagen herbeigeführt hätten, der Krieg zu vermeiden war. Ich habe immer die Auffassung bekämpft, daß Mobilmachung schon Krieg bedeuten muß, eine Auffassung, die neulich Hans Delbrück wieder vertrat, der, nachdem er uns und sich mit seiner Polen-Marotte so fürchterlich blamiert hat, wirklich den Schnabel halten könnte.

Die Bosnische Krisis hatte nicht die Konsequenzen, die 131 Sie ihr zuschreiben. Unsere Beziehungen zu Rußland sind nicht durch sie dauernd geschädigt worden. Mehrere Wochen nach der Beilegung dieser Krisis erschien der russische Botschafter bei mir, um mir den Andreas-Orden mit Brillanten zu überreichen. Er sagte mir hierbei, der Zar und die russische Regierung wollten durch diese Dekoration, die außer mir nur einige ältere Großfürsten trügen, indirekt auch dem lebhaften Wunsche Ausdruck geben, daß ich noch lange Reichskanzler bleiben möge. Bei meinem Rücktritt erhielt ich ein in den wärmsten Worten gehaltenes Telegramm des Zaren und einen sehr freundschaftlichen und anerkennenden Brief meines langjährigen Freundes Iswolski. Der König Carol von Rumänien ließ mir um dieselbe Zeit als erstem Nicht-Souverän einen von ihm gegründeten Orden überreichen und demselben Wunsche Ausdruck geben, daß ich im Amt bleiben möge. Der englische Botschafter frug vertraulich bei mir an, ob es mir erwünscht sein würde, daß entweder König Eduard, der mir persönlich seit fast dreißig Jahren wohl gesinnt war, in einem direkten Brief an den Kaiser oder die englische Regierung amtlich den lebhaften Wunsch ausspräche, daß ich im Interesse der deutsch-englischen Beziehungen im Amte bleiben möge. Ich habe die freundlichen Vorschläge abgelehnt, da nach meiner Ansicht ein deutscher Minister weder direkt noch indirekt von der Gunst oder Ungunst des Auslandes abhängen soll. Am Tage nach meinem Rücktritt machte mir Jules Cambon einen langen Abschiedsbesuch. Ich begleitete ihn bis an die Tür. Zwischen Tür und Angel gab er noch einmal seinem Bedauern über mein Gehen Ausdruck. Als ich ein etwas skeptisches Lächeln nicht ganz verbergen konnte, meinte er mit Bestimmtheit und Ernst, sein Bedauern sei ehrlich und hätte seine guten Gründe. Er sei nicht immer mit mir einverstanden gewesen. In Berlin gäbe es aber nicht zehn Leute, die in Europa Bescheid wüßten. Zu diesen wenigen Leuten gehöre ich. Es gäbe in Berlin nicht fünf Leute, die Frankreich kennten und begriffen. Zu diesen sehr wenigen gehörte ich auch. Ich wäre eine große Garantie für den Frieden gewesen. Die 132 Einzigen, die meinen Fortgang mit innerer Genugtuung aufnahmen, waren die Österreicher.

Ich finde kaum etwas absurder als die Vaticinationes ex eventu, in denen seit dem für uns unglücklichen Ausgang des Weltkrieges deutsche »Historiker« schwelgen. Ich möchte aber doch wahrheitsgemäß und bestimmt Nachstehendes feststellen. 1.) Ich würde Österreich für sein Vorgehen gegen Serbien keinen Blanko-Wechsel ausgestellt, vielmehr rechtzeitige Einsicht in das Ultimatum verlangt haben. Jedenfalls hätte ich, als das Ultimatum 24 Stunden vor seiner Übergabe auf dem Tisch des Auswärtigen Amtes lag, die ganze Aktion mit dem stärksten Nachdruck und der größten Schärfe gestoppt. 2.) Ich würde nie und unter keinen Umständen den Österreichern erlaubt haben, nach hastiger Prüfung der serbischen Antwort diese für ungenügend zu erklären, die diplomatischen Beziehungen zu Serbien abzubrechen und eine militärische Aktion zu beginnen. Serbien hatte fast alle österreichischen Forderungen angenommen. Wir mußten das mit Dank für die weisen Friedensbemühungen aller Mächte und den guten Willen der Serben anerkennen und gleichzeitig vorschlagen, daß die von Serbien noch nicht akzeptierten beiden (sehr dubiosen) österreichischen Forderungen zur Prüfung und Entscheidung dem Haager Tribunal unterbreitet werden sollten. 3.) Ich würde Rußland und Frankreich nicht von uns aus den Krieg erklärt haben, denn damit setzten wir erst Rumänien, dann Italien ex nexu foederis. Das war eine große Dummheit von Bethmann und Jagow. Selbst unsere Freunde in Italien, die uns im übrigen damit entschuldigen, daß sie sagen, wir hätten im Sommer 1914 nicht aus Bosheit gesündigt, sondern aus Einfältigkeit, wissen sich diese lourde bêtise nicht zu erklären. Sie ist und bleibt auch schwer erklärlich. Ballin hat mir versichert, Bethmann habe auf der von uns ausgehenden Kriegserklärung an Rußland deshalb bestanden, weil er geglaubt hätte, nur so die Sozialdemokratie mitzubekommen, auf die der (unserer ganzen Linken verhaßte) »Zarismus« wirken sollte wie das rote Tuch auf einen gewissen Vierfüßler. 4.) Ich würde natürlich 133 nie unseren Einmarsch in Belgien zugelassen haben, so lange die belgische Neutralität nicht von unseren Gegnern verletzt worden war. 5.) Ich würde darauf bestanden haben, daß unsere Kampfflotte nach Kriegsausbruch sofort und à tout risque et peril eingesetzt wurde. Es ist mir fraglich, ob ich den U-Boot-Krieg zugelassen hätte. Keinesfalls hätte ich ihn in dem Zeitpunkt und mit den Modalitäten zugelassen, wie das leider der Fall gewesen ist. 6.) Ich würde 1915 die Ernennung von Stürmer benutzt haben, um mich mit den Russen zu arrangieren, denen ich freudig all ihre Polen und Litauer gelassen hätte. Ich hätte nie und nimmer Polen wiederhergestellt. Das war der größte der während des Krieges begangenen Fehler. 7.) Ich hätte 1916 alles daran gesetzt, um zum Frieden mit England zu kommen. Ich hätte die alberne Friedensresolution des Reichstags nicht zugelassen, ebenso wenig den larmoyanten Friedensbrief des Kaisers an Bethmann. Ich hätte die gut gemeinten aber plumpen Kreuz- und Quersprünge und Reisen des kindlich ungeschickten Erzbergers sistiert. Aber ich hätte durch einen ernsthaften Vermittler (den König von Dänemark oder den Papst, den König von Spanien oder von Schweden) den Engländern spätestens vor unserer letzten Offensive sagen lassen, daß ich bereit wäre, auf Belgien ohne jeden Hintergedanken, ohne jede Einschränkung, noch Servitut nettement et clairement zu verzichten. Ich würde, wenn es unerläßlich gewesen wäre, auch eine »Kombination« mit französisch Lothringen in Erwägung gezogen haben. War auf englischer Seite gar keine Friedensneigung vorhanden, was ich bezweifele, so durften wir noch immer nicht so täppisch auf Wilson hereinfallen, sondern mußten im Innern die Zügel schärfer anziehen, wie dies in Frankreich geschah, und bis auf's Messer fechten. Schlimmer als es uns nach unserer Kapitulation erging, konnte es ja gar nicht kommen. Noch einige kleine Ausstellungen, die Sie mir nicht als übertriebene Akribie auslegen wollen. Waldersee wurde nicht nach Hannover versetzt, sondern nach Altona. Wilhelm II. richtete nach der Entlassung von Bismarck sein Volldampftelegramm nicht an den Großherzog von Weimar, 134 sondern an Hinzpeter. Mit Paul Hatzfeld war ich in der Behandlung der Bündnisfrage immer einig. Er war den Engländern gegenüber mißtrauischer als ich und kam in seinen Privatbriefen oft darauf zurück, daß die englischen Schiffe sehr weit von Berlin entfernt wären, die Kosaken aber ziemlich nahe. Habe ich Ihnen erzählt, daß, als 1898 zwischen uns und England das Abkommen für die portugiesischen Kolonien abgeschlossen worden war, ich sehr bald nachher durch die Indiskretion eines mir seit meiner Jugend befreundeten, nicht deutschen Diplomaten von dem Windsor-Vertrag Kenntnis erhielt, den die Engländer unmittelbar, nachdem sie sich mit uns geeinigt hatten, mit Portugal abschlossen? Daß darin eine Mahnung zur Vorsicht lag, werden Sie nicht bestreiten.

Ich habe nie für meine Reden Worte oder Einfälle gesammelt, wohl aber seit meiner Jugend schöne und treffende Gedanken, die ich bei meiner Lektüre, wohl auch hier und da meditierend fand, in ein noch unter den Augen meines Vaters, eines gebildeten Mannes, eines Mannes, der den Stempel der Goethe-Zeit trug, entstandenes Kollektaneum eingetragen. War das gar so schlimm? Mein Vater liebte den »Esprit orné«. Bei meinen öffentlichen Reden hatte ich das Bestreben, in einem Lande, wo die oratorische Begabung eine bescheidene ist, zu zeigen, daß eine Rede nicht notwendig monoton, ledern und salzlos zu sein braucht. Grade wenn ich aus dem Stegreif sprach, hatte ich (ich sage das objektiv als alter Mann, der über Eitelkeit hinweg ist) ganz nette Einfälle. Trotzdem erinnere ich mich aus meiner letzten Amtszeit eines Artikels in Ihrem geschätzten Blatt, wo mir nach längeren Reichstagsdebatten Mangel an Gründlichkeit, Sachlichkeit und Ernst vorgehalten wurde. Der Artikel trug die Überschrift »Der Redner« und den Stempel jener Mentalität, die der Engländer mit dem Worte »boche« bezeichnet. Endlich eine Bemerkung pro domo mea mit Bezug auf Seite 219 Zeile 6/7 von oben. Ich habe mich, seitdem ich im öffentlichen Leben stehe, auch politischen Gegnern gegenüber eines anständigen Tones befleißigt. Meine Höflichkeit ist mir von alldeutscher Seite bisweilen 135 vorgeworfen worden. Andrerseits habe ich die Genugtuung gehabt, daß auch politische Gegner und insbesondere Sozialdemokraten mir zu meiner Freude sagten, meine Urbanität wäre von ihnen nie verkannt worden, und schon deshalb sei auch bei scharfen politischen Debatten von persönlicher Feindschaft gegen mich nicht die Rede gewesen. In specie habe ich das Bewußtsein, daß ich Ihnen gegenüber, lieber Herr Wolff, die gesellschaftlichen Formen immer gewahrt habe. Ich bedauere daher doppelt diese Entgleisung. Derartige Wendungen scheinen mir Ihrer Feder nicht würdig zu sein, und lassen Sie mich hoffen, daß die Republik nicht mit anderen großen Traditionen und schönen Überlieferungen auch Geschmack und guten Ton zum alten Eisen werfen wird.

Ad »Nachwort«: Phili Eulenburg hat alles in Bewegung gesetzt, damit ich (sehr gegen meine damaligen Wünsche) Staatssekretär wurde. Meine Ernennung zum Reichskanzler wünschte er 1900 nicht. Sein Kandidat war der Fürst von Hohenlohe-Langenburg, an dessen Stelle er als Statthalter nach Straßburg kommen wollte, was immer sein letztes Ziel war. Als Staatssekretär oder gar als Reichskanzler war Phili ganz unmöglich, ebenso unmöglich wie Monts, Flotow, der gute Lichnowsky und manche andere. Alle diese Leute wären vollständig außerstande gewesen, sich vor den Reichstag zu stellen. Ich bin nie antiparlamentarisch in dem Sinne gewesen, daß ich die Volksvertretung hätte einschränken, beschränken, irgendwie ausschalten wollen. Ich war der Ansicht von Cavour, que la plus mauvaise chambre vaut mieux que l'antichambre. Wenn niemand Wilhelm II. mehr umschmeichelte als Harnack, so hat mich keiner stürmischer umwedelt als Monts. Ich besitze viele Briefe von ihm von 1888 bis 1909, in denen er mich seiner Verehrung und Liebe, seiner unbegrenzten Bewunderung und vor allem seiner felsenfesten Treue mit einem Elan und mit einer Überschwänglichkeit versicherte, die von keinem anderen erreicht wurde. Auch Flotow legte Gewicht darauf, mich davon zu überzeugen, daß er nicht nur mit dem Verstande mich verehre und bewundere, 136 sondern vor allem mit ganzem Herzen an seinem geliebten Vorgesetzten hinge. Flotow war nicht ohne eine gewisse Geriebenheit, aber allzu intrigant. Er hat als Botschafter 1914 in Rom total versagt und schon vorher in Brüssel durch seine Intriguen, qui étaient des intrigues cousues de fil blanc, Wasser auf die Mühle unserer Gegner geliefert. Darüber wie über den Berliner Kongreß, den Rückversicherungsvertrag und vieles andere, könnte ich noch manches sagen. Allwissend bin ich nicht, doch Einiges ist mir bewußt. (unwiderruflich letztes Zitat!) Ich sehe aber mit Schrecken, daß ich schon allzu breit geworden bin. Ich schrieb Ihnen einen Letterone, wie die Italiener eine lange Epistel nennen. Das ist die Schuld meiner charmanten Sekretärin, die so rasch stenographiert, wie ich spreche, und noch rascher ihr Stenogramm in die Maschine überträgt.

Ich betone den streng vertraulichen Charakter meines Schreibens und bitte Sie ausdrücklich, diesen Brief weder direkt noch indirekt bei meinen Lebzeiten zu publizieren. Wenn ich erst in einer besseren Welt weile, mögen Sie nach Gutdünken darüber verfügen. Ich expediere meinen Brief durch eine sichere Gelegenheit, was sein Eintreffen vielleicht etwas verzögern wird.

Mit besten Grüßen von mir und meiner Frau und herzlichen Wünschen für Ihr Wohlergehen in Beruf und Familie bin ich, Ihr aufrichtig ergebener

Bülow.

Dem auf der Schreibmaschine geschriebenen Brief hat Fürst Bülow handschriftlich die Grüße angefügt. So wie einer nach einem etwas kühl verlaufenen Besuch sich an der Tür noch einmal umdreht und durch einen Händedruck sagt, man könne sich trotz alledem doch noch wiedersehen. Wir haben uns auch sehr bald darauf wiedergesehen, und es war beinahe wie einst im Mai. Die Beziehungen gingen weiter, Fürst Bülow forderte mich noch oftmals auf, mit ihm im Garten der Villa Malta zu wandeln, aber als ich endlich nach Rom kam, war er einige Wochen vorher gestorben, die Stätte war leer. Zu seinem Brief könnte ich 137 vielerlei bemerken, aber ich will nur ein Wort zu dem einzigen peinlichen unter seinen Vorwürfen sagen, zu dem Vorwurf, ich hätte an einer Stelle meines Buches eine Sünde wider den guten Ton begangen. Es ist richtig, daß es an jener Stelle hieß, wenn der Kaiser sich gewisse unreinliche Randbemerkungen und Äußerungen gestattet habe, dann habe Fürst Bülow hinter ihm aufgewischt, und für diesen stilistischen Zwischenfall gab es ohne Zweifel keine Entschuldigung. Nur traf es nicht ganz zu, daß Fürst Bülow selber in seinem Urteil über andere allezeit auf »Urbanität« und tadellose Formen bedacht gewesen sei. Seine Memoiren zeugen ja nicht von einem stetigen Bemühen, empfindsame, leicht verletzbare Naturen zu schonen, und seine brieflichen Äußerungen über den berühmten Kirchenwissenschaftler und Hofpfaffen Adolf von Harnack, der bei ihm und bei der Fürstin Hausfreund gewesen war und dann allerdings den Gestürzten sehr geschmeidig verließ, geben nur einen schwachen Begriff davon, wie weit bisweilen seine Ranküne ging. Des besseren Verständnisses wegen muß noch erwähnt werden, daß ich in der Tat seine sogenannte »Blockpolitik« bekämpft habe, die aus links und rechts den bekannten Brei machte und eine ohnehin nicht gerade kraftschwellende bürgerliche Opposition der letzten Dressur unterwarf. Von Absichten oder Versuchen des Fürsten Bülow, das preußische Wahlrecht zu reformieren und sogar Parlamentarier in die Regierung zu nehmen, ist niemals etwas bekannt gewesen, solange er als Reichskanzler auf der besonnten Höhe stand. Und nur ein nachträglicher Einfall ist es auch, wenn er unter Nummer sieben schreibt, er hätte während des Krieges »alles daran gesetzt, um zum Frieden mit England zu kommen«, und hätte »ohne jeden Hintergedanken, ohne jede Einschränkung noch Servitut nettement et clairement« den Verzicht auf Belgien erklärt. Als er in der Villa Malta diesen Brief diktierte, hatte er, trotz seinem vorzüglichen Gedächtnis, ganz vergessen, daß er mir während des Krieges genau das Gegenteil geschrieben hatte, und daß er öffentlich und privatim geäußert hatte, auf Annexionen in Belgien könne man nicht verzichten, 138 und: »Jetzt haben wir für absehbare Zeit mit einem England zu rechnen, das uns innerlich feindlich und mit entschlossener Feindschaft gegenübersteht.«

Auf diese wenigen unpolemischen Feststellungen aber möchte ich mich beschränken und lieber noch einmal aussprechen, daß Fürst Bülow, wie durch vielerlei andere Fähigkeiten, durch geistreiche Degenführung all seine Gegner und Rivalen weit übertraf. Würde man sich, wenn man in der Nähe des Fürsten Bülow mit Zitaten prunken wollte, nicht so dürftig vorkommen wie der Besitzer eines armen Ringes neben einer königlichen Schatzkammer, so könnte man mit bekannten Worten ausrufen, hier werde Ungnädiges mit der feinsten Grazie gesagt. Ich verzichte aber besonders auch deshalb auf jede Erwiderung, weil es mir nicht richtig erschiene, dem Briefe eines Verstorbenen, der sich verteidigt, ein kritisches Nachwort anzuhängen. Im Grunde ist ja auch jeder tadelnde Nekrolog eine unritterliche Handlung gegenüber Toten, die sich nicht wehren können, und ein grausamer Dünkel liegt in der Redensart, der Lebende habe immer recht.

Wie dem Fürsten Pückler-Muskau merkte man dem Briefschreiber Bülow bisweilen, wenn er nicht gewichtige staatsmännische Aufklärungen geben, sondern nur über die Entfernung einen hübschen Regenbogen des Geistes spannen wollte, die Routine an. Wie bei dem Kavalier von Muskau bewunderte man die Kunst, einen Gedanken auf vielfältige Art anzurichten und zu servieren, und die Mühelosigkeit der Formulierung, aber gerade weil die Melodie so glatt aus der Spieldose herausfloß, verlor sie mitunter ein wenig von ihrer Eindruckskraft. Man hatte dann, wie der Empfänger von Geschenken, die schon von einem zum anderen gewandert sind, die Empfindung, daß man nicht mit einer individuell ausgesuchten Gabe bedacht worden sei. Aber Fürst Bülow besaß ein zu sicheres Unterscheidungsvermögen, ein zu sicheres Gefühl in der Pflege persönlicher Beziehungen, um sich durch die Leichtigkeit des Stilisierens zu Mißgriffen verleiten zu lassen, die der gealterte Fürst Pückler-Muskau nicht immer vermied. Denn wenn Fürst 139 Pückler-Muskau den »hübschen Füßchen« und den »weißen Händchen« der klug lächelnden Ludmilla Assing so viele Küsse sandte, wirkte die lange Gewohnheit der Galanterie in ihm fort, und die Spieldose wiederholte ungehemmt ein nicht ganz geeignetes Musikstück aus ihrem Repertoire. Einwandfreie Aussagen über die Füßchen der Ludmilla Assing sind mir nicht bekannt, aber von den Händchen haben zuverlässige Personen, die damals in Florenz lebten, berichtet, sie seien durch ihre sonderbare Plumpheit und durch die Häßlichkeit der dicken kurzen Finger allen Verehrern der geistreichen Frau wie eine Entgleisung der Natur aufgefallen. 140

 


 


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