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Viertes Kapitel.

Am andern Morgen war Fritz Jasmund als erster am Stelldichein. Da kein Mond mehr leuchtete und die Sonne erst über eine Stunde später aufging, war es stockfinster; und der dicke Nebel, der über Wald und Wiesen braute, ließ auch kein Sternlein blinken. Zu alledem war's bitterkalt. Gar seltsame Umstände für ein Schäferstündchen. Er hatte sich durch den tiefen festen Schnee an der Gartenmauer der Pfarre entlang tappen müssen, um das Hintere Pförtchen überhaupt zu finden. Glücklicherweise ließ ihn sein Liebchen nicht lange warten.

Ihr dickes wollenes Tuch über Kopf und Brust geschlungen, sonst aber nur mit ihrem schwarzen Alltagsgewand bekleidet und ohne Handschuhe trat sie durch das Gittertor zu ihm heraus. »O Gott, o Gott, ist das einmal kalt!« war das erste, was Lottchen sagte.

Er nahm sie in die Arme und drückte sie fest an sich. »Komm, ich mache dir warm, mein Liebling!« Er wollte sie küssen, aber sie schreckte vor der Berührung seines mit kleinen Eiszapfen behangenen Schnurrbartes zurück.

Mit ihren kleinen Händen bildete sie einen Hohlraum um seinen Mund herum und hauchte ihren warmen Atem hinein, bis das Eis geschmolzen war. Dann rieb sie mit ihrem Sacktüchlein Lippen, Kinn und Bart trocken, und dann erst ließ sie sich küssen mit aller Macht und Süßigkeit. Bald aber hörten sie damit auf. Nicht weil sie satt waren, sondern weil das Lottchen bös an den Händen fror. Da knöpfte er sein dickes, wollenes Wams vorn ein wenig auf und hieß sie ihre Hände da hinein stecken, um sie an seiner Brust zu wärmen. Mit seinen Armen hielt er sie immer fest an sich gedrückt.

»Ach Lotting, mein Mamsellchen,« flüsterte er innig, ganz dicht an ihrem Ohr; »was machen Ihre lieben Kniee?«

»O Dank der Nachfrage,« erwiderte sie, »ganz gut. Es puckert immer noch ein büschen drin herum. – Aber nu sag bloß, Schatz, was hast du mir denn gar so Wichtiges zu sagen? Du hast mich so neugierig gemacht, daß ich eigentlich die ganze Nacht nicht schlafen wollte. Aber dann war ich doch zu müde von dem Eislauf und von dem Schreck, daß ich dessenohngeachtet wie ein Bär geschlafen habe.«

»Mir ist's nicht so gut geworden,« sprach Fritz, seine klare junge Stirn in ernste Falten legend; »ich habe wahrhaftigen Gott keine drei Stunden schlafen können, – dafür hat der Herr Vater gestern abend noch gesorgt. Also hör, was ich dir sagen wollte: mein Alter ist doch so giftig auf deinen Vater, weil er den Hasen nicht herausgeben will, den er mit der Bibel erschlagen hat. Wir sind dessentwegen hart aneinander geraten. Ich hab' ihm gesagt, er solle man ein Auge zudrücken und den Mund halten über die dumme Geschichte. Nach dem Gesetz ist dein Vater freilich im Unrecht; aber es lohnt sich doch nicht, wegen so einem Stück Braten die Gerechtigkeit mobil zu machen und Unfrieden zu stiften zwischen Gutsherrschaft und Pfarre. Das habe ich ihm gesagt.«

»Ei freilich,« unterbrach ihn Lottchen, »das muß doch ein jeder sagen. Vadding hat mir erzählt, wie stur und steif ihm dein Alter in die Stube gestakt ist und ihm von wegen dem Häseken den Marsch geblasen hat. Wir haben so darüber gelacht.«

»Zu lachen ist nun freilich nichts,« versetzte Fritz mit einem tiefen Seufzer. »Mein Vater ist eigensinnig wie ein alter Teckel, und er kann einmal den deinigen nicht leiden. Da nimmt er diese dumme Geschichte zum Anlaß, sich in einen gewaltigen Zorn hinein zu eifern. Er gibt nicht nach. Heute noch zeigt er den Jagdfrevel beim Amt und beim Junker an. Und weil er's doch einmal gespannt hat, wie wir beide miteinander stehen, so hat er den Anlaß beim Schopf genommen, um mich ganz erschrecklich zu bedrohen, falls ich das Scharmieren mit dir nicht nachlassen wollte. Da ist denn mein Maulwerk mit mir durchgegangen und ich hab' ihm gesagt, ich sei großjährig; er brauche sich um meine Angelegenheiten nicht zu bekümmern. Und da ...«

Das Lottchen blickte ängstlich zu ihm empor, denn er hatte sich vor Erregung also im Atem übernommen, daß es ihm die Rede verschlug. »Nu und was weiter? Sag doch!« drängte sie.

Er würgte noch ein Weilchen und dann fuhr er also fort: »Vater will's durchaus nicht haben, daß wir zween uns kriegen. Er hat andre Dinge mit mir vor. Ich soll mein Glück machen, sagt er, und Amtmanns Beate frigen. Dann soll ich später mal die Försterei übernehmen, wenn er in den Ruhestand geht. Er hat das alles schon vor langer Hand mit unserm Junker abgekartet. Der will's so haben, weil ... Ach Lotting, guck mich nicht so an. Ich schäme mich so.«

»Fritzing, min Leiw, warum denn?« fragte sie, zitternd in lieblichem Bangen, indem ihre großen, dunklen Augen ängstlich in seinem Antlitz forschten.

»Ich bin es dir woll schuldig,« versetzte Fritz, immer noch mit abgewandtem Gesicht. »Ich muß es dir woll sagen, wenn du auch denn vielleicht nichts mehr von mir wirst wissen wollen. – Bei unserm Streit gerieten wir beide so in die Rage – da gab ein Wort das andre – und da hat denn schließlich Vater sein Geheimnis herausgelassen: ich bin gar nicht sein Sohn! Unser Junker, was sein Leutnant in der letzten Campagne war, der hat irgendwo unten in Schlesien ein Mädchen erwischt, und wie's zu Tage kam, daß sie ein Kind von ihm kriegen sollt, da hat er sie wollen auf gute Manier los werden, und hat meinen Vater überredet, daß er sie zur Ehe nehmen sollte und ihm zur Belohnung die Försterei versprochen. Und so ist es denn auch geschehen. Meiner Mutter will ich nichts Übles nachreden; sie ist ja schon so lange tot, und die Leute sagen, sie wäre eine tüchtige, ordentliche Frau Försterin gewesen. Aber mir ist es keine Ehre, eines Junkers Sohn zu sein, das kannst du mir woll glauben! Mir ist zu Mute, seit ich das weiß, als hätte ich unter ehrlicher Leute Kindern nichts mehr zu suchen. Ein Bankert bin ich – und darum soll ich mich herumstoßen lassen müssen und hierhin und dahin stupsen, wie's meinem heimlichen und meinem falschen Vater gefällig ist. – Ach Lotting, min söte Deern, kannst du dir das woll vorstellen, wie einem jungen Mann bei so was zu Mute sein muß? Der Junker meint, ich müßte man so Ordre parieren und mich noch der hohen Gnade bedanken, weil er mir das Mädchen und das Geld und die Försterei zuschanzen will. Geschieht doch allens bloß, damit der Junker sein Gewissen salviere und ihm die Guttat obendrein nichts kosten möge, weilen das Geld, so der Amtmann seiner Mamsell Tochter mitgibt, doch von des Junkers Eigentum ergaunert ist. Auf die Weise kommt nichts aus der Familie, denkt der Junker. Daß ich sein Fleisch und Blut bin, hätte ich nie erfahren sollen nach seinem Willen. Jetzt erfreut er sich an seinem strammen Sohn und braucht sich doch seinetwegen nicht zu exküsieren, falls er auf seine alten Tage doch noch Leibeserben erzielen oder sein Gut sonst wem aus der Vetterschaft vermachen wollte. – Ach Lotting, die Schande frißt an mir, ich kann dir's nicht sagen wie! Ich bin gestern bloß mit den Rasmussenschen aufs Eis gekommen, weil's mir keine Ruhe ließ, dir gleich alles zu vermelden.«

Das Jüngferlein zog seine Hände aus dem warmen Unterschlupf und streichelte damit die eiskalten Wangen des Geliebten. »Fritzing, mein Fritzing,« sagte es, indem ihm die hellen Tränen in die schönen Augen traten, »gräme dich doch bloß nicht so sehr! Du kannst doch zu alledem nichts zu, und deswegen werde ich dich doch nicht minder lieb haben! Was denkst du denn von mir? Es freut mich so, daß mein Herz mich doch richtig gewiesen hat. Es hat mich immer erstaunet, daß der Förster Jasmund, der alte böse Wolf, so einen feinen Sohn haben sollte. Jawoll doch, mein einziger Liebling, ich hab's immer gesagt, wenn Vadding oder die Frauenzimmer mich aufziehen wollten mit dem Jägerbursch, der man bloß die Dorfschule besucht hat – Fritz Jasmund ist von feiner Art, habe ich immer gesagt, und hat eine edelmännische Seele und einen Hang zur Poesie und Schwärmerei. Das habe ich wahrhaftigen Gott gesagt gestern noch zu meinem Vater. Ich habe ihm auch gesagt, daß du den Gleim und den Gellert memoriert hast.«

»Vom Junker habe ich das aber nicht überkommen,« lachte der Fritz bitter auf, »denn der ist ein rechter Rüpel, mit Respekt zu vermelden. Die seelenvolle Schwärmerei muß ich denn woll von meinen ferneren Ahnen abgekriegt haben. – Wir wollen nu man meine Feinheit beiseite lassen, Schatz, und wollen nachdenken, was aus uns werden soll; denn das mußt du auch noch wissen: Vater hat mir gedroht, wenn ich dich nicht aufgeben und die Rasmussensche frigen will, denn müßte ich weit fort von hier und würde zu einem Forstmeister außerhalb in die Lehre getan.«

Lottchen guckte lieblich zu ihm auf, und dann schlug sie in Verwirrung die Augen nieder, und ihre Hände krochen wieder in den warmen Schlupfwinkel an seinem Herzen. »Ich weiß ja nicht, was du vorhast,« sagte sie einfach; »wenn du meinst, daß du die Beate frigen mußt, damit der Streit aufhört – nun, denn tu's und kümmere dich nicht um mich. Vater hat auch schon gesagt, er tut mich in die Fremde, wenn ich von meiner Verliebtheit nicht lassen möchte. Da komme ich eben nicht wieder, wenn du die Beate nimmst. Wenn du aber nicht von mir lassen willst, dann will ich auch nicht von dir lassen. Ich folge dir, wohin du willst.«

»O Lotting, du mein einziger Trost,« flüsterte Fritz mit schier erstickter Stimme, »laß mich dein Mäulchen haben und allens vergessen!«

Da fielen die durstigen Lippen übereinander her, und der Rauhreif schmolz von seinem Barte und rann über ihre Wangen, die sein heißer Hauch erwärmte. Sie sogen sich fest, schlossen die Augen und sahen und hörten nicht. Eine süße, lange Weile.

Da schlug die Turmuhr im Dorfe sieben, und Lottchen machte sich sanft aus seiner Umklammerung los. »Ich muß jetzt hinein,« sagte sie hochatmend, »die alte Karsunken erhebt sich um diese Zeit. Und wenn sie mich erwischt, daß ich mich in dem Nebel vor Tau und Tag draußen herumgetrieben habe, dann denkt sie sich was und steckt's woll gar dem Vater.«

»Ich denke, du bist gut mit der Karsunken.«

»Das woll. Aber alte Weiber schnacken doch gern; da ist kein Verlaß auf.«

»Und wenn ich nun sage: komm gleich mit, wie du gehst und stehst?«

»Dann komme ich mit.«

Er nahm ihre Hände in die seinen und blickte ihr selig lächelnd in die Augen. »Ich glaub' dir's, min Deern. Aber es wäre doch eine große Eselei. Was sollte woll aus uns werden in der Fremde? Ich habe keinen Groschen eigenes Geld im Beutel und nichts gelernt als meine Jägerei und meinen Holzverstand. Darauf können wir nicht frigen. Wo sollten wir auch hin mitten im Winter? Sollten wir uns wie die Wilden in eine Höhle verkriechen oder wie die Banditen leben? Meinst, dein Herr Vater oder sonst ein Pfarrer werde uns zusammengeben, wenn wir so dahergeloffen kommen wie die Zigeuner? Oder magste ohne Sakrament mein Liebichen heißen?«

»Das gilt mir alles gleich,« versetzte sie tapfer, zog aber doch gleichzeitig ihr Tüchlein hervor und drückte es wider die überquellenden Augen.

»Je süh, Schatz, zu solchem Unfug darf ich dich doch nicht verleiten. Da wäre ich schlechter, als wenn ich dich sitzen ließe.«

»Was soll also dann werden?« fragte sie kleinlaut.

Er zuckte die Achseln und seufzte. »Ich weiß man soviel,« sprach er nach einem kurzen Bedenken, »dein Vater muß den Bibelhasen heut noch wieder herausrücken. Denn kann mein Vater vorläufig wenigstens gegen euch nichts machen. Laß ihn man erst wegen dieser Geschichte ausgetückscht haben, denn wird es mit der Jungfer Beate auch nicht so sehr eilen. Wenn denn das Frühjahr kommt, denn gehe ich wirklich in die Fremde und guck' mich nach einer Stellung um, wo ich von leben kann. Und wenn ich die habe, denn komm' ich und hol' dich.«

»Ach ja, Fritz, das wird denn auch wohl das Beste sein,« versetzte Lotte schon wieder getröstet. »Vadding hat mich doch auch lieb. Er kann doch nicht ewig so hartherzig bleiben, wenn er sieht, daß wir es uns so treu meinen. Und wenn er erst weiß, daß du doch aus vornehmem Geblüt bist ...«

»O Mädchen, daß du bloß davon nicht schnackst,« unterbrach sie Fritz erschrocken; »das täte dem Faß rein den Boden ausschlagen.«

Und sie darauf verwirrt: »Je du liebe Zeit, wie soll ich's denn aber meinem Vater sonst beibringen? Er schickt mich doch fort, wenn ich's ihm einfach eingestehe, daß wir uns frigen wollen. Und wenn er doch nu den Hasen nicht hergibt? Gesagt hat er dergleichen. Ein Starrkopf, wie er ist, möchte er woll Wort halten.«

»Wenn das geschieht,« erwiderte Fritz, hoffnungslos in den Nebel starrend, »denn macht mein Alter den Herrn Pastor zum Wilddieb und denn kommt eins zum andern, wie das so geht, wenn zween harte Köpfe aneinander stoßen. Und denn weiß ich nicht, was aus uns werden soll.«

Da hing sich Lottchen um seinen Hals, und ihr gespitzter Mund strebte zu dem hohen Burschen empor. »Küß mich noch eins,« flehte sie zärtlich. »Wir wollen uns das Herz nicht schwer machen ohne Not. Dat helpt doch all nich. Wir seind doch so jung und haben uns so mächtig lieb – was kann uns groß geschehen?«

Und wieder wärmten sie ihre kalten Lippen in einem langen Kusse. Dann machte sie sich mit einem Ruck los, drückte ihm noch kurz und fest die Hand und sagte leise: »Adjüs, Fritz!« Darnach schlüpfte sie durch das Gittertor und war bald im Nebel verschwunden.

Fritz aber stand noch eine ganze Weile vor dem Tore, seine Blicke in den Nebel bohrend. Mancherlei fiel ihm bei, das er ihr zu sagen vergessen hatte, und das drückte ihm das Herz, als hätte er die letzte Gelegenheit schmählich versäumt. Er kam endlich wieder zu sich, als seine Zehen in den hohen Stiefeln sich schmerzhaft zu krümmen und seine Zähne aufeinander zu schlagen begannen. Da machte er sich denn stampfend, die Arme um den Leib klatschend, von hinnen, schlich sich möglichst geräuschlos zum Hause hinein und in seine kalte Kammer. Er zog sich rasch aus und kroch schaudernd unter das dicke Federbett. Da, in der schwülen Hitze, vergingen ihm bald die Sinne, und er fand die mangelnden Stunden an seinem gesunden Jugendschlaf wieder und süße Träume von köstlichen Küssen dazu.


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