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3

Nun sind sie weg, dachte sie und seufzte erleichtert und enttäuscht. Ihr Mitgefühl schien ihr ins Gesicht zu schlagen wie eine Dornenranke. Sie fühlte sich seltsam gespalten: die eine Hälfte zog es hinaus, dort hinüber – es war ein stiller Tag, dunstig; der Leuchtturm schien an diesem Morgen in unermeßliche Ferne gerückt; die andere Hälfte hatte hartnäckig und störrisch hier auf dem Rasen Posten gefaßt. Sie sah ihre Leinwand vor sich, als wäre sie von unten emporgestiegen und hätte sich weiß und unerbittlich unmittelbar vor ihr aufgestellt. Mit kaltem Blick schien sie ihr Vorwürfe zu machen wegen all der Hast und Aufregung, dieser Torheit und Gefühlsverschwendung; es war eine nachdrückliche Mahnung, die ihrem Gemüt zuerst Frieden brachte, als ihre verwirrten Gefühle (er war gegangen, und er hatte ihr so leid getan, und sie hatte nichts gesagt) vom Kampfplatz abzogen, und dann Leere. Sie blickte ratlos auf die Leinwand, die ihr so unerbittlich weiß entgegenstarrte; und von der Leinwand in den Garten. Da war etwas (sie kniff die kleinen Schlitzaugen in ihrem schmalen faltigen Gesicht zusammen), sie erinnerte sich, etwas im Verhältnis dieser Linien, die das Bild waagrecht und lotrecht teilten und zerschnitten, und in der dichten Hecke mit ihren blauen und braunen Schatten, was ihr im Gedächtnis geblieben war, was sich gewissermaßen als Knoten in ihr festgesetzt hatte, so daß sie zu den verschiedensten Zeiten, etwa wenn sie durch die Brompton Road ging oder wenn sie ihr Haar bürstete, sich dabei ertappte, daß sie dieses Bild malte, den Blick darüber hinwandern ließ, den Knoten in ihrer Vorstellung entwirrte. Aber es war etwas ganz anderes, ob man fern von der Leinwand leichthin den Plan entwarf oder ob man tatsächlich den Pinsel faßte und den ersten Strich tat.

In ihrer Erregung über Mr. Ramsays Gegenwart hatte sie den falschen Pinsel erwischt, und ihre Staffelei, mit nervöser Hast in die Erde gerammt, stand nicht im richtigen Winkel. Nun, nachdem sie das korrigiert und dabei das Unwichtige und Belanglose unterdrückt hatte, das an ihrer Aufmerksamkeit zerrte und sie daran erinnerte, daß sie die und die war und die und die Beziehungen zu den Leuten hatte, faßte sie den Pinsel und hob die Hand. Einen Augenblick schwebte die Pinselhand, zitternd in schmerzhafter, aber erregender Verzückung in der Luft. Wo beginnen? – das war die Frage; wo den ersten Strich ansetzen? Ein Strich auf der Leinwand überantwortete sie zahllosen Wagnissen, häufigen und unwiderruflichen Entschlüssen. Alles, was in der Vorstellung einfach schien, wurde bei der Ausführung sogleich kompliziert; von der Spitze der Klippe aus haben alle Wellen eine gleichförmige Gestalt, für den Schwimmer aber zwischen ihnen sind es jähe Abgründe und schäumende Kämme. Und doch mußte das Wagnis unternommen, der Strich getan werden.

Mit einem wunderlichen körperlichen Gefühl, als würde sie vorwärtsgedrängt und müßte sich gleichzeitig zurückhalten, zog sie den ersten raschen, entschlossenen Strich. Der Pinsel senkte sich. Zuckend wischte er Braun über die weiße Leinwand; eine flüchtige Spur blieb zurück. Sie führte den zweiten – den dritten Strich. Und so, im Innehalten und Darüberzucken, kam sie in eine tänzerische Bewegung, als wären die Pausen die eine Hälfte des Rhythmus und die Pinselstriche die andere, aber beide miteinander verwandt. Und so, locker und rasch, im Innehalten und Darüberzucken, bedeckte sie die Leinwand mit flüchtigen braunen nervösen Strichen; kaum aber waren sie da, so umschlossen sie auch schon (sie fühlte, wie er vor ihr aufwuchs) einen Raum. Unten im Tal einer Welle sah sie schon die nächste Welle sich höher und höher türmen. Denn was konnte furchtbarer sein als dieser Raum? Da war sie nun wieder, dachte sie und trat zurück, um Überblick zu gewinnen – da war sie nun wieder, fern allem Geschwätz, allem Leben, aller Gemeinschaft, alleingelassen mit ihrem furchtbaren alten Feind – mit dem anderen, dem Wahren, dem Wirklichen, das jäh nach ihr griff, sich machtvoll hinter den sichtbaren Dingen aufreckte und ihre Aufmerksamkeit erzwang. Sie ergab sich nicht ohne Unlust, nicht ohne Widerstreben. Warum immer ausgeschlossen sein und weggezerrt werden? Warum nicht in Frieden gelassen werden, um mit Mr. Carmichael auf dem Rasen zu plaudern? Der Umgang war jedenfalls anstrengend. Was sonst verehrungswürdig war, gab sich mit der Verehrung zufrieden; Männer, Frauen, Gott, alle ließen einen unterwürfig knien; die Welt der Gestalt aber, und wäre es auch nur der Umriß eines weißen Lampenschirms, der auf einem Korbtisch leuchtet, rief einen zu ständigem Gefecht, forderte einen zum Kampf heraus, in dem man unterliegen mußte. Immer (und das lag in ihrem Wesen oder in ihrem Geschlecht; sie wußte es nicht genau), wenn sie das fließende Hingleiten des Lebens mit der gesammelten Festigkeit des Malens vertauschte, durchlebte sie einige Augenblicke des Nacktseins, dann war sie wie eine ungeborene Seele, eine des Körpers beraubte Seele, die zögernd auf windigem Grat verweilt und schutzlos allen Stürmen des Zweifels preisgegeben ist. Warum aber malte sie dann? Sie sah die Leinwand an, die mit einem leichten Gespinst flüchtiger Linien bedeckt war. Man würde sie in die Schlafkammern der Dienstboten hängen. Man würde sie zusammenrollen und unter ein Sofa stopfen. Wozu also dann überhaupt malen, und sie hörte eine Stimme sagen, sie könnte nicht malen, sie könnte nichts schaffen, als wäre sie in einer jener Gewohnheitsmeinungen befangen, die man sich nach einer Weile zu eigen macht, so daß man Worte wiederholt, ohne noch zu wissen, wer sie einmal gesprochen hat.

Können nicht malen, können nicht schreiben, murmelte sie eintönig und überlegte angestrengt, nach welchem Plan sie vorgehen sollte. Denn die Masse wuchs vor ihr auf; drang auf sie ein; drückte auf ihre Augäpfel. Dann aber, als wäre ihr plötzlich eine Flüssigkeit eingespritzt worden, die ihre Fähigkeiten brauchten, um geschmeidig zu werden, begann sie, unsicher noch, zwischen die blauen und umbrafarbenen Töne einzudringen, ihr Pinsel fuhr hierhin und dorthin, aber er war nun schwerer und langsamer geworden, als wäre er in den Rhythmus verfallen, der ihr aufgezwungen wurde (ihr Blick wanderte zwischen Hecke und Leinwand) von dem, was sie sah, und dieser Rhythmus war, obwohl ihre Hand vor Energie bebte, so stark, daß er sie mit sich davontrug. Unzweifelhaft verlor sie das Bewußtsein für äußerliche Dinge. Und während sie das Bewußtsein für äußerliche Dinge verlor, für ihren Namen, ihre Persönlichkeit, ihr Aussehen und Mr. Carmichaels Vorhandensein oder Nichtvorhandensein, warf ihre Erinnerung immerzu aus ihren Tiefen Vorgänge und Namen und Aussprüche und Gedanken und Vorstellungen an die Oberfläche, so daß sie wie der Strahl eines Springbrunnens über diesen starrenden und abscheulich schwierigen weißen Raum sprudelten, den sie mit grünen und blauen Tönen füllte.

Richtig, Charles Tansley pflegte das zu sagen, fiel ihr ein. Frauen können nicht malen, können nicht schreiben. Hinter ihrem Rücken war er herangekommen und hatte sich (sie haßte das) dicht neben sie gestellt, als sie malte, hier, an dieser selben Stelle. »Shagtabak«, hatte er gesagt, »fünf Pence die Unze«, nur um sich mit seiner Armut, seinen Grundsätzen großzutun. Der Krieg allerdings hatte ihrer Weiblichkeit den Stachel genommen. Arme Teufel, dachte man, arme Teufel beiderlei Geschlechts, die in solche Patsche geraten. Er hatte immer ein Buch unter dem Arm getragen – ein purpurrotes Buch. Er ›arbeitete‹. Er hatte, fiel ihr ein, mitten in der prallen Sonne gearbeitet. Bei Tisch hatte er stets vor der Aussicht gesessen. Und dann fiel ihr die Geschichte ein, damals am Strand. So etwas vergaß man nicht. Es war ein windiger Morgen gewesen. Sie waren alle zum Strand hinuntergegangen. Mrs. Ramsay saß im Schutze eines Felsens und schrieb Briefe. Sie schrieb und schrieb. »Oh«, sagte sie schließlich, als sie aufblickte und etwas im Meer treiben sah, »ist das eine Hummerfalle? oder ein umgekipptes Boot?« Sie war so kurzsichtig, daß sie es nicht erkennen konnte, und dann benahm sich Charles Tansley so nett wie nur möglich. Er fing an, Steine hüpfen zu lassen. Sie suchten flache schwarze Steinchen und warfen sie so, daß sie über die Wellen sprangen. Dann und wann blickte Mrs. Ramsay über die Brille zu ihnen hin und lachte ihnen zu. Was sie dabei geredet hatten, war ihr nicht mehr erinnerlich, nur daß sie und Charles Steine schleuderten und sich plötzlich ausgezeichnet vertrugen und Mrs. Ramsay ihnen zusah. Das wußte sie noch genau. Mrs. Ramsay, dachte sie, trat zurück und kniff die Augen zusammen. (Der ganze Aufriß des Bildes mußte doch sehr viel anders ausgesehen haben, als sie damals da drüben mit James saß. Da mußte ein Schatten gewesen sein.) Mrs. Ramsay. Wenn sie daran dachte, wie sie mit Charles Steine hüpfen ließ und wie es damals am Strand war, dann schien es ohne Mrs. Ramsay nicht möglich zu sein, die unter dem überhängenden Felsen saß, ein Kissen auf den Knien, und Briefe schrieb. (Sie schrieb zahllose Briefe, und manchmal, wenn der Wind sie packte, konnten sie und Charles gerade noch verhindern, daß ein Blatt ins Meer wehte.) Was für eine Kraft besaß doch die menschliche Seele! dachte sie. Diese Frau, die dort am Felsen saß und schrieb, brachte alles zu einer einfachen Lösung; ließ allen Ärger und alle Erbitterung von einem abfallen wie alte Lumpen; sie fügte dies und das und jenes zusammen, so daß aus der jämmerlichen Albernheit und Gehässigkeit (denn der Streit und Zank zwischen ihr und Charles waren albern und gehässig gewesen) etwas erwuchs – diese Szene am Strand zum Beispiel, dieser Augenblick der Freundschaft und Eintracht –, was all die Jahre unversehrt überdauerte, so daß sie darin eintauchen und ihre Erinnerung an ihn umgestalten konnte; und das Gedächtnis bewahrte es fast wie ein Kunstwerk.

»Wie ein Kunstwerk«, wiederholte sie und sah von der Leinwand zu den Stufen zum Wohnzimmer hinüber und wieder auf die Leinwand. Sie mußte einen Augenblick rasten. Und als sie rastete und den Blick ziellos wandern ließ, stand abermals die alte Frage vor ihr, die unablässig den Himmel der Seele durchflog, die gewaltige, die allumfassende Frage, die sich in Augenblicken wie diesen, wenn sie die äußerste Anspannung der Kräfte lockerte, in den Vordergrund drängte, sie schwebte über ihr, verweilte über ihr, verdunkelte sich über ihr. Was ist der Sinn des Lebens? Das war alles, eine einfache Frage; eine, die einem mit den Jahren immer näher rückte. Die große Offenbarung war nie gekommen. Die große Offenbarung würde vielleicht auch nie kommen. Statt dessen gab es kleine tägliche Wunder, Erleuchtungen, unerwartet im Dunkeln entzündete Hölzchen; hier war eines davon. Hier, da und dort; sie und Charles Tansley und die zerschellende Woge; Mrs. Ramsay, die sie zusammenführte; Mrs. Ramsay, die sagte: »Leben, steh still, jetzt und hier!«; Mrs. Ramsay, die aus dem Augenblick etwas Dauerndes machte (wie sie, Lily, aus dem Augenblick etwas Dauerndes zu schaffen suchte, wenn auch in einem anderen Bereich); das hatte etwas vom Wesen einer Offenbarung. Das war etwas Festes inmitten des Chaos; das ewige Enteilen und Fließen (sie sah auf die ziehenden Wolken und die windgeschüttelten Blätter) war zur Stetigkeit gebannt. Leben, steh still! hatte Mrs. Ramsay gesagt. »Mrs. Ramsay! Mrs. Ramsay!« wiederholte sie. Ihr verdankte sie diese Offenbarung.

Ringsum herrschte Stille. Im Hause schien sich nichts mehr zu regen. Sie betrachtete es, wie es in der Frühsonne schlief mit seinen Fenstern, die grün und blau leuchteten vom Widerschein der Blätter. Die undeutliche Erinnerung an Mrs. Ramsay, die durch ihre Gedanken zog, schien mit dem stillen Haus in Einklang zu stehen; mit diesem Rauch; mit dieser würzigen Frühluft. Undeutlich und unwirklich war es, wunderbar rein und erregend. Hoffentlich öffnete niemand ein Fenster oder trat aus dem Haus, hoffentlich ließ man sie allein, damit sie weiterdenken, weitermalen konnte. Sie wandte sich wieder ihrer Leinwand zu. Dann aber, getrieben von Neugier, getrieben auch von dem Mitgefühl, das sie zu ihrem Leidwesen nicht hatte äußern können, tat sie ein paar Schritte bis zum Rande des Rasens, um vielleicht zuzusehen, wie die kleine Gesellschaft unten am Strand die Segel setzte. Und richtig, unter den kleinen Booten im Wasser, manche hatten die Segel noch eingerollt, andere machten langsame Fahrt (denn es war sehr windstill), hielt sich eins etwas abseits von den andern. Eben jetzt wurde das Segel gehißt. Sie kam zu dem Schluß, daß Mr. Ramsay mit Cam und James in diesem sehr fernen und ganz stillen kleinen Boot säße. Jetzt hatten sie das Segel gesetzt; nach kurzem Flattern und Zögern füllten sich nun die Segel, und sie beobachtete, von tiefem Schweigen umgeben, wie das kleine Fahrzeug langsam an den anderen vorüberfuhr, hinaus auf See.


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